Vor 100 Jahren: Gründung der Sowjetunion

Bruno Tesch, Infomail 1208, 30. Dezember 2022

Am 30. Dezember 1922 wurde die Sowjetunion gegründet. 100 Jahre später interpretieren russische wie westliche Medien das Ereignis zu ihrem eigenen Nutzen im Krieg um die Ukraine. Während Putin’s verlogene und zynische Propagandamaschinerie die Sowjetunion mit Großrussland gleichsetzt – inklusive einer positiven Bezugnahme auf Stalins großrussischen Chauvinismus -, stößt sie sich zugleich daran, dass es eben die Politik Lenins war, die eine Loslösung der Ukraine aus dem ehemaligen Zarenreich ermöglichte.

In der BRD wiederum gerät diesbezüglich selbst die FAZ zu einer schwachen „Verteidigerin“  der sowjetischen Politik Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, vor dem Stalinismus. Zugleich werden auch westliche Medien nicht müde, den heutigen russischen Imperialismus mit der Sowjetunion zusammenzuwerfen – unter weitgehender Verkennung des unterschiedlichen gesellschaftlichen Inhalts und großteiliger Ignoranz der Unterschiede zwischen 1917, 1922 und der nationalen Unterdrückung der Ukraine unter dem Stalinismus. Der Staat Putins ist eine kapitalistische, imperialistische Großmacht, die Sowjetunion war selbst zur Hochzeit Stalins und des Kalten Krieges ein degenerierter Arbeiter:innenstaat, mag dieser auch noch so russisch-nationalistisch aufgeladen gewesen sein. Dass Putin sich positiv auf Stalin bezieht, ist freilich kein Wunder. Beide eint eine tiefe Feindschaft den fortschrittlichen Errungenschaften des Oktobers gegenüber, wozu auch das Recht auf nationale Eigenständigkeit zählte.

Wir wollen hier daher selbst ein Blick auf das Ereignis vor 100 Jahren werfen – und damit auch ein revolutionäre Erbe gegen die Ideolog:innen der modernen imperialistischen Blöcke verteidigen.

Gründungsvorbedingungen

Am 30. Dezember jährt sich der 100. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion genannt. Russland, Ukraine, Weißrussland und Transkaukasien (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) schlossen sich zu einem föderativen Staatenbund zusammen.

Nach einem 4-jährigen Bürger:innenkrieg war die Konterrevolution im Lande trotz Unterstützung durch imperialistische Mächte militärisch besiegt. Die verheerenden Folgen dieses Krieges stellten die neu entstandenen Sowjetrepubliken aber vor gewaltige Aufgaben. Neben der gesamtgesellschaftlichen Aufbauarbeit musste auch die Isolierung seitens des Imperialismus durchbrochen werden.

3 Jahre zuvor war die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen worden. Sie steckte sich die Internationalisierung des Klassenkampfes und der Ausweitung der sozialistischen Revolution zum Ziel. Tragischerweise band jedoch der Überlebenskampf der Revolution in Russland viele revolutionäre Kräfte und kostete etlichen erfahrenen Kadern das Leben.

Eine durch Bürger:innenkrieg und bereits einsetzende Bürokratisierung geschwächte Kommunistischen Partei hatte zwar gesiegt, stand aber zugleich unter dem Druck klassenfremder Elemente im eigenen Land und der Weltbourgeoisie. Der durch Krieg, Isolierung und Rückständigkeit bedingte taktische Rückzug auf die „Neue Ökonomische Politik“ (NEP) verstärkte diesen Widerspruch objektiv.

Zugleich sollte sich aber auch die politische Schlussfolgerung, die die Kommunistische Partei unter Führung Lenins zog, um diese Situation zu bewältigen, selbst als Teil des Problems erweisen. Die Einschränkung der Parteidemokratie und das Fraktionsverbot (1921) stärkten die beginnende Bürokratisierung, die sich im Staat schon vollzog, bildeten einen Nährboden für die kommende bürokratische Konterrevolution unter Stalin.

Verfassung 1924

Auch wenn niemand während der Diskussion um die Gründung der Sowjetunion und deren Verfassung die spätere Entwicklung vorhersehen konnte, zeigten sich schon damals Auseinandersetzungen um diese Frage.

Mit der Russischen Revolution hatten sich zunächst nicht nur in Russland, sondern auch in Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Ukraine und Weißrussland Republiken mit eigenen politischen Machtorganen gebildet. Sie verfügten jedoch über eine gemeinsame Armee und einen ebensolchen Etat.

Im August 1922 wurde auf Initiative des Politbüros des Zentralkomitees der Russischen KP eine Kommission gegründet, die damit beauftragt wurde, den Entwurf für einen Vertrag zwischen den Sowjetrepubliken vorzubereiten.

Die Resolution über den Beitritt der Sowjetrepubliken zur Russischen Föderativen Republik, die von Stalin vorbereitet und von der Kommission verabschiedet worden war, stellte Lenin nicht zufrieden. Er erblickte darin ein Zeichen für den stärker werdenden großrussischen Chauvinismus in der Partei und im Land, wie er schon bei Ordschonikidses Vorgehen in Georgien deutlich wurde. Lenin charakterisiert dessen Vorgehen in „Zur Frage der Nationalitäten oder der ‚Autonomisierung‘“ (Lenin, Werke, Band 36, S. 590 – 596) als „russisch-nationalistische Kampagne“, für die er Stalin und Dzierzynski politisch verantwortlich machte.

Daher auch Lenins massives Drängen darauf, dass der zukünftige Sowjetstaat kein um andere Republiken erweitertes Russland sein solle oder dürfe. Stattdessen schlug er vor, einen multinationalen Bundesstaat auf der Grundlage des Gleichberechtigungsprinzips seiner einzelnen Bestandteile zu gründen. Das Plenum des Zentralkomitees unterstützte diese Idee.

Die Vertreter:innen der anderen Sowjetrepubliken stimmten dem Vorschlag zu und nach Diskussion auf dem 2. Sowjetkongress 1923 und seiner Bestätigung trat die gemeinsame Verfassung 1924 in Kraft. Sie enthielt 11 Abschnitte und regelte sowohl die einzelnen konstitutiven und gemeinsamen Organe wie auch das Verhältnis der Föderativrepubliken zueinander und zur Union.

Der Unionsvertrag schrieb eine „symmetrische“ Struktur der Föderation fest: Jedes Föderationsmitglied verfügte – zumindest de jure – über die gleichen Rechte. Im Grunde genommen wurde ein Bundesstaat neuen Typs geschaffen, für den es keine historischen Vorbilder gab: Jede Republik erhielt das Austrittsrecht aus der Union.

Die Verfassung enthält zwar sehr detaillierte Anweisungen über Gliederungen und Zuständigkeiten der einzelnen Organe der Sowjetunion – angefangen von der Zusammensetzung des Zentralexekutivkomitees der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken aus Unions- und Nationalitätensowjet, bis auf die Ebene der Stadtsowjets, (1 Deputierte/r auf 25.000 Wähler:innen) und Gouvernementssowjetdeputierte (1 Vertreter:in auf 125.000 Einwohner:innen) –, lässt jedoch wichtige Mechanismen der Arbeiter:innendemokratie zur Kontrolle der bestimmte Funktionen ausübenden Gremien vermissen. Die unmittelbare Wahl von Vertreter:innen und deren Rechenschaftspflicht sowie die jederzeitige Abberufbarkeit aus den Ämtern bleiben unerwähnt.

Nationalitäten und Territorialfrage

Lenin betonte stets das Problem der Nationalitäten als Hinterlassenschaft der bürgerlichen Ordnung, die bei unterdrückten Nationalitäten Ambitionen auf die Bildung eines bürgerlichen Nationalstaates wecken konnte. Er drückte klar aus, dass dies einen Gefahrenherd auch für eine Sowjetrepublik darstellen könne und schlug deshalb als Lösung nicht nur die Gleichstellung innerhalb der Sowjetunion, sondern auch die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts bis hin zur Lostrennung aus dem Verband der Sowjetrepubliken vor, selbst um den Preis seiner territorialen Verkleinerung.

Diesen grundlegenden Gedanken entwickelte er in zahlreichen Schriften vor allem während des Ersten Weltkriegs. In der Diskussion um die Verfassung der Sowjetunion kommt Lenin darauf zurück. In der um die Gründung der UdSSR begreift er die Nationalitätenfrage als eine Schlüsselfrage für deren Ausgestaltung.

Die Erfahrungen in Georgien führten ihn zur Überzeugung, dass das bloße Recht auf freiwilligen Ein- bzw. Austritt aus dem Sowjetverband nicht reicht. Wenn der gesamte, vom Zarismus übernommene Staatsapparat im wesentlichen großrussisch geprägt ist, wenn alle wesentlichen Machtpositionen von diesem zentralisiert werden, droht das Recht auf Austritt aus der Union ein „wertloser Fetzen Papier“ zu werden, „der völlig ungeeignet ist, die nichtrussischen Einwohner Rußlands vor der Invasion jenes echten Russen zu schützen, des großrussischen Chauvinisten … “ (LW 36, S. 591)

Lenin bezieht sich hier auf den Staatsapparat Sowjetrusslands. Um zu verhindern, dass das Selbstbestimmungsrecht faktisch nur auf dem Papier besteht, schlägt er weitere Maßnahmen vor, darunter strenge Vorschriften zum Schutz des Rechts auf Gebrauch der nationalen Sprache in den nichtrussischen Republiken.

Vor allem aber geht er auf die Frage der Staatsapparatstrukturen der jeweiligen Republiken ein. Lenin wendet sich dabei gegen die Forderung, den Staatsapparat der gesamten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zu zentralisieren. Er erkennt zwar an, dass die Nichtvereinigung des Apparates der russischen Republik mit dem anderer Republiken auch Nachteile, Reibungsverluste und Ineffizienz mit sich bringen kann. Aber „der Schaden, der unserem Staat daraus entstehen kann, daß die nationalen Apparate mit dem russischen Apparat nicht vereinigt sind, ist unermeßlich geringer, unendlich geringer als jener Schaden, der nicht nur uns erwächst, sondern auch der ganzen Internationale, den Hunderte Millionen zählenden Völkern Asiens, dem in der nächsten Zukunft bevorsteht, nach uns ins Rampenlicht der Geschichte zu treten. Es wäre unverzeihlicher Opportunismus, wenn wir am Vorabend dieses Auftretens des Ostens, zu Beginn seines Erwachens, die Autorität, die wir dort haben, auch nur durch die kleinste Grobheit und Ungerechtigkeit gegenüber unseren eigenen nichtrussischen Völkern untergraben würden.“ (LW 36, S. 596)

Während sich Lenin in der Formulierung der Verfassung der Sowjetunion durchsetzen konnte, vermochten er und auch später die Linke Opposition nicht, die Bürokratisierung des Staates, schließlich die politische Machtergreifung einer bürokratischen Kaste zu verhindern.

Staatscharakter

Revolutionäres Ziel konnte natürlich nie die Errichtung eines voluminösen Staatsgebildes sein, sondern Voraussetzungen für das Absterben jeglichen Staatswesens, das immer eine Form des Gewaltapparats beinhaltet, zu schaffen.

Bereits Erfahrungen der Pariser  Kommune führten Marx dazu, die Zerschlagung, nicht Umwandlung und Übernahme der bürgerlichen Staatsmaschine, als Voraussetzung für eine sieg- und dauerhafte sozialistische Revolution zu postulieren, d. h. Enteignung der ausbeutenden Klassen und Beseitigung des sich über die Gesellschaft erhebenden bürokratischen Apparats, v. a. seiner unmittelbaren Gewaltorgane Polizei, stehendes Heer. Die Arbeiter:innenklasse braucht einen Staat, der von vorn herein die Möglichkeit zu seinem Absterben eröffnet, einen „Halbstaat“.

Dies kann nur erreicht werden durch proletarische Formen, die Verwaltungs- und Vollzugsaufgaben und deren Kontrolle durch die Masse der Bevölkerung übernehmen. Ein solcher Halbstaat war Sowjetrussland jedoch allenfalls in Ansätzen.

Bei Schaffung der Roten Armee verschmolzen reguläre Streitkräfte mit dem Milizsystem. Sie war ein der Existenzbedrohung der Revolution durch den Bürger:innenkrieg geschuldeter Kompromiss. Die Erbschaft des Zarismus, deren Armeebestände und Personal, musste in Ermangelung landesweit aufgebauter proletarischer Miltärstrukturen zunächst übernommen, aber deren Befehlshaberränge sollten durch Parteikommissar:innen einer Arbeiter:innenkontrolle unterzogen werden. Diese Armee sollte, v. a. auf Vorschlag Trotzkis, am Ende des Bürgerkriegs in ein allgemeines Milizsystem überführt werden. Aber dazu kam es nicht.

Die Bürokratie (…) brauchte eine Kasernenarmee, losgelöst vom Volk. ( RM 24, S. 28, L. T., zit. nach WP/IWG Degenerated Revolution, S. 51)

Stalinistische Konterrevolution

War 1924 noch das klassische Modell einer Räterepublik  von 1917/18 Leitmotiv für die erste Sowjetverfassung, glichen sich spätere Umarbeitungen – als erste 1936 festgeschrieben unter dem Beinamen „Stalinverfassung“ –  immer mehr dem bürgerlichen Parlamentarismus an.

Der Stalinismus hatte, beginnend bereits Mitte der 1920er Jahre, auf Basis der Zementierung einer Bürokratie jegliche Selbsttätigkeit der Klasse, jegliche innerparteiliche Demokratie erstickt. Zentralisierung der Gewalt, die Amalgamierung von Staat und Partei zu einer bürokratischen Kaste, Filterung  durch Stellvertreterprinzipien, Kontrolle von oben nach unten, Abschaffung von Räte- und Milizsystem und Liquidierung politischer Gegner:innen, v. a. bolschewistischer Revolutionär:innen, bildeten die Eckpfeiler dieser Entwicklung.

Flankiert wurde dies durch Zickzackbewegungen der politischen Linie, die über eine brachiale Industrialisierung, die buchstäblich über Millionen Leichen v. a. im ländlichen Raum ging, zur mit der Bourgeoisie paktierenden und Arbeiter:innenkämpfen in den Rücken fallenden Volksfrontpolitik auf Weltebene schwenkte. Alles wurde den Interessen der herrschenden Bürokratie in der UdSSR untergeordnet. Der Gedanke an Weltrevolution geriet in Verbannung. Die Kommunistische Internationale, die bis dato ohnehin nur noch als Akklamationsorgan für die Richtlinien der Moskauer Bürokratie gedient hatte, fand 1943 ihr unrühmliches offizielles Ende als Verbeugung vor den westlichen imperialistischen Mächten.

Niedergang und Ende

Trotz Bürokratie überstand die Sowjetunion den Zweiten Weltkrieg. Doch nach Jahrzehnten wirtschaftlichen Aufschwungs zerplatzten mit Einbrüchen in der Weltkonjunktur ab den 1970er Jahren, durch eine bürokratisch geplante Wirtschaft und das Zurückbleiben im Rüstungswettlauf mit dem Imperialismus ab den 1980er Jahren verstärkt, nicht nur die Seifenblasen von einem „Einholen des Westens“, sondern es wankten und fielen die gesellschaftlichen Grundfesten in der UdSSR und ihren Vasallenstaaten, so dass ihr Schicksal ab 1990 besiegelt war.

Die Sowjetunion als Leuchtfeuer der Revolution und somit Hoffnungsträgerin für Millionen Arbeiter:innen hat in ihrer stalinistischen Degeneration zugleich ein Zerrbild von sozialistischen Prinzipien und Entwicklungsfähigkeit geliefert, in den Köpfen der Arbeiter:innenbewegung weltweit Verwirrung hinterlassen.

Ihr Ende und die Restauration des Kapitalismus bedeuten gleichzeitig eine historische Niederlage des Proletariats, aber auch die Chance zur schonungslosen Aufarbeitung der Geschichte und zum Neuanfang für die Reorganisation einer internationalen Arbeiter:innenbewegung, angeführt von einer revolutionären Internationale – dringend notwendiger denn je.




Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!




Britannien: Tod durch tausendfache Kürzungen im Gesundheitswesen

Rebecca Anderson, Infomail 1208, 27. Dezember 2022

Die Winterkrise im britischen Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) ist so akut wie nie zuvor. Die Zahl der Betten, die von Patient:innen belegt sind, die seit mehr als drei Wochen im Krankenhaus liegen, ist die höchste in den letzten fünf Wintern. Neunzehn von zwanzig Betten auf den Stationen in England sind voll ausgelastet. Dies geht einher mit einer Krise des Notfallversorgungssystems. Fast drei von zehn Patient:innen, die mit dem Rettungswagen eingeliefert werden, müssen vor den Krankenhäusern Schlange stehen, die zu voll sind, um sie aufzunehmen – etwa doppelt so viele wie vor der Pandemie.

Plan zur Zerschlagung des NHS

7,2 Millionen Menschen stehen in England auf Wartelisten für Krankenhausbehandlungen – 60 % mehr als vor der Pandemie. In Schottland steht jede/r Siebte auf einer Warteliste, und die Zahl in Wales hat einen neuen Höchststand erreicht. Die Versicherungsfirma Confused.com wirbt derweil damit, eine private Krankenversicherung abzuschließen, um diese Wartelisten zu umgehen. All dies ist Teil eines langfristigen Plans zur Zerschlagung des NHS, zu dem auch gehört, ihm die Mittel zu entziehen, die in Behandlungsgeräte und Gehälter fließen, die eine ausreichende Zahl von Beschäftigten im Gesundheitswesen anziehen können.

Der NHS, um den die Patient:innen in den USA und vielen Teilen Europas einst beneidet wurden, gerät immer mehr ins Hintertreffen und droht zu einer Zweiklassenmedizin mit Privilegien für die Ober- und Mittelschicht und einer marginalen Versorgung für die Arbeiter:innenklasse und die Armen umgewandelt zu werden, ähnlich dem Medicaid-System in den USA.

Der britische Gesundheitsminister Stephen Paul („Steve“) Barclay beharrt darauf, dass lange Wartelisten und überfüllte Krankenhäuser nicht das Ergebnis von Unterfinanzierung seien. Allerdings betrugen die durchschnittlichen jährlichen Investitionsausgaben im Vereinigten Königreich zwischen 2010 und 2019 5,8 Mrd. Pfund, verglichen mit einem EU-Durchschnitt von 38,8 Mrd. Pfund, was bedeutet, dass Großbritannien über weitaus ältere und weniger gut gewartete Einrichtungen verfügt, und zwar in geringerer Zahl.

Im Rahmen des Sparprogramms der Regierung nach der Rezession von 2007 wurde die Finanzierung des NHS zwischen 2008 und 2018 gekürzt. Jede der aufeinanderfolgenden Regierungen hat behauptet, die Mittel für den Gesundheitssektor zu erhöhen, aber damit das NHS-Budget wirklich gestiegen wäre, müsste es sowohl mit der Inflation als auch mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. Real sind die Mittel für den NHS heruntergefahren worden. Zwischen 1949/50 und 2016/17 stiegen die Gesundheitsausgaben im Durchschnitt um 3,3 % pro Jahr. Betrachtet man jedoch nur den Zeitraum zwischen 2009/10 und 2016/17, so sinkt dieser Durchschnitt deutlich auf 0,6 % und liegt damit weit unter der Inflationsrate.

Obwohl die Mittel für den NHS während der Pandemie aufgestockt wurden, konnten die Probleme, die bereits durch die chronische Unterfinanzierung entstanden waren, nicht gelöst werden. Der NHS war zu Beginn des Jahres 2020 bereits am Rande der Belastungsgrenze. Er verfügte über 6,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner:innen, verglichen mit 29,2 in Deutschland, 12,5 in Italien und 10,6 in Südkorea.

Personalmangel

Derzeit sind 133.400 Stellen unbesetzt, darunter 47.500 Stellen in der Krankenpflege. Der derzeitige Trend bewegt sich dahin, dass immer mehr Stellen frei werden – mehr Pflegepersonal verlässt den Beruf, als neu hinzukommt. Das Royal College of Nursing (Königliche Pflegepersonalausbildungsstätte, RCN) fordert eine über der Inflationsrate liegende Lohnerhöhung nicht nur für die bestehenden Arbeitskräfte, deren Löhne seit Jahren niedrig gehalten werden, sondern auch, um die Personalbeschaffung zu unterstützen.

Ein wichtiger Teil des Plans der Regierung zum Abbau des Covid-Rückstands ist eine verstärkte Werbekampagne im Ausland mit dem Ziel, bis 2021/22 10.000 internationale Arbeitskräfte einzustellen.

Die Behandlung internationalen Pflegepersonals durch den NHS wurde jedoch vom RCN kritisiert. Der Verband setzt sich für eine „ethische internationale Rekrutierung“ ein und verweist auf weit verbreitete Probleme mit hohen Gebühren für die vorzeitige Ausreise in Höhe von bis zu 14.000 Pfund, mit denen Arbeiter:innen unter Druck gesetzt werden, ihre Verträge einzuhalten oder die Gebühren unter Androhung der Abschiebung zurückzuzahlen. Das RCN ist auch besorgt darüber, dass die angeworbenen Arbeitskräfte darüber getäuscht werden, wie einfach es sei, Familienangehörige ins Vereinigte Königreich zu holen, und dass sie, wenn sie entdecken, wie schwierig es ist, sich im britischen Einwanderungssystem zurechtzufinden, bereits in einen Vertrag gebunden sind.

Der NHS hat auch Probleme, das vorhandene Personal zu halten: 16 % der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen wollen die Branche ganz verlassen, wobei sie Personalmangel, Bezahlung und Arbeitsbelastung als Gründe anführen. Es ist ein Teufelskreis, denn je weniger NHS-Mitarbeiter:innen vorhanden sind, desto größer wird der Druck auf diejenigen, die bleiben. Allein im August 2021 gab es zwei Millionen Fehltage wegen Krankheit, ein Viertel davon wegen psychischer Probleme.

Tod durch tausend Einschnitte

In den 1980er Jahren wollte Margaret Thatcher den NHS vollständig privatisieren, da sie ihn als einen weiteren Teil des „Sozialismus“ betrachtete, den sie unbedingt zerstören wollte. Eine Revolte im Kabinett hielt sie jedoch davon ab, so dass sie den Chef des Supermarktkonzerns Sainsbury, Roy Griffiths, mit der „Reform“ beauftragte. Den Ärzt:innen wurde die Führung in den Krankenhäusern entzogen und sie wurde einer Kaste von hochbezahlten Leuten aus der Privatwirtschaft übergeben, die den Dienst wie ein Unternehmen führen sollten. Ein neoliberaler US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler, Alain Enthoven, riet dazu, die Disziplin des Marktwettbewerbs einzuführen.

Die Verwaltungskosten verdoppelten sich über Nacht. Als die Labour-Partei unter Tony Blair 1997 einen erdrutschartigen Wahlsieg errang, wurde der Marktöffnungsprozess trotz der im Wahlprogramm gemachten Zusagen nicht rückgängig gemacht. Der Schatzkanzler Gordon Brown weitete die Private Finance Initiative (Privatfinanzinitiative, PFI) der Tories sogar noch aus und nutzte sie für den Bau von Krankenhäusern, die damit faktisch in den Besitz des privaten Sektors übergingen.

Als die Tories 2010 an die Regierung zurückkehrten, brachte der Hardliner-Gesundheitsminister Andrew Lansley 2011 das Gesundheits- und Sozialfürsorgegesetz ein, das den NHS in eine völlig neue Phase der Privatisierung führte. Das Gesetz von 2012 öffnete alle NHS-Dienste für Ausschreibungen, offen für konkurrierende private Unternehmen.

Trotz der Empörung unter der Ärzt:innenschaft und dem Pflegepersonal haben private Unternehmen wie Virgin und Circle ihre Warnungen einfach übertönt. Schlimmer noch: Unison, die größte Gewerkschaft des Gesundheitswesens, rief während der gesamten fünf Jahre der Regierung von David Cameron zu keinem einzigen Streik und keiner einzigen Demonstration auf, und die Gesundheitsminister Lansley und Jeremy Hunt setzten die Aufteilung des Dienstes in kleinere regionale Systeme mit der Befugnis zu entscheiden, welche Dienste verfügbar sein werden und wer sie erbringen würde, mühelos fort. Bis 2017 gingen 43 % des Gesamtwerts dieser Verträge an den privaten Sektor. Allein Virgin erhielt den Zuschlag für NHS-Aufträge im Wert von über einer Milliarde Pfund.

Die Kampagnengruppe Keep Our NHS Public (Unser Gesundheitsdienst muss öffentlich bleiben) zeigte auf, dass die aktuelle „Marktreform“, der Long Term Plan (Langfristiger Plan), die Kosten senkt, indem sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung einschränkt, die Qualität mindert und profitorientierte Unternehmen wie die US-Giganten McKinsey, UnitedHealth und Kaiser Permanente einbezieht.

Darüber hinaus wird das „Nationale“ aus dem NHS herausgenommen, indem er in lokale Integrierte Versorgungssysteme mit ihren eigenen, streng kontrollierten Budgets aufgeteilt wird, was bedeutet, dass Gebiete mit einem höheren Grad an schlechter Gesundheitsversorgung – Merseyside, Newcastle, Hackney – mit ihren eigenen Problemen fertigwerden müssen. Der NHS England hat bereits 83 Organisationen mit dieser Aufgabe betraut, von denen 76 private Unternehmen sind, 23 mit Sitz in den USA, darunter Centene, Cerner, Deloitte, GE Healthcare, IBM, McKinsey und Optum, der britische Zweig von UnitedHealth.

Der Plan wird dazu führen, dass die Gesundheitsversorgung zu einer weiteren Ware wird, die internationalen Handelsabkommen unterliegt: Der NHS wird zu einem Logo, das auf private Unternehmen aufgeklebt wird. Die Zukunft kann man in den USA besichtigen, wo die Gesundheit eine Ware ist und Menschen, die sich keine Versicherung leisten können, oft ohne Notfallbehandlung sterben und Arztrechnungen Menschen in den Bankrott treiben.

Wer zahlt?

Der NHS benötigt zweifelsohne eine massive Finanzspritze, sowohl um den Bedarf an höheren Gehältern und mehr Personal als auch den Investitionsbedarf für neue Krankenhäuser und Ausrüstung zu decken. Die Gebühren für Medizinstudent:innen- und Pflegeschüler:innen müssen abgeschafft und ein Stipendium in Höhe eines existenzsichernden Lohns wieder eingeführt werden, ebenso wie kostenlose, hochwertige Kinderbetreuung vor Ort, um den Bedürfnissen der Eltern gerecht zu werden. Die Gebühren für die vorzeitige Ausreise internationaler Krankenschwestern und -pfleger sollten abgeschafft werden, ebenso wie die Einwanderungsbestimmungen, die ihnen mit Abschiebung drohen und sie von ihren Familien trennen.

Unsere Antwort muss lauten, dass die Reichen und die Großkonzerne gezwungen werden müssen, für die Krise des NHS zu zahlen, genauso wie sie gezwungen werden müssen, für die Krise der Lebenshaltungskosten und die kommende Rezession zu zahlen.

Grundsätzlich muss das Gesundheitswesen wieder vollständig in öffentliches Eigentum überführt, ohne Entschädigungszahlungen an die Profiteur:innen, und unter der demokratischen Kontrolle von Beschäftigten und Patient:innen betrieben werden. Alle privaten Finanzierungsinitiativen (PFIs) gehören abgeschafft.

Wir müssen auch die Pharmakonzerne und all jene enteignen, die durch die Ausbeutung von Kranken riesige Profite erpressen, und zwar unter der Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und ohne einen Pfennig Entschädigung für die Bosse.

Für die Krise des NHS sind Regierungen der Bosse, einschließlich derjenigen von New Labour, maßgeblich verantwortlich. Die Gewerkschaften sollten als Preis für die Finanzierung der nächsten Wahlkampagne von Labour darauf bestehen, dass das Parteiprogramm oben skizzierte Maßnahmen enthält. Deshalb geht es beim aktuellen Streik um mehr als nur Löhne. Es geht um das Überleben des NHS – und der öffentlichen Dienste und der sozialen Sicherung im Allgemeinen.




Britanniens Winter der Unzufriedenheit

Dave Stockton, Infomail 1208, 23. Dezember 2022

Großbritannien steht ein „Winter der Unzufriedenheit“ in Form der größten Streikwelle seit vielen Jahren bevor. Und das, obwohl es ernsthafte rechtliche Hindernisse und restriktive Urabstimmungsregeln für Arbeitskampfmaßnahmen gibt und sogar ein neues Gesetz droht, das während eines Streiks ein Mindestdienstniveau vorschreibt.

Die Streikwelle begann mit einer Welle eintägiger Aktionen der Eisenbahner:innen im Sommer und nahm im Herbst zu. Das nationale Statistikamt berichtet, dass im Oktober 417.000 Arbeitstage durch Streiks verloren gingen, der höchste Monatswert seit November 2011. Zwischen Juni und Oktober fielen mehr als 1,1 Millionen Arbeitstage aus, der Höchststand  innerhalb eines Fünfmonatszeitraums seit Anfang 1990.

Das Spektrum der Streikenden reichte von Eisenbahner:Innen über Lehrer:innen und Dozent:innen, Postbedienstete bis hin zu Beamt:innen, Grenzschutzbediensteten und Rechtsanwält:innen, Busfahrer:innen und Hafenarbeiter:innen. Kein Wunder, denn die Inflation erreichte im Oktober mit 11,1 % einen 41-Jahres-Höchststand, und die meisten dieser Beschäftigten mussten sich seit Jahren mit Lohnabschlüssen unterhalb der Inflationsrate begnügen. Hohe Lohnforderungen lagen auf der Hand. Aber sie stoßen auf den hartnäckigen Widerstand einer Regierung, die sich verpflichtet hatte, die zur Bekämpfung des Covidvirus aufgewendeten Summen von den Massen zurückzufordern.

Die Eisenbahner:innen machen den Anfang

Die Eisenbahner:innen übernahmen im Juni die Führung der Streikbewegung, als sie ihre Kampagne unter dem Slogan „Bust the Transport Workers‘ Pay Freeze“ (Sprengt das Einfrieren der Löhne für die Transportarbeiter:innen!) mit einer Reihe von eintägigen Streiks von 40.000 Bahnbeschäftigten starteten. Erste Kundgebungen, auf denen Generalsekretär Mick Lynch erklärte, die Gewerkschaft befinde sich in einem Klassenkampf, und andere Beschäftigte und Gewerkschaften aufforderte, sich ihr anzuschließen, begannen sich zu einer Bewegung zu entwickeln.

Danach kam es zu einer Art Pause, als die Gewerkschaft in Verhandlungen eintrat, obwohl die von ihr angestrebte Einigung von etwa 8 % immer noch eine Kürzung der Reallöhne bedeutet hätte. Aber das Unternehmen Network Rail und Transport for London (Netzwerk Schiene und Verkehr für London) blieb hartnäckig. Nachdem die RMT-(Gewerkschaft für Eisenbahn, Gewässer und Transport)-Mitglieder die letzten Lohnangebote abgelehnt hatten, schwor die Gewerkschaft, weiter zu kämpfen. Häufigere Arbeitsniederlegungen werden das britische Schienennetz in der Vorweihnachtszeit zum Stillstand bringen, was zu Protesten der Einzelhändler:innen führt, die befürchten, dass ihr gewohntes Geschäft gestört werden könnte.

Die separierte Lokführer:innengewerkschaft ASLEF ruft zu einem Streik auf, um die Einführung neuer Dienstpläne bei Avanti West Coast zu verhindern, einem Unternehmen, das dafür bekannt ist, dass es die vertraglich vorgeschriebenen Leistungen nicht erbringen kann, weil es nicht genügend Lokführer:innen beschäftigt.

Postangestellte nehmen den Fehdehandschuh auf

Die Beschäftigten der Royal Mail (Post) streikten am 13. Dezember zum 14. Mal, nachdem sie in der Woche zuvor eine Kundgebung und einen Marsch mit 20.000 Teilnehmer:innen im Zentrum Londons organisiert hatten. Die CWU-(Gewerkschaft der Kommunikationsarbeiter:innen)Mitglieder sehen darin einen Kampf um ihre Arbeitsplätze gegen den Vorstandsvorsitzenden Simon Thompson, der entschlossen ist, die Belegschaft zu dezimieren, zu prekarisieren und auf einen Paketdienst zu reduzieren. Die Unternehmensleitung hat zunächst Streikbrecher:innen eingesetzt und 100 Gewerkschaftsangehörige und -vertreter:innen während des Streiks suspendiert.

Nach dem Scheitern der Verhandlungen zwischen der CWU-Führung und den Bossen von Royal Mail wird es im Dezember und im neuen Jahr zu einer neuen Reihe von Streiks kommen. Der Grund für das Scheitern ist, dass die Chef:innen entschlossen sind, Royal Mail in eine Gelegenheitsbelegschaft umzuwandeln und damit die gewerkschaftliche Vertretung auf betrieblicher Ebene zu brechen. Die Gewerkschaftsführer Dave Ward und Andy Furey boten fälschlicherweise an, für die Gespräche auf Streiks zu verzichten, und erklärten sich bereit, im Gegenzug für den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen und die Beibehaltung der morgendlichen Zustellung ein Lohnangebot von 9 Prozent über 18 Monate zu akzeptieren – eine reale Lohnkürzung. Die Geschäftsführung hat sie vor die Tür gesetzt.

Die CWU steht nun vor einem Kampf auf Leben und Tod, den nur ein Flächenstreik zusammen mit den zahlreichen anderen Beschäftigten, die Aktionen durchführen oder planen, gewinnen und somit das Überleben dieser öffentlichen Dienste und der Arbeitsplätze ihrer Mitglieder sichern kann.

Pflegepersonal startet historische Aktion

Am 15. Dezember traten die Krankenschwestern und -pfleger des britischen National Health Service (Nationaler Gesundheitsdienst), Mitglieder des Royal College of Nursing (RCN) (Krankenpflegeschule), zum ersten Mal in ihrer 106-jährigen Geschichte in einen landesweiten Streik. Das RCN organisierte eine weitere Arbeitsniederlegung für den 20. Dezember und plant Folgeaktionen im neuen Jahr. Schätzungsweise 100.000 Krankenschwestern und -pfleger streikten in 76 Krankenhäusern und Gesundheitszentren. Am 21. Dezember legten mehr als 10.000 Mitarbeiter des Rettungsdienstes die Arbeit nieder.

Die Gewerkschaft fordert 19 Prozent und weist darauf hin, dass erfahrene Krankenschwestern und -pfleger trotz der diesjährigen Gehaltserhöhung von 1.400 Pfund real um 20 Prozent schlechter gestellt sind, weil die Gehaltsanstiege seit 2010 wiederholt unter der Inflationsrate lagen. Die niedrige Bezahlung hat zu einem zunehmenden Personalmangel und einer unsicheren Versorgung der Patient:innen geführt.

Die Regierung hat ihnen 4,5 Prozent angeboten, was einen Rückgang der Reallöhne um 6 Prozent im kommenden Jahr bedeuten würde. Sie behauptet, der NHS-Haushalt könne sich eine solche Erhöhung nicht leisten, doch die Weigerung, einen existenzsichernden Lohn zu zahlen, der ausreicht, um Ärzt:innen und Pflegepersonal anzuziehen und zu halten, bedeutet, dass riesige Summen für Leiharbeiter:innen ausgegeben werden. Krankenhäuser in England haben Ärzt:innen bis zu 5.200 Pfund pro Schicht gezahlt. Dies ist bestenfalls Misswirtschaft, aber in Wirklichkeit ist es Teil der heimlichen Übergabe des gesamten Gesundheitswesens an private Unternehmen und Agenturen.

Trotz der Tatsache, dass die Gewerkschaft eine umfassende Notfallversorgung eingerichtet und die Intensivstation sowie andere Abteilungen wie Chemotherapie und Dialyse ausgenommen hat, hat der Tory-Gesundheitsminister Steve Barclay den Streik als ernsthafte Gefahr für die Patient:innen bezeichnet. Die RCN-Führer:innen boten sogar an, die Streiks über Weihnachten und Neujahr auszusetzen, wenn die Regierung verhandeln würde – eine törichte Zurschaustellung von Schwäche, die die Regierung jedoch ablehnte.

Bisher hat sie sich hartnäckig geweigert, über die Gehälter zu sprechen, mit der Begründung, dass die „Belohnung“ (1.400 Pfund) von einem unabhängigen Gremium stammt, dessen Mitglieder von der Regierung handverlesen werden und nur zufällig das vorlegen, was sich das Gesundheitsministerium nach eigenen Angaben leisten kann. In der Zwischenzeit hat die Regionalregierung in Schottland einen Streik der Krankenschwestern und -pfleger gerade dadurch vermieden, dass sie Gespräche über die Gehälter geführt hat, obwohl die Gewerkschaft GMB, die das Hilfspersonal organisiert, ihr Angebot von 7,5 Prozent abgelehnt hat.

Umfragen im Vorfeld des Streiks ergaben, dass 52 Prozent der Öffentlichkeit die Aktion „stark“ unterstützen. Die Regierung wird natürlich alles in ihrer Macht Stehende tun, um dies zu ändern, aber sie hat keinen guten Start erwischt, wie die rechtsgerichtete Daily Express mit der Schlagzeile „Gebt den Krankenpfleger:innen einen Vertrag und beendet diesen Wahnsinn“ zeigt. Die stets zuverlässig regierungstreue Daily Mail hingegen titelt: „Streikwoche hält Großbritannien in Geiselhaft!“

Und andere … folgen dem Beispiel

Unite-Mitglieder, die auf 59 Buslinien für das Busunternehmen Abellio im Süden und Westen Londons arbeiten, streiken im Dezember. In der Zwischenzeit haben mehr als 2.000 Busfahrer:innen der Metrolinie in London den Arbeitskampf abgebrochen, nachdem sie eine 11-prozentige Lohnerhöhung und eine 10-prozentige Lohnnachzahlung akzeptiert hatten. Ursprünglich war ihnen am 8. Dezember 2022 eine Erhöhung um 4 Prozent angeboten worden.

Tausende von Universitätsbeschäftigten, die der Gewerkschaft UCU angehören, streikten am 24., 25. und 30. November. Sie taten dies gemeinsam mit 4.000 Gewerkschaftsmitgliedern der National Education Union (Bildungsgewerkschaft NEU) an Oberstufenzentren. Am letztgenannten Tag nahmen sie gemeinsam mit Studierenden und anderen Gewerkschafter:innen an einer militanten Massenkundgebung vor dem Bahnhof King’s Cross teil, bevor sie sich auf einen Marsch ins Zentrum von London begaben. Es war der dritte Tag der Streiks von 70.000 Mitgliedern der Gewerkschaft UCU an Universitäten in ganz Großbritannien im Kampf um Renten, Löhne und Gehälter, Minderung von Arbeitsbelastung und Gleichberechtigung und gegen Prekarisierung.

Koordinieren und eskalieren

Eine ganze Reihe von Gewerkschaften, darunter auch Teile von Unison und Unite, den beiden größten Gewerkschaften des Landes, rufen für das neue Jahr zu Urabstimmungen auf. In dem Maße, in dem sich die Streikpostenketten vervielfacht und andere Gewerkschaftsmitglieder, Student:innen und Aktivist:innen sich ihnen angeschlossen haben, in dem Maße, in dem die Demonstrationen und Kundgebungen größer geworden sind, wächst die Möglichkeit, dass alle getrennten Lohnkämpfe zusammengeführt werden. Obwohl die Gewerkschaftsführer:innen auf ihren Rednerbühnen die Parole „koordinieren und eskalieren“ ausgeben, haben sie wenig getan, um dies zu gewährleisten.

Die Kampagne „Enough is Enough“ (Genug ist Genug) und die Volksversammlung (People’s Assembly) schienen dies tun zu können. Aber ihre unerklärliche Rivalität und unnötige Doppelarbeit scheinen dieses frühe Versprechen zunichtegemacht zu haben, obwohl die Volksversammlung im Januar eine Konferenz abhalten wird. Die Gefahr besteht darin, dass die rivalisierenden Gewerkschaftsführungen und politischen Gruppierungen befürchten, die Kontrolle an demokratische Versammlungen von Delegierten aus lokalen und Basisorganisationen zu verlieren, die über alternative Vorgehensweisen entscheiden könnten. Kämpfer:innen aus den verschiedenen Konflikten, die sich an den Streikpostenketten treffen, können und müssen solide Verbindungen zueinander knüpfen. Sie müssen lokale Koordinierungsgremien an der Basis aufbauen.

Eine weitere dunkle Wolke zeichnet sich am Horizont ab: Premierminister Rishi Sunaks Drohung, ein weiteres gewerkschaftsfeindliches Gesetz durch das Parlament zu bringen, das das Streikrecht von Pflegepersonal, Postangestellten und Bahnbeschäftigten gleichermaßen aushebeln würde. Sobald dieses Gesetz vorgelegt wird, müssen wir eine massive Kampagne zur Verteidigung unserer Gewerkschaften starten. Diese muss darauf abzielen, direkte Aktionen, d. h. Streiks, zu mobilisieren, um den Gesetzentwurf zu Fall zu bringen, wie es unsere Großeltern in den 1970er Jahren getan haben. Ihr Ziel sollte es sein, nicht nur zu verhindern, dass uns diese neuen Ketten angelegt werden, sondern alle anderen, die bis in die Zeit von Thatcher, der ehemaligen Premierministerin, zurückreichen, zu durchbrechen.

All diese Themen – Bekämpfung der Inflation mit Lohnerhöhungen, die Punkt für Punkt mit ihrem Anstieg übereinstimmen; die „Arbeitgeber:innen“ dazu zu bringen, sie aus ihren gigantischen Gewinnen zu bezahlen; die Verteidigung und Wiederherstellung des staatlichen Gesundheitsdienstes; die Wiederverstaatlichung der Bahn und anderer Dienstleistungen und Versorgungsbetriebe sowie die Befreiung unserer Gewerkschaften von vierzig Jahren gewerkschaftsfeindlicher Gesetze – werden politische Massenstreiks erfordern. Um dies in die Wege zu leiten, nützt es nichts, auf die linken oder rechten Gewerkschaftsführer:innen zu warten. Wir müssen Aktionsräte mit Delegierten aus den Betrieben, den Gemeinden und der Jugend bilden. Wenn wir dies tun, können wir sowohl Sunak wie die mit ihm verfeindeten Tories ein für alle Mal von der Macht vertreiben.




USA: Wie können US-Gewerkschaften das Streikverbot niederschlagen?

Dave Stockton, Infomail 1208, 22. Dezember 2022

Während die Eisenbahner:innen in Großbritannien mit den Drohungen der Tory-Regierung konfrontiert sind, ihre Streiks durch „Mindestdienst“-Gesetze unwirksam zu machen, wurde die Streikabstimmung von 115.000 US-Güterbahner:innen für menschenwürdige Arbeitsbedingungen gerade vom Kongress „beiseitegeschoben“. Und zwar nicht von den rechten Republikaner:innen, sondern von „Arbeiter Joe“ Biden und den Demokrat:innen, die sich als „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ ausgeben und das Geld der Gewerkschaften und die Unterstützung der Mitglieder bei Wahlen annehmen.

Gesetz

Am 2. Dezember unterzeichnete US-Präsident Biden ein Gesetz, das die Eisenbahner:innen daran hinderte, einen landesweiten Streik für bessere Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu beginnen. Biden, der sich selbst als „arbeiter:innenfreundlichster Präsident in der amerikanischen Geschichte“ bezeichnet hat, hat den Beschäftigten, die seit drei Jahren keine Gehaltserhöhung erhalten haben, ganz einfach das Streikrecht genommen.

Sie kämpften für einen 15-tägigen bezahlten Krankenurlaub pro Jahr und für Änderungen bei der Zeit- und Personalplanung, damit die Arbeiter:innen nicht mehr gezwungen sind, zermürbende Arbeitszeiten zu leisten. Gegenwärtig erhalten die Beschäftigten keine Krankheitstage, und viele haben keine Zeit, sich mit ihrer Familie zu treffen oder sich ausreichend zu erholen.

Als im Sommer dieses Jahres eine landesweite Stilllegung der Eisenbahn möglich wurde, eilte die Regierung auf der Grundlage des arbeiter:innenfeindlichen Eisenbahnarbeitsgesetzes von 1926 … den Bossen zu Hilfe.

Biden setzte die Präsidiale Notstandsbehörde (PEB) ein, um die Verhandlungen zu verfolgen und eine Einigung zu erzielen. Die vorläufige Vereinbarung, die der Kongress nun wahrscheinlich durchsetzen wird, wurde von der Regierung Biden im September ausgehandelt.

Acht der 12 an den Verhandlungen beteiligten Gewerkschaften stimmten dem Vertrag zu, die anderen vier, die 55 Prozent der Beschäftigten vertreten, lehnten ihn jedoch ab. Da die vorgeschriebene Bedenkzeit abläuft, hätte ein Streik am 9. Dezember beginnen können. Die Gewerkschaftsführer:innen haben versucht, ihre Mitglieder von einem zwischen den Arbeit„geber“:innen und der Gewerkschaft unter direkter Vermittlung der Regierung ausgehandelten Vertrag zu überzeugen, aber eine Gruppe gewerkschaftsübergreifender Aktivist:innen, Railroad Workers United (Vereinigte Eisenbahnarbeiter:innen), hat sich für ein Nein eingesetzt.

Der Kongress hat den Arbeiter:innen nun einen Vertrag ohne Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auferlegt, der weiterhin Wochenarbeitszeiten von bis zu 80 Stunden vorsieht. Mit der Behauptung, der aufgezwungene Vertrag enthalte „eine historische Lohnerhöhung von 24 % für die Bahnbeschäftigten“, verschwieg Bidens Büro die Tatsache, dass sich die Erhöhung über fünf Jahre erstrecken würde: weniger als 5 % pro Jahr in einer Zeit eskalierender Inflation.

Die Demokratische Partei beruft sich auf die Tatsache, dass ihre Abgeordneten und Senator:innen auch dafür gestimmt haben, dass Bahnmitarbeiter:innen sieben Tage bezahlten Krankenurlaub erhalten. Die Wahrheit wird durch Bidens eigene Aussage enthüllt, dass sie sie bekommen werden, „sobald ich die Republikaner:innen überzeugen kann, das Licht zu sehen“ – d. h. sie werden sie nicht bekommen. Das liegt daran, dass Biden und die Demokrat:innen im Kongress die sieben Tage in einen separaten Gesetzentwurf aufgenommen haben, der vom Verbot von Streiks und dem erzwungenen Vertrag getrennt ist.

Ursprünglich hatte sich das Weiße Haus gegen die Aufnahme von bezahlten Krankheitstagen in den von der Regierung auferlegten Vertrag ausgesprochen, doch der linke Flügel der Partei im Repräsentantenhaus (die so genannte Riege) und Senator Bernie Sanders hatten dagegen protestiert. Die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, tarnte den Verrat, indem sie getrennte Abstimmungen anberaumte: eine über den Vertragsentwurf und eine weitere über einen Vorschlag für sieben Tage bezahlten Krankenurlaub, was weniger als die Hälfte der Gewerkschaftsforderungen ausmachte.

Sie wusste genau, dass letzterer Vertrag im Senat niemals durchkommen würde. Er wurde mit acht Stimmen Mehrheit abgelehnt, während das Gesetz zur Durchsetzung des Vertrags den Senat mit 80 zu 15 Stimmen passierte. Auf diese Weise wurden die Eisenbahner:innen ihres Streikrechts beraubt, und es wurde ein für die Bosse vorteilhafter Vertrag durchgesetzt, „um einen möglicherweise lähmenden nationalen Stillstand des Schienenverkehrs abzuwenden“.

Da die wirtschaftliche Bedrohung durch einen landesweiten Bahnstreik die einzige Kraft war, die die Arbeiter:innen gegen ihre Milliardärsbosse wie Warren Buffett einsetzen konnten, hatten Biden und Pelosi sie entwaffnet. Die Partei und der Präsident, die für sich in Anspruch nehmen, „Freund:innen der Arbeit,nehmer’:innen“ zu sein, hatten die Frage des berühmten Pete-Seeger-Songs „Which Side Are You On“ (Auf welcher Seite stehst Du?) fair und ehrlich beantwortet – nicht auf ihrer!

„Sozialistische“ Streikbrecher:innen

Noch aufschlussreicher ist, dass die fünf Mitglieder der linken „Riege“ – die Abgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez (AOC), Cori Bush, Ilhan Omar und Jamaal Bowman – mit einer Ausnahme die Hand für die Annahme der Resolution gehoben  haben, mit der die Vereinbarung durchgesetzt wurde, ebenso wie der „sozialistische“ Senator Bernie Sanders, obwohl sie erkannt haben, dass sie schlecht für die Arbeiter:innen ist. Natürlich haben sie auch für die Entschließung gestimmt, die sieben Krankheitstage vorsah. Aber sie wussten bereits, dass dies ein Blindgänger war.

Die einzige Gegenstimme eines Mitglieds der „Riege“  kam von der Abgeordneten Rashida Tlaib. Bush, Omar und AOC sind ebenfalls Mitglieder der Democratic Socialists of America (DSA). Die Hauszeitschrift der Partei, Jacobin, versuchte, diesen Verrat zu vertuschen. Der Redakteur Branko Marcetic behauptete, dass die Abstimmung von Bernie Sanders und der „Truppe“ für sieben Tage Krankenstand „ein weiteres Zeichen für den bescheidenen, aber bedeutenden politischen Wandel im politischen Leben der USA ist, der dank der größeren Bekanntheit von Sanders und seinen progressiven Verbündeten im Kongress stattgefunden hat“.

Die Arbeiter:innen müssen die bittere Lektion lernen, dass die Demokratische Partei für die Kapitalist:innen und nicht für die Arbeiter:innenklasse kämpft. Und zu dem von der DSA-Mehrheitsführung befürworteten „schmutzigen Bruch“ gehört auch die Abstimmung über die Verweigerung des Streikrechts für Arbeiter:innen. DSA-Mitglieder sollten fordern, dass die Organisation die Mehrheit der Stimmen dieser „Riege“ verurteilt und den Prozess der Abspaltung von der zweiten Partei des US-Imperialismus einleitet, um eine unabhängige Partei für alle US-Arbeiter:innen und die sozial und rassisch Unterdrückten zu bilden – eine, die antirassistisch, antisexistisch und antikapitalistisch ist.




Britannien: Gezielte Streiks im öffentlichen Dienst sind nicht genug

PCS-Gewerkschafter, Workers Power, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Die Public and Commercial Services Union (PCS), die größte Gewerkschaft im öffentlichen Dienst, führt im Dezember selektive Arbeitskampfmaßnahmen durch und fordert eine Lohnerhöhung von 10 %, eine Senkung der Rentenbeiträge und wehrt sich gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungsbedingungen.

Nach monatelangen Flugblattaktionen, Mitgliederversammlungen, Telefonanrufen und Direktnachrichten haben Gewerkschaftsaktivist:innen in 124 Dienststellen und anderen öffentlichen Einrichtungen die von den gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 % überschritten und verfügen nun über ein gesetzliches Mandat für Arbeitskampfmaßnahmen. Über 100.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben mit „Ja“ gestimmt.

Reaktionäres Streikrecht

Die PCS hat in über 80 Magistratsgerichten Rechtsberater:innen und Gerichtsmitarbeiter:innen ohne Rechtsberater:innenstatus gesondert an die Wahlurnen gerufen, um gegen das gescheiterte System der „gemeinsamen Plattform“ zu protestieren. Die Mitglieder werden den größten Teil des Dezembers bestreiken, und für den 24. Dezember bis 4. Januar wurden neue Termine angekündigt. Bei der letzten Urabstimmung in diesem Konflikt stimmten 97 % der Mitglieder für einen Streik und übertrafen damit die 50 %-Hürde.

Obwohl die Gesamtbeteiligung der Abstimmenden über dem Schwellenwert lag, wurde die Abstimmung getrennt durchgeführt, d. h. jede Abteilung wurde als separate Einheit befragt. Dadurch wurde verhindert, dass eine Gesamtbeteiligung von weniger als 50 % irgendjemanden am Streik hindert, aber andererseits bedeutet dies auch, dass die Abteilungen, die die Schwelle nicht erreicht haben, rechtlich nicht streiktätig werden können.

Von denjenigen, die das Ziel verfehlt haben, ist das HMRC (Finanzamt und Zoll), eine der beiden größten Dienststellen, am stärksten betroffen. Das HMRC hat 47 % erreicht und wird zusammen mit fünf anderen Dienststellen, die das Wahlquorum knapp verpasst haben, erneut zur Wahl gerufen. Die meisten dieser Abstimmungen, auch die des HMRC, enden am 27. Februar.

Der Nationale Exekutivausschuss (NEC) trat am 18. November nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses zusammen, um zu entscheiden, welche Maßnahmen er ergreifen will. Er einigte sich auf ein erstes Programm für gezielte Aktionen, lehnte jedoch Anträge ab, die zu Streiks aller Mitglieder im Dezember aufriefen. Generalsekretär Mark Serwotka wandte sich in einem Schreiben an die Gewerkschaftsangehörigen:

„Der NEC wird Mitte Dezember erneut zusammentreten, um die nächste Streikwelle zu erörtern … Dazu könnten gemeinsame Streiks aller Mitglieder in den Gebieten gehören, die die 50 %-Beteiligungsschwelle überschritten haben, möglicherweise in Abstimmung mit anderen Gewerkschaften.“

Grenzen der Taktik

Damit würde der erste mögliche Termin für einen Flächenvollstreik bestenfalls auf Januar verschoben, zwei Monate, nachdem die Mitglieder für Maßnahmen gestimmt haben. Wenn die Führung wartet, bis die HRMC-Abstimmung vorliegt, könnte es Mitte März werden – eine unglaubliche Verzögerung in den Wintermonaten einer akuten Lebenskostenkrise.

Zweck der gezielten Maßnahmen ist es, die Auswirkungen des Streiks zu maximieren, indem diejenigen Beschäftigten, deren Abwesenheit die größten Störungen verursachen wird, in den Ausstand treten. Die Dienststellen, die selektive Maßnahmen ergreifen, sind die Rural Payments Agency (Behörde für Finanzierung im Bereich Umwelt, Ernährung und ländlichem Raum; 13. – 23. Dezember und 3. – 13. Januar), die Driver and Vehicle Standards Agency (Verkehrsregelungsbehörde), wo die Agentur in vier geografische Bereiche aufgeteilt wird, die zwischen dem 13. Dezember und dem 10. Januar an verschiedenen Tagen streiken werden. Auch die Beschäftigten der National Highways (Straßenmeistereien) werden an Tagen zwischen dem 16. Dezember und dem 7. Januar in geografischen Gruppen streiken.

Darüber hinaus werden vier Jobcenter zwischen dem 19. und 31. Dezember bestreikt. Die Beschäftigten der Border Force (Grenzkontrollorgane), die an den Flughäfen London Heathrow, London Gatwick und Manchester, Birmingham, Cardiff und Glasgow Passkontrollen durchführen, werden zwischen dem 23. und 31. Dezember ebenso streiken wie die Beschäftigten im Hafen von Newhaven.

Mit anderen Worten: Im Dezember, wenn die Beschäftigten der Bahn, Post und Krankenhäuser in den Arbeitskampf treten, werden nur kleine Gruppen von Beschäftigten des öffentlichen Dienstes an ihrer Seite stehen. Bislang wurden noch keine Streiks aller Mitglieder angekündigt, was in der Gewerkschaft die Sorge aufkommen lässt, dass der während der Urabstimmung aufgebaute Schwung verlorengehen könnte, wenn die Mehrheit der Mitglieder monatelang auf einen Streikaufruf wartet.

Einige Mitglieder des Jugendnetzwerks der PCS  brachten einen Antrag ein, in dem der NEC aufgefordert wurde, alle 124 Abteilungen zum Streik aufzurufen, doch wurde dieser Antrag auf ein Diskussionspapier verwiesen und dann abgelehnt. Zahlreiche Zweigstellen verabschiedeten einen Musterantrag mit denselben Forderungen und argumentierten, dass nicht nur der Schwung verlorenginge, sondern von denjenigen, die gezielte Aktionen durchführen, nicht erwartet werden könne, dass sie den gesamten Streik trügen.

In dem Antrag wird der NEC aufgefordert, bis spätestens Mitte Januar eine umfassende Aktion anzukündigen. Sicherlich sollte der NEC nicht bis zum 27. Februar warten, um zu sehen, ob HMRC das Quorum erreicht.

Andere Gewerkschaften ergreifen jetzt Maßnahmen, und weitere, darunter Lehrkräfte und Feuerwehrleute, sind dabei, ihre Stimme abzugeben. Aber unabhängig davon, ob andere Gewerkschaften für Januar zu Aktionen aufrufen oder nicht, muss die PCS dies tun. Koordinierung ist wirkungsvoller als ein Alleingang. Die Zeitung der Bosse, Financial Times, schätzte, dass allein ein zweitägiger Streik aller Gewerkschaften mit einem Mandat im Dezember das jährliche Bruttoinlandsprodukt Großbritanniens um 0,3 % senken würde.

Aber in der Vergangenheit hat sich die Gewerkschaft dafür entschieden, nichts zu tun, anstatt allein zu streiken, eine Vorgehensweise, die garantiert … nichts bringt. Die Mitglieder, die sich an der gezielten Aktion beteiligen, sollten natürlich ihre Büros schließen und lautstarke Streikposten aufstellen. Sie sollten Delegationen zu den Streikposten anderer Abteilungen schicken und damit beginnen, Verbindungen zwischen der Gewerkschaftsbasis herzustellen.

Sie sollten aber auch die Gelegenheit eines ausgedehnten Streiks nutzen, um die Strategie ihrer Führung ernsthaft in Frage zu stellen: Wann werden die Streiks zu einem unbefristeten Flächenstreik ausgeweitet, mit dem die Forderungen der Gewerkschaft durchgesetzt werden können?




Die UN: Organisation des Weltfriedens oder des Imperialismus?

Jonathan Frühling, Infomail 1207, 20. Dezember 2022

Seit Jahr und Tag – und auch angesichts des Krieges um die Ukraine – beschwören Teile der Linken und vor allem die Friedensbewegung gern eine mehr oder weniger reformierte UN als Alternative zur aggressiven NATO. Wir wollen daher deren Geschichte und Wirken betrachten – und dabei den illusionären Charakter der Hoffnungen in diese Institution darlegen.

Am 25. April 1945 gründete sich die Organisation „United Nations“, Vereinte Nationen oder kurz UN und verabschiedete 1948 die Allgemeine Charta der Menschenrechte. Frieden, Sicherheit, ein Stopp des Klimawandels und der Schutz von Menschenrechten stehen seither auf der Fahne der UN, die mit 193 Mitgliedsstaaten fast alle Länder der Erde umfasst.

Der folgende Text nimmt exemplarisch die Organe, Hilfsprogramme und Militäreinsätze unter die Lupe, um zu bewerten, wie groß der Einfluss der UN ist und welchen Sinn ihre Arbeit für die beteiligten Staaten hat.

Der Sicherheitsrat

Das wichtigste Organ der UN ist der Sicherheitsrat. Er besteht aus 15 Staaten, von denen 10 zweijährlich von der UN-Generalversammlung aller Staaten gewählt werden. Die Staaten Frankreich, China, Russland, England und die USA (darunter alle Siegermächte des Zweiten Weltkriegs) haben jedoch darauf bestanden, ständig im Sicherheitsrat vertreten zu sein und ein Veto gegen jegliche Beschlüsse einlegen zu können. Damit wird die ganze Institution völlig undemokratisch und von den Entscheidungen der wichtigsten imperialistischen Mächte abhängig.

Der UN-Sicherheitsrat autorisiert u. a. kriegerische Handlungen der Staaten untereinander und verleiht ihnen somit Legitimität vor der Weltöffentlichkeit. Allerdings werden Militärinterventionen, wenn nötig, auch ohne Erlaubnis des Sicherheitsrates ausgeführt, wie z. B. der Irakkrieg 2003 oder der Libyenkrieg 2011 beweisen. Der Angriffskrieg gegen Afghanistan ab 2001 zum Sturz der Taliban und zur Sicherung der Interessen der Nato in Zentralasien hatte kein sogenanntes UN-Mandat. Allerdings wurde die Besatzungsmission ISAF von der UN legitimiert. Dies hat es der NATO möglich gemacht, ihren Krieg als einen Kampf für die Menschenrechte darzustellen. In dem Krieg wurden bis 2019 durchschnittlich über 2.250 Zivilist:innen getötet.

Die UN organisiert auch selbst sogenannte friedenssichernde Militäreinsätze (2021: 13 Missionen), in denen 2021 81.033 Personen (die meisten davon Soldat:innen) aktiv waren. 121 Länder beteiligten sich mit ihren Truppen freiwillig an den Einsätzen. Das Budget betrug für das Jahr 2020 – 2021 6,58 Mrd. US-Dollar. Tatsächlich spielen die UN-Truppen teilweise eine wichtige Rolle, um Staaten zu stabilisieren. Man sollte allerdings vorsichtig sein, dies als einen Dienst der beteiligten Staaten für die Weltbevölkerung zu sehen. Zwar bekennen sich alle ganz allgemein zum „Frieden“, allerdings meinen sie damit einen, in dem sie die betreffende Region in Ruhe ausbeuten können. Bekanntlich verklärt ja auch selbst der russische Imperialismus die Invasion der Ukraine zur „Friedensmaßnahme“. Für den jeweils eigenen „Frieden“ sind Staaten notfalls auch bereit, Krieg zu führen.

Dass sich die UN nach einem Waffengang an der Stabilisierung des Trümmerhaufens beteiligt, kann für die kriegführenden Staaten sogar durchaus komfortabel sein. Auch die UN-Friedensmissionen sind also von den Interessen der kapitalistischen Staaten bestimmt und müssen daher grundsätzlich abgelehnt werden.

Oftmals haben die UN-Einsätze auch völlig dabei versagt, Völkermorde zu verhindern, wie z. B. im Bosnienkrieg 1995 oder in Ruanda 1994. Gerade in Ruanda war ein halbherziger Einsatz Grund für das Massaker. Viele der stationierten Truppen wurden bei Ausbruch des Krieges sogar abgezogen, womit den Täter:innen faktisch ein Freibrief für den Völkermord ausgestellt wurde. Es hatte schlichtweg kein Land ein Interesse daran, Geld und Soldat:innen aufs Spiel zu setzen, um das Leben der knapp 1 Million Opfer zu retten. Der Begriff Völkermord wurde sogar bewusst vermieden, weil dann ein Einsatz gemäß Charta der UN zwingend notwendig gewesen wäre. Das beweist, wie beliebig die Staaten mit den Vorgaben der UN umgehen.

Der UN-Sicherheitsrat kann zudem Sanktionen gegen Staaten verhängen. Allerdings sind auch diese Mittel, Druck auf Staaten auszuüben, durch die Blockaden der Vetomächte sehr begrenzt. Gerade in Zeiten verstärkter Blockbildung verliert der Sicherheitsrat an Handlungsspielraum, da auch regionale Konflikte immer mehr im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen den imperialistischen Vetomächten ausbrechen. Zudem bestrafen Sanktionen die Gesamtbevölkerung und sind deshalb kein Mittel, das von Revolutionär:innen unterstützt werden sollte.

Der internationale Gerichtshof

All das ist kein Wunder. Die UN steht schließlich nicht über der imperialistischen Ordnung, sondern spiegelt das Kräfteverhältnis der Nachkriegsordnung wider. Ihre Macht endet daher genau dort, wo die Interessen der Großmächte betroffen sind. Das zeigt sich auch bei den verschiedenen, der UN angelagerten Institutionen

Vor dem internationalen Gerichtshof können sich Staaten gegenseitig verklagen. Allerdings haben nur 74 eine Unterwerfungserklärung unterzeichnet (darunter keine der Vetomächte außer England), weshalb Klagen meist folgenlos bleiben, wie z. B. im Inselstreit zwischen China und den Philippinen.

Das UN-Welternährungsprogramm

Von Befürworter:innen der UN werden immer wieder die Welternährungsprogramme ins Feld geführt, um sie zu verteidigen. Das Budget betrug 2019 8 Mrd. US-Dollar, wovon allein 2,5 Mrd. aus den USA kamen. Das Geld reichte aus, um 97 Millionen Menschen in 88 Ländern Hilfe zu leisten, ohne die zweifellos viele von ihnen schwere Schäden bis zum Tod erlitten hätten. Das Budget klingt zunächst hoch, wird aber im Vergleich mit den Militärausgaben z. B. der USA von 732 Mrd. US-Dollar im Jahr 2019 zur Lachnummer. Allein die neue US-Flugzeugträgerklasse Gerald R. Ford kostet ca. 12 – 13 Mrd. US-Dollar pro Stück! Das vermittelt uns eine Idee davon, wie wenig Geld für die Bekämpfung des Welthungers eigentlich notwendig wäre und wie verhältnismäßig wenig die Staaten darin investieren. Übrigens haben trotz der UN-Welternährungsprogramme – 2020 rund 690 Millionen – Menschen nicht genug zu essen.

Welche Interessen die Mitgliedsstaaten der UN wirklich verfolgen, wird z. B. im Jemenkrieg deutlich. Die G20 haben seit 2015 Waffen und Munition im Wert von 17 Mrd. US-Dollar an Saudi-Arabien verkauft und den Krieg so überhaupt erst möglich gemacht. Die USA beteiligt sich zudem auch an der Seeblockade des Jemen, welche der Hauptgrund für die Hungersnot ist. 2020 war mehr als die Hälfte der Bevölkerung des Jemen (16,2 Millionen Menschen) auf Nahrungsmittellieferungen der UN angewiesen. Diese haben bisher glücklicherweise ein Massensterben verhindert. Allerdings haben die Staaten in Folge der Coronakrise ihre Beiträge für das Welternährungsprogramm um über 50 % reduziert. Deshalb wird die Hungerkrise seit 2021 völlig außer Kontrolle geraten.

Die geleistete Hilfe der G20 von gerade mal 6,3 Mrd. US-Dollar dient bzw. diente auch hier nur dem Zweck, am Ende nicht ein Land erobert zu haben, in dem ein Großteil der Menschen verhungert sind. Humanität sucht man in der UN-Politik vergebens.

UN-Flüchtlingswerk

Bei den Hilfsprogrammen für Geflüchtete zeigt sich ein ganz ähnliches Bild. Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass die UN bei ihrem Ziel, allen Menschen ein Recht auf Asyl, die Möglichkeit zur Integration und Rückkehr zu gewährleisten, total gescheitert ist. Im Gegenteil: 2019 z. B. waren erstmals seit 1945 knapp 80 Millionen Menschen auf der Flucht. Nichtsdestotrotz arbeiteten 2019 17.464 Mitarbeiter:innen mit einem Budget von 8,6 Mrd. US-Dollar, um Leistungen für ca. 20 Millionen Geflüchtete bereitzustellen.

Allerdings investieren Staaten mehr darin, Menschen durch Krieg oder wirtschaftliche Unterdrückung zur Flucht zu zwingen oder ihre Lage durch Grenzschutz überhaupt erst so katastrophal zu gestalten. Die EU überwies 2019 ca. 473 Millionen US-Dollar (ohne die Spenden der zur EU gehörenden Einzelstaaten) an das UN-Flüchtlingswerk. 460 Millionen flossen im gleichen Zeitraum in die Grenzschutzorganisation Frontex, welche für Pushback-Aktionen und Folter an Geflüchteten berüchtigt ist. Hinzu kommen der EU-Grenzschutz durch die Nationalstaaten und bilaterale Abkommen gegen Geflüchtete, wie z. B. der milliardenschwere UN-Türkei Deal.

Eine knappe Analyse zeigt auch hier, dass die UN zwar teilweise verhindern kann, dass in extreme Not geratene Menschen einfach sterben. Allerdings ist dies nur eine Symptombekämpfung, deren Ursache die verbrecherische Politik eben jener Mitgliedsstaaten ist.

Der Sinn der UN

Letztlich dient die UN vor allem dem Zweck, der Außenpolitik der Mitgliedsstaaten Legitimität zu verleihen und teilweise deren schlimmste Folgen ein wenig abzufedern. Letzteres gibt ihnen sogar die Möglichkeit vorzugaukelen, dass sie in humanitärer Absicht Politik im Interesse der gesamten Menschheit betreiben. Es ist jedoch offensichtlich, dass die mächtigsten Nationalstaaten in einem unversöhnlichen Gegensatz zueinander stehen, der selbst aus der Konkurrenz zwischen den großen Kapitalen erwächst. Wirtschaftliche Erpressung gehört ebenso zu ihrem Repertoire wie Krieg. An diesem systemimmanenten Problem kann auch die UN nichts ändern, selbst wenn diese über mehr Befugnisse und Geld verfügte. Zudem sind alle Hilfsprogramme und Blauhelmeinsätze vom Geld und Personal der Mitgliedsstaaten abhängig.

Es wäre deshalb naiv zu glauben, dass die Staaten die UN nicht benutzen würden, um ihre eigenen Interessen umzusetzen. Tatsächlich beteiligt sich die UN selbst durch rechtlich, organisatorisch und finanziell unabhängige Unterorganisation wie dem IWF, welcher Kredite an Staaten vergibt und dafür neoliberale Reformen fordert, ganz direkt an der Verschärfung unserer Unterdrückung. Unzählige Staaten befinden sich so seit Jahrzehnten in finanzieller Geiselhaft und haben so politische Unabhängigkeit verloren und ihre Bevölkerungen in Armut gestürzt. Außerdem ist auch die Weltbank Teil der UN, welche vor allem Infrastrukturprojekte im Sinne des Imperialismus finanziert (z. B. Staudämme oder Verkehrsrouten für den Abtransport von Rohstoffen in die imperialistischen Zentren). Durch 40 % aller Weltbankprojekte werden Menschen zwangsumgesiedelt. Zwischen 2004 und 2013 waren 3,4 Millionen Menschen von diesen Vertreibungen betroffen.

Die Arbeiter:innenklasse und die UN

Zudem müssen wir uns fragen, ob wir als Klasse der Lohnabhängigen Einfluss in der UN ausüben können. In ihr sind ausschließlich Staaten vertreten. Die Organisationen der Arbeiter:innenklasse, wie z. B. Gewerkschaften, haben in der UN dagegen kein Mitspracherecht. Nur durch eine Regierungsübernahme mittels bürgerlichem Parlamentarismus kann deshalb Einfluss auf die UN gewonnen werden. Die ist für uns aber unmöglich, da alle Staaten von bürokratischen Apparaten, dem Militär und der Polizei kontrolliert werden, die allesamt nicht gewählt und fest in der Hand der herrschenden Klasse sind. Zudem ist dies in vielen Ländern schon allein deswegen keine Option, weil sie diktatorisch regiert werden. Die grundsätzliche Struktur ist also im Interesse der herrschenden Klasse und nicht reformierbar.

Um die Welt im Interesse der unterdrückten Klasse umzugestalten, dürfen wir uns deshalb nicht auf die bürgerlichen Staaten und deren Organisationen verlassen. Das gilt auch für die UN. Die Arbeiter:innenklasse und deren Jugend kann ihr gesellschaftliches Gewicht vor allem mit Selbstorganisation in Vierteln, Bildungseinrichtungen oder Betrieben geltend machen. Unsere Masse und unsere Möglichkeit, zu demonstrieren und vor allem zu streiken, sind unsere gesellschaftliche Macht. Wir müssen zu deren Ausübung unsere eigenen Organisationen schaffen, die sich auf die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und Jugend der gesamten Welt stützen. Nur so können wir auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene aktiv werden und damit erfolgreich sein.

Wir dürfen uns nicht mit der halbherzigen Symptombekämpfung der UN, wie z. B. den Ernährungs- und Geflüchtetenhilfen, zufriedengeben. Der UN-Sicherheitsrat als eine imperialistische Agentur sollte sofort zerschlagen werden. Zudem müssen wir die Milliarden, die heute für Subventionen für Klimakiller, Grenzsicherung und Krieg ausgegeben werden, den Herrschenden entreißen und über deren Verwendung selbst bestimmen. So könnten Hunger, Wohnungsnot und Armut wirllich aus der Welt geschafft werden.




Frankreich: Wird sich die wirkliche NPA durchsetzen?

Marc Lassalle, Infomail 1207, 19. Dezember 2022ranke

Der lange Todeskampf der französischen Nouveau Parti Anticapitaliste (Neue antikapitalistische Partei NPA) hat sein Endstadium erreicht, nachdem die ehemalige Führung den jüngsten Parteitag verlassen hat. Diejenigen, die übrig geblieben sind, müssen die Bilanz des Experiments der pluralen Partei ziehen.

Was ist geschehen?

Was auf der fünften nationalen Konferenz der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA), die am 11. Dezember in Paris stattfand, geschah, mag für diejenigen, die die französische extreme Linke nicht so genau verfolgen, ein Schock sein. Für ihre Aktivist:innen ist die Spaltung in zwei Gruppen, die jeweils für sich in Anspruch nehmen, die Fortführung der NPA zu verkörpern, jedoch keine Überraschung.

Die NPA wurde 2009 mit einem Aufruf an die radikale Linke gegründet, sich der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR; französische Sektion der Vierten Internationale) anzuschließen und eine neue revolutionäre Organisation zu bilden.

Unter Führung von Olivier Besancenot, einem jungen Postangestellten, der als Kandidat der LCR bei den Präsidentschaftswahlen 2007 1,5 Millionen Stimmen erhalten hatte, zog die NPA schnell fast 10.000 Mitglieder an. Auf ihrem Gründungskongress verpflichtete sie sich zur Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms. Doch abgesehen von einigen politischen Kommissionen kam dies nie zustande. Stattdessen setzte sich die alte LCR-Gewohnheit der Spaltung in sich ständig bekriegende Fraktionen wieder durch und wurde endemisch.

In der Zwischenzeit wurde die Hoffnung der NPA, viele von der rechten sozialistischen Regierung von François Hollande entfremdete Linke zu gewinnen, durch die Intervention des ehemaligen Abgeordneten der Sozialistischen Partei, Jean-Luc Mélenchon, zunichtegemacht. Der ehemalige SP-Politiker gründete 2009 die Parti de Gauche (Linkspartei), die nach verschiedenen Umwandlungen den Kern von La France Insoumise (FI; Unbeugsames Frankreich) und NUPES (Neue Ökologische und Soziale Volksunion) bildete. Da die Aussichten auf einen Durchbruch bei den Wahlen durch das Aufkommen einer linkspopulistischen Partei durchkreuzt wurden, verbrachte die NPA den größten Teil eines Jahrzehnts in einem langen Todeskampf, der von Spaltungen zur linken und rechten Seite geprägt war.

Plattformen

Angesichts dieser endgültigen Krise kämpften auf der Konferenz 2022 zwei Hauptströmungen um die Kontrolle über die zukünftige Ausrichtung der Organisation.

Die Plattform B (mit 48,5 % der Delegierten) wird von Besancenot und Philippe Poutou angeführt. Diese Strömung hat die NPA seit ihrer Gründung geleitet und stellt die Kontinuität mit der LCR und der Vierten Internationale (USFI) dar. Heute schlägt sie eine große Wende für die NPA vor: von einer unabhängigen Organisation, die sich dem Aufbau einer antikapitalistischen Partei verschrieben hat, die die reformistischen Parteien herausfordert, hin zu einer „einheitlichen“ Ausrichtung auf die FI und das breitere linkspopulistische Wahlbündnis NUPES, das heute die Reste der Sozialistischen Partei, die Grünen, die Kommunistische Partei Frankreichs und andere kleinere Fische umfasst. Da es nicht gelungen ist, deren politischen Platz einzunehmen, besteht die Schlussfolgerung darin, sich ihnen anzuschließen.

Diese Wende ist nicht neu: Bei den Kommunalwahlen in Bordeaux 2021 warb Poutou (Besancenots Nachfolger als Präsidentschaftskandidat) für ein Bündnis mit der FI. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2022 unterstützte die NPA zum ersten Mal die Kandidat:innen der NUPES in den meisten Teilen des Landes.

Die Plattform B begründete die Wende auf der Grundlage einer Analyse des Kräfteverhältnisses auf nationaler und internationaler Ebene mit dem Argument, dass „die Arbeiter:innenklasse heute aus dem Gleichgewicht geraten ist, das Proletariat sich inmitten einer gesellschaftlichen Umstrukturierung befindet“ und „das Kräfteverhältnis ungünstig ist, da die herrschende Klasse in der Offensive ist“, weshalb „wir unsere einheitliche Ausrichtung behaupten und weiterverfolgen müssen. Wo immer es dynamische, kämpferische und offene Strukturen gibt, schließen wir uns ihnen an, um unsere Politik des einheitlichen Kampfes zu führen und zur Belebung unserer revolutionären Perspektiven beizutragen“.

Obwohl betont wird, dass dies nicht bedeutet, dass man sich der LFI tatsächlich anschließt, impliziert es doch eine strategische Ausrichtung auf die FI und den Block der sie umgebenden reformistischen Parteien, auch durch politische Allianzen. In der Tat war die Führung der NPA kurz davor, eine Vereinbarung mit der FI zu treffen, um der NUPES beizutreten und bei den letzten Parlamentswahlen Kandidat:innen der NPA unter deren Banner aufzustellen. Sie ist stolz darauf, dass der Slogan „Mélenchon auf den Stimmzetteln, Poutou auf der Straße“ sehr populär ist, was der NPA angeblich eine wichtigere Rolle als das reine Wahlergebnis verleiht.

Die Plattform C (mit 45 % der Delegierten) ist selbst ein Bündnis aus drei heterogenen Gruppen: L’Étincelle (Funke), eine ehemalige Tendenz der Lutte Ouvrière (LO; Arbeiter:innenkampf), ist die führende Kraft. Die nächstgrößere Gruppe ist Anticapitalisme & Révolution, eine Tendenz, die mit der linken Opposition in dem Vereinigten Sekretariat der IV. Internationale verbunden ist. Schließlich gibt es noch die Democratie Révolutionnaire, die ihre Wurzeln in der Voix des Travailleurs (Arbeiter:innenstimme) hat, die aus der LO hervorging, bevor sie 1997 der LCR beitrat.

Die Plattform C behauptet, eine Mehrheit innerhalb der NPA zu vertreten, die in großen Städten wie Paris, Lyon, Marseille, Lille und Rouen und vor allem in der Jugendorganisation stark ist. Sie lehnt jedes politische Bündnis mit FI und NUPES ab und fordert eine offen revolutionäre NPA. Sie befürwortet „die Aktualität und Dringlichkeit der Revolution“, die durch eine starke Intervention in der Arbeiter:innenklasse vorbereitet werden soll: Sie organisiert tatsächlich kämpferische Arbeiter:innen in wichtigen Sektoren wie Transport, Automobil und Krankenhäusern.

Einvernehmliche Trennung?

Seit 2020 warnte die Besancenot-Poutou-Führung, dass eine Spaltung unvermeidlich sei, und schlug sogar eine „einvernehmliche“ Trennung als einzigen Ausweg vor. Der Austritt einer anderen Oppositionsfraktion, der CCR (Revolutionäre Kommunistische Strömung; die international mit der Trotzkistischen Fraktion verbunden ist), im Jahr 2021 stoppte diese Entwicklung für einen Moment, da die verschiedenen Strömungen der NPA in der Kampagne von Philippe Poutou für die Präsidentschaftswahlen 2022 eine vorübergehende Einheit fanden.

Die zugrundeliegenden Differenzen wurden jedoch nicht ausgeräumt. Das Funktionieren der NPA als Partei wird von ihren einzelnen politischen Gruppierungen mit ihren eigenen Zeitungen, Webseiten usw. völlig überschattet. Seit mehr als einem Jahrzehnt werden die meisten NPA-Lokalgruppen von der einen oder anderen Tendenz dominiert. Die verschiedenen Gruppen halten getrennte Regionalversammlungen ab, führen getrennte Bildungsprogramme durch und zahlen getrennte Mitgliedsbeiträge. In einigen Betrieben gibt es sogar rivalisierende NPA-Bulletins. Während des jüngsten Eisenbahner:innenstreiks gab es sogar getrennte NPA-Basisausschüsse. Eine solche Verhöhnung der Parteieinheit muss ernsthaften Arbeiter:innenmilitanten und jungen Aktivist:innen skandalös erscheinen.

Trotz dieser gravierenden Probleme ist die von Plattform B vorgeschlagene „einvernehmliche Trennung“ eine absolute Travestie, ein zynisches bürokratisches Manöver, um die Opposition loszuwerden und die Kontrolle über den Apparat zu behalten. Warum also jetzt? Ganz einfach, weil sie denkt, dass es einen größeren Fisch zu fangen gibt!

Der Aufstieg von LFI/NUPES scheint eine neue Perspektive zu eröffnen – nämlich die Möglichkeit, über ihre Listen Sitze im Parlament und in regionalen und kommunalen Versammlungen zu erhalten. Präsident Emmanuel Macron verfügt nur über eine relative Mehrheit im Parlament, was die Regierung zwingt, mühsam entweder die Unterstützung der PS oder von Les Républicains (den rechten Gaullist:innen) zu suchen. Eine vorzeitige Auflösung des Parlaments und Neuwahlen bilden eine mögliche Lösung für Macron, in der Hoffnung, eine klare Mehrheit zu erhalten. Diese zu erwartende Entwicklung stellt für die Plattform B eine verlockende Möglichkeit dar, da sie davon träumt, „mit der FI zusammenzuarbeiten“, wie Poutou es kürzlich in einem Interview unverblümt ausdrückte.

Dies ist jedoch nicht der einzige Grund. Eine Reihe von Abspaltungen nach rechts seit der Gründung der NPA hat die Strömung geschwächt, die heute von der Plattform B repräsentiert wird. Alle diese Abspaltungen, einschließlich führender Kader und wichtiger Teile des Apparats, wurden schnell von Mélenchons sich ständig verändernden Bewegungen und ihrer „Dynamik“ angezogen. Doch alle diese Gruppierungen wurden nach ihrem Austritt aus der NPA schnell politisch irrelevant. Die Folge war, dass die Plattform B nach und nach ihre Mehrheit und die Kontrolle über die NPA verlor, und diese Tendenz hat sich beschleunigt, wie das Wachstum der Jugendsektion zeigt, die mindestens ein Viertel der Mitglieder ausmacht und zu keinem Zeitpunkt unter der Kontrolle der Führungstendenz stand.

Auf der nationalen Konferenz wurde eine von der Plattform C eingebrachte Resolution, die die Weiterführung der NPA forderte, wahrscheinlich von einer Mehrheit der Delegierten angenommen. In der Tat waren selbst langjährige Anhänger:innen der Plattform B schockiert von der Idee, eine Organisation, die sie seit mehr als einem Jahrzehnt loyal und geduldig aufgebaut haben, tatsächlich zu verlassen und aufzulösen. Einige von ihnen zögerten oder gingen vor der Konferenz zur Plattform C über, und dieser Trend hätte sich während der Debatten auf der Konferenz fortsetzen können. Daher beschloss die Plattform B, die Konferenz zu verlassen, bevor eine Abstimmung stattfand. Damit verletzte sie ihre Verpflichtung gegenüber denjenigen, die für sie gestimmt haben, sich an der Konferenz zu beteiligen und für ihre Politik zu kämpfen. Sie trägt auch eine schwere Verantwortung für die extreme Schwächung der NPA, die sich trotz ihrer Fehler und Schwächen gegen die rassistische extreme Rechte und den französischen Imperialismus gestellt, die Arbeiter:innenkämpfe und Selbstorganisation aufgebaut und sich für Elemente einer revolutionären Perspektive eingesetzt hat.

Die Behauptung, dass die Plattform B durch ihren Austritt die „wahre“ NPA sei, ist ein Witz. Ehrliche NPA-Aktivist:innen, selbst für diejenigen, die sie früher unterstützt haben, erinnert er an die niederträchtigen Manöver der zynischsten stalinistischen Gewerkschaftsbürokrat:innen. Erst spaltet man sich ab, dann gründet man eine „zweite“ Gewerkschaft, und schließlich denunziert man die anderen als illegitim, weil sie einem nicht folgen. Wir verurteilen diese Art von Manövern aufs Schärfste, die nur dazu dienen, Revolutionär:innen zu diskreditieren und ihre Stimme zu schwächen.

Die Tatsache, dass die NPA all diese Tendenzen von Anfang an enthielt und Plattform B lange Zeit die Idee ständiger Fraktionen lobte, zeigt, dass sie die Aussicht, ihre Mehrheit und die Kontrolle über den Parteiapparat und die Ressourcen zu verlieren, wirklich „unerträglich“ fand.

Wohin jetzt?

Dieser entsetzliche Schlamassel ist jedoch nicht einfach das Ergebnis der mangelnden politischen Integrität der einen oder anderen Strömung. Er ist vielmehr die faule Frucht der zentristischen Tradition der LCR und des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale und ihrer Verachtung und ihres Missverständnisses des demokratischen Zentralismus. Die NPA wurde auf der Grundlage einer schwachen Grundsatzerklärung gegründet, mit dem Versprechen, eine ernsthafte programmatische Diskussion anzustoßen. Diese Diskussion fand jedoch nie statt, und die mehr oder weniger getrennte Existenz verschiedener Fraktionen innerhalb der NPA wurde auf der Grundlage „diplomatischer Vereinbarungen“ akzeptiert. Es war ein auf Sand gebautes Haus, das den Stürmen und Erschütterungen des politischen Alltags nicht standhalten konnte, geschweige denn dem sich verschärfenden Klassenkampf.

Das bedeutet, dass das Potenzial der NPA, das der extremen Linken, wenn auch nur zaghaft, die Aussicht bot, das Stadium einer kleinen Propagandagruppe zu überwinden, verschleudert wurde. In der Tat war es der Klassenkampf – die Frage des antimuslimischen Rassismus, die Frage der Taktik in den Gewerkschaften und die Herausforderung einer wieder auftauchenden reformistischen Linkspartei –, der die Notwendigkeit einer programmatischen, d. h. strategischen und taktischen Vereinheitlichung mit sich brachte.

Diese Notwendigkeit wurde verpasst, weil die LCR, wie auch LO, das Programm nie als eine Frage der kreativen Anwendung revolutionärer Prinzipien auf neue Perioden und Aufgaben des Klassenkampfes betrachtete. Die wiederholten Krisen seit 2009 haben dafür viele Gelegenheiten geboten. Ebenso hat sich die NPA nie wirklich als revolutionäre Strategin für den Klassenkampf verstanden, die auch kritisch die Notwendigkeit eines gemeinsamen Vorgehens mit Reformist:innen und allen Arten von fortschrittlichen Bewegungen sieht.

Kurz gesagt, die NPA hat es nicht geschafft, ein lebendiges Programm zu entwickeln oder auch nur die Debatte darüber zu organisieren, wozu sie sich verpflichtet hatte. Infolgedessen blieb sie einerseits von Wahlen besessen, andererseits blieb sie den linken Kräften in den Gewerkschaften auf den Fersen, wenn es um Bewegungen gegen die verschiedenen neoliberalen Reformen ging. Und je mehr sie sich der Aufgabe der politischen Klärung und Homogenisierung entzog, desto mehr kristallisierte sie sich in einander feindlich gesinnten Fraktionen und Plattformen heraus.

Die derzeitige Krise ist das Ergebnis dieses Versagens. Hinzu kommt, dass sich die politische Situation seit der Gründung der NPA dramatisch verändert hat. Der Populist Mélenchon ist ein ernsthafter Anwärter auf die Führung der Arbeiter:innenbewegung; reaktionäre und rassistische Ideen und Parteien sind mit der Rassemblement National (Nationale Sammlung) auf dem Vormarsch. Es liegt auf der Hand, dass eine starke und kohärente Partei benötigt wird, um sowohl die Rechte als auch den Neoreformismus zu bekämpfen.

In dieser Hinsicht wird die Spaltung an sich nichts klären. L’Etincelle, A&R und DR trennen durchaus grundlegende politische Differenzen und sie haben unterschiedliche Organisationen mit unterschiedlichen Methoden aufgebaut. Wir können ihr Bestreben, die NPA fortzuführen, unterstützen und werden uns daran beteiligen, auch wenn wir ernsthafte programmatische und politische Differenzen mit ihnen haben. Aber sie müssen zu den Versprechen von 2009 zurückkehren und sich um programmatische Einheit und ein Ende der ständigen Fraktionen bemühen. Das Recht, Fraktionen und Strömungen zu bilden, ist natürlich ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen – im Gegensatz zum bürokratischen – Zentralismus. Aber Zentralismus bedeutet, dass man sich auf eine Strategie und Taktik für die bevorstehenden Klassenkämpfe einigt und sich die Ortsverbände und Fraktionen in den Gewerkschaften zusammenschließen, um gemeinsam dafür zu kämpfen. Ohne dies wird die Einheit nur eine Fassade sein, die auseinanderbricht, sobald sie vor einer ernsthaften Herausforderung steht.

Eine glaubwürdige Neugründung der NPA muss notwendigerweise mit einer gründlichen Bilanz des Klassenkampfes in Frankreich und der Entwicklung einer neuen Periode der zwischenimperialistischen Rivalität auf internationaler Ebene beginnen, wobei die Schlussfolgerungen in einem Aktionsprogramm der Arbeiter:innenklasse für die kommende Periode zusammengefasst werden.

Dies sind dringende Aufgaben, denen man nicht ausweichen oder sie einfach aufschieben kann. Die Arbeiter:innenklasse und die Jugend Frankreichs haben ihre Kampfbereitschaft gegen die neoliberalen Angriffe unter Beweis gestellt. Sie brauchen die Militanten der NPA, damit sie eine kohärente Kampfpartei wird, nicht ein loses Bündnis konkurrierender Fraktionen. Die Liga für die Fünfte Internationale ist gerne bereit, sich an dieser Diskussion zu beteiligen und sich in den kommenden Jahren aktiv mit den Kämpfen der französischen Arbeiter:innen zu solidarisieren.




Erklärung des Kongresses der Liga für die 5. Internationale 2022

Internationales Sekretariat der Liga für die 5. Internationale, Infomail 1207, 17. Dezember 2022

Die Welt steht vor einer Krise, die noch schwerwiegender ist als die Große Rezession von 2008 – 2010. Der Ukrainekrieg hat eine neue Phase eingeleitet, in der Wirtschaftskriege, zahlreiche durch den Klimawandel verursachte Katastrophen, ein sich beschleunigendes Wettrüsten und die Auswirkungen der Pandemie die Weltwirtschaft massiv erschüttern. Hunger, Arbeitslosigkeit und massenhafte Flüchtlingsströme, die vor Krieg und Armut fliehen, bringen die Ressourcen der Staaten, der Vereinten Nationen und der Nichtregierungsorganisationen an ihre Grenzen.

Krise, Krieg, Ursachen

Von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen sind bereits die Stimmen für Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen zu hören. Die Inflation senkt die Löhne und Gehälter, aber auch die notwendigen Ausgaben für das Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Der Krieg, den der russische Imperialismus im Februar 2022 gegen die Ukraine begonnen hat, die Reaktion der NATO und der G7-Imperialist:innen, Waffenlieferungen in noch nie dagewesenem Umfang und weitreichende Wirtschaftssanktionen haben zusammen die weltweite Versorgung mit Nahrungsmitteln und Treibstoffen destabilisiert und bedrohen Millionen Menschen mit dem Zusammenbruch ihres ohnehin schon geringen Lebensstandards.

Die Ukraine, die im Jahr 2020 das niedrigste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in Europa aufwies, wird nach Angaben der Weltbank voraussichtlich einen Rückgang ihrer Wirtschaft um 35 Prozent erleben. 14 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern vertrieben worden, 7,6 Millionen aus dem Land geflohen.

Es wird Jahre dauern, bis die zerstörten Wohngebäude, Fabriken, Krankenhäuser, Verkehrsverbindungen, Kraftwerke und das Stromnetz wieder aufgebaut sind. Obwohl der Krieg unmittelbar vom russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem diktatorischen Regime zu verantworten ist, um ihren Großmachtstatus zu behaupten, versuchen die NATO-Mächte seit langem, die Ukraine in ihre Einflusssphäre zu ziehen, indem sie sie mit einem EU- und NATO-Beitritt locken. Die Ukraine ist das Opfer dieser zwischenimperialistischen Rivalität.

Da die Ukraine einen Großteil der weltweiten Weizen-, Mais- und Gersteproduktion und einen noch größeren Teil der weltweiten Düngemittelversorgung abdeckt, haben der Krieg und die Unterbrechung der Lieferungen aus Russland sowie der Öl- und Gasversorgung der weltweiten Inflation einen enormen Auftrieb verliehen. Die Ukraine ist auch eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm, das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern mit Nahrungsmitteln versorgt, wodurch in Teilen Afrikas, die bereits von der durch den Klimawandel bedingten Dürre betroffen sind, eine Hungersnot verursacht zu werden droht.

Hunger war schon oft der Auslöser für Revolten und Revolutionen. Lebensmittelunruhen haben zu Streikwellen und dem Zusammenbruch von Regierungen geführt, wie in Sri Lanka und Haiti.

Der Krieg und die weltweiten Sanktionen lenken auch Ressourcen ab, die für die Bewältigung der wachsenden Klimakrise benötigt werden, die sich am deutlichsten in den katastrophalen Überschwemmungen in Pakistan, in Dürren und Hungersnöten in ganz Afrika und in zunehmend störenden Wetterereignissen in Europa, Asien, Australien und Nordamerika äußert. Hinzu kommt der enorme Druck, den die immer noch nicht erloschene Covid-Pandemie auf die Gesundheitsdienste und die Volkswirtschaften ausübt, einschließlich China, dessen jährliches Bruttoinlandsproduktwachstum Prognosen zufolge 2022 auf 3,2 Prozent fallen wird.

Die tiefen Wurzeln der heutigen, miteinander verknüpften Krisen sind in den Grundgesetzen der kapitalistischen Wirtschaft zu finden. Die Fabriken, ihre qualifizierten Arbeitskräfte, die neuen und alten Produktions-, Logistik- und Kommunikationsmittel sind in Hülle und Fülle vorhanden, ebenso wie die wissenschaftlichen und technologischen Mittel zur Bekämpfung von Pandemien und Klimawandel. Die Instrumente für die globale Planung, die zu ihrer Bekämpfung erforderlich sind, stünden ebenfalls zur Verfügung, und zwar in den multinationalen Konzernen und den riesigen Banken, aber sie sind durch Privateigentum und eine erbitterte Konkurrenz voneinander getrennt. Dieser Widerspruch hat sich während der Pandemie gezeigt: einerseits die rasche Entwicklung von Impfstoffen, andererseits deren ungleiche Verteilung an die Bevölkerungen unseres Planeten. Im Herbst 2022 haben 31 Prozent der Bevölkerung noch keine einzige Impfung erhalten.

Die grundlegende Ursache für die Krise des Systems liegt in der massiven Überakkumulation von Kapital und sinkenden Profitraten in allen imperialistischen Zentren der Weltwirtschaft. Da der Kapitalismus nicht in der Lage ist, die Profite aus der Produktion in gleichem oder höherem Maße zu realisieren als in der Boomphase der Globalisierung, könnte er seine Krise nur durch eine massive Vernichtung dieses überschüssigen Kapitals lösen. Alle großen imperialistischen Akteur:innen, die USA, China, die europäischen Mächte und Japan, haben jedoch eine solche Vernichtung vermieden, indem sie ihr Kapital und dessen Position auf dem Weltmarkt verteidigt haben. Dies führt nicht nur zu Protektionismus und einer Zersplitterung des Weltmarktes, sondern wirft auch die Frage auf, wessen Kapital vernichtet werden soll, welche untrennbar mit dem Kampf um die Neuaufteilung der Welt verbunden ist.

Der Kapitalismus hat sich zu einem globalen System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung der halbkolonialen Länder wird systematisch und ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen verschärft, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern.

Klimawandel und Umweltzerstörung können nur eingedämmt und umgekehrt werden, wenn die Kontrolle über die Produktion aus den Händen der großen Kapitalformationen genommen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Die vielen „Umweltbewegungen“, die entstanden sind, müssen über den Protest hinausgehen, über den Versuch, kapitalistische Regierungen zu überzeugen oder gar zu zwingen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Diese Regierungen werden niemals das Kapital in dem Umfang enteignen, der notwendig wäre, um die rasante Entwicklung hin zur Klimakatastrophe umzukehren. Das ist eine Aufgabe, die das Handeln der Arbeiter:innenklasse aller Länder erfordert, die Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter:innenmassen.

Zwischenimperialistische Rivalität

Die Liga für die Fünfte Internationale hat davor gewarnt, dass eine neue Periode der Rivalität zwischen den alten imperialistischen Mächten und den Neuankömmlingen auf der Bühne, die nun ihren Platz an der Sonne beanspruchen, in einen offenen Konflikt münden könnte. Die Ära der wohlwollenden Synergie zwischen den USA und China, die die 1990er und frühen 2000er Jahre kennzeichnete und den Anspruch Washingtons untermauerte, eine neue Weltordnung geschaffen zu haben, ist längst vorbei. Jetzt erleben wir nicht nur einen Verdrängungswettbewerb, sondern auch Handelskriege, einen kalten Krieg und stellvertretende „heiße“ Kriege.

Darüber hinaus droht jedoch ein Krieg zwischen den Großmächten, wobei die „Pulverfässer“ in Osteuropa, im Nahen und Fernen Osten liegen. Neue Bündnisse werden ins Leben gerufen (AUKUS) und alte aufgewertet (NATO, die Quad; Quadrilateraler Sicherheitsdialog zwischen den USA, Australien, Indien und Japan). Riesige Waffenlieferungen an die Ukraine haben das offene Ziel, Putin zu demütigen und stürzen, während die Demonstration der Seemacht in den Meeren um China dessen Staatschef Xi Jinping davor warnt, sich Taiwan gewaltsam einzuverleiben.

Die Machthaber:innen in Washington, Berlin, Paris und London, aber auch in Peking und Moskau, spielen mit dem Feuer. Die Rolle der USA als Polizistin einer „Weltordnung“ verkehrt sich in ihr Gegenteil, in die einer Brandstifterin.

Der US- und der russische Präsident, Biden und Putin, die beide beweisen wollen, dass ihre Staaten wieder „Großmächte“ sind, haben kein Recht, sich zu beschweren, wenn sie von „starken Männern“ in Delhi, Ankara, Brasilia, Jerusalem oder Riad nachgeahmt werden. Der Nahe Osten ist seit langem ein Pulverfass, im Irak, in Syrien, im Jemen. Kriege haben sich bis zum Horn von Afrika ausgebreitet, wo 2022 in Tigray (Nordäthiopien) ein brutaler Krieg wütet. Saudi-Arabien führt einen mörderischen Krieg im Jemen, Israel einen Dauerkrieg gegen die Palästinenser:innen und die Türkei hat freie Hand, die kurdische Region Rojava zu bombardieren oder gar eine Invasion und Besetzung vorzubereiten. In Russlands vermeintlicher Einflusssphäre sind im Kaukasus Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach und in Zentralasien zwischen Kirgisistan und Tadschikistan ausgebrochen.

Die despotischen Herrscher:innen dieser Gebiete versuchen, den inneren Druck durch Kriege und ethnische Säuberungen zu lösen, wie sie Jugoslawien in den 1990er Jahren zerrissen haben. Potenzielle „Friedensstörer:innen“ tauchen auch in Europa auf, mit rechtsgerichteten Parteien an der Macht in Ungarn, Polen und möglicherweise in Schweden, Italien oder Spanien. Auch weltweit wird die Liste immer länger.

Ein großer Erfolg der extremen Rechten ist die Eroberung der Republikanischen Partei durch Donald Trump und ihre Umwandlung in eine rechtspopulistische Partei. Schon jetzt setzt sein Oberster Gerichtshof eine reaktionäre Agenda gegen Frauen um (Aufhebung des Urteils Roe gegen Wade) und wird über kurz oder lang Farbige ihrer hart erkämpften Bürger:innenrechte berauben.

Hinter diesen autoritären Führer:innen wuchsen im letzten Jahrzehnt reaktionäre, oft rassistische Massenbewegungen, die sich gegen Minderheiten richten und sich unter den Bedingungen einer tiefen und lang anhaltenden sozialen Krise zu ausgewachsenen faschistischen Bewegungen entwickeln können.

Amerikas strategischer Rivale ist, trotz des Konflikts mit Russland über die Ukraine, China. Sein wirtschaftlicher Aufstieg und sein Auftauchen als neue imperialistische Macht im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends führten unweigerlich dazu, dass es die „einseitige“ globale Hegemonie der Vereinigten Staaten in Frage stellte und unter Xi Jinping offen Anspruch auf seine eigene Einflusssphäre erhob. Dies brachte ihm die Sympathie von Staaten ein, die unter der Hegmonie der USA durch den Internationalen Währungsfonds und andere Instrumente ihrer finanziellen Vorherrschaft gelitten hatten, ganz zu schweigen von Sanktionen und Blockaden.

Um die Errichtung einer chinesischen Vorherrschaft über die pazifischen Staaten zu verhindern, die an die Stelle der von den USA nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Hegemonie tritt, versuchen die USA und ihre britischen, kanadischen, australischen und neuseeländischen Verbündeten, eine NATO für den Pazifik zu schaffen, indem sie unter den südostasiatischen Staaten Verbündete suchen, die sie ihren japanischen, südkoreanischen und taiwanesischen „geschützten“ Verbündeten hinzufügen. Der „Ozean des Friedens“ könnte in den nächsten zehn Jahren durchaus zu einem Kriegsschauplatz ausarten.

Im Inland ist Xis raue Behandlung von Teilen der Bourgeoisie (wie Jack Ma, dem Gründer des Technologieriesen Alibaba) ein Zeichen dafür, dass Teile der Großbourgeoisie gegen seine restriktive Innenpolitik resistent werden. Auf globaler Ebene hat seine aggressivere Haltung eine Gegenreaktion aus den USA und Europa hervorgerufen, die deren Ambitionen ebenfalls bremst. So tut sich ein großer Widerspruch auf zwischen der durch die KP China gestellten Staatsbürokratie, die im staatskapitalistischen Sektor sowie in der Volksbefreiungsarmee noch immer über große wirtschaftliche Macht verfügt, und der von Milliardär:innen geführten Klasse des Privatkapitals. Dieser Widerspruch kann sich zu einem offenen Konflikt ausweiten, der eine Komponente einer revolutionären Situation darstellt – eine herrschende Klasse, die nicht mehr auf die alte Art und Weise regieren kann. Auch im Bankensystem gibt es Anzeichen für Unzufriedenheit.

Wenn die arbeitenden Massen nicht bereit sind, in der alten Weise weiterzumachen, wenn das System nicht in der Lage ist, den verbesserten Lebensstandard der 1980er bis in die 2010er Jahre hinein weiter zu gewährleisten, könnte dies dazu führen, dass Chinas „großer Führer“ mit seinem eigenen „perfekten Sturm“ innerhalb des riesigen Landes konfrontiert wird. Das kapitalistische Wachstum der letzten Jahrzehnte bringt zwangsläufig kapitalistische Krisen hervor. Der Rückgang der Durchschnittsprofitrate und die Überakkumulation von Kapital treiben China auf eine Explosion zu. Hinzu kommen die wirtschaftlichen und sozialen Kosten der Null-Covid-Politik, die weite Teile des Landes geschwächt hat, sowie die Krise des Finanzsektors und eine Spekulationsblase in dem so wichtigen Bausektor.

Seit einigen Jahren erschüttern Konflikte und Kämpfe die Arbeitsplätze und haben immer wieder zur Bildung kleinerer Netzwerke von Arbeiteraktivist:innen geführt. Die massiven und weit verbreiteten Proteste gegen Xis harte Null-Covid-Politik haben nur etwa einen Monat nach seiner Krönung auf dem Kongress der KP Chinas einen demütigenden Rückzieher erzwungen. Das Ausmaß der Proteste in Chinas Städten und die Anti-Xi- und Anti-KP-Slogans zeigen, dass die vermeintliche Allmacht des Überwachungsregimes in den kommenden Jahren erheblichen Erschütterungen ausgesetzt sein wird.

Dies kann den Raum für die Schaffung einer neuen revolutionären Arbeiter:innenbewegung, ja einer Partei schaffen, die ihren Hauptfeind im chinesischen Imperialismus erkennt und für eine sozialistische Revolution auf der Grundlage eines Programms der permanenten Revolution kämpft.

Der Widerstand und seine Führung

Die Große Rezession von 2008 löste im Nahen Osten eine Welle „demokratischer Revolutionen“ aus, bei denen Arbeiter:innenstreiks wie in Ägypten und Tunesien eine entscheidende Rolle beim Sturz der alten Diktatoren spielten. Da diese jedoch nicht „dauerhaft“ in dem Sinne wurden, dass die politische Führung der Arbeiter:innenklasse in Arbeiter:innenregierungen mündete, scheiterten sie selbst als demokratische Revolutionen, so dass islamistische oder militärische Kräfte an die Macht kommen konnten. Die lange US-geführte Besatzung Afghanistans endete mit einer Saigon-ähnlichen „panikartigen Flucht“ durch die westlichen Streitkräfte und diejenigen, die Vergeltung durch die siegreichen Taliban befürchteten. Die wahren Opfer waren die Frauen des Landes, die ihre Bürger:innenrechte und ihren Zugang zu Bildung erneut eingeschränkt oder abgeschafft sahen.

Die Lehre für alle fortschrittlichen Kräfte im so genannten globalen Süden lautet einmal mehr, ihr Vertrauen, ihre Menschenrechte und ihr Leben nicht in die Hände der „demokratischen Imperialismen“ zu legen. Ebenso ist es eine Illusion zu glauben, dass Xi Jinping und Wladimir Putin und ihre Nachahmer:innen an der Spitze der Regionalmächte den Antiimperialismus verkörpern. Die Investitionen in die Neue Seidenstraße („Road and Belt“; „Gürtel- und Wege“) des ersteren sowie die Söldner:innen der russischen Wagnergruppe zeigen, dass sie nicht an der Entwicklung der Souveränität derjenigen interessiert sind, denen sie helfen.

Dennoch hat es im letzten halben Jahrzehnt eine Wiederbelebung der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und der rassistisch und sexuell Unterdrückten gegeben. In den USA hat die „Back Lives Matter“-Bewegung mehrere Wellen erlebt, ausgelöst durch die Gräueltaten durch Mörder:innen in Polizeiuniform, insbesondere die Ermordung von George Floyd im Jahr 2020. Außerdem gab es die Bewegungen „#Me Too“ und „Ni Una Menos“ gegen Vergewaltigung und sexuelle Belästigung.

Das inspirierendste Beispiel für den Widerstand der Frauen sind die monatelangen Massenproteste im Iran, die auf die Ermordung der 22-jährigen Jina Mahsa Amini durch die berüchtigte Sittenpolizei folgten, die die Kleiderordnung durchsetzt. Das Durchschnittsalter der Demonstrant:innen lag bei sechzehn Jahren. Als sich die Proteste ausbreiteten, rissen sich junge Frauen ihre Schleier vom Leib und riefen „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit!) und „Tod dem Diktator!“ Trotz brutaler Unterdrückung und Hunderten von Toten, wobei die Basidsch-Schläger:innen der Polizei (paramilitärische Milizen) scharfe Munition einsetzten, hielt die Bewegung im Oktober, November und Dezember an. Um die Massen zu beschwichtigen, kündigte Generalstaatsanwalt Montazeri an, die Sittenpolizei abzuschaffen und das Gesetz über das obligatorische Tragen des Hidschab zu überprüfen. Über die staatlichen Medien dementierte das Innenministerium diese Ankündigung, was auf Uneinigkeit innerhalb des Regimes hindeutet.

Wie die Demonstrationen in China gegen die Covid-Lockdownregeln, die das Regime dazu veranlasst haben, diese zu lockern, zeigt dies, dass selbst die totalitärsten Regierungen durch Massenproteste der Bevölkerung erschüttert werden können. Um diese Regime zu stürzen, bedarf es jedoch einer anhaltenden Massenaktion der Arbeiter:innen, d. h. eines Generalstreiks, des Überlaufens der Mannschaftsränge der Repressionskräfte in Verbindung mit der Bildung einer alternativen Staatsmacht, von Machtorganen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten.

In Indien traten am 2. September 2016 schätzungsweise 150 bis 180 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes in einen 24-stündigen landesweiten Generalstreik. An einem weiteren Streik am 26. November 2020, der von zehn Gewerkschaften organisiert wurde, beteiligten sich 250 Millionen Arbeiter:innen.

Seit etwa einem Jahr gibt es auch in den alten imperialistischen Kernländern, in Europa und Nordamerika, wieder Anzeichen für eine Wiederbelebung des Widerstands im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Proteste gegen gewerkschafts- und streikfeindliche Gesetze, wie sie in diesem Jahr in Ontario, Kanada, drohten. Insbesondere in den Vereinigten Staaten gab es eine Welle von Streiks in Fabriken, Schulen und in der Logistik sowie gewerkschaftliche Kampagnen in den neuen Onlinedienstleistungsunternehmen wie Amazon und der so genannten Gig Economy (kurze, befristete Auftragsvergabe).

Lehrer:innenstreiks sind zu einem wichtigen Merkmal der US-Arbeitswelt geworden. 2018 und 2019 gab es Mobilisierungswellen, mit denen höhere Gehälter oder andere Verbesserungen für Lehrkräfte in Arizona, Colorado, Kentucky, North Carolina, Oklahoma und West Virginia erreicht wurden. Dann kam der berühmte Bildungspersonalstreik in Chicago im März 2022.

Im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland hat der Inflationsanstieg, der im Jahr 2022 so richtig losging, zu einer Reihe von Streiks bei Bahn und Post geführt. Die Gewerkschaften des Gesundheitswesens drohen mit dem ersten landesweiten Ausstand des Krankenpflege- und Ambulanzpersonals seit den 1980er Jahren. Auch in Frankreich kündigen eine Reihe von Protesten der französischen Gewerkschaften gegen die Lebenshaltungskosten und die laufenden Aktionen der Eisenbahner:innen eine verstärkte Reaktion auf die Inflation und den Versuch der Bosse und Regierungen an, die Arbeiter:innenklasse und Armen den Preis für die zunehmende Krise des Systems zahlen zu lassen.

Im August und September desselben Jahres zwangen Massenaktionen, die von den argentinischen Gewerkschaften der CGT und linken politischen Parteien organisiert wurden, Regierung und Arbeit„geber“:innen, Löhne und Arbeitslosenunterstützung zu erhöhen, nachdem die Preise um 70 Prozent pro Jahr und allein im Juli um 7,4 Prozent gestiegen waren und ein Währungsverfall die Löhne weiter abgewertet hatte.

In all diesen Auseinandersetzungen kam es nach einem jahrzehntelangen Abschwung der Arbeitskämpfe zu einem Wiederaufleben der Militanz der Arbeiter:innenschaft. Nach den Niederlagen, Enttäuschungen und dem Verrat durch neue oder erneuerte sozialdemokratische oder linkspopulistische Parteien wie Syriza, Podemos, Jeremy Corbyns Labour und DIE LINKE stimuliert eine bevorstehende schwere Wirtschaftskrise einen gewerkschaftlichen Kampf auf der ganzen Welt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die eine wirklich klassenkämpferische Gewerkschaftsbewegung spielen kann.

Die Frage ist, ob sie zu einer entscheidenden Kraft werden kann, um die Masse der Arbeiter:innen zu klassenkämpferischer Politik, zu neuen Arbeiter:innenparteien zu bewegen, wie es die Power Loom Workers‘ Union in Faisalabad in Pakistan versucht. Politische Projekte, die Idee, laute und stolze Klassenparteien zu gründen, unabhängig von allen bürgerlichen Kräften, bewaffnet mit einem revolutionären Programm, können zu einer mächtigen Ergänzung der Effektivität auf der gesamten Kampffront der Arbeiter:innen und der Kämpfe der national, rassisch und geschlechtlich Unterdrückten werden.

Aus diesem Grund ist es die Aufgabe der revolutionären Avantgarde, sowohl in den Gewerkschaften als auch in den revolutionären Organisationen, die Idee der Gründung unabhängiger Arbeiter:innenparteien voranzutreiben. Dazu gehört auch die Abspaltung der Gewerkschaften von Bündnissen mit bürgerlichen Parteien, wie z. B. zwischen der Demokratischen Partei und den AFL-CIO/Change to Win-Verbänden in den USA oder in Argentinien die Notwendigkeit, die CGT und andere Gewerkschaften aus ihrer langen Unterordnung unter die peronistische Partei zu lösen.

An allen Fronten des Kampfes werden wir jedoch immer wieder durch die Unzulänglichkeiten und den Verrat der alten Führungen in den Gewerkschaften und Parteien und sogar der „spontanen“ Bewegungen gebremst. Sozialdemokratie, Labourismus, Stalinismus, aber auch die neuen Linkspopulist:innen und Anarchist:innen führen die Kämpfe weiterhin in die Niederlage. Wir müssen für eine klare revolutionäre Strategie und Organisation streiten, für Parteien und klassenkämpferische Gewerkschaften und, in Zeiten verschärfter wirtschaftlicher oder politischer Kämpfe, für in den Betrieben und Gemeinden gewählte Delegiertenräte. Auch in diesen Gremien ist eine revolutionäre Partei für den Sieg unerlässlich.

Unabhängigkeit der Arbeiter:innenklasse, kämpferische Aktion und Basisdemokratie sind in der kommenden Periode unverzichtbar. Sie können der Entwicklung von revolutionären Parteien auf internationaler Ebene und einer Fünften Internationale enorm helfen.

Nein zum imperialistischen Krieg!

Der Krieg in der Ukraine ist der dramatischste Ausdruck des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Revolutionär:innen verurteilen den reaktionären Angriff und die Invasion des Landes durch den russischen Imperialismus. Wir unterstützen die Verteidigung des Landes gegen eine Machtübernahme durch Putins Kräfte, das ursprüngliche Ziel, das er erklärt hat, indem er das Recht des Landes auf unabhängige Staatlichkeit und sogar seine nationale Existenz ablehnte, sowie gegen das weniger wichtige Ziel der Teilung des Landes. Aber die imperialistischen Freund:innen der Ukraine liefern keine beispiellosen Mengen an Waffen sowie Zuschüsse und Kredite für solch elementare demokratische Ziele. Während Putin die Ukraine oder einen Teil davon in eine russische Kolonie verwandeln will, versuchen Biden und die europäischen Staats- und Regierungschefs und -chefinnen, sie in eine Halbkolonie des Westens zu verwandeln, in eine Vorhut der NATO. Putin will EU und NATO schwächen und spalten, während Biden und Co. die Russische Föderation als Großmacht lahmlegen und ihre Rolle als Spielverderberin für ihre Pläne in Ländern wie Syrien oder Afrikas südlich der Sahara beenden wollen.

In der Ukraine findet nicht nur ein nationaler Verteidigungskrieg gegen den Imperialismus statt, sondern das Land steht auch im Mittelpunkt des aktuellen Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Obwohl die NATO nicht offiziell in den Krieg verwickelt ist, ist der zwischenimperialistische Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten ein entscheidender Faktor in diesem Krieg, wobei die westlichen Imperialist:innen Wirtschaftssanktionen von historischem Ausmaß gegen Russland verhängen und die Ukraine bewaffnen und ausbilden, damit sie als ihre Stellvertreterin agiert.

Deshalb müssen sich Revolutionär:innen gegen die Kriegsziele der NATO, ihre Sanktionen, ihre Aufrüstungsbemühungen und ihre Ausdehnung auf bisher offiziell neutrale Staaten wie Schweden und Finnland wenden. Auch wenn wir den Kampf der Ukrainer:innen gegen die russische Invasion unterstützen, bedeutet dies keineswegs, dass wir die prowestliche Selenskyj-Regierung oder ihr Bestreben, der NATO beizutreten bzw. ihre Wirtschaft der EU unterzuordnen, unterstützen, ebenso wenig wie ihren Kampf, ihr Regime auf der Krim, in Luhansk oder Donezk durchzusetzen, die nicht demokratisch den Wunsch geäußert haben, Teil der Ukraine (oder Russlands) zu sein. Die Menschen in diesen Regionen müssen das Recht auf Selbstbestimmung haben, ohne dass russische oder westukrainische Besatzer:innen sie zwingen oder die Ergebnisse von Referenden oder Wahlen verfälschen.

Ebenso müssen wir uns der Politik der Konfrontation des westlichen imperialistischen Blocks mit dem russischen und chinesischen Imperialismus widersetzen, die unter der falschen Flagge von Demokratie gegen Autokratie geführt wird. Dieser Beginn eines neuen Kalten Krieges wird die Menschheit immer näher an einen Dritten Weltkrieg heranführen, der leicht ihr letzter sein könnte. Die gleichen Prinzipien würden gelten, wenn China in Taiwan einmarschieren würde. Sowohl Xi Jinping als auch die Kräfte im US-Kongress bewegen sich in diese Richtung. Es ist von entscheidender Bedeutung zu verfechten, dass die Arbeiter:innenbewegungen und antiimperialistischen Kräfte auf der ganzen Welt sich nicht dem einen oder anderen imperialistischen Lager anschließen. Vielmehr müssen wir die Verbindung zu den Arbeiter:innen Russlands und Chinas sowie zu den Arbeiter:innen und Streiter:innen für Demokratie in den vielen Diktaturen suchen, die mit dem westlichen Lager verbündet sind.

Gegen Inflation, Hunger und Armut!

Schon jetzt hat die globale Rezession, die durch die Pandemie synchronisiert wurde, in den Jahren 2020 und 2021 zu einer massiven Verarmung der Arbeiter:innenklasse und der Armen geführt, insbesondere in der halbkolonialen Welt. Schon vor dem Krieg in der Ukraine litten 800 Millionen Menschen an Hunger, Millionen sind vom Hungertod bedroht.

Und es wird noch mehr kommen. Die Inflation, die im globalen Süden nie „verschwunden“ war, ist in den imperialistischen Kernländern zurück. Die nächste globale Rezession steht bereits vor der Tür.

Milliarden von Arbeiter:innen, Bauern und Bäuerinnen sowie Armen auf dem Land und in der Stadt wurden auf schmale Rationen gesetzt. In den Halbkolonien genossen die meisten von ihnen während der Pandemie kaum Gesundheitsschutz oder staatliche Unterstützung und waren gezwungen, unter unsicheren und äußerst prekären Bedingungen zu arbeiten oder zu hungern. Auch in den imperialistischen Ländern mussten die Massen trotz Kurzarbeiter:innengeld oder anderer staatlicher Schutzmaßnahmen erhebliche Einkommenseinbußen hinnehmen. Gleichzeitig wurden die Großkonzerne und andere Sektoren des Kapitals während der Pandemie und jetzt des Krieges und der Sanktionen mit Milliardenbeträgen entschädigt.

Während die westlichen Regierungen Unterstützung für die Hungernden versprechen, zwingen sie den halbkolonialen Ländern, die bereits mit Hyperinflation, Währungskrisen und einer immer größeren Schuldenlast zu kämpfen haben, drastische neoliberale Bedingungen auf.

Wir brauchen eine globale Bewegung der Arbeiter:innenklasse und der Armen, um für ein Notprogramm für Millionen von Menschen zu kämpfen, um Einkommen, Lebensmittel, Wohnraum, Strom und Gesundheitsversorgung für alle zu garantieren. Wir setzen uns für die Aufhebung der vom Internationalen Währungsfonds oder von den alten und neuen imperialistischen Mächten auferlegten Schulden und Sparprogramme ein.

Wir müssen die Kämpfe für Löhne, die die Preissteigerungen ausgleichen, unterstützen und verallgemeinern. Die Durchsetzung einer gleitende Skala der Löhne, Sozialleistungen und Renten wird entscheidend sein. Dies muss mit der Forderung nach Kontrolle der Preise und Löhne durch die Arbeiter:innenklasse verbunden sein.

In Ländern, in denen der Preisanstieg die Form einer Hyperinflation annimmt, die die Lohnerhöhungen fast täglich oder wöchentlich auffrisst, und in denen das Geld selbst so schnell an Wert verliert, dass es seine Funktion als Zahlungsmittel nicht mehr erfüllen kann, reicht der Kampf um Lohnanpassungen nicht aus. Notwendig sind nicht nur Preiskontrollausschüsse, sondern direkte Eingriffe der Arbeiter:innenschaft und Verbraucher:innen in die Verteilung der lebensnotwendigen Güter für die Bevölkerung.

Angesichts der globalen Krise, der Inflation und der Angriffe auf die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen, mit denen wir in der kommenden Krise konfrontiert sein werden, dürfen wir es nicht versäumen, die grundlegende Ursache der Krise anzugehen: das in den Händen der Kapitalist:innen konzentrierte Privateigentum. Wenn wir die Arbeitslosigkeit, den sozialen Rückschritt, Mangel und Hunger bekämpfen, die Gesellschaft entsprechend den menschlichen Bedürfnissen umgestalten und gesellschaftlich nützliche Arbeit für alle schaffen wollen, müssen wir die Eigentümer:innen des Großkapitals, ihre Fabriken, großen Dienstleistungsunternehmen, Banken und Finanzhäuser entschädigungslos enteignen. Nur auf einer solchen Grundlage können wir die Mittel freisetzen, die für einen Notfallplan benötigt werden, um die Bedürfnisse der Millionen von Menschen zu befriedigen, die von Hunger und extremer Armut bedroht sind.

Kampf gegen Umweltkatastrophe und Umweltimperialismus

Die Verschlechterung und Zerstörung der Umwelt und natürlichen Ressourcen geht ungebremst weiter und wird immer bedrohlicher. Die Zunahme extremer Wetterereignisse, nie dagewesene zerstörerische und häufige Stürme, Überschwemmungen und Waldbrände, die Zunahme von Dürren, das Schmelzen der Eiskappen und Gletscher, das zu einem Anstieg des Meeresspiegels führen und viele Regionen oder ganze Länder mit Überschwemmung bedrohen wird, all dies sind Anzeichen für den fortschreitenden Klimawandel auf der Erde.

Gleichzeitig erweisen sich die herrschenden Klassen aller Länder als völlig unfähig, auch nur die brennendsten und unmittelbarsten Fragen anzugehen, wie die Weltklimakonferenz COP27 einmal mehr bewiesen hat. Dies ist nicht überraschend. Die derzeitige Verschärfung der globalen Konkurrenz und der Kampf um die Neuaufteilung der Welt beschleunigen die Tendenz des Kapitalismus, die natürlichen Grundlagen des menschlichen Lebens zu zerstören. Die Ausbeutung in den halbkolonialen Ländern wird systematisch verschärft, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen, um die Profite in den imperialistischen Zentren zu steigern. Alle Merkmale des Umweltimperialismus als globales System stellen die Menschheit als Ganzes vor unaufschiebbare Aufgaben.

Die globalen Umweltbewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, haben immer wieder den Zynismus und die Heuchelei der führenden Politiker:innen der Welt entlarvt. Millionen folgten den Aufrufen zu weltweiten Klimastreiks und -märschen, bei denen mutige Aktivist:innen durch radikale direkte Aktionen einen Wandel erzwingen wollten.

Revolutionär:innen müssen sich mit diesen Bewegungen solidarisieren, aber gleichzeitig die reformistischen, kleinbürgerlichen und anarchistischen Ideen, die sie prägen, in Frage stellen. Proteste, wie militant oder störend sie auch sein mögen, werden unsere Herrscher:innen nicht davon überzeugen, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, wenn sie ihre Profite oder ihre Vorherrschaft über ihre Länder bedrohen oder sie gegen wirtschaftliche oder militärische Konkurrenz schwächen. Wir müssen die Jugend für eine Antwort der Arbeiter:innenklasse auf die Umweltkrise, für Arbeiter:innenmacht und eine Planwirtschaft gewinnen. Die Jugend muss die Selbstgefälligkeit und Passivität der bürokratischen Führungen der Gewerkschaften und reformistischen Parteien sowie die Unterordnung der notwendigen Maßnahmen zur Lösung der Umweltfrage unter die Interessen des Kapitals in Frage stellen.

Klimawandel und Umweltschäden können nur eingedämmt und rückgängig gemacht werden, wenn die Kontrolle über die Produktion den großen Kapitalformationen entzogen wird, die die Menschheit an den Rand der Katastrophe gebracht haben. Es müssen demokratische Kontrollgremien aus Beschäftigten, Verbraucher:innen, Betroffenen von Großprojekten, um ihre Zukunft kämpfenden Jugendlichen usw. gebildet und ermächtigt werden, über Vorhaben, Risikostufen, Grenzwerte, ökologische Maßnahmen usw. zu entscheiden. Das Kapital muss systematisch mit einer sozialen Kontrolle hinsichtlich der sozioökologischen Auswirkungen seines Handelns konfrontiert werden. Letztlich wird nur die sozialistische Revolution das System des Umweltimperialismus überwinden und eine geplante optimale Ressourcennutzung unter Kontrolle der Mehrheit weltweit ermöglichen.

Zusammenfassung

Die sich verschärfende Wirtschaftskrise, die Klimakatastrophe und die Gefahr eines globalen Krieges zeigen, dass der Kapitalismus ein sterbendes System ist. Die entscheidende Frage ist, ob er rechtzeitig durch eine revolutionäre Umwälzung überwunden wird oder die Menschheit den Weg in Barbarei und sozialen Rückschritt beschreitet.

Schon jetzt sind die Stimmen von Wirtschaftswissenschaftler:innen und Politiker:innen zu hören, die von Sparmaßnahmen und Haushaltskürzungen sprechen. Durch die Inflation werden nicht nur die Löhne gekürzt, sondern auch die notwendigen Ausgaben für Gesundheit, Sozialfürsorge und Bildung, ganz zu schweigen von den Zusagen der Weltgipfel zur Bekämpfung des Klimawandels.

Während Milliarden von Menschen in Armut leben, schwelgt eine winzige Minderheit in unvorstellbarem Luxus. Zwischen 2016 und 2021 ist die Zahl der Milliardär:innen von 1.810 auf 2.755 gestiegen. Die Investitionsentscheidungen dieser Finanziers und Industriellen können ganze Länder in die Knie zwingen. Gleich unter den Milliardär:innen leben Hunderttausende von Multimillionär:innen in schamlosem Saus und Braus auf unsere Kosten, während 852 Millionen Menschen hungern und täglich mehr als 1.000 Kinder an den Folgen des Hungers sterben.

In den entstehenden globalen Bewegungen der Unterdrückten wie auch in nationalen Aufständen müssen Revolutionär:innen stets die Notwendigkeit einer neuen Internationale betonen. Dabei treten wir von Anfang an für ein revolutionäres Programm ein, ohne dies jedoch zur Vorbedingung für echte Schritte zur Vereinigung und zum Widerstand gegen Krisen und Kriege im Hier und Jetzt zu machen.

Wir rufen alle, die gegen Krise, Krieg und Unterdrückung kämpfen, dazu auf, auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Aktionsprogramms mit dringenden Sofort- und Übergangsforderungen hinzuarbeiten, das in Richtung einer sozialistischen Weltrevolution führt. Wir rufen alle sozialistischen, kommunistischen und trotzkistischen Strömungen, die mit dieser Perspektive übereinstimmen, dazu auf, gemeinsam ein internationales Programm für eine revolutionäre Antwort auf die bevorstehenden Angriffe zu erarbeiten und sich darauf zu vereinigen.

In einem Land nach dem anderen, das von der historischen Krise des Systems erschüttert wird, müssen wir uns organisieren, um den Kapitalismus in den Abgrund zu stürzen. Unsere Prinzipien sind Unabhängigkeit der Arbeiter:innenkasse, internationale Solidarität und Aktion, Antikapitalismus, Antiimperialismus, Antirassismus und Widerstand gegen alle Formen der sozialen Unterdrückung. Sie müssen in einer Weltpartei der sozialen Revolution verkörpert werden, die das gesamte Erbe der vorangegangenen vier Internationalen vereinigt.

Weltrevolution, und nichts weniger, das muss die Aufgabe einer Fünften Internationale sein!




Bundesweite Razzia gegen „Letzte Generation“: Wer ist der Klimaterrorist?

Georg Ismael, Infomail 1206, 13. Dezember 2022

Seit diesem Jahr ist die Klimabewegung in Deutschland um eine neue Organisation und Aktionsform bereichert worden. Sie ist in aller Munde. Natürlich ist von der „Letzten Generation“ die Rede. Ihre Unterstützer:innen begannen sich auf Straßen und an Gemälden festzukleben. Ihre ursprünglichen zwei Forderungen: sofortige Durchsetzung eines Tempolimits von 100 km/h und allgemeine Durchsetzung eines 9-Euro-Tickets.

In den letzten Wochen begann eine Kampagne, insbesondere getragen von der rechten und konservativen Presse sowie von Politiker:innen der AfD und CDU, die die „Letzte Generation“ und ihre Aktionsformen als Klimaterrorismus denunzierten. NRWs Innenminister Reul und andere Gleichgesinnte in Politik und Staat stellten sie einer kriminellen Vereinigung gleich. Unter diesem Verdacht können mit den Paragraphen 129 a und b Organisationen und Vereinigungen in Deutschland mit massiver Repression und Überwachung überzogen werden. Effektiv heben sie den sogenannten Rechtsstaat in Bezug auf die Betroffenen auf.

Hausdurchsuchungen

Nun entschied sich die Staatsanwaltschaft in Neuruppin, Untersuchungen unter diesem Paragraphen aufzunehmen. Das dortige Amtsgericht billigte Hausdurchsuchungen und mit großer Sicherheit auch Überwachung, Abhörungen und die Aufhebung des Postgeheimnisses durch die Polizei gegenüber realen oder angenommenen Mitgliedern der „Letzten Generation“. Heute, am 13.12., durchsuchte die Polizei mit zum Teil dutzenden Beamt:innen die Wohnungen von mindestens 11 Personen. In einem der „Neue Internationale“ bekannten Fall aus Berlin wurde ein Aktivist in Stahlhandschellen abgeführt.

Wir lehnen diese Repression ab. Unsere volle Solidarität gilt den Festgenommenen und der „Letzten Generation“ insgesamt. Wir fordern die sofortige Freilassung aller Festgenommenen, die Einstellung aller Verfahren und Rücknahme aller mit dem Paragraphen 129 verbundenen Schritte. Die vom Staat ergriffenen Maßnahmen kommen tatsächlich einer Aushebelung demokratischer Rechte gleich.

Es gilt aber an dieser Stelle weiterzugehen in der Kritik und Analyse. Der immer wieder aufgebrachte Vorwurf oder die „Fragestellung“ angeblicher Expert:innen der vergangenen Wochen war, ob und inwiefern die „Letzte Generation“ eine neue „Klima-RAF“ sei. Diese Frage so zu stellen, stellt bereits eine Form des Geschichtsrevisionismus dar. Die „Letzte Generation“ war in keinerlei Aktivitäten verwickelt, die jener der RAF gleichkämen.

Reaktionäres Narrativ

Viel entscheidender ist aber, was diese Expert:innen und die bürgerliche Presse, die dieses Narrativ fördert, verschweigen. Ab den 1968ern gab es eine wachsende und für antikapitalistische Ideen offene Jugendbewegung in Deutschland. Diese fand sich allerdings zwischen Hammer und Amboss wieder. Der Hammer waren insbesondere Politiker:innen der CDU, der FDP, aber auch der SPD sowie der Staatsapparat. Der Amboss war im wahrsten Sinne eine unbewegliche Arbeiter:innenbewegung. Die Gewerkschaften unter Führung der SPD verweigerten sich weitestgehend der Solidarität mit der Studierendenbewegung und verschlossen ihre Türen gegenüber den aktiven und motivierten Jugendlichen, die gemeinsam mit den Arbeiter:innen gegen das Kapital kämpfen wollten.

Begleitet wurde diese Entwicklung von einer massiven Hetzkampagne, insbesondere durch die Springerpresse. Diese war maßgeblich mit dafür verantwortlich, dass sich Rechte ermutigt fühlten, den Studentenführer Rudi Dutschke anzuschießen und Polizisten ohne Konsequenzen den Studenten Benno Ohnesorg erschießen konnten. Etliche weitere wurden durch die Berichterstattung in den persönlichen Ruin getrieben.

Wer einen Blick in Zeitungen wie die Welt, BILD oder auch „seriöse“ Publikationen wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung wirft, wird feststellen, dass diese eben nicht nur den oben beschriebenen Staatsterror gegenüber der „Letzten Generation“ befürworten und erbeten, sondern in ihren Kommentarspalten auch den diskursiven Nährboden für rechten Terror gegenüber der Klimabewegung legen.

Es war eine solche politische Atmosphäre, die in den 1970er Jahren einige verzweifelte Revolutionär:innen in den Linksterrorismus trieb. Unabhängig davon, dass dies nicht die Strategie von uns Kommunist:innen ist, muss dieser Umstand anerkannt werden, um die Möglichkeiten für die heutige Entwicklung zu bewerten.

Die Geschichte muss sich aber nicht immer und immer wieder gleich entwickeln. Sie kann es tatsächlich auch nicht, denn sie ist zum Besseren und Schlechteren von den Tätigkeiten der gesellschaftlich handelnden Menschen bestimmt, wird immer wieder von Zeitgenoss:innen neu geschaffen.

Neue Situation

Auch heute, im Jahr 2022, sind die zwei relevanten Hindernisse, mit denen sich bereits die demokratische und antikapitalistische Student:innenbewegung der 1968er konfrontiert sah, der metaphorische Hammer und Amboss, nach wie vor präsent. Gleichzeitig gibt es auch äußere Bedingungen, die sich maßgeblich unterscheiden. Es gibt eine tiefgreifende wirtschaftliche Krise. Es gibt eine zunehmende imperialistische Konkurrenz zwischen den USA, China, Russland und europäischen Industriestaaten wie Deutschland. Diese sind mittlerweile mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie in der Ukraine verbunden. Und es gibt eine immer offensichtlicher werdende Klima- und Umweltkatastrophe.

Diese Faktoren werden nicht nur von Aktiven in der Klimabewegung zunehmend gesehen und diskutiert. Sie werden auch von der Arbeiter:innenklasse in Deutschland wahrgenommen. Es gibt eine wirkliche Möglichkeit, diese beiden Bewegungen zu einer Kraft zu verbinden, die echten Systemwechsel, also antikapitalistische Politik und Aktion ermöglicht. Dafür ist es aber unvermeidlich, die Politik der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie in Frage zu stellen, die die Arbeiter:innenbewegung im Dornröschenschlaf gegen ihre eigenen Ausbeuter:innen hält und eine wirkliche Verbindung wie den Einsatz des effektivsten Kampfmittels, nämlich des politischen Streiks, mit aller Kraft blockiert.

Das wissen und fürchten letztlich auch die bürgerlichen Politiker:innen und das Kapital. Das ist der eigentliche Grund für die massive Hetzkampagne. Hier arbeiten die Herrschenden erneut an einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Kleine, von der Masse isolierte Gruppen lassen sich viel leichter stigmatisieren, auch oder gerade, wenn sie zu Verzweiflungstaten im Stile des individuellen Terrorismus greifen sollten. Was sie wirklich fürchten und verhindern wollen, ist eine antisystemische Verbindung zwischen Jugend und Arbeiter:innen.

Wir hingegen stehen an der Seite der Aktivist:innen der „Letzten Generation“, um diese geschichtliche Entwicklungsmöglichkeit zu eröffnen.

Ein Postskriptum sei noch angebracht. Die Bezeichnung Klimaterrorist stellt den kümmerlichen Charakter der herrschenden deutschen Ideologie zum Besten, die die Dinge immer wieder aufs Neue von den Füßen auf den Kopf stellt. So wie jene, die in Deutschland ihre Arbeit zum Verkauf anbieten, im öffentlichen Diskurs Arbeitnehmer:innen genannt werden, werden nun jene, die das Klima schützen wollen, als Klimaterrorist:innen diffamiert.

Die Wahrheit ist aber: Es ist der deutsche Imperialismus, es sind deutsche Banken, deutsche Unternehmen und die deutsche kapitalistische Gesellschaft, die die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören drohen. Die arme, halbkoloniale Welt spürt dies bereits massiv. Wenn etwas Klimaterrorismus verkörpert, dann doch wohl, dass Länder wie Deutschland pro Kopf 15 Mal mehr zum globalen Ausstoß von Treibhausgasen beitragen als z. B. Pakistan. Gleichzeitig sind es letztere, die am stärksten betroffen sind. In Pakistan wurden 33 Millionen Menschen im Juni diesen Jahres aufgrund historischer Fluten zu Inlandsflüchtlingen. Währenddessen steigen die Nahrungsmittelpreise durch die Schuldendiktate u. a. des Internationalen Währungsfonds, in dem Deutschland drittgrößter Akteur ist, ins Unermessliche. Während nach wie vor Millionen Menschen allein in Pakistan obdachlos bei Wintereinbruch in Zelten ausharren, stieß Deutschland in diesem Jahr erneut eine Rekordmenge an Treibhausgasen aus. Wenn jemand sich des Klimaterrorismus schuldig macht, dann jene Politiker:innen, die von sich und ihren eigenen Schandtaten ablenken, indem sie jene Aktivist:innen denunzieren, die versuchen, sich dem Untergang der Zivilisation, wie wir sie kennen, entgegenzustemmen.