Die französische Arbeiter:innenklasse muss sich gegen rassistische Gesetze wehren!

Marco Lassalle, Infomail 1240, 30. Dezember 2023

Am 19. Dezember hat das französische Parlament ein weiteres Einwanderungsgesetz verabschiedet – das 117. Gesetz zu diesem Thema seit 1945! Aber es ist viel schlimmer als alle vorherigen Gesetze. Es wurde von Innenminister Gérald Darmanin vorgeschlagen, von Präsident Emmanuel Macron unterstützt, von den rechten Senator:innen der Partei Les Républicains stark umgeschrieben und schließlich mit den Stimmen des von Marine Le Pen geführten Rassemblement National (RN) angenommen.

Es ist leicht zu verstehen, warum die rassistische und fremdenfeindliche RN für dieses Gesetz gestimmt und einen ideologischen Sieg errungen hat. Es enthält eine Reihe von Maßnahmen, die dazu führen, dass vielen Migrant:innen grundlegende Leistungen und Rechte vorenthalten werden. Es unterstützt das RN-Ziel der „nationalen Präferenz“ (wonach französische Staatsbürger:innen beim Zugang zu staatlichen Sozialleistungen Vorrang vor Ausländer:innen haben sollten) und wird weitgehend dazu beitragen, die reaktionären und falschen Ideen des RN zu verbreiten: dass Migrant:innen nur nach Frankreich kommen, um von Sozialmaßnahmen zu profitieren, sie für den Mangel an Wohnraum und Arbeitsplätzen verantwortlich, kriminell und gefährlich für die nationale Sicherheit sind. Kurz gesagt, es ist eine giftige Mischung aus Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, gespickt mit Lügen und Verleumdungen.

Maßnahmen

Hier einige der Maßnahmen, die das neue Gesetz vorsieht:

  • Staatliche Leistungen wie Wohnungs- oder Familienbeihilfen werden Migrant:innen erst nach einer Verzögerung (bis zu fünf Jahren) gewährt, je nachdem, ob sie arbeiten oder nicht (obwohl die meisten Migrant:innen bei ihrer Ankunft in Frankreich nicht arbeiten dürfen).

  • Das Gesetz sieht die Einführung von Quoten für Migration vor, und die Legalisierung von migrantischen Lohnabhängigen wird vom Wohlwollen des/der Präfekt:in (Vorsteher:in eines Amtsbezirks) abhängen.

  • Das Gesetz ist ein Schlag gegen den Grundsatz des „loi du sol“, das Recht der in Frankreich Geborenen, mit ihrer Volljährigkeit die französische Staatsbürger:innenschaft zu erlangen, und geht auf ein früheres zurück, das von dem erzreaktionären Charles Pasqua unterstützt wurde.

  • Ausländische Universitätsstudent:innen müssen eine „Kaution“ an den Staat zahlen, die erst bei der Ausreise am Ende des Studiums zurückerstattet wird.

  • Bürger:innen mit doppelter Staatsbürger:innenschaft verlieren die französische, wenn sie sich schwerer Straftaten schuldig machen.

Um die Unterstützung des rechten Flügels zu erhalten, musste die Regierung außerdem versprechen, dass Anfang 2024 AME, die staatliche medizinische Hilfe, mit der alle Einwander:innen dringende medizinische Versorgung erhalten können, „reformiert“, d. h. wahrscheinlich stark eingeschränkt oder abgeschafft wird.

Das Gesetz enthält Maßnahmen, die so schockierend reaktionär sind, dass sich die Regierung sogar an den Verfassungsrat wendet, um einige seiner Artikel außer Kraft zu setzen, da sie gegen die Präambel der Verfassung von 1946 verstoßen, die besagt, dass „niemand wegen seiner/ihrer Herkunft benachteiligt werden darf“.

Die Verabschiedung des Gesetzes war selbst in Macrons Lager ein großer Schock, da 59 Abgeordnete der Regierungspartei dagegen stimmten und ein Minister zurücktrat. Die Behauptung Macrons bei den letzten beiden Präsidentschaftswahlen, er sei ein Bollwerk gegen Marine Le Pen und ihre Ideen, hat sich als eine weitere Lüge erwiesen. Allerdings hat die Arbeiter:innenklasse von den „Linken“ innerhalb des Präsidentenlagers wenig zu erwarten, da sie viele andere Angriffe gegen die Arbeiter:innen akzeptiert oder sogar durchgeführt haben.

Der französische Kapitalismus und die Überausbeutung

Seit Jahrhunderten braucht der französische Kapitalismus billige überausgebeutete Arbeitskräfte. Zunächst in Form von Sklav:innen auf den karibischen Inseln, später als indigene Zwangsarbeiter:innen in seinem Kolonialreich und im letzten Jahrhundert als Migrant:innen, in den letzten Jahrzehnten vor allem aus dem Maghreb. Die demokratischen Rechte dieser Arbeiter:innen wurden systematisch negiert und diese Entrechtung erreichte während des algerischen Unabhängigkeitskrieges in den 1950er und 1960er Jahren ein hysterisches Niveau. Die rassistische Ideologie diente als Rechtfertigung für diese Diskriminierung, obwohl auf allen öffentlichen Gebäuden „Egalité“ (Gleichheit) steht. Ein rassistischer Polizei- und Staatsapparat, dessen Personal nach dem Zweiten Weltkrieg vom faschistischen Vichy-Regime übernommen wurde, war für Repressionen und Massaker an Arbeitsmigrant:innen verantwortlich. Die von Jean-Marie Le Pen gegründete Front National baute auf einer rassistischen Ideologie auf und wandte sich massiv an die Anhänger:innen der Front Algérie Française. Aber auch die traditionellen rechten Parteien haben rassistischem Gedankengut geschmeichelt, und das gilt selbst für die linken Parteien.

Die französische Bourgeoisie war schon immer mehr als bereit, migrantische Arbeitskräfte zu beschäftigen und auszubeuten, die meisten von ihnen aus den ehemaligen französischen Kolonien in Afrika, sowohl im Maghreb als auch in Westafrika. Die rassistische Unterdrückung ermöglicht es den Bossen, sie in schlecht bezahlten Jobs zu halten, wobei ihnen oft grundlegende Arbeits- und Gewerkschaftsrechte verweigert werden. Entgegen der Verleumdung, dass Migrant:innen auf der Suche nach staatlichen Beihilfen nach Frankreich strömen, arbeiten die meisten von ihnen lange Jahre im Verborgenen als Sans Papiers (Menschen ohne Ausweisdokumente), insbesondere im Bau- und Dienstleistungssektor. Sie sind weit davon entfernt, von der staatlichen Sozialhilfe zu profitieren, denn sie zahlen zwar die obligatorischen Sozialbeiträge, haben aber keinen Anspruch auf entsprechende Beihilfen. Trotz der rassistischen Hysterie nimmt der Anteil der Migrant:innen an der Bevölkerung des Landes kaum zu: 7,8 % im Jahr 2022, 6,5 % im Jahr 1975. Selbst der Vorsitzende des MEDEF, des wichtigsten Arbeit„geber“verbandes, schätzt den Bedarf der französischen Wirtschaft auf 3,9 Millionen zugewanderte Arbeitskräfte in den kommenden Jahrzehnten aufgrund der niedrigen Geburtenrate ein. Das französische Kapital will eine „kontrollierte“ Zuwanderung und zwingt die Migrant:innen weiterhin in extrem unsichere und übermäßig ausgebeutete Arbeitsverhältnisse.

Die extreme Rechte will noch weiter gehen. Bereits in den 1980er Jahren prägte Jean-Marie Le Pen den Slogan „eine Million Einwander:innen, eine Million Arbeitslose“ und suggerierte damit, dass die Ausweisung der Migrant:innen das Problem der Arbeitslosigkeit lösen würde. Marine Le Pen, die Tochter von Jean-Marie, propagiert das Konzept der „nationalen Präferenz“ und warnt vor der „Unterwanderung“ des französischen Volkes durch eine angebliche Migrationswelle. Ihre Ideen werden durch das neue Gesetz eindeutig legitimiert.

In dieser Hinsicht stellt das Gesetz einen Bruch mit früheren rassistischen Gesetzen dar. Während alle diese Angriffe gegen den Gleichheitsgrundsatz enthielten, stellt die schiere Menge an konzentrierten Schlägen gegen Migrant:innen dieses Gesetz eindeutig auf eine andere, viel gefährlichere Ebene. Es spiegelt die Verbreitung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in der französischen Bevölkerung wider: Den Umfragen zufolge wird die Partei von Marine Le Pen bei den kommenden Europawahlen im Juni nächsten Jahres mit rund 28 % (und zusätzlich 6,5 % für ihre faschistische Nichte Marion Maréchal) die stimmenstärkste Partei in Frankreich sein, weit vor Macrons Partei „Renaissance“ mit 20 %.

Präsident Macron reklamiert mit dieser Zustimmung zum Gesetz, einen Sieg errungen zu haben, der zeigt, dass er keine „lahme Ente“ und in der Lage ist, Gesetze zu verabschieden, ohne die undemokratischen Tricks der französischen Verfassung der Fünften Republik anzuwenden. Auch Les Républicains beanspruchen einen Sieg für sich, da sie maßgeblich an der Verabschiedung des Gesetzes beteiligt waren und dessen Inhalt stark beeinflusst haben. Für beide wird sich dieser „Sieg“ bald als Pyrrhussieg erweisen. Rassistische Wähler:innen werden die konsequent rassistische Partei RN anderen Kräften vorziehen, die sie lediglich imitieren, und der ideologische Einfluss der RN-Ideen wird durch diese Maßnahme auf allen Ebenen nur vergrößert.

Arbeiter:innenklasse

Die französische Arbeiter:innenklasse befindet sich in einer schwierigen Situation. Sie ist durch den Sieg Macrons im Kampf um die Renten zu Beginn des Jahres bereits politisch geschwächt. Hinzu kommt, dass der Rassismus auch in der Klasse greift und eine mögliche Spaltung zwischen „französischen“ und migrantischen Arbeiter:innen droht sowie massiv verstärkte Repression gegenüber migrantischen Lohnabhängigen.

Die Sozialistische Partei, die Kommunistische Partei und La France insoumise lehnten das Gesetz allesamt ab. 32 von der Sozialistischen Partei geführte Departements erklärten, dass sie das Gesetz nicht anwenden werden, ebenso wie die Pariser Bürgermeisterin. Die CGT-Vorsitzende Sophie Binet erklärte: „Die CGT ruft zum zivilen Ungehorsam und zur Vervielfachung der Widerstandsaktionen gegen dieses Gesetz auf, das alle unsere republikanischen Prinzipien untergräbt und der extremen Rechten den Boden bereitet.“ Die CGT wird in den nächsten Wochen „massive Initiativen organisieren, damit diejenigen, die sich mit dem geleugneten Frankreich identifizieren, ihre Entschlossenheit zeigen können, damit die Werte der Solidarität respektiert werden“.

All dies ist richtig, aber man kann durchaus an der Wirksamkeit des Widerstands der reformistischen Parteien und der Gewerkschaften zweifeln, da es ihnen nicht gelungen ist, die Rentenreform abzuwehren. Es besteht die reale Gefahr, dass die „massiven Initiativen“ der Reformist:innen zahnlose symbolische Aktionen bleiben werden. Die Lohnabhängigen sollten ihre Führungen auffordern, den wirksamsten Widerstand gegen das Gesetz vorzubereiten, und zwar nicht nur auf den bequemen Sitzen des Parlaments, sondern an den Arbeitsplätzen, in den Banlieues und auf den Straßen. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, diesen Widerstand mit den Waffen des Klassenkampfes durchzusetzen, ob die reformistischen Führungen damit einverstanden sind oder nicht. Der zivile Ungehorsam muss von Protesten und Massenstreiks zugunsten einer massiven Legalisierung von Sans Papiers sowie der Abschaffung aller rassistischen Gesetze der letzten Jahre begleitet werden. Migrant:innen, darunter auch Sans Papiers, sind in großem Umfang auf den Baustellen für die kommenden Olympischen Spiele 2024 beschäftigt und werden bei der Organisation dieses Ereignisses an vorderster Front stehen, im Transportwesen, bei der Sicherheit, in Hotels, Restaurants, bei der Reinigung usw. Die Arbeiter:innen müssen bereit sein, alle damit zusammenhängenden Aktivitäten zu blockieren, bis das Gesetz aufgehoben ist, und solche Aktionen müssen von allen Gewerkschaften, Parteien und Organisationen der Arbeiter:innenklasse unterstützt werden. Sie müssen durch organisierte Selbstverteidigung gegen mögliche Repressionen durch den Staat oder rechte bzw. sogar faschistische Kräfte verteidigt werden.

Die einzige Möglichkeit, die Ausbreitung rassistischer Ideen in den Reihen der Arbeiter:innenklasse zu stoppen, besteht darin, ein Aktionsprogramm vorzuschlagen, zu verbreiten und dafür zu kämpfen, das alle rassistischen Gesetze bekämpft und die wirklichen Ursachen für das Anwachsen der RN angeht: niedrige Löhne, Mangel an Arbeitsplätzen, Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Der durch dieses Gesetz ausgelöste Schock sowie die Wut auf Macron und seine Regierung sollten in eine massive Streikwelle, einschließlich eines Generalstreiks, gegen die rassistische Diskriminierung und Unterdrückung sowie gegen die Regierung und das von ihr verteidigte System gebündelt werden.




Schäuble – ein deutscher imperialistischer Politiker

Martin Suchanek, Infomail 1240, 29. Dezember 2023

Wolfgang Schäuble verstarb am 26. Dezember. Obwohl er selbst nie Bundeskanzler war, prägte er die Politik des deutschen Imperialismus über Jahrzehnte wie kaum ein anderer, gehörte zu den führenden bürgerlich-kapitalistischen Strateg:innen.

Werdegang

Auch wenn er nach seinem Jurastudium als Finanzbeamter tätig war, so führte er im Grunde Zeit seines Lebens das Dasein eines Berufspolitikers. Von 1972 bis zu seinem Tod gehörte er ununterbrochen dem deutschen Bundestag an. Von 1984 bis 1991 fungierte er in den Regierungen Kohl als Minister, zuerst als Chef des Kanzleramtes, dann als Innenminister. 1991 wurde er Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und damit eine zentrale Stütze der Regierung. Vor der kapitalistischen Wiedervereinigung gehörte Schäuble zudem zu den wichtigsten Stützen Kohls gegen die innere Opposition in der CDU (Geißler, Späth, Süssmuth).

Schäuble war maßgeblich an der zur „geistig moralischen Wende“ verklärten konservativ-(neo)liberalen schwarz-gelben Regierungspolitik und am Wiedervereinigungsvertrag beteiligt, wobei er sich als verlässlicher Vertreter der Interessen des deutschen Gesamtkapitals und dessen führender Konzerne erwies.

Kein Wunder also, dass der „Kanzler der Einheit“ Schäuble zu seinem Nachfolger auserkoren hatte, der als Parteivorsitzender und auch als Kanzler „übernehmen“ sollte. Doch Kohls Wahlniederlage gegen Schröder vereitelte die für 2002 anvisierte „Übergabe“ im Kanzleramt. Auch Schäubles Zeit als CDU-Vorsitzender währte nur kurz. 1999 wurden nämlich die Dimensionen der CDU-Spendenaffäre immer deutlicher. Über gut zwei Jahrzehnte hatte die Partei Millionen DM auf Schattenkonten gehortet. Wie so viele andere in die „Affäre“ verstrickte CDU-Politiker:innen bestritt auch der Ehrenmann Schäuble zunächst alle Vorwürfe. Doch die Beweise wurden immer erdrückender. Kohl mutierte vom Ehrenvorsitzenden zur Altlast, Schäuble trat schließlich vom Parteivorsitz zurück, blieb aber Abgeordneter.

An seine Stelle trat Angela Merkel. Ursprünglich als Zwischenlösung betrachtet, wurde sie schließlich 16 Jahre lange Kanzlerin. Und Schäuble machte sich daran, seinem Land wieder als Innenminister zu dienen, als Law-and-Order-Mann, der sich auch mit Schwarzgeldkonten auskannte. Von 2009 bis 2017 erlebte Schäuble seinen internationalen Durchbruch als Finanzminister und neoliberaler Hardliner. Im Rahmen der Troika und der EU setzte er drakonische Bedingungen für das infolge der globalen Krise vor dem Bankrott stehende Griechenland durch, das er mehr oder weniger offen eigentlich aus dem Euro-Raum treiben wollte (was jedoch von Merkel abgelehnt und verhindert wurde). Schäuble, der bis dahin vor allem im deutsch-deutschen Verhältnis (bis 1990) und innenpolitisch hervorgetreten war, machte sich nun einen Namen als beinharter, neoliberaler Einpeitscher und finanzpolitischer Zuchtmeister des deutschen Imperialismus gegenüber seinen untergeordneten europäischen „Partner:innen“. Schäuble gab einen Vorgeschmack darauf, was „deutsche Führung“, deren angeblicher Mangel andernorts gern beklagt wurde, realiter bedeutet.

Von 2017 bis 2021 fungierte er als scheinbar über allen Parteien stehender Bundestagspräsident und – weniger über allen Parteien stehend – als elder statesman der CDU und Quasi-Berater von Friedrich Merz.

Schäubles Bedeutung

Aus der Masse der deutschen Politiker:innen aller, von der herrschenden Klasse als staatstragend anerkannter Parteien – ob nun CDU/CSU, FDP, SPD oder Grünen – stach Schäuble jedoch heraus. Und zwar nicht, weil er besonders exzentrisch oder persönlich bedeutend gewesen wäre. Was das betrifft, unterscheidet er sich wohl wenig von anderen konservativen, aus einer christlichen CDU-Familie stammenden Funktionär:innen seiner Partei.

Was ihn von der für den bürgerlichen Politikbetrieb kennzeichnenden geistig-intellektuellen Mittelmäßigkeit, die charakteristisch für die große Masse der Abgeordneten und Funktionär:innen sämtlicher bürgerlicher Parteien (letztlich auch der AfD und der Linkspartei) ist, unterschied, war jedoch die Tatsache, dass er nicht einfach ein weiterer Parteigänger des Kapitals war, sondern einer seiner strategisch agierenden Vertreter:innen. Geistig-intellektuell war er Kohl, dem Parteivorsitzenden und Kanzler, dem er rund zwei Jahrzehnte diente, sicher überlegen und freilich konnte er sich auf diesem Gebiet mit Merkel messen.

Anders als einige Möchtegern-Geistesgrößen der CDU, die sich mit Kohl oder Merkel überwarfen und daraufhin vom aktiven politischen Geschehen zurückzogen, fungierte Schäuble unter beiden als wichtiger Minister oder Fraktionschef in Schlüsselfunktionen für die eigene Partei, aber auch den Kurs der herrschenden Klasse. Somit wurde er selbst zu einer prägenden Figur, die gewissermaßen zu einer Institution wurde.

Schon früh stand Schäuble für eine, wenn auch auf deutsche Verhältnisse angepasste neoliberale Wirtschafts- und eine rigide Finanzpolitik. Zweifellos reflektiert das auch seine Herkunft aus dem spießigen schwäbisch-protestantischen Bildungsbürger:innentum, seit jeher eine Bastion des deutschen Konservativismus. Vor allem aber ging es ihm dabei immer darum, die Wirtschaftsmacht Deutschlands voranzubringen. Dies schloss durchaus – siehe die Kosten der Wiedervereinigung – auch Schulden für das große Ganze des deutschen Imperialismus ein. Aber bei allen anderen – ob nur den Millionen griechischer Arbeiter:innen und Arbeitsloser, den Lohnabhängigen in Deutschland oder den zahlreichen Gegenreformen, die er als Minister mit vorantrieb – kannte Schäuble keine Rücksicht. Dort betätigte er sich vorzugsweise als „Spardiktator“. Er war zwar wie fast alle Vertreter:innen des deutschen Imperialismus nach 1945 „bekennender Europäer“, also einer von Deutschland und Frankreich geführten EU. An diese wollte er sogar zeitweilig mehr nationale Kompetenzen abgeben und auch die Wahl der Kommission demokratisieren, aber zugleich wollte er eine „strenge“, von Deutschland diktierte Finanz- und Haushaltspolitik garantiert haben.

Diesen inneren Widerspruch bürgerlicher Europapolitik konnte auch Schäuble nicht auflösen. Im Gegenteil, das von ihm maßgeblich vorangetriebene Austeritätsdiktat gegenüber Griechenland war zwar insofern erfolgreich, als es die griechische Regierung vorführte und domestizierte – es offenbarte zugleich aber auch die zentrifugale, die EU und die Euro-Zone selbst auseinander treibende Logik dieser Politik.

Mehr als Kohl und Merkel (und erst recht Schröder) war Schäuble schon immer Transatlantiker und sehr viel enger am Bündnis mit den USA orientiert. Nichtsdestotrotz musste eine erfolgreiche Stärkung der EU und der Euro-Zone unvermeidlich auch die gegensätzlichen Interessen zu den USA hervorbringen. Hier stand Schäuble nach dem Maidan 2014 und damals im Gegensatz zu Merkel und Steinmeier für jenen Flügel des deutschen Imperialismus, der die einzige Chance zur geostrategischen Stärkung der EU und Deutschlands in der Anbindung an die USA als deren Führungsmacht sieht. Daher war seine Unterstützung für Merz im Kampf um die Merkel-Nachfolge in der CDU keineswegs nur Ausdruck einer „Männerfreundschaft“, sondern beruhte auf einer wirklichen geostrategischen Überstimmung.

Die Bedeutung der Strategie

Politische Strategie ist im Klassenkampf für jede Klasse von herausragender Bedeutung. Schließlich ergibt sich ein langfristiges Handeln im Rahmen der immer schärfer ausgetragenen wirtschaftlichen und geostrategischen Konkurrenz auch für die herrschende Klasse nicht „spontan“ oder automatisch, sondern formt sich selbst erst über die Austragung ideologisch-strategischer Auseinandersetzungen und den Klassenkampf.

In den letzten 50 Jahren prägte Schäuble die Politik des deutschen Imperialismus entscheidend mit, er trug maßgeblich zu wichtigen Siegen der herrschenden Klasse – allen voran die kapitalistische Wiedervereinigung – bei. Er vermochte jedoch ebenso wenig wie Kohl, Schröder oder Merkel, die inneren Widersprüche zu überwinden, die den Weltmachtambitionen des deutschen Imperialismus bis heute Grenzen setzen. Doch es ist unvermeidlich, dass diese im Kontext des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt auch die bürgerlich-imperialistische Politik vor immer neue, immer schärfe Alternativen (z. B. verstärkte europäische Integration oder Europa der zwei Geschwindigkeiten, Aufrüstung der EU zu einer Militärmacht, die mit den Großmächten mithalten kann oder militärisch und politisch zurückfällt) stellen werden.

Das heißt, die politisch-strategischen Weichenstellungen, die die Ampel-Regierung mit dem Terminus der Zeitenwende halb anerkennt, zugleich aber auch halb zu dementieren versucht, werden immer mehr in den Vordergrund treten müssen. Die deutsche Bourgeoisie verfügt dabei zur Zeit über keine wirkliche, längerfristige strategische Ausrichtung. Vielmehr befindet sie sich einem inneren Widerstreit, was grundsätzlich die politischen Schwankungen und Instabilität fördert, auch wenn in den letzten Jahren davon fast ausschließlich die Rechte profitierte.

Und das wird auch so bleiben, wenn die Arbeiter:innenklasse, wenn die Linke selbst nicht die Frage nach grundlegenden programmatischen und strategischen Lösungen für die aktuelle Krise beantwortet. Mit Schäuble hat die deutsche Bourgeoisie einen Strategen verloren, der ihre Politik prägte. Das Problem der Arbeiter:innenklasse besteht darin, dass sie über keine revolutionären Strateg:innen verfügt, die ihre Politik prägen.




Pakistan: Solidarität mit dem langen Marsch der Belutsch:innen!

Shahzad Arshad, Infomail 1240, 26. Dezember 2023

In der Nacht zum 21. Dezember wurden die Teilnehmer:innen des Langen Marsches der Belutsch:innen gegen das Verschwindenlassen und außergerichtliche Tötungen in Islamabad von den staatlichen Kräften gnadenlos angegriffen, als sie die Hauptstadt erreichten. Eine große Zahl von Student:innen, darunter Frauen und ältere Menschen, wurde verhaftet. Die Regierung setzte alles daran, die verhafteten Frauen mit Gewalt nach Quetta (Provinzhauptstadt Belutschistans) zu bringen. Die Belutschinnen, die den Marsch angeführt hatten, leisteten trotz aller Gewalt und Drohungen Widerstand. In Belutschistan, aber auch in anderen Gebieten mit Belutsch:innen, begannen Proteste und Sitzstreiks gegen die Gewalt auf dem Langen Marsch, die sich in Radblockaden und Streiks an den Türen entluden.

Im ganzen Land, auch in Belutschistan, fanden in Städten und Distrikten wie Turbat, Panjgur (Pangor), Gwadar, Khuzdar, Mastung, Dalbandin, Quetta, Kohlu, Dera Bugti, Sibi, Rakhni, Barkhan, Logistikzentrum Awaran, Karatschi, Bela, Taunsa, Dera Ghazi Khan, Lahore, Islamabad, Bahawalpur, Multan und vielen anderen Proteste aus Solidarität mit den Angegriffenen statt.

Diese Gewalt in Belutschistan hat die Proteste nicht gebrochen, sondern vielmehr den Geist und den Mut des Kampfes der Bevölkerung gestärkt und die Angst allmählich überwunden. In diesen Gebieten entsteht eine neue politische Realität, die die bestehende so genannte politische Ordnung ins Wanken bringt. In dieser Situation hat das Gericht die Freilassung einiger verhafteter Personen angeordnet. Auch die Regierung hat Verhandlungen aufgenommen, und deshalb wird die Jirga (Versammlung der traditionellen Anführer:innen der Community) auch dazu benutzt, den politischen Kampf zu kontrollieren, der sich in allen Gebieten der Belutsch:innen ausgebreitet hat.

Am Beginn dieses Kampfes stand die brutale Ermordung von Balach Baloch in Turbat unter Gewahrsam der CTD (Counter Terrorism Department = Abteilung zur Terrorismusabwehr). Aber diese Bewegung ist auch das Ergebnis und die Fortsetzung vieler ähnlicher Bewegungen, die in den letzten Jahren immer wieder von belutschischen Student:innen und Frauen in verschiedenen Städten organisiert worden sind. Es wurden auch Solidaritätskomitees gebildet. Dadurch konnte die Angst in der belutschischen Bevölkerung überwunden werden, die der Staat durch schwere Zwangsgewalt, Verhaftungen, gewaltsames Verschwindenlassen und verstümmelte Leichen erzeugt hatte.

Es wurde eine Untersuchung gegen diejenigen eingeleitet, die der Ermordung von Balach Baloch beschuldigt werden, und anscheinend ist eine der Forderungen des Langen Marsches akzeptiert worden, aber die Hauptforderung des Langen Marsches ist derzeit die Beendigung der staatlichen Politik des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Wiederkehr der so Verschwundenen. Dies ist eine legitime Forderung, die die gesamte Bevölkerung unterstützt und für die sie kämpft und die derzeit vom Langen Marsch unter der Schirmherrschaft des Belutsch:innen-Solidaritätskomitees unter der Leitung von Mahrang Baloch und anderen Aktivistinnen vertreten wird.

Die Haltung der staatlichen Institutionen gegenüber dem Langen Marsch hat die Politik des Staates gegenüber der Nation der Belutsch:innen verdeutlicht. Die Struktur des pakistanischen Staates basiert auf internem Kolonialismus, der diesem seine elementaren demokratischen Rechte verweigert hat. Was den Marsch angeht, hat sich der Staat verkalkuliert. Die Behörden wussten nicht, dass dieser eine so große Bewegung unter den Belutsch:innen auslösen würde, die trotz aller Gewalt, Verhaftungen und Einschränkungen nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Mit brutaler Gewalt wurde versucht zu verhindern, dass sich immer mehr Menschen dem Langen Marsch anchließen, bei dem auch belutschische Frauen, Mädchen und ältere Menschen verhaftet wurden.

Darüber hinaus wurden mehr als dreihundert Student:innen verhaftet, von denen bisher nur 167 wieder freigelassen wurden. Darüber hinaus sind mehrere Studierende bei der Niederschlagung des Langen Marsches gewaltsam „verschwunden“. Die Teilnehmer:innen des Langen Marsches protestieren derzeit vor dem Nationalen Presseclub in Islamabad. Sie haben deutlich gemacht, dass sie zu noch entschlosseneren Maßnahmen gezwungen sein werden, wenn die Student:innen nicht freigelassen werden oder noch mehr von ihnen gewaltsam verschwinden.

Der Lange Marsch, der vom Belutsch:innen-Solidaritätskomitee initiiert wurde, kam nach Islamabad in der Hoffnung, dass er den Staat unter dem Druck ihres Kampfes zwingen würde, seine Politik zu ändern und mehr vorgetäuschte Zusammenstöße und gewaltsames Verschwindenlassen zu beenden. Diese sollten gestoppt werden und die Nation der  Belutsch:innen sollte ihre demokratischen Rechte erhalten, damit sie über ihr eigenes Schicksal entscheiden kann. In diesem Sinne sollte der Lange Marsch einen erfolgreichen Kampf für seine Ziele fortsetzen.

Der Lange Marsch wird in großem Umfang von anderen unterdrückten Nationen unterstützt, darunter die PTM (Paschtunische Tahafuz-Bewegung) und andere Organisationen unterdrückter Ethnien. Zum ersten Mal hat der Lange Marsch in begrenztem Umfang Unterstützung im Punjab erhalten, und das Leiden des belutschischen Volkes und sein Schmerz sind spürbar. PTM, das Belutsch:innen-Solidaritätskomitee und die Parteien und Organisationen der Linken haben die Verantwortung, den Kampf der Belutsch:innen nicht nur zu unterstützen, sondern eine Einheitsfront zu bilden und diesen Kampf zur Arbeiter:innenklasse zu tragen. Es gilt, diesen demokratischen Kampf zu verbreiten und den Staat zu zwingen, die Serie des Verschwindenlassens und des Völkermordes zu beenden und dem Volk der Belutsch:innen volle demokratische Rechte zu gewähren.




Widerstand gegen Israels Unterdrückung und Krieg! Solidarität mit den Palästinenser:innen!

Erklärung einer Gruppe von Revolutionären Kommunist:innen in China, 15. November 2023, Infomail 1240, 22. Dezember 2023

Wir veröffentlichen die folgende Erklärung in Solidarität mit ihren Verfasser:innen und als Beitrag zur Entwicklung revolutionärer Gruppen in China und um deren internationalistische Positionen bekannt zu machen.

Das Jahr 2023 ist geprägt von einer Eskalation des Konflikts zwischen Israel und Palästina. Israel ist ständig in Konflikte mit Palästinenser:innen im Westjordanland und Gazastreifen verwickelt, die am 7. Oktober 2023 zu einem ausgewachsenen Krieg führten. Dieser von Israel angezettelte Krieg hat zu brutalen und unmenschlichen Aktionen gegen die Zivilbevölkerung geführt und über zehntausend Tote im Gazastreifen gefordert. Wir verurteilen den Krieg Israels gegen das palästinensische Volk auf das Schärfste und sind mit ihm solidarisch.

Der unmittelbare Auslöser für diesen Krieg waren zwar die bewaffneten Angriffe der Hamas auf Israel, doch die eigentlichen Ursachen liegen in der britischen Kolonialzeit, die zionistische Bewegungen förderte, um antikoloniale Bewegungen unter den Palästinenser:innen zu unterdrücken. Seit der Gründung Israels im Jahr 1948 ist die kontinuierliche Unterdrückung des palästinensischen Volkes offensichtlich. Israel hat in ganz Palästina Siedlungen errichtet, die arabischen Bewohner:innen vertrieben, den (auch friedlichen) palästinensischen Widerstand gezielt bekämpft, Kriege gegen Palästina geführt und eine Politik der rassistischen Segregation betrieben. Diese Maßnahmen haben viele Palästinenser:innen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, was dazu führte, dass ein erheblicher Teil der palästinensischen Bevölkerung in andere Länder abwanderte. Die israelische Politik der rassistischen Segregation hat zu massiver Armut geführt und den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt in Palästina behindert. Die anhaltende Unterdrückung hat zum bewaffneten Widerstand des palästinensischen Volkes geführt. Wir unterstützen das palästinensische Volk in seinem Kampf gegen den Siedlerkolonialismus und das rassistische Regime Israels.

Die Unterstützung des Widerstands des palästinensischen Volkes gegen Israel bedeutet jedoch nicht, die Hamas zu unterstützen. Wir sind dagegen, dass Israel und die westlichen imperialistischen Regierungen die Hamas unter der Bezeichnung „Terrorismus“ angreifen. Dennoch erkennen wir die Hamas als eine ultrarechte, obskurantistische Organisation an, die eine korrupte, arbeiter:innen und geschlechterfeindliche Politik in Gaza fördert. Sie leistet zwar aktiven Widerstand gegen die israelische Invasion, aber ihre wahllosen Angriffe auf israelische Zivilist:innen und ihr Festhalten am islamischen Fundamentalismus behindern die Sache der palästinensischen Befreiung. Wir unterstützen auch nicht die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO-Fatah), da das Fatah-Regime, das die Osloer Abkommen akzeptiert hat, zu einem von Israel geförderten Marionettenregime in Palästina geworden ist, das Israel die „friedliche“ Hand reicht, während es eine repressive Faust gegen das palästinensische Volk schwingt.

Imperialistische Regierungen wie die der Vereinigten Staaten, Frankreichs, des Vereinigten Königreichs und Deutschlands behaupten heuchlerisch „Humanität“, während sie Israels Kolonialherrschaft standhaft unterstützen. Sie schieben die Hauptverantwortung für diesen Krieg auf die Schultern Palästinas und der Hamas, indem sie Israels uneingeschränkte Bombardierung des Gazastreifens zulassen und damit zu den Hauptverursacher:innen der humanitären Krise in Palästina gehören. Ihr Engagement in Palästina zielt darauf ab, ihre imperialistische Hegemonie im Nahen Osten aufrechtzuerhalten. Unter dem Deckmantel der „Bekämpfung des Antisemitismus“ schränken sie nun die Freiheit und die demokratischen Rechte in ihren eigenen Ländern ein, um Israel zu unterstützen. China und Russland unterstützen Palästina vorgeblich, weil sie nicht wollen, dass der Nahe Osten vollständig vom westlichen Imperialismus kontrolliert wird, was ihre regionale hegemoniale Expansion beeinträchtigen könnte. Unter seinem monopolkapitalistischen System unterstützt China jedoch nicht mehr die Befreiung Palästinas. Mit der Anerkennung der Grenzen von 1967 zwischen Israel und Palästina erkennt die chinesische Regierung im Wesentlichen die israelische Kolonisierung Palästinas als legitim an. Solange Kolonisierung und Besatzung andauern, kann es keinen dauerhaften Frieden in Palästina geben. Daher ist der von China vorgeschlagene „Frieden zwischen Israel und Palästina“ äußerst heuchlerisch, da er auf regionale Stabilität abzielt, um Kapital besser nach Palästina und in andere Länder des Nahen Ostens zu exportieren und kapitalistische Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Israel zu entwickeln. Sich auf irgendeine imperialistische Macht zu verlassen, wird daher weder die Befreiung des palästinensischen Volkes noch den Frieden in Palästina bringen. Der Kampf des palästinensischen Volkes muss jede Abhängigkeit von imperialistischen Kräften zurückweisen und ablehnen. Darüber hinaus unterstützen wir weltweit Bewegungen, die sich gegen Israel und für das palästinensische Volk einsetzen, sich mit den Kämpfen zur Verteidigung und Durchsetzung der Freiheit und demokratischen Rechte der Länder verbünden, die gegen Rassismus kämpfen und die Antikriegsbewegung der Arbeiter:innen unterstützen.

Viele reaktionäre Kräfte, einschließlich konservativer Liberaler in China, preisen Israel als Vertreter der Zivilisation und des Friedens und benutzen Islamophobie, um palästinensische Araber:innen als „Terrorist:innen“ zu bezeichnen. Dies ist eine völlige Verzerrung. Der Zionismus opfert die Interessen der einheimischen Palästinenser:innen, um einen rassistischen jüdischen Staat von Siedler:innen zu errichten. Viele chinesische Nationalist:innen unterstützen zwar oberflächlich betrachtet Palästina, aber im Grunde stehen sie auf einer Linie mit den geopolitischen Interessen Chinas und Russlands. Einige sind sogar antisemitisch eingestellt und sympathisieren mit Hitlers Judenvernichtung. Unterdrückung sollte niemals eine Rechtfertigung für noch mehr Unterdrückung sein. Wir wenden uns gegen alle Formen des Rassismus, nicht nur gegen bestimmte Rassen und Ethnien.

Seit über siebzig Jahren leidet das palästinensische Volk unter der israelischen Unterdrückung, die vom Weltimperialismus unterstützt wird. Diesmal haben wir jedoch den Verrat der arabischen herrschenden Klassen am palästinensischen Volk erlebt: die ägyptische Regierung, die mit Israel zusammenarbeitet, um Mauern um den Gazastreifen zu errichten, Syrien und Jordanien, die palästinensische Flüchtlinge und Andersdenkende unterdrücken, der Iran, der in erster Linie die Hamas fördert, um seinen Einfluss in Palästina auszuweiten, und der Libanon, der linke Organisationen unter palästinensischen Flüchtlingen unterdrückt. Sich allein auf lokale palästinensische Bemühungen zu verlassen, reicht nicht aus, um Israels Kolonialismus und Apartheid zu beenden. Das palästinensische Volk braucht die Unterstützung von Massenbewegungen im Nahen Osten und in der ganzen Welt. Die Welle der Revolte gegen reaktionäre Kräfte in Westasien und Nordafrika sowie gegen die iranische Theokratie wird den Weg für den autonomen Widerstand des palästinensischen Volkes ebnen. Die Sache der Befreiung Palästinas ist die der Arbeiter:innenklasse und unterdrückten Völker auf der ganzen Welt.

Die Kämpfe der Arbeiter:innen im Nahen Osten und der palästinensischen Flüchtlinge, die in verschiedenen Ländern leben, sind oft miteinander verflochten. Ein solcher Widerstand darf sich keinesfalls für eine Seite der verschiedenen imperialistischen oder regionalen Mächte entscheiden, sondern stützt sich auf Kämpfe, die von der Selbstorganisation der Arbeiter:innenklasse unabhängig geführt werden, mit dem Ziel der gemeinsamen Niederlage aller imperialistischen Mächte. Verschiedene selbstorganisierte Basiskomitees in der syrischen Revolution, Volksvertretungen in der algerischen Volksbewegung, Arbeiter:innenbewegungen in Tunesien, Frauenproteste und Arbeiter:innenstreiks im Iran, der sudanesische Berufsverband, der den Kampf der Arbeiter:innenklasse gegen die Militärdiktatur im Sudan vertritt, sie alle dienen als notwendiger Ausgangspunkt für künftige Kämpfe, die schließlich die Macht der bürgerlichen Staaten im Nahen Osten brechen, dem israelischen Zionismus die Grundlage entziehen und die Errichtung eines multiethnischen, gleichberechtigten, demokratischen, säkularen und sozialistischen Palästinas ermöglichen werden, das Araber:innen, Juden, Jüdinnen und andere einschließt. Um die Befreiung Palästinas zu erreichen und zu verhindern, dass die Früchte des Kampfes von reaktionären Kräften wie der Muslimbruderschaft oder der Hamas ausgebeutet werden, plädieren wir für die Gründung von revolutionären Arbeiter:innenparteien in der Region und darüber hinaus.

Wir schlagen hiermit folgende Forderungen vor:

  • Schluss mit der zionistischen Herrschaft in Israel!

  • Nieder mit Kolonialismus und Rassismus!

  • Widersetzt euch der Einmischung der imperialistischen Kräfte in Palästina!

  • Freiheit für ganz Palästina!

  • Strebt nach der Errichtung eines säkularen, ethnisch gleichberechtigten, demokratischen und sozialistischen palästinensischen Staates!

  • Arbeiter:innen und Menschen in Westasien und Nordafrika vereinigt euch!



Ein Jahr Regierung Meloni: eine Kriegserklärung gegen die Arbeiter:innenklasse

Azim Parker, Infomail 1239, 18. Dezember 2023

„Man lacht, um nicht zu weinen“ ist eine sehr beliebte Redewendung in Italien. Die Grenze zwischen Tragödie und Farce war nämlich in der Geschichte des Landes manchmal sehr, sehr dünn. Man denke nur an die zwanzig Jahre der Berlusconi-Regierung, die zwischen einem Witz und einer internationalen Blamage auch die Zeit fand, 2001 die Demonstrant:innen gegen den G8-Gipfel in Genua massakrieren zu lassen.

Das erste Jahr der Regierung Melonis bestätigt diese groteske Tendenz. Allein in diesem ersten Jahr konnten wir alle möglichen erbärmlichen Schauspiele ansehen, darunter über Facebook die Trennung der Ministerpräsidentin von ihrem Partner – einem rassistischen und frauenfeindlichen Pseudojournalisten –, einen peinlichen Scherzanruf auf Kosten von Giorgia Meloni, der die Regierung vor der ganzen Welt lächerlich machte, einen absurden Kampf gegen harmloses CBD-Cannabis und vieles mehr. Das Problem ist, dass die Arbeiter:innenklasse einen unglaublich hohen Preis zahlen musste, um Zeugin dieses Spektakels zu werden.

Ein beispielloser Angriff auf die Arbeiter:innenklasse und die Armen

In der Geschichte der Republik gab es sicherlich noch nie eine so starke Verschlechterung der Lebensbedingungen der ärmeren Schichten. Italien ist das Land mit dem stärksten Rückgang der Reallöhne unter den großen OECD-Volkswirtschaften. Bis Ende 2022 waren sie im Vergleich zum Zeitraum vor der Pandemie um 7 % gesunken. Dieser Rückgang setzte sich im ersten Quartal diesen Jahres fort, mit einem Minus von 7,5 % – all das im Rahmen einer grundsätzlich maroden Wirtschaft.

Wenn auch nach der Pandemie tatsächlich eine gewisse Erholung des Wachstums zu beobachten war – im Jahr 2022 ist das BIP tatsächlich um 3,7 % gewachsen –, belasten der Anstieg der Rohstoffpreise aufgrund des Krieges in der Ukraine, die Rezession in Deutschland – dem wichtigsten wirtschaftlichen Partner Italiens –, die Wiedereinführung des Stabilitätspakts und die ständige Erhöhung der Zinssätze die Staatskassen und die öffentliche Verschuldung wie ein Mühlstein. Infolgedessen ist das erste Jahr der Regierung Meloni im Wesentlichen von beispielloser Aggressivität gegenüber den italienischen Lohnabhängigen geprägt.

Arme

Die ersten Opfer der kriminellen politischen Maßnahmen der Regierung waren die Arbeitslosen und die ärmsten Teile der Bevölkerung, die durch eine SMS darüber informiert wurden, dass sie ihr Grundeinkommen, das sog. Bürgergeld verloren haben. Diese auf Betreiben der Fünf-Sterne-Bewegung 2019 eingeführte Transferleistung war zwar selbst eine äußerst demagogische und bestimmt problematische Maßnahme, die sicherlich die Armut nicht „abgeschafft“ hat, wie der damalige Minister Di Maio bei ihrer Einführung erklärte, stellte jedoch für eine gewisse Zeit sowohl das einzige Mittel zum Überleben für viele arme Leute dar als auch eine Barriere gegen die Überausbeutung vieler prekärer Beschäftigter, insbesondere in der Tourismus- und Gastronomiebranche, die berechtigterweise in Anbetracht einer Alternative begonnen haben, die unwürdigen Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen abzulehnen.

Es ist kein Zufall, dass diese Maßnahme damals auf starken Widerstand bei Kleinunternehmen gestoßen ist. Hinter ihrem sozialchauvinistischen Gejammere über die „Penner:innen, die auf Kosten des Staates leben“, verbarg sich nur ihre Frustration darüber, dass sie niemanden mehr mit Hungerlöhnen erpressen konnten.

Arbeitsgesetz

All das stellt jedoch nur die Spitze des Eisbergs dar. Das Arbeitsgesetz, das zynisch am 1. Mai 2023 erlassen wurde, ist eine regelrechte Kriegserklärung. Es reicht von der Verlängerung befristeter Verträge, also der häufigsten Form prekärer Arbeit in Italien, bis zur Kürzung der

Abgabenschere, einer vom Staat stark beworbenen Maßnahme, die jedoch in Wirklichkeit eine Beleidigung für alle italienischen Lohnabhängigen ist. Um die Kluft zwischen Netto- und Bruttolohn zu verringern, hat die Regierung tatsächlich 4,1 Milliarden Euro bereitgestellt.

Das bedeutet, dass die italienischen Arbeitenden eine Erhöhung des Nettogehalts von 50 bis 100 Euro erhalten werden! Ein Betrag, der angesichts der Inflation völlig bedeutungslos ist. Diese Maßnahme geht natürlich nicht mit einer Erhöhung der Löhne einher. Nicht zufällig hat sich Confindustria – der Italienische Unternehmerverband – sehr zufrieden gezeigt und dieses weitere Geschenk gerne angenommen. Die größte Ironie besteht jedoch darin, dass diese Mittel von der öffentlichen Verschuldung getragen werden, also von den gleichen Arbeiter:innen, die bereits erhebliche Kürzungen bei Renten und öffentlicher Gesundheit hinnehmen müssen, damit „die Rechnung aufgeht“. Real werden also die Unternehmen entlastet, während die Lohnabhängigen durch Sozialkürzungen das verlieren, was sie scheinbar erhalten.

Gesundheitssystem

Gerade das öffentliche Gesundheitssystem ist eines der Schlachtfelder, auf denen die Regierung besonders verheerend vorgegangen ist. In den letzten 10 Jahren wurden in Italien 111 Krankenhäuser geschlossen und 37.000 Betten abgebaut. Der Mangel an medizinischem und pflegerischem Personal ist mittlerweile zu struktureller Natur in den Ambulanzen und Krankenhäusern geworden. All dies geschieht, während der Zugang zu den Universitäten beschränkt ist und komplizierte, von Nepotismus und Unorganisiertheit geprägte Auswahlverfahren die Einstellung neuen Personals weiter erschweren.

Der Tarifvertrag für Krankenpfleger:innen wird seit drei Jahren nicht erneuert. Die Regierung Meloni hat eine Gehaltserhöhung von 4 % angeboten, was die Hälfte des durch die Inflation verlorenen Wertes der Gehälter wäre! In der Zwischenzeit hat das letzte Haushaltsgesetz weitere 2 Milliarden Euro an Mitteln aus dem gesamten Gesundheitssystem gekürzt, alles zum Vergnügen des Privatgesundheitswesens. Dieses sieht nicht nur eine Steigerung seiner Gewinne, sondern erhält auch üppige Subventionen genau von dem Staat, der das öffentliche Gesundheitswesen ruinieren lässt.

Die reaktionäre Rhetorik der Regierung zum Thema Familie hat sich in der Erhöhung der Mehrwertsteuer für Babynahrung und Windeln niedergeschlagen. Laut Regierung sei es notwendig, zum Wohle der Nation Kinder gegen die „ethnische Substitution“ durch Migrant:innen zu gebären – dies wurde tatsächlich vom Landwirtschaftsminister gesagt! Dass die Familien diese Kinder nicht ernähren können, ist jedoch irrelevant. Nicht zu vergessen, dass das Wahlversprechen, die Mineralölsteuer abzuschaffen, natürlich schnell gebrochen wurde.

Das Gemetzel an Migrant:innen geht weiter …

Das italienische Proletariat ist nicht das einzige Ziel. Die Regierung hat sich im letzten Jahr besonders vehement auch gegenüber Migrant:innen positioniert, die immer schon ein erklärtes Ziel dieser Rassist:innen waren. Und sie wollen so auch den Anstieg der Unzufriedenheit aufgrund der nicht eingehaltenen Wahlversprechen eindämmen. Schon während des Wahlkampfs war eine der bekanntesten Forderungen der Regierung die nach einer „Seeblockade“ Italiens, eine ultrareaktionäre und letztlich unrealisierbare Maßnahme, die dazu diente, das vorhandene rassistische Gefühl in der Bevölkerung zu schüren und kapitalisieren.

Natürlich hat die Undurchführbarkeit der Seeblockade Giorgia Meloni und ihre Kompliz:innen nicht daran gehindert, ebenso kriminelle Politiken gegenüber Migrant:innen zu verfolgen.

Zuerst das Abkommen mit der Regierung des tunesischen Folterpräsidenten Saied, der sich gegen Zahlung dazu verpflichtete, die abfahrenden Immigrant:innen in seinen Lagern zurückzuhalten, ein Abkommen ähnlich dem bereits bestehenden mit Libyen. Nach dem Scheitern der Verhandlungen mit Saied flog Meloni nach Albanien, um im Geheimen mit Premierminister Rama über die Schaffung von Anhaltelagern für Migrant:innen zu verhandeln, im Austausch gegen Italiens Hilfe, Albanien in die EU aufzunehmen. Einfach ekelhaft!

In der Zwischenzeit hat sich die Regierung verpflichtet, die Aktivitäten von NGOs so weit wie möglich zu behindern, indem sie die Schiffe dazu zwingt, die Geflüchteten zu Häfen weit entfernt vom Rettungsort zu bringen, und sie de facto auffordert, mögliche mehrfache Rettungsanfragen zu ignorieren. Im Inland hat sich Meloni dazu verpflichtet, neue Zentren für administrative Inhaftierung – die berüchtigten CPR (Rückkehrzentren) – zu errichten, die tatsächlich echten Gefängnissen gleichen, in denen Migrant:innen darauf warten, abgeschoben zu werden. Das erklärte Ziel dieser beschämenden Politiken ist – genauso wie bei anderen europäischen Regierungen, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung – die Blockierung der Einreisen. Tatsächlich ist dies eine schändliche Rechtfertigung. Angesichts von Hunger, Gewalt und Freiheitsberaubung gibt es nichts, was Menschen davon abhalten kann, anderswo ein besseres Leben zu suchen. Alle Anstrengungen der Regierungen, dies zu verhindern, tragen nur dazu bei, das Leiden und den Tod von Hunderttausenden von Menschen zu erhöhen. Nur der Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und für eine sozialistische Ordnung kann ihnen endlich Gerechtigkeit bringen und die Menschheit von dieser Tragödie befreien.

Die ohrenbetäubende Stille der Opposition und der Gewerkschaften

Besonders schändlich angesichts dieser Situation erscheint das Verhalten der wichtigsten Gewerkschaften – CGIL, CISL, UIL. Unser Bericht über den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Regierung Meloni könnte hier enden. In einem Jahr Regierung sind die wichtigsten Gewerkschaftsorganisationen des Landes, insbesondere die CGIL, durch eine entwaffnende Lethargie aufgefallen. Bis Oktober 2023 wurde keine einzige Demo auch nur symbolisch gegen die Regierung organisiert.

Im Gegenteil, der Generalsekretär der CGIL, Landini, war so nett, Giorgia Meloni einzuladen, eine Rede auf dem Gewerkschaftskongress im März zu halten. Nach einer rein rituellen Demonstration im Oktober in Rom, bei der jedoch die Arbeiter:innen die Gewerkschaftsbürokratie unter dem Ruf nach einem Generalstreik bedrängten, sah sich Landini im November gezwungen, einen Streik auszurufen. Einen Streik, der an drei verschiedenen Tagen regional organisiert wurde – das bedeutet, dass im Norden, in der Mitte und im Süden Italiens an drei verschiedenen Tagen gestreikt wurde. Diese Entscheidung, mittlerweile eine Praxis für die CGIL, zielt offensichtlich darauf ab, die Auswirkungen der Arbeitsniederlegung so weit wie möglich abzuschwächen und sie so harmlos wie möglich zu machen. Trotzdem nutzte die Regierung, insbesondere Verkehrsminister Salvini, die Gelegenheit, die Gewerkschaft und die Arbeiter:innen weiter anzugreifen, indem er erklärte, dass der Streik illegal sei, da er das Recht der Bürger:innen auf Mobilität verletze und daher aufgehoben werden müsse.

Das wäre eine großartige Gelegenheit gewesen, eine echte Mobilisierung gegen die Regierung rund um die Verteidigung des Streikrechts auszulösen. Eine Mobilisierung, die dem bereits unzufriedenen italienischen Proletariat sicherlich eine konkrete Perspektive des Kampfes gegeben und die Regierung in Schwierigkeiten gebracht hätte. Landini hielt es jedoch für richtiger, die Dauer des Streiks auf 4 Stunden im öffentlichen Verkehr zu reduzieren, wodurch die Mobilisierung faktisch zu einem leeren Ritual wurde. In der Zwischenzeit schläft die Regierung ruhig, und Salvini kann sich in sozialen Netzwerken damit brüsten, die Gewerkschaften in den Griff bekommen zu haben.

Leider ist dieses erste Jahr der Regierung auch für die Basisgewerkschaften alles andere als positiv verlaufen. Die verschiedenen Gewerkschaften haben im Wesentlichen miteinander konkurriert, indem sie unkoordiniert und letztlich in Konkurrenz zueinander Ministreiks durchgeführt haben, mit dem einzigen Ziel, sich gegenseitig die Mitglieder wegzunehmen. Die Überwindung dieser sektiererischen Mentalität bleibt daher eine wesentliche Aufgabe für italienische Revolutionär:innen.

Die Bilanz des ersten Jahres der Regierung Meloni ist daher dramatisch. Auf der einen Seite steht die Notwendigkeit der Bourgeoisie und ihrer politischen Vertretung, ungeachtet ihrer internen Widersprüche ihre Gewinne und ihren Status quo auf Kosten des Proletariats zu schützen. Auf der anderen Seite erleben wir die ewige Wiederholung der reformistischen Linken, sowohl in der Politik als auch in den Gewerkschaften. Diese ist Opfer ihres eigenen Opportunismus und Mangels an Perspektiven jenseits der engen Grenzen des Kapitalismus, was sie dazu zwingt, mechanisch die gleichen Formeln und Rituale zu wiederholen, selbst wenn dies sie endgültig zum politischen Vergessen verurteilen.

In dieser Lage braucht es sowohl auf betrieblicher und gewerkschaftlicher wie auf politischer Ebene eigentlich eine Einheitsfront aller Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen die Angriffe der rechten Regierung und des Kapitals. Zugleich verdeutlich die Führungskrise der Arbeiter:innenklasse, dass es eine revolutionäre Partei braucht als politische Alternative zum Theater der bürgerlichen Politik und der Rechten.




Venezuela und die zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Jonathan Frühling, Infomail 1239, 17. Dezember 2023

Geschichte Venezuelas von 1998 – 2013

1998 wurde Hugo Chaves zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Dies war der Startpunkt einer Linksentwicklung auf dem südamerikanischen Kontinent. Diese Art des Linkspopulismus wurden nach Chaves als Bolivarismus bezeichnet (in Anlehnung an den antikolonialen General Símon Bolívar, der als wichtigste Person des antispanischen Befreiungskampfes im Norden des Kontinents gilt). Die politische Grundlage dieser Regierungssysteme war die Verstaatlichung einige Schlüsselindustrien. In Venezuela ist dabei vor allem Ölindustrie zu nennen. Von den so generierten Staateseinnahmen wurden vielfältige soziale Programme finanziert. Es gab zur Zeit Chaves genügend Wohnraum, günstige Bildung und gute Krankenversorgung. Außerdem wurden Arbeitsrechte verbessert und solid Renten- und Sozialsysteme eingeführt. Dadurch gewann Chaves ein großes Ansehen bei der Linken weltweit, besonders aber bei der verarmten Bevölkerung Venezuelas.

Allerdings ist dies keineswegs ein “Sozialismus des 21. Jahrhunderts”, was von Chaves und ähnlichen Regierungen in Bolivien, Ecuador oder Argentinien immer behauptet wurde. Tatsächlich handelte es sich um einen Klassenkompromiss. Trotz Verstaatlichung eines Teils der Industrie blieb das Privateigentum an Produktionsmitteln überall voll intakt. Ausbeutung von Arbeitskraft und damit eine Generierung von Mehrwert blieben Grundlage der Wirtschaft. Deshalb billigte die Bourgeoisie diese Regime. Außerdem schafften die sozialen Reformen politische Stabilität, die auch für die Bourgeoisie von Vorteil war. Streiks, die über den beschränkten Reformismus hinausgingen und die Klassenzusammenarbeit gefährdeten, wurde auch in Venezuela unter Chaves brutal niedergeschlagen. Zudem entwickelte sich ein durch und durch korrupter Staatsapparat, der letztlich der Bourgeoisie und vor allem sich selbst dient.

Ab 2013: Das Scheitern des Bolivarismus

Wie wir bereits Ende der 90er Jahre vorausgesagt haben, musste der Bolivarismus scheitern, da die Interessen der Bourgeoisie und der Lohnabhängigen absolut gegensätzlich sind und deshalb nicht ewig befriedet werden können. Der Zeitpunkt war gekommen, als 2013 die Ölpreise einbrachen. Die Sozialprogramme mussten dann zurechtgestutzt werden. So verlor die Regierung einen guten Teil der unterdrückten Klassen als Unterstützer:innen. Linke Proteste wurden von der Regierung brutal unterdrückt, das Land entwickelte sich ab 2013 unter dem neue Präsidenten Maduro vollständig zu einer Diktatur. Das beides entfremdete noch mehr Menschen von der Regierung. Auch die Profite der Bourgeoisie wurden mit der Wirtschaftskrise schmaler. Sie hatte damit genug vom Klassenkompromiss und wollte von diesem Zeitpunkt an eine durch und durch bürgerliche Regierung. Auch die USA sah nun die Möglichkeit gekommen, einen Regimechange herbeizuführen. Sie verhängte schon unter Obama ab 2015 immer mehr Sanktionen, die letztlich das Ziel hatten, das Land völlig in den Ruin zu treiben und so die Regierung zu destabilisieren. Damit waren Obama und später Trump leider erfolgreich. Heute existiert quasi eine völlige Blockade gegen Venezuela und jedes Land, welches mit Venezuela handelt, wird selbst sanktioniert. (Gerade am 20.10.2023 wurden die Sanktionen gelockert, da der Präsident Maduro Wahlen für 2024 angekündigt hat). Außerdem gibt es allerhand Sabotage von Seiten der herrschenden Klasse innerhalb des Landes.

Dass sich das Regime halten kann, liegt vor allem daran, dass die Armee die Regierung unterstützt und die führenden Generäle Angst haben, ihre Machtstellung unter einer USA-treuen und neoliberalen Regierung zu verlieren. Außerdem gibt es noch Teile der unterdrückten Klassen, die dem Regime die Treue halten, weil sie wissen, dass sie vom Neoliberalismus noch weniger zu erwarten haben. Außerdem gibt es auch regierungstreue Milizen, die neben der Armee existieren, und die einen Putsch schwieriger machen würden, als z.B. in Bolivien.

Wirtschaftliche und soziale Krise in Venezuela 2023

Venezuela ist heute durch die US-Blockade und den Widerstand der Bourgeoisie innerhalb des Landes heute faktisch ein failed state. Das Land ist einer der ärmsten der Welt. Das BIP liegt kaufkraftbereinigt bei 200 Mrd. US-Dollar. Das durchschnittliche pro Kopf Einkommen mit rund $ 3400 (2022) ist das 159. niedrigste der gesamten Welt. Die Wirtschaft ist seit 2013 um ein Drittel geschrumpft. Die Inflation ist von 2013 bis 2017 von 40 % auf 428 % gewachsen. Seit 2017 die US-Sanktionen greifen, ist sie auf unvorstellbare 65.000 % gestiegen, um dann bis 2022 auf 200 % zu sinken (Prognose für 2023: 400 %)  (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/).

Das Geld ist so wertlos geworden, dass es in Kolumbien an Touris verkauft wird und daraus zum Teil Handtaschen hergestellt werden. Es gab auch immer mal wieder Währungsreformen, die vorsahen einige Nullen zu streichen. An der realen Situation hat das natürlich nichts geändert. Die Arbeitslosigkeit ist auch explodiert. 2018 erreichte sie einen Wert von über 35 % (Quelle: https://www.statista.com/statistics/371895/inflation-rate-in-venezuela/). Viele Menschen haben deshalb ihre Lebensgrundlage verloren und sind hungernd auf der Straße gelandet; das Gesundheitssystem ist zusammengebrochen. In dem Zuge der Krise ist auch die Gangkriminalität explodiert. Venezuela ist heute das gefährlichste Land Südamerikas. Selbst für die, die überleben können oder konnten, bot und bietet das Land keine Zukunft mehr.

Zweitgrößte Geflüchtetenkrise der Welt

Aufgrund dieser grausamen Lage habe bis 2023 über 7 Millionen Menschen das Land verlassen. Dies ist nach Syrien die größte Flüchtlingsbewegung, die es momentan auf der Welt gibt. Rund 6 Millionen haben in Südamerika und der Karibik Zuflucht gesucht, alleine 2,5 Millionen in Kolumbien. (Quelle: https://www.uno-fluechtlingshilfe.de/hilfe-weltweit/venezuela)

Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR hat zum Teil Trinkwasser und Hilfspakete entlang der Flüchtlingsrouten zur Verfügung gestellt und geholfen die Menschen als Geflüchtete zu registrieren. Allerdings sind die Programme völlig unterfinanziert. Programme zur Ernährung, Bildung oder dem Schutz von Kindern mussten nach kurzer Zeit wieder eingestellt werden. Eigentlich bräuchte es nur 61 Millionen US-Dollar pro Jahr für die Finanzierung der Programme (ungefähr 3/4 des Geldes, was Deutschland für eine F-35 Kampfjet ausgibt oder 1/1640 des 100 Mrd. Sondervermögens der Bundeswehr). Aber 2023 waren nur 12 Prozent davon finanziert, also schlappe 7,3 Millionen (ungefähr 2 Leopard 2 Kampfpanzer) (Quelle: ebd.). Die Menschen werden als faktisch völlig im Stich gelassen.

Situation der Geflüchteten in Südamerika

Wie überall, wo Menschen zu Fuß flüchten, sind sie dabei von massiven Gefahren durch Wetter, Tiere und im besonderen Menschen bedroht. Hunger, Krankheiten und (sexuelle) Ausbeutung gehören für diese Menschen zum Alltag. Die Situation der Geflüchteten ist auch in ihren Zielländern in Südamerika katastrophal. Durch Corona sind diese Länder sowieso schon wirtschaftlich zerrüttet. Die Mittelklassen sind erodiert, Armut und Kriminalität grassieren wie nie zuvor. Formelle Arbeit zu finden ist als illegale Geflüchtete natürlich unmöglich, zumal der informelle Sektor in Ländern wie Kolumbien oder Peru 80% der Arbeitskräfte umfasst! Die Länder basieren also faktisch fast ausschließlich auf einer Schattenwirtschaft, in der es keine Arbeitsrechte gibt. Zudem gibt es sehr viel Diskriminisierung und Entrechtung, was dazu führt, dass Venezulaner:innen entweder gar nicht oder zu schlechteren Löhnen eingestellt werden. So lassen sich die einheimischen Lohnabhängigen gegen die Geflüchteten ausspielen. Viele landen völlig mittellos auf der Straße und geraten so in die Fänge der Mafia, die sie für ihre Zwecke missbraucht. Frauen bleibt oftmals keine andere Möglichkeit als sich für Hungerlöhne kontrolliert von der Mafia zu prostituieren. Männer werden dazu eingesetzt Schutzgeld einzutreiben oder Kriege gegen andere Gangs zu führen. In Kolumbien sind sie auch den sozialen Säuberungen der Gangs und reaktionären Bewohner:innen ausgesetzt, die wahllos Geflüchtete, Prostituierte und Drogenabhängige ermorden.

In Peru müssen sie als Sündenbock herhalten. Ähnlich wie in Ecuador rutscht das Land momentan in Chaos ab. Raubüberfälle, Morde und Schutzgelderpressung breiten sich rasendschnell im Land aus. Grund dafür sind die Verarmung des Landes durch Corona und durch die korrupten und neoliberalen Regierungen, die sich nur in die eigene Tasche wirtschaften und dem Kapital wortwörtlich den Weg freischießen, statt ernsthaft eine soziale und wirtschaftliche Entwicklung in dem Land anzustoßen. Durch die Regierung, das Parlament und die große bürgerlichen Medien wird jedoch das Narrativ verbreitet, dass die Schuld alleine bei den Geflüchteten aus Venezuela liegt, die per se kriminell sein. Ähnlich wie wir das aus Deutschland mit der Hetze gegen Geflüchtete kennen, werden hier alle tatsächlichen Verbrechen von Venezulaner:innen aufgebauscht und dadurch ein Zerrbild erzeugt. Das mittellose Geflüchtete zum Teil tatsächlich in die Kriminalität abgedrängt werden, ist natürlich durch die Diskriminierung und die Verweigerung der Integration zu erklären. Die Schuld muss hier also ganz klar bei der Regierung gesucht werden. Die Idee, dass die Geflüchteten das Land ins Chaos stürzen, ist allerdings zu wirksam, um von den eigenen Verbrechen abzulenken und das Land unter einer reaktionären Idee zu einen, als das die Regierung mit dieser Politik brechen würde.

Kampf dem Imperialismus und Kapitalismus!

Die Geflüchtetenkrise Venezuelas zeigt deutlich, wie der US-Imperalismus, der gescheiterte Populismus und Nationalismus bzw. Chauvinismus den Kontinent in den Ruin treiben. Als Revolutionär:innen müssen wir deshalb gegen alle diese Übel gleichzeitig vorgehen. Wir müssen für ein sofortiges Ende der Blockade Venezuelas eintreten, die die Basis dieser Krise ist. Obwohl wir die Politik von Maduro ablehnen, sollten wir die Regierung trotzdem gegen die von der USA unterstützen Putschversuche verteidigen. Der Kampf für bürgerliche Rechte, wie freie Wahlen, mehr gewerkschaftliche Rechte oder Pressefreiheit, verdient natürlich vollste Unterstützung. Allerdings brauchen wir einen Umstürz von links, der mit dem korrupten Regime Maduros Schluss macht und es durch wahren Sozialismus unter einer Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung ersetzt und das Land nicht an die herrschende Klasse und die USA ausliefert.

In den anderen Ländern Südamerikas müssen wir gegen die chauvinistische Spaltung der Lohnabhängigen kämpfen. Wir müssen uns gemeinsam gegen die Bosse organisieren und dürfen uns nicht gegen unsere Klassengeschwister aus Venezuela ausspielen lassen. Unsere Feind:innen sind letztlich die gleichen. Die Grundlage dieser Politik muss natürlich die gewerkschaftliche Organisierung aller Lohnabhängigen in den gleichen Organisationen sein. Die Grenzen müssen offen sein und es muss jeder Person in allen Ländern die gleichen Rechte zugestanden werden. Nur das kann uns dem Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung und für ein Leben in Freiheit näherbringen.




„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




Tarifvertrag Länder: Ausverkauf neu aufgelegt

Mattis Molde, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Das Ergebnis der Tarifverhandlungen ist nicht wirklich eine Überraschung. Nachdem in ver.di und der GEW die gleiche Forderung wie beim TVÖD, dem Tarifvertrag für die Beschäftigten beim Bund und bei Kommunen, aufgestellt worden war, war klar, dass die Gewerkschaftsführung dieses Ergebnis auch für die Beschäftigten bei den Ländern anstrebt.

„Mit diesem Ergebnis knüpfen die Beschäftigten der Länder an die Tarifentwicklung bei Bund und Kommunen an.“, sagt der Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), Werneke. Mehr sollten sie wohl auch nicht bekommen:

  • Inflationsausgleich von insgesamt 3000 Euro in Teilzahlungen. 1800 Euro davon sollen bereits in diesem Dezember fließen, weitere 120 Euro dann jeweils in den Monaten von Januar bis Oktober 2024.

  • Für Auszubildende, Dualstudierende und Praktikant:innen gäbe es dementsprechend 1000 Euro im Dezember 2023 und sie erhalten von Januar bis Oktober 2024 jeweils 50 Euro pro Monat.

  • Zum 1. November 2024 sollen die Entgelte in einem ersten Schritt um einen Betrag von 200 Euro angehoben werden.

  • In einem zweiten Schritt soll im Februar 2025 der dann erhöhte Betrag noch einmal um 5,5 Prozent steigen. Die gesamte Erhöhung soll allerdings in jedem Fall 340 Euro betragen (was nur für ganz wenige in der Entgeltstufe 1 zutrifft ).

  • Die Laufzeit soll sich auf 25 Monate (bis 30.10.2025). erstrecken, also einen Monat länger als beim TVÖD.

Im März hatte Werneke den damaligen Abschluss so gelobt: „Das ist eine nachhaltige Steigerung der Einkommen, die beachtlich ist“.

Das ist damals wie heute eine Lüge. Der Abschluss bedeutet einen heftigen Reallohnverlust. Die prozentuale Steigerung auf 12 Monate bezogen, liegt zwischen 4,2 und 8,1 Prozent, für die Mehrheit der Beschäftigten bei 5-6 Prozent. Das liegt unter der Inflation der letzten 2 Jahre und vermutlich auch der kommenden Zeit. Zur Erinnerung: Für die vergangenen 24 Monate hatte es gerade mal 2,8 Prozent gegeben und eine steuerfreie Prämie von 1300 Euro.

Einmalzahlungen

Die Einmalzahlungen von insgesamt 3000 Euro sehen auf den ersten Blick gut aus. Das ist jedoch eine mehrfache Täuschung:

  • Dieser Betrag geht wieder nicht in die Tabelle ein. Das Gesamteinkommen über die Laufzeit des Tarifvertrages fällt also nach dessen Ende automatisch. Die erreichten Preiserhöhungen werden mit Sicherheit nicht wieder entfallen.

  • Er geht auch nicht in Sonderzahlungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld ein und in alle Zulagen, die sich prozentual auf das Grundgehalt beziehen.

  • Auch in den vergangenen Jahren waren in den Tarifverträgen Einmalzahlungen von insgesamt 1300 Euro vereinbart worden, die jetzigen sind also teilweise nur eine Fortsetzung dieser Zahlungen. Eine „Entwicklung“(Werneke) stellen nur weniger als 1700 Euro dar, die, bezogen auf 25 Monate, knapp 70 Euro „Inflationsausgleich“ monatlich darstellen.

  • Aus diesen Einmalzahlungen werden keine Rentenbeiträge abgeführt. Die Beschäftigten zahlen also auch mit zukünftigem Rentenminus;

  • Weil diese Prämie kein „regelmäßiges Einkommen“ darstellt, wird sie auch nicht bei „Transferleistungen“ berücksichtigt, z.B. Elterngeld, Arbeitslosengeld oder Krankengeld. Wer z.B. am 1.11. 2024 in Elternzeit geht, erhält 150 Euro weniger Elterngeld im Monat als wenn sie/er eine Gehaltserhöhung von 3000 Euro netto während des ersten Jahres der Tarifvertrags- Laufzeit bekommen hätte. Der Staat holt sich als einiges davon zurück, so bei Eltern, Leuten, die länger krank sind oder arbeitslos werden.

Diese Inflationsausgleichprämie war als gesetzliche Möglichkeit bei der „Konzertierten Aktion“ (also einvernehmlich zwischen Regierung, Gewerkschaften und den KapitalvertreterInnen) im Herbst 2022 ausgehandelt worden, und sie fließt seitdem in alle Tarifverträge ein, ohne von Gewerkschaftsseite je in den Forderungen aufgetaucht zu sein. Genauso sind die Folgen dieser Prämie in keiner Gewerkschaft wirklich dargestellt und diskutiert worden. Einzige Ausnahme ist die NGG, bei der einige Tarifverträge auf die volle Ausschöpfung der 3000 Euro verzichten und stattdessen höhere Tabellenerhöhungen angestrebt wurden.

Weitere Ergebnisse

Weitere Aspekte sind Zulagen für Psychiatrien, den Justiz- und Maßregelvollzug, die Sozial- und Erziehungsdienste sowie den Straßenbetriebsdienst. Pflegekräfte im Gesundheitsbereich sind etwas „besser“ gestellt worden, indem sie dynamisierte Zulagen erhalten. Aber auch diese sind weit weg von einem Inflationsausgleich oder Anreiz im Beruf zu bleiben oder um neue Kräfte zu gewinnen. Darüber hinaus wird in Berlin die Hauptstadtzulage des TV-ÖD übernommen, die Stadtstaaten Bremen und Hamburg haben warme Worte erhalten: eine Gesprächszusage für Mitte 2025.

Es wurde kein TV-Stud, der angestrebte Tarifvertrag für studentische Beschäftigte, auf Bundesebene durchgesetzt. Dieser TV ist auf den Sankt Nimmerleinstag abgeschoben worden. Hier werden ein paar popelige Lohnerhöhung ab dem Sommersemester 2024 auf 13,25 Euro/Stunde und ab dem Sommersemester 2025 auf 13,98 Euro in Aussicht gestellt. Auch einige kleine Änderungen bei Befristungen gibt es. Zum Vergleich, die GEW hatte ursprünglich 22 Euro gefordert. Was der „erste wichtige Schritt hin zu einem zukünftigen Tarifvertrag für studentisch Beschäftigte“, von dem Werneke spricht, sein soll, hat er wohl aus gutem Grund nicht ausgeführt.

Auf die Beamt:innen soll dieser Vertrag wertgleich übertragen werden. Die vielen Beschäftigten, die nicht direkt dem TV-L unterliegen, aber für die selbiger angewendet wird, („Anwender:innen“) werden bisher überhaupt nicht erwähnt, ihnen drohen weitere Abstriche je nach Arbeit“geber:in“.

Warum diese Niederlage?

Das Ergebnis kann nicht ohne den Ablauf der Tarifrunde bewertet werden. Am Anfang wurden bei GEW und ver.di alle Diskussionen über die Forderungen unterdrückt und gegebenenfalls abgewürgt. Stattdessen wurde eine „Befragung“ organisiert, bei der keine eigenen Vorschläge gemacht werden konnten.

Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vornherein beabsichtigt hatte. Warum aber haben die Spitzenbürokrat:innen nicht im Vorfeld offen für diese geworben? Die Argumente, mit denen sie diese Forderung rechtfertigten, hätten sie auch schon 2 Monate zuvor in einer demokratischen Debatte innerhalb der Gewerkschaften vorbringen können, nämlich dass der Öffentliche Dienst doch eine Gemeinschaft sei, egal ob Bund, Länder oder Kommunen, dass die wirtschaftliche Lage ähnlich sei, die Inflation vielleicht sogar etwas zurückgegangen sei.

Ganz offensichtlich sollte nicht nur genau diese Forderung durchgedrückt, sondern auch eine innergewerkschaftliche Debatte vermieden werden. Diese hätte auch die soziale Lage, die Politik der Regierung, die diese mitverursacht hat, die TVöD-Runde, in der die Gegenseite mal wieder das berüchtigte Schlichtungsabkommen zog (an dem die Bürokratie aber festhält, obwohl es der Gewerkschaft immer nur Nachteile verschafft), und den Abschluss einbezogen.

Es wären also die Kritik gekommen, die jetzt nach dem erneut vollzogenen Reallohnverlust kommt, und den Spielraum für Manöver eingeschränkt. Es hätte im Übrigen auch Raum für ein Kritik an der Ampel von links, von den Gewerkschaften her, geschaffen, stattdessen wird diese Kritik völlig den Rechten überlassen, die Gesellschaft und Ampel in eine wüste rassistische Debatte hineintreiben.

Was bedeutete dieses Vorgehen?

Das antidemokratische Vorgehen der Führung schon während der laufenden Tarifrunde hat eine klare Botschaft: Wir entscheiden, wie die Forderung aussieht, wir entscheiden, ob und wie gekämpft wird, und wir entscheiden, was abgeschlossen wird.

Es bekräftigt die Aussage des TVöD-Tarifkampfes: Ihr könnt die Forderung von unten hochdrücken, ihr könnt Euch und Eure Kolleg:innen besser mobilisieren als die letzten 15 Jahre, wir drücken trotzdem das durch, was wir für richtig halten, was wir mit der Regierung in der Konzertierten Aktion vor einem Jahr abgesprochen haben, und wir werden es schaffen, uns durch unverbindliche „Befragungen“ oder „Voten“ eine Legitimation zu holen. Die Zustimmung der Bundestarifkommission zu diesem Ergebnis, die erneute Durchführung eines „Votums“ statt Vollversammlungen in den Ämtern, Behörden und Betrieben, ja, die Weigerung der GEW selbst eine solche „Befragung“ durchzuführen, bestätigt diesen Durchgriff von oben!

Es bekräftigt die Gesamtaussage aller großen Tarifauseinandersetzungen des letzten Jahres, dass, egal wie hoch der Organisationsgrad und die Kampfbereitschaft sind, sie schützen nicht davor, in Tarifverhandlungen von der Führung ausverkauft zu werden. Im Verlauf des letzten Jahres haben Chemie, Metall, TVöD, Post und EVG sehr ähnliche Abschlüsse erzielt. Jetzt wurde bei dem angeblich so schlecht organisiertem Öffentlichen Dienst der Länder an  wenigen, zersplitterten Streiktagen das gleiche Ergebnis erzielt, wie bei Bund und Kommunen mit 29 Streiktagen! Viele Gewerkschaften, aber eine Politik!

Was bedeutet dies für kämpferische Gewerkschafter:innen?

Die Tatsache, dass offensichtlich die ver.di-Spitze ein abgekartetes Spiel spielt, darf keinesfalls bedeuten, auf Tarifkampf zu verzichten. Das würde gerade den rechten Bürokrat:innen in der Gewerkschaft entgegenkommen. Die verzichten gern auf kämpferische Leute und stützen sich auf Trägheit und Gehorsam. Letztlich macht das auch der „linke“ Flügel des Apparates, der zwar auf mehr Dynamik und organisierte Mobilisierung setzt, aber nicht minder energisch auf die Kontrolle der Tarifbewegung und des Ergebnisses pocht. Zum Des Weiteren würde die Gegenseite eine Schwäche der Gewerkschaft sofort ausnutzen, einen noch schlechteren Abschluss durchzudrücken.

Alle, die unzufrieden sind und ein anderes Ergebnis wollen, müssen sich zum Sprachrohr der teilweise großartigen Mobilisierung machen, die in den Stadtstaaten, aber auch in den Unikliniken der Länder und anderen Hotspots, z. B. Sozialwesen, deutlich stärker war als in früheren Runden. Woche für Woche beteiligten sich zehntausende Landesbeschäftigte – Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen, Lehrer:innen, Beschäftigte an den Hochschulen, an Kultur- und Bildungseinrichtungen der Länder, aus der Verwaltung, von Landesklinken, studentische Beschäftigte und viele mehr – an den Warnstreiks.

In vielen Städten und Regionen widerlegten sie so eindrucksvoll die Behauptung, dass die Landesbeschäftigten mobilisierungsschwach und faktisch kampfunfähig wären. Am Stadtstaatenstreik beteiligten sich in Berlin, Hamburg und Bremen am 22. November um die 20.000 Kolleg:innen. Am Bildungsstreiktag, dem 28. November, gingen lt. Gewerkschaften in Leipzig 7.000, in Berlin 6.000 Streikende auf die Straße, bundesweit wohl Zehntausende. Dabei hatten sich schon dem Branchenstreik der Sozial- und Erziehungsdienste, der studentischen und universitären Beschäftigten und anderer am 24. November lt. ver.di 42.000 Gewerkschaftsmitglieder angeschlossen. Aber letztlich waren sie im Kalkül der Führung nur Statist:innen für einen Abschluss, den sie immer schon anvisierte.

Vom Unmut über den Abschluss zum Kampf gegen die Bürokratie

Die Taktik der Bürokrat:innen nach einem solchen Abschluss ist es stets, die Diskussion in ein Klein-Klein zu zerreden, den heftigsten Kritiker:nnen einzelne kleine Fehler zuzugestehen und darauf zu vertrauen, dass die Masse der Unzufriedenen murrt, aber passiv bleibt.

Es gilt also einerseits klar zu machen, dass die Gewerkschaftsspitzen dieses und kein anderes Ergebnis wollten. Für sie sind die Interessen des Staates bzw. des Kapitals unantastbar, bestimmte Grenzen dürfen nicht überschritten werden: Die Firmen müssen weiterhin genügend Profit abwerfen und im Konkurrenzkampf bestehen, die Entscheidungen des Staates, z. B. zur Aufrüstung, für Waffenlieferungen oder Unternehmenssubventionen werden nicht in Frage gestellt. Dem ordnen sie die elementaren Lebensinteressen der Arbeitenden unter. Die Gewerkschaftsbürokratie hat eine andere Interessenslage als die Mitglieder.

Das zeigt sich in Tarifkämpfen und in diesem besonders deutlich. Aber was können wir tun? Eine große Kampfbereitschaft von Seiten der Basis ist zwar nötig, aber nicht ausreichend, wenn es darum geht, faule Kompromisse und Ausverkauf auf dem Rücken der Beschäftigten zu verhindern. Wir müssen gerade jetzt klare Forderung formulieren, die den Bürokrat:innen ihre Tricks und Manöver unterbinden. Unmittelbar heißt das:

Nein zum Abschluss!

  • Stimmt mit Nein bei der ver.di-Mitgliederbefragung! Fordert verbindliche Abstimmungen über das Ergebnis ein!

  • In allen Betrieben, Abteilungen, Schulen und Kitas müssen Mitgliederversammlungen und Treffen der Betriebsgruppen einberufen werden, die das Ergebnis nicht nur diskutieren und bewerten, sondern auch Beschlüsse fassen, die es klar ablehnen.

Alle, die mit Nein stimmen, sollten miteinander in Kontakt treten und diskutieren, wie wir weiter vorgehen. Auch wenn wir das Ergebnis kaum noch kippen können, so müssen wir uns für die weiteren Auseinandersetzungen koordinieren und nicht bis zur nächsten Tarifrunde warten.

Klassenkämpferische Alternative ist nötig!

Aber es braucht auch eine Perspektive und Lehren über die unmittelbare Ablehnung des Abschlusses hinaus. In den kommenden Jahren und Monaten stehen nicht nur Tarifrunden an. Die Haushaltkrise wird auch in Form von Kürzungen die Beschäftigten treffen. Wir können daher keine zwei Jahre warten, bis die nächsten Tarifverhandlungen ins Haus stehen, sondern müssen auch dazu mobilisieren. Wir müssen darum kämpfen, dass die Mobilisierung unter Kontrolle der Basis stattfindet. Sie soll entscheiden, ob und wann Arbeitsstreiks, Warnstreiks oder ein Flächenstreik stattfinden. Schluss mit der Zersplitterung bei Aktionen. Gemeinsamer Kampf der Beschäftigten bei Ländern, Bund und Kommunen u. a. durch Zusammenlegung der Tarifrunden TV-L und TVÖD! Kündigung der Schlichtungsabkommen!

Bei Tarifrunden darf es keinen Abschluss ohne Zustimmung der Basis geben. Alle Gewerkschaften sollen ihre Kämpfe und Streiks koordinieren, z. B. einen Schulterschluss mit der GDL und dem Handel herstellen und Solidaritätsaktionen in anderen Branchen bei ver.di, GEW, IG BAU wie in allen anderen DGB-Gewerkschaften organisieren.

Die Entscheidungen müssen transparent und demokratisch sein! Daher sollten nicht nur Mitglieder- und Belegschaftsversammlungen einberufen, sondern auch Streikkomitees gewählt werden. Die bundesweite Streikleitung und die Verhandlungsführung müssen diesen gegenüber rechenschaftspflichtig und durch sie wähl- und abwählbar sein, um einer wirklichen Kontrolle unterzogen zu werden. Statt Geheimverhandlungen brauchen wir öffentliche, transparente Tarifrunden.

Forderungen müssen von den Mitgliedern diskutiert und entschieden, nicht von oben diktiert werden! Die Tarifkommissionen müssen gewählt werden. Stimmrecht nur für Delegierte, die dem jeweiligen Tarifvertrag unterliegen, also kein Stimmrecht für die Angestellten der Gewerkschaften! Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit aller Kommissionsmitglieder! Schluss mit der Schweigepflicht!

Dazu ist nötig, dass wir uns auf allen Ebenen vernetzen und eine oppositionelle, klassenkämpferische Basisbewegung aufbauen, so dass wir von kritischen Betriebsgruppen zu einer bundesweiten ver.di-Opposition, z. B. im Rahmen der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG), kommen. Nur so können wir die Tricks und Manöver der Bürokratie erkennen und bekämpfen und einen wirklichen Kurswechsel in den Gewerkschaften herbeiführen.




Gezeter um die Schuldenbremse: Auswirkungen und Hintergründe

Jürgen Roth, Infomail 1238, 12. Dezember 2023

Exemplarisch für die aktuelle Argumentation des Lagers der Hardliner nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil (siehe dazu: https://arbeiterinnenmacht.de/2023/12/01/bundesverfassungsgericht-bremst-haushalt-aus-fiskalkrise-droht/) stellen sich die FDP-Spitzen gegen die Forderungen von SPD-Chefin Saskia Esken und des DGB, die Schuldenbremse auch für 2024 wegen noch nicht ausgestandener Energiekrise auszusetzen. „Wir werden jetzt gezwungen, mit weniger öffentlichen Subventionen die Wirtschaft zu modernisieren“, tönt ihr Finanzminister und Bundesvorsitzender Christian Lindner. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sekundiert, die Ausgabenwünsche der SPD begründeten sicher keine Notlage. Selbst im Lager der Wirtschaftsweisen bleibt jedoch die Schuldenbremse umstritten. Was sind die tieferen Hintergründe dieser Debatte? Welche Position sollte die Arbeiter:innenklasse beziehen?

Auswirkungen

60 Milliarden Euro werden bis 2027 dem Klima- und Transformationsfonds (KTF) fehlen. Darunter fallen Projekte wie die Ansiedlung der Halbleiterchipfabriken von Intel bzw. TSCM in Magdeburg bzw. Dresden, aber auch die Wärmeversorgung der Kommunen und der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft und Zusagen für Anschubfinanzierungen auf dem Klimagipfel. Klima- und Wirtschaftsminister Habeck (Bündnis 90/Grüne) verweist auf den irreparablen Schaden für den Wirtschaftsstandort Deutschland und dessen internationale Wettbewerbsfähigkeit. Unter Verweis auf die Subventionspolitik Großbritanniens und den Inflation Reduction Act der USA spitzt er zu, die Vorhaben im KTF beträfen den „wirtschaftspolitischen Kern“ der BRD.

Da auch der Arbeitsmarkt Schleifspuren der schwachen Konjunktur zeigt, wächst auch der Bedarf an Arbeitsförderungsmaßnahmen. Im Berliner Abgeordnetenhaus warnt die Linksfraktion vor einer Neuauflage der Spar- und Privatisierungsorgien, wie sie kurz nach der Jahrtausendwende allerdings von der eigenen Partei mitgetragen wurden.

Doch woher die Mittel nehmen? Über Kürzungen an anderer Stelle im Etat, wie es FDP und Union fordern? Über Sondervermögen, Steuererhöhungen, Aussetzung oder gänzliche Abschaffung der Schuldenbremse? Um diese Punkte kreist die ganze Diskussion unter den staatstragenden Parteien.

Bundeshaushalt 2024: Attacken und Rettungsversuche

In der Bundestagsaussprache nach der Regierungserklärung des Kanzlers am 28. November wurde eines deutlich: Ein weiteres Aussetzen der Schuldenbremse über 2023 hinaus wird es mit Christenunion und AfD nicht geben. Das BVerfG hatte die nachträgliche Umwidmung von Sondervermögen, eigentlich Schattenhaushalten, ebenso untersagt wie die Mitnahme von nicht verbrauchten Haushaltsposten in folgenden Jahren. Die roten, nicht wählbaren Roben in Karlsruhe hatten sich damit wieder einmal als Blockierer:innen wie seinerzeit beim Berliner Mietendeckel betätigt, als Prellbock für jede ernsthafte Reform, geschweige denn Umwälzung. Das sei allen Linken ins Stammbuch geschrieben, die sich die Transformation zum Sozialismus auf schiedlich-friedlichem parlamentarischem Weg vorstellen!

CDU-Chef Merz setzte sich vehement gegen eine Erhöhung des Bürgergelds ab 1. Januar 2024 und für weitere Einschnitte im größten Posten, dem Sozialetat, ein. Dies war auch ein Wink mit dem Zaunpfahl an seine Parteikollegen im Ministerpräsidentenamt Berlins, Sachsens, Sachsen-Anhalts und Schleswig-Holsteins, die bemängelten, die Schuldenregel verhindere notwendige Investitionen. Auf der gleichen Klaviatur wie Habeck spielten die Fraktionsvorsitzenden von Grünen und SPD, während Linksfraktionschef – mittlerweile Chef ohne Fraktion – Bartsch einen konsequenten Abschied von der Schuldenbremse, aber auch mehr Einnahmen durch „gerechte Steuerpolitik“ forderte.

CSU-Chef Söder steht Merz und der FDP vehement zur Seite in puncto Bürgergelderhöhung und setzt noch einen drauf: Neu ankommende Ukraineflüchtlinge sollen kein Bürgergeld mehr bekommen und andere Geflüchtete erst nach 5 Jahren statt bisher 18 Monaten Anspruch auf Sozialleistungen erhalten.

Eigentlich sollte am 1. Dezember der nächste Haushalt verabschiedet werden. Nun mussten aber erste Anpassungsmaßnahmen für 2023 her. Das betraf Kredite aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) zur Finanzierung der Energiepreisbremse, wodurch die Nettokreditaufnahme des Bundes von 45,6 auf 70,6 Milliarden Euro stieg. Folglich wurde dies mit einer „außergewöhnlichen Notlage“ wie schon in den vergangenen 3 Jahren geltend gemacht. Schwieriger als die Umbuchung dieser längst ausgegebenen Finanzen wird die Aufstellung eines verfassungskonformen Bundesetats für 2024. Laut Lindner fehlen 17 Milliarden Euro plus 13 aus dem KTF. Er kündigte bereits an, die Strom- und Gaspreisbremsen mit Jahreswechsel statt erst Ende März 2024 auslaufen zu lassen. Weitere Möglichkeiten böten zusätzliche Kürzungen öffentlicher sowie Stärkung privater Investitionen und die Erhöhung der Kreditvergabe der staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Analyst:innen der Berenberg-Bank rechnen mit einem Loch von insgesamt 130 Milliarden Euro für die Jahre 2024 – 2027.

Mittelfristig bleiben der Bundesregierung 5 Möglichkeiten, um aus der Malaise ständiger Etatnachbesserungen zu entfliehen. Erstens könnte die Schuldenbremse abgeschafft oder reformiert werden, wofür es bei Grünen, SPD und Linkspartei eine Mehrheit gibt. Sonst wäre nächstes Jahr nur eine Neuverschuldung von 15 Milliarden Euro erlaubt. Da FDP und Union dagegen sind, scheitert aber die dafür notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Grundgesetzänderung. Die 2. Möglichkeit bestände in Ausgabenkürzungen, die dritte in Steuererhöhungen, die vierte in neuen Sondervermögen, die zudem noch dieses Jahr und wohl ebenfalls mit Zwei-Drittel-Mehrheit verabschiedet werden müssten. Wahrscheinlich ist, dass sich die Koalition auf moderate Ausgabenkürzungen festlegen wird, z. B. bei öffentlichen Investitionen (Bahnausbau). Fünftens bliebe die 5. Ausrufung eines Notstandes in Folge. Es ist zu erwarten, dass sich der Konflikt innerhalb wie außerhalb der Ampelparteien genau darum zuspitzen wird. Die Berenberg-Bank rechnet mit einem Deal mit der Opposition: Die Union werde wohl einer Reform der Schuldenregel zustimmen im Gegenzug für weitere Verschärfungen des Asylrechts.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Schuldenbremse?

Vielen gilt sie als Garantin solider Ausgabenpolitik, darunter Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD)! Anderen wie der Deutschen Bank (!) erscheint sie bei der derzeitigen schwachen Konjunktur neben Steuererhöhungen als Wachstumsbremse. Die Arbeiter:innenbewegung ist gut beraten, die Argumente ihrer Kritiker:innen aufmerksam zu studieren. Sie wird dann feststellen, dass die allermeisten „Reformer:innen“ gar keine Einwände hegen, wenn es um die Ablehnung von Erhöhung oder auch nur Stabilisierung „konsumtiver“ Ausgaben z. B. für Soziales geht. Das eint sie mit den Befürworter:innen der Schuldenbremse mit dem Unterschied, dass Letztere gerne mit ihr als Totschlagargument gegen aufkeimende Kritik an Sozialkürzungen zu Felde ziehen.

Stellvertretend für die Riege der Reformer:innen verweist Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD, denn auch auf den Nutzen von Staatsausgaben für Investitionen in „die“ Wirtschaft. Ob der Bau von Schulen, Investitionen in Lehr- und Klinikpersonal dazugehören, darüber streitet sich selbst diese Riege, während neue Autobahnkilometer zweifellos gut angelegt seien. Kinder, Kranke und Klima müssen sich nämlich als Wachstumsressourcen erweisen, sprich neue Einnahmen generieren oder/und Kosten sparen. Gegner:innen wie die Freie Porschefahrer:innenpartei FDP bringen das Argument vor, nur Privatinvestitionen könnten Technologien entwickeln, welche sich dann auf dem Markt durchsetzten. Das Problem für den nationalen Gesamtkapitalisten Staat besteht allerdings darin, dass für die klugen, smarten Privatunternehmen in der gegenwärtigen Phase industriellen und technologischen globalen Wettbewerbs die Risiken viel zu groß sind. In dieser allen Kontrahent:innen heiligen Wirtschaftsordnung ist der Erfolg insbesondere kreditfinanzierter Investitionen ebenso stets unsicher wie der der Sparpolitik – staatlicher wie privater! Verschärft wird das Dilemma, für Marxist:innen aus dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate resultierend, noch dadurch, dass die Großmächte den mit Unsicherheiten en masse behafteten Job der kreditfinanzierten Schaffung von Wachstumsmärkten in Konkurrenz gegeneinander verfolgen. Also: Kein Vertrauen in linksbürgerliche Kritiker:innen der Schuldenbremse einschließlich linker Reformist:innen wie DIE LINKE!

Konsequente Kritiker:innen?

Am Rande sei angemerkt, dass die ganze Schuldendebatte die Tatsache der erstmals laut Creditreform seit 2019 in der BRD wieder zunehmenden Privatverschuldung ebenso ignoriert wie die wachsende Zahl sog. Zombiefirmen, deren Kreditneuaufnahmen nur dazu dienen, alte Schulden zu begleichen, ohne dass diese Umschuldungen sie wieder in die Gewinnzone führen können.

Es gereicht Joachim Rock, Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik beim Paritätischen Gesamtverband zur Ehre, dass er unbeirrt von der Engstirnigkeit der Verfechter:innen klassischer wie „alternativer“ keynesianischer Wirtschaftspolitik die Erhöhung des Bürgergelds verteidigt. Er weist nach, dass die Regelsätze für laufendes und kommendes Jahr noch auf Einkommens- und Verbrauchsstichproben aus dem Jahr 2018 stammen – vor der Inflation also! Er wehrt sich auch gegen die Wiedereinführung des 2010 gestrichenen Lohnabstandsgebotes, mit dem stets die Senkung von Sozialleistungen, nicht aber Lohnerhöhungen gerechtfertigt werden sollen. Zu Recht verteidigt er die Erhöhung des Mindestlohns und den Ausbau des Wohngeldes wie die Verdreifachung der Zahl von Anspruchsberechtigten darauf. Es ist völlig richtig, soziale Errungenschaften zu verteidigen, ohne auch nur der Logik der wirtschaftspolitischen Debatte im bürgerlichen Mainstream ein Jota an Zugeständnissen zu gewähren.

Das möchte auch Elsa Egerer tun, ihres Zeichens Dozentin an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz mit Schwerpunkten Plurale Ökonomik und nachhaltiger Gestaltung von Geld- und Finanzmärkten, was immer diese begriffliche Geschwulst auch bedeuten mag. Sie verortet die 2009 eingeführte Schuldenbremse, die die Neuverschuldung des Bundes auf 0,35 % des BIP begrenzt, als Folge der expansiven Fiskalpolitik, mittels der die damalige globale Finanzkrise bewältigt worden sei. Doch in der Folge verteidigt Frau Egerer zwar im Unterschied zu oben genannten Streithähnen und -hennen auch konsumtive Ausgaben, jedoch mit aus der Mottenkiste des Keynesianismus entlehnter Moderner Monetärtheorie:

„… beruht die Schuldenbremse auf einer einseitigen und fehlgeleiteten ökonomischen Lehre […] der ökonomische Sachzwang, der die Schuldenbremse vermeintlich erfordert, existiert nicht. […] Haushaltsregeln sind keine ökonomischen Faktizitäten, sondern das Ergebnis des politischen Willens. […] Geld hingegen muss entgegen der dominanten Erzählung nicht erwirtschaftet werden, sondern entsteht, wenn Kredite vergeben werden. Schuld ist in unserem System die Voraussetzung für Geld.“ (NEUES DEUTSCHLAND [ND], 25./26. November 2023, S. 3)

Die „Theorie“ dieser ökonomischen Märchentante würde schon beim Monopolyspiel scheitern, zur Erklärung der kapitalistischen Produktionsweise liefert sie erst recht nur Verdunklung.

Lasse Thiele (ND, 1. Dezember 2023, S. 8) ist beizupflichten, wenn er schreibt: „Natürlich muss die Schuldenbremse weg. […] Doch nicht nur die bisweilen sozialpartnerschaftliche Rhetorik der neuen konservativen Kritiker*innen gibt Anlass zum Misstrauen. Auch Mitte-links-Kritik an der Schuldenbremse wirkt wenig emanzipiert von Kapitalinteressen, hängt meist altem keynesianischen Denken an und vertritt oft platten Standortnationalismus.“ Er plädiert für größere politische Tabubrüche: Vermögens- und Erbschaftssteuern, Abbau fossiler Investitionen.

Auch seinen weiteren Ausführungen ist vollständig beizupflichten: „Das Geld zur Beseitigung sozialer und ökologischer Verwerfungen von den Profiteur*innen einzutreiben, ist besser, als es verzinst von ihnen zu leihen. Anders als der Diskurs derzeit suggeriert, würden sich Verteilungsfragen selbst mit einer aufgehobenen Schuldenbremse nicht erübrigen. Nicht nur, wie Spielräume geschaffen werden – durch Schulden, Steuererhöhungen oder Subventionsabbau –, sondern auch, wofür sie genutzt werden und wem sie zugutekommen, bleibt eine Frage politischer Kämpfe. […] Es bleibt richtig, sich als Linke breiten Bündnissen für die Aufhebung der Schuldenbremse anzuschließen. Doch braucht es darin auch eine eigenständige Position. Die sollte über standortnationalistische Sorge um ,unsere Wirtschaft’ hinausgehen, emanzipatorische Maßstäbe für Investitionen anlegen und nicht in der grün-kapitalistischen Wachstumslogik aufgehen, laut der man sich aus der Klimakrise bequem herausinvestieren könnte.“

Das objektive Fazit seiner Gedanken mag er jedoch nicht ziehen: Dieser Wunschzettel bedarf zu seiner dringend notwendigen Realisierung nicht des Weihnachtsmannes, sondern des gewaltsamen Sturzes und entschädigungsloser Enteignung der herrschenden Klasse und ebenso des Aufbaues einer sozialistischen Planwirtschaft!

Tanz ums goldene Kalb

Allem Gesagten fehlt ein zentraler Aspekt, der erst das Gezänk um die Schuldenbremse verständlich macht. Es ist der global entbrannte Kampf nicht nur um Wachstumspfade, sondern um die Rettung des Kapitalstocks und liquiden Vermögens und Einkommens zu seinen historischen Werten. Das übersehen auch viele sich auf den Marxismus berufende Zweifler:innen an der Gültigkeit des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate und dessen immanenter Krisentendenz. Sie argumentieren, dass durch technologische Verbilligung des konstanten Kapitals die organische Zusammensetzung sinken und dadurch beschleunigte Akkumulation wieder einsetzen können. Sie ignorieren, dass dies ohne schlagartige, verheerende Entwertung des Anlagevermögens nicht zu haben sein wird. Und genau darum geht es eben auch bei der Schuldenbremse insbesondere in Zeiten, wo selbst die OECD mit alles anderem als einer „weichen Landung“ nach dem Pandemieschock und inmitten hartnäckiger Kerninflation, wachsender Verschuldung und Rezession im Euroraum und darüber hinaus rechnet.

Nachdem sich der kreditstimulierte Kasinokapitalismus zusehends seit 2008/2009 erledigt hat, droht ein Wettlauf darum, wer bzw. welche Macht zuerst sein/ihr fiktives Kapitals als realen Wert retten kann – Flucht in reale Sach- und Vermögenswerte, eben der Tanz um die Vergoldung des eigenen Kälberstalls.

Wenn die Börse in den USA bei der Quartalsmeldung über gestiegene Arbeitslosenzahlen zu einem Kursfeuerwerk abhebt, steckt dahinter die Spekulation, dass eine Rezession zu sinkenden Zinssätzen führen möge, die den Kurs der Geldanleihen in die Höhe treibt. Die Gläubiger:innen blieben dann besser im Geschäft auf Kosten des Bankrottes ihrer Konkurrent:innen und überdies kreditwürdiger und damit wachstumsträchtiger. Es geht also um ein Rattenrennen zur Verhinderung der Entwertung des Anlagevermögens, wenn sich zusehends Geld gebieterisch als Wertmaßstab und weniger als Zirkulationsmittel zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs zur Geltung bringt: Hic Rhodus hic salta! (Hier gilt es, hier zeige, was du kannst!). Die Schuldenbremse entbehrt also durchaus nicht der Logik für die Superreichen. Die Arbeiter:inneklasse muss nicht nur kapitalistischem Wachstum eine Absage erteilen, sondern ans Eingemachte heran: Konfiskation des Produktiv- und Geldvermögens mit Entschädigung nur für Kleinanleger:innen und -sparer:innen.

Brecht die Macht der Banken und Konzerne!

  • Weg mit der Schuldenbremse!

  • Nehmt DIE LINKE und linke SPD, vor alle aber: nehmt die DGB-Gewerkschaften beim Wort: Fordert die Einleitung von Kampfmaßnahmen bis hin zu politischen Massenstreiks und nötigenfalls Generalstreik gegen Sozialklau, Klimawandel, Rezession, Massenverarmung, Verfall der Infrastruktur (Wohnen, Gesundheitswesen, Bildung, öffentlicher Transport, Klimaschutz)!

  • Keine Rücksicht auf Koalitionsräson und konzertierte Aktion! Bruch mit den offen bürgerlichen Parteien und der „Partner:innenschaft“ mit Kapital und Kabinett!

  • Einberufung einer bundesweiten Aktionskonferenz , um einen Mobilisierungs- und Kampfplan gegen die Kürzungen zu diskutieren und zu beschließen!

  • Entschädigungslose Enteignung des Großkapitals, der Banken, Fondsgesellschaften und Großanleger:innen!

  • Entschädigung für Kleinsparer:innen und -anleger:innen!

  • Für einen Sanierungsplan gesellschaftlich nützlicher Arbeiten unter Arbeiter:innenkontrolle und zu Tariflöhnen!

Ein Kampf gegen die laufenden und drohenden Angriffe darf und soll nicht nur auf Deutschland beschränkte bleiben, sondern muss sich auch gegen die gesamte Austeritätspolitik in der EU wenden. Dazu braucht es europaweit koordinierte Aktionen und politische Massenstreiks – Kämpfe, die ihrerseits die Machtfrage aufwerfen werden, für dies Kampforgane in den Betrieben und Stadtteilen braucht und der Perspektive der Arbeiter:innenregierungen verbunden werden müssen -für ein sozialistisches Rätedeutschland in einer Föderation der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!




Stadtverwaltung Stuttgart: Der Streik ist legal!

Interview mit einer Beschäftigten der Stadtverwaltung, Infomail 1238, 11. Dezember 2023

Die Beschäftigten der Stuttgarter Stadtverwaltung kämpfen seit Wochen für Einkommensverbesserungen. Am 4. Dezember streikten sie für Einkommensverbesserungen im Rahmen der Altersteilzeit und eine Ballungsraumzulage. Das folgende Interview führten wir mit einer Streikenden.

Arbeiter:innenmacht (AM): Hallo, warum habt Ihr am 4. Dezember gestreikt? Der Tarifvertrag TVöD läuft doch noch?

Antwort: Das stimmt. Aber bei der letzten Tarifrunde zum TVöD wurde nicht über das Thema Altersteilzeit entschieden, da ein Abschluss dazu damit verbunden gewesen wäre, eine spätere Tabellenerhöhung zu bekommen. Dies wurde von der Tarifkommission damals abgelehnt.

Dadurch ist man rechtlich beim Thema Altersteilzeit außerhalb der Friedenspflicht und darf dafür streiken. Neben den Beschäftigten in Stuttgart machen auch die in Köln davon Gebrauch. Die Stadt Stuttgart ist gegen den ersten Streikaufruf rechtlich vorgegangen und hat vor Gericht verloren, was schon mal ein wichtiger Erfolg für uns Beschäftigte war.

AM: Es geht also um eine Regelung zur Altersteilzeit?

Antwort: Ja, und um eine Stuttgartzulage: Bei uns in der Betriebsgruppe (BG) ist das Thema Ballungsraumzulage schon länger präsent und es war klar, dass wir es nach der Tarifrunde angehen wollten. Die Stadt München hat ja schon jahrelang eine tarifierte Zulage. In der BG war uns deshalb immer klar, die Zulage wollen wir nur tarifiert. Die Höhe haben wir in der BG diskutiert und haben uns an der Zulage, welche sich die Bürgermeister:innen im März selbst gegeben haben, orientiert: 472,52 Euro im Monat für alle Beschäftigten mehr.

Nachdem wir ja für die Zulage nicht streiken dürfen, haben wir das Streikrecht für die Altersteilzeit genutzt, um das Thema Zulage zu platzieren. Seit Juli haben wir für eine Stuttgartzulage über 7.300 Unterschriften von 11.000 Beschäftigten gesammelt.

AM: Und dann habt ihr losgelegt?

Antwort: Im November war dann der erste Streiktag. Hier wurde der Tag der ersten Lesungen für die Haushaltsberatungen gewählt, da dort der Gemeinderat über das Thema diskutieren und beschließen sollte. Doch der Tagesordnungspunkt wurde verschoben auf den 4. Dezember, also haben wir gestern diesbezüglich nochmal gestreikt. Kurzerhand haben Sie das Thema auf den nächsten Tag, also heute, 5. Dezember, verschoben, was uns alle sehr aufgeregt hat, und wir fanden es auch sehr feige, weil man offensichtlich den Streikenden aus den Weg gehen wollte. Der Streik hat direkt vorm Rathaus und Sitzungssaal stattgefunden.

Doch ver.di hat dann direkt beschlossen, dass wir spontan am Dienstag auch streiken. Das haben wir heute auch getan und der Gemeinderat hat beschlossen, dass es eine Zulage in Höhe von 150 Euro ab 01.07.24 geben solle, aber nicht tarifiert, sondern im Rahmen der Haushaltsbeschlüsse. Das ist eine Klatsche ins Gesicht, da der OB schon vor einigen Monaten angekündigt hat, dass er sich höchstens eine untarifierte Zulage in Höhe von 150 Euro vorstellen kann. Das heißt, unser Streik hat hier an seinem Vorschlag nichts geändert. Ein Gewinn ist nur, dass im nächsten Jahr nochmal über die Tarifierung entschieden werden soll. Anscheinend kann über die Tarifierung nur alle 6 Monate entschieden werden, daher momentan nicht. Was jetzt bzgl. Altersteilzeit beschlossen wurde, weiß ich gar nicht. Ich glaube, über das Thema wurde heute gar nicht gesprochen.

AM: Wie geht es weiter?

Antwort: Die meisten Beschäftigten sind wütend auf den OB. Aufgrund des Ergebnisses treffen wir uns nächsten Montag, den 11.12., wieder in der Betriebsgruppe und diskutieren, wie es weitergeht und ob wir nochmal streiken und wann. Vielleicht im nächsten Jahr erst.

Frage: Kannst du noch was zum Ablauf des Streik sagen?

Antwort: Am Streiktag vom 4.12. gab es eine große Streikversammlung mit offenem Mikro. Das war super, das gab es so während der Tarifrunde TVöD nicht in dieser Form. Die Stimmung war auch sehr gut. Die Beschäftigten im Erziehungs-/Pflegebereich sind einfach komplett am Ende und verzweifelt wegen Überlastung. Die Beschäftigten der Gärtnerei sind komplett unterbezahlt und versuchen, sich mit Nebenjobs über Wasser zu halten. Sie fanden die 470 Euro Zulage im Monat zu wenig – verständlich!

Sonst kamen kaum politische Statements, obwohl bei dieser Versammlung auch politische Gruppen anwesend waren mit ein paar Plakaten oder Flyern.

AM: Was denkst du, wie der Konflikt erfolgreich gewonnen werden kann?

Antwort: Ich finde es schwierig, dieses Thema zuzuspitzen und weiterführende Forderungen zu finden. Es braucht mehr Geld, völlig klar, und ich denke, man könnte in dem Rahmen auch einfach mal Vorschläge machen, woher das Geld kommen soll. Cuno Burne-Hägele, Geschäftsführer von ver.di (Bezirk Stuttgar), ist z. B. auf Stuttgart 21 eingegangen, was ich auch ein gutes Beispiel finde, um zu zeigen, dass Geld da ist.

Wir müssen das auch in der Betriebsgruppe nächsten Montag diskutieren. Die Forderung einer Ballungsraumzulage spielt ja auch bei der Tarifrunde der Länder eine Rolle. Das Teuere in der Stadt sind ja v. a. die Mieten, die dazu führen, dass eine Zulage notwendig wird. Die Forderung, dass der/die Arbeit„geber“:in für die teueren Mieten aufkommen soll, finde ich nicht schlecht, aber eine solche Zulage schließt Personen in anderen Städten aus oder die Leute, die in Stuttgart leben, aber woanders arbeiten. Es braucht ja eigentlich auch eine Zulage wegen Inflation, aber das sollte eigentlich die Tarifrunde ausgleichen,was sie ja nicht getan hat.

Jetzt stellt sich mir die Frage, ob man mit der Forderung einer Zulage einfach dem schlechten Tarifergebnis aus dem Weg geht und versucht, anders an Lohnerhöhungen zu kommen, weil ver.di es in der Tarifrunde verkackt hat, die Reallöhne zu sichern.

AM: Danke Dir, Du hast da wichtige Fragen angeschnitten, die ja auch anderswo gestellt werden. Es braucht wohl noch einige Debatten dazu in ver.di und darüber hinaus. Für Euren Kampf viel Erfolg!