Ein neues Jahr und die Notwendigkeit an einer neuen Internationale

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1174, 1. Januar 2022

Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den alten und neuen, „aufstrebenden“ imperialistischen Mächten verschärft sich zum Jahreswechsel 2021/22. Die NATO-Mächte unter US-Führung drohen mit weiteren wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland. Dieses verstärkt seine Truppen an der Grenze zur Ukraine mit dem ausdrücklichen Ziel, eine weitere Ausdehnung der NATO in Richtung ihrer Ost- und Südgrenze zu blockieren. Die alte und neue Allianz des Kalten Kriegs zielt darauf ab, ihren geostrategischen Rivalen in die Knie zu zwingen. Obwohl Russland immer noch im militärischen Sinne eine „Großmacht“ verkörpert, ist es wirtschaftlich viel schwächer und gegenüber massiven Sanktionen, die USA und EU verhängen, verwundbar.

Bilaterale Gespräche zwischen Biden und Putin, NATO-Russland-Konsultationen bilden die diplomatische Begleitmusik zur imperialistischen Konfrontation. Wechselseitige Ausweisung von Botschaftsangehörigen, gegenseitige Vorwürfe der systematischen Desinformation und Lügenpropaganda, von Kriegsvorbereitungen und Aufrüstung verdeutlichen das explosive Potential dieses neuen Kalten Krieges, der die Gefahr in sich birgt, zu einem heißen zu geraten.

Hinter dem wachsenden Gegensatz in Osteuropa und in vielen anderen Regionen der Welt steht freilich der zentrale zwischen den USA und China, der sich im Pazifik weiter zuspitzt und  mehr und mehr die internationalen Verhältnisse bestimmt.

Der Kampf um Marktanteile, Zugriff auf Rohstoffe, Produktionsketten und Handelsrouten droht 2022 immer bedrohlicher Formen anzunehmen – sei es in Europa, im Nahen und Mittleren Osten, einem neuen „Wettrennen um Afrika“ oder in der Konfrontation um Taiwan.

Welche genauen Formen dieser Konflikt annehmen wird, ob und wie sehr es der EU gelingt, sich in diesem als dritte Großmacht unter deutscher und französischer Führung zu festigen, wird letztlich in der Arena des Klassenkampfes entschieden werden, nicht ohne massive politische Krisen zu lösen sein.

Trotz Trumps Niederlage und seiner Ersetzung durch Biden ist die Welt nicht friedlicher und die US-Politik nicht weniger aggressiv geworden. Biden begründet seine Form des „America first“ anders – als Ringen eines vorgeblich progressiven demokratischen Lagers gegen die „Diktaturen“.

Niemand wird den bonapartistischen Charakter des chinesischen und russischen politischen Regimes leugnen oder nicht mit den dortigen Kampagnen gegen nationale Unterdrückung und für demokratische Rechte liebäugeln. Einen Abbau demokratischer Rechte, zunehmende Überwachung, innere nationalistische Mobilisierung prägen auch viele der westlichen Demokratien – von ihren Vasallenregimen in Osteuropa, in Lateinamerika oder im Nahen Osten ganz zu schweigen.

Die zahlreichen barbarischen Interventionen, die Abschottung ihrer Außengrenzen und ihre brutale Durchsetzung seitens der USA oder der Festung Europa sowie der Vormarsch des  Rassismus gegen MigrantInnen zeigen, wie es wirklich um die „Demokratie“ dieser Mächte bestellt ist.

Die ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückten dürfen in dieser zunehmenden imperialistischen Konfrontation nicht für eines der „Lager“ Seite beziehen. Ob in den USA, in Deutschland, Frankreich oder Britannien, in Japan oder Australien, in Russland oder China: Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Auch in den Regionalmächten, also jenen Halbkolonien, die gerne eine wie von Russland und China bereits erreichte imperialistische Rolle spielen möchten – seien es Länder wie Türkei, Brasilien, Indien oder Pakistan, Israel, Südafrika oder der Iran –, muss sich der Kampf der Lohnabhängigen und ihrer Verbündeten gegen „ihren“ Staat, „ihre“ herrschende Klasse richten – einschließlich der Unterstützung des Befreiungskampfes unterdrückter Nationen wie der PalästinenserInnen, der KurdInnen, von ethnischen und nationalen Minderheiten.

Nur durch eine solche eigenständige Klassenpolitik wird sich die Klasse der Lohnabhängigen in den kommenden großen Kämpfen als eigenständige soziale Kraft formieren können und und allen wegen ihrer „Rasse“, Nationalität oder Geschlecht Unterdrückten ihre Führung anbieten.

Die globale ökonomische Krise der Kapitalismus

Auch wenn sich etliche Länder von der tiefen Krise der Weltwirtschaft, die 2020 fast alle Nationen in eine Rezession trieb, etwas erholt haben, so ist diese „Erholung“ überaus fragil. In den westlichen imperialistischen Ländern wird sie vor allem durch eine expansive Geldpolitik,  eine Ausdehnung der Staats- und Unternehmensverschuldung herbeigeführt. Sie gleicht eher einem Strohfeuer. Große Teil der Welt, d. h. vor allem die halbkoloniale Länder haben sich erst gar nicht von der Krise „erholt“, sondern stehen selbst vor Währungs- und Finanzkrisen, vor dem Staatsbankrott. Darüber hinaus erschwert die zunehmende globale Rivalität eine konzertierte Politik der imperialistischen Länder, ja verunmöglicht sie tendenziell.

Niemand sollte sich von den sozialen Versprechungen der Regierungen der USA, Chinas oder der EU-Kommission blenden lassen, die die Staatsverschuldungsorgien begleiteten. Weder Bidens American Jobs Plan noch der Green Deal der EU oder Chinas „Common prosperity“ werden die ArbeiterInnenklasse retten. Vielmehr stellen alle diese vor allem Programme zur Reorganisation des Gesamtkapitals dar, die mit einigen Versprechungen für die Lohnabhängigen und zum Schutz des Weltklimas garniert werden.

Die ArbeiterInnenklasse, die BäuerInnenschaft, aber auch große Teile der Mittelschichten müssen sich darauf vorbereiten, dass sie in der kommenden Periode für die Kosten von Pandemie und großer Krise zur Kasse gebeten werden sollen – sei es durch Inflation und Entwertung ihrer Löhnung und Ersparnisse, durch Entlassungen, Umstrukturierungen, Schließungen, weitere Angriffe auf soziale Rechte, Kürzungen öffentlicher Leistungen oder Privatisierungen. Rassistisch und national Unterdrückte, Frauen, LGBTIAQ-Personen, Jugendliche und Alte sind von der Krise besonders hart betroffen – sowohl was ihre ökonomische Lage wie auch die Ausbreitung von rabiaten und brutalen Formen, von Gewalt gegen Frauen und Minderheiten, von Sexismus, Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus betrifft.

Die Pandemie und die Gesundheitskrise

Eng mit der ökonomischen Krise ist die globale Pandemie verbunden. Der Kapitalismus hat sich trotz rascher Entwicklung von Impfstoffen und gigantischer Staatsausgaben in den imperialistischen Metropolen als unfähig erwiesen, über zwei Jahre eine weltweite Gesundheitskrise zu bewältigen, die mittlerweile selbst nach offiziellen Zahlen mehr als fünf Millionen Menschen das Leben gekostet hat.

In den Halbkolonien wird bis heute hunderten Millionen der Zugang zu Impfstoffen vorenthalten. Die Monopolisierung der Produktion und Verteilung der Vakzine durch die reichen Länder wird durch die Profitmacherei mit dem Impfstoff verschärft. Jahre neoliberaler „Gesundheitspolitik“ und die ökologisch verheerende Zurichtung der Landwirtschaft durch das Agrobusiness zeigen in der Pandemie ihre verheerende Wirkung. Die kapitalistischen Prioritäten schwanken zwischen dem Interesse, Kapitalzirkulation, Produktion, Akkumulation und Welthandel aufrechtzuerhalten und den Notwendigkeiten, die Ausbreitung des Virus so weit einzudämmen, dass ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems verhindert wird. Daher schwankt die Politik auch zwischen einer zynischen Inkaufnahme einer faktischen Durchseuchung („Herdenimmunität“) großer Teile vor allem der halbkolonialen Welt, begrenzten und selektiven Einschränkungen und Lockdowns (Flatten-the-curve-Strategie).

Eine Lösung dieses brennenden Problems der Menschheit vermag der Kapitalismus, vermag keine einzige bürgerliche Regierung, ob nun westliche Demokratie oder bonapartistische Diktatur, zu liefern. Um diese aktuelle Menschheitsfrage zu lösen, braucht die ArbeiterInnenklasse daher eine Politik, die vor der Eigentumsfrage nicht halt-, die Patente und Know-how für alle zugänglich macht und auch davor nicht zurückschreckt, nicht notwendige Produktion zeitweilig einzustellen oder auf unmittelbare Überlebenserfordernisse umzulenken, die Staaten und Reichen zur Sicherung der Löhne und Lebensstandards zwingt.

Die ökologische Krise

Eng damit verbunden ist die ökologische Krise. COP26 in Glasgow verbreitete wie all seine Vorgänger vollmundige Absichtserklärungen. Natürlich bekennen sich alle wichtigen Länder mittlerweile zum Ziel der Klimaneutralität bis irgendwann in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts, aber das ist auch alles. Derweil wird der Kampf darum geführt, wer die Kosten für die Umweltzerstörung tragen soll. Sichere Verlierer sind dabei schon heute die Länder der sog. Dritten Welt, denen die Mittel zur Bekämpfung der akuten Auswirkungen des Klimawandels und anderer ökologischer Katastrophen vorenthalten werden. Millionen und Abermillionen verlieren so schon jetzt ihre Existenzgrundlage aufgrund der Zerstörung ihrer Lebensbedingungen.

Ebenso wie die imperialistische Konkurrenz, die Kriegsgefahr, die globale Wirtschaftskrise und die Pandemie wirft die Frage der ökologischen Krise die Notwendigkeit einer internationalen, antikapitalistischen Lösung auf, eines Programms von Übergangsforderungen zur Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit, zur Reorganisation von Produktion und Distribution gemäß den Bedürfnissen von Mensch und Natur.

Die Krise bürgerlicher Politik

Die Mehrfachkrise der Menschheit geht einher mit eine tiefen Krise bürgerlicher Politik selbst. Diese schafft eine wirkliche Polarisierung, weil die herrschenden Klassen zwischen den Polen einer Politik der Inkorporation der Lohnabhängigen und ihrer Organisationen und einer der offenen Konfrontation und populistischen Mobilisierung schwanken.

Regierungen der „Mitte“, des „demokratischen“ Blocks aus Liberalen, moderaten Konservativen, Grünen bis hin zur Sozialdemokratie stehen in vielen Ländern rechtspopulistische (bis hin zu faschistischen) Parteien und Bewegungen gegenüber. Diese stehen dem Bürgertum als Alternative für eine härtere Gangart zur Verfügung, die auf mehr Nationalismus setzt und diese reaktionäre Einheit durch die demagogische Mobilisierung gegen die Frauenbewegung, MigrantInnen, rassistisch Unterdrückte und neuerdings gegen Corona-Maßnahmen herzustellen versucht.

Eine solche rechte, reaktionäre, kleinbürgerliche Bewegung steht zugleich als Reserve der Bourgeoisie gegen die ArbeiterInnenklasse oder Bewegungen von rassistisch Unterdrückten zur Verfügung.

Vor dem Hintergrund eines Rechtsrucks der letzten Jahre droht ein weiterer Vormarsch dieser rechten Gefahr wie auch eine Hinwendung zu autoritären, antidemokratischen Herrschaftsformen. Doch diese Entwicklung selbst ist keineswegs unausweichlich. Wie in jeder Periode, in der das Gleichgewicht der Weltordnung, des tradierten Verhältnisses zwischen den Staaten wie auch den Klassen erschüttert wird, so ist auch die gegenwärtige von großen politischen Schwankungen und einer zunehmenden Polarisierung zwischen den Klassen geprägt. Doch diese tritt seit den Niederlagen der Arabischen Revolution, der griechischen ArbeiterInnenklasse oder der Flüchtlingsbewegung heute vor allem als schiefe Polarisierung zwischen rechten/rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien einerseits und klassenübergreifenden Bündnissen von linken Parteien mit offen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Massenbewegungen (wie z. B. Fridays for Future) oder auch von ökonomischen Kämpfen der Lohnabhängigen andererseits hervor.

Als eigenständige politische Kraft steckt die ArbeiterInnenklasse in einer tiefen, historischen Krise, einer Krise ihrer Führung, die aber auch ihre bestehenden Organisationen, Traditionen erfasst hat, an deren Stelle keine neue globale politische Formierung getreten ist, die es mit diesen Herausforderungen aufnehmen kann.

Neue Internationale!

Dabei mangelt es nicht an wichtigen, ermutigenden, imposanten Mobilisierungen: Streiks von Millionen und Abermillionen indischer ArbeiterInnen, die enorme ökonomische Militanz der chinesischen ArbeiterInnenklasse, der Aufschwung der Streikkämpfe in den USA, revolutionäre Erhebungen wie im Sudan, Wahlsiege linker KandidatInnen wie Boric in Chile verdeutlichen die Kampf- und Mobilisierungsbereitschaft der LohnarbeiterInnen wie ihr Potential, ins nationale Geschehen einzugreifen.

Bewegungen wie die Umweltbewegung, Black Lives Matters und andere antirassistische Mobilisierungen, die Frauen*streiks oder auch grenzüberschreitende gewerkschaftliche Kämpfe wie z. B. bei Amazon verdeutlichen die Notwendigkeit und Realisierbarkeit gemeinsamer Aktionen der Klasse auf internationaler Ebene.

Wenn wir den großen Herausforderungen der kommenden Periode – der zunehmenden imperialistischen Konkurrenz und Kriegsgefahr, der globalen wirtschaftlichen, ökologischen und Gesundheitskrise entgegentreten wollen, brauchen wir vor allem eines: klassenkämpferischen und revolutionären Internationalismus.

Wir brauchen einen Internationalismus, der mehr ausmacht als die Summer nationaler, politischer und sozialer Kämpfe. Einen Internationalismus, der davon ausgeht, dass keines der großen Probleme der Menschheit im nationalen Rahmen gelöst werden kann. Einen Internationalismus, der davon ausgeht, dass die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln, die Enteignung der EnteignerInnen die unerlässliche Voraussetzung für die Lösung dieser Probleme darstellt, weil nur so die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen von Mensch und Natur reorganisiert werden kann. Wir brauchen einen Internationalismus, der von der Erkenntnis ausgeht, dass es zu seiner Verwirklichung eines Programms und Kampfinstrumentes bedarf: einer globalen revolutionären Partei der ArbeiterInnenklasse, einer neuen Fünften Internationale.




Weltlage: 4 Krisen – Klima, Pandemie, Wirtschaft und Krieg

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die 5. Internationale, 15.12.202, Infomail 1174, 31. Dezember 2021

In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Welt mit einer Reihe von miteinander verknüpften Krisen konfrontiert. An erster Stelle steht eine globale Gesundheitskrise. Covid-19 hat die Regierungen und Gesundheitssysteme überrascht, obwohl sie von EpidemiologInnen und der WHO vor einer wahrscheinlichen zweiten SARS-Epidemie gewarnt worden waren und die Gewerkschaften des Gesundheitspersonals darauf hingewiesen hatten, dass ihre Krankenhäuser und Kliniken nicht in der Lage sind, eine solche zu bewältigen. Covid-19 hat weltweit mehr als fünf Millionen Todesopfer gefordert und wütet mit seinen Delta- und Omikronvarianten immer noch und bricht in Ländern wieder aus, die überzeugt waren, die Krankheit unter Kontrolle zu haben, und ihre Wirtschaft wieder in Gang brachten.

In den Schlagzeilen stehen auch die zunehmenden extremen Wetterereignisse, Überschwemmungen, Waldbrände und Dürren rund um den Globus, die die Aussicht auf einen katastrophalen Klimawandel unbestreitbar machen. Dennoch war die Klimakonferenz COP26 in Glasgow nur ein weiteres RednerInnenfest. Die Öl-, Gas- und Kohlekonzerne und die von ihren Produkten abhängigen Staaten USA, China, Indien, Brasilien und Saudi-Arabien blockierten jede feste Verpflichtung zur Reduzierung dieser Quellen von CO2-Emissionen. Wieder einmal wurden die halbkolonialen Länder, vor allem in den Tropen, die bereits schwer gelitten haben, um die Milliarden betrogen, die sie zur Bekämpfung der Auswirkungen benötigen, und stattdessen wurden ihnen weitere Kredite angeboten.

Drittens verursachte Covid die stärkste jährliche Schrumpfung der Weltwirtschaft seit den 1930er Jahren. Die Abriegelungen zwangen die großen imperialistischen Staaten, ihre neoliberalen Dogmen bezüglich der Staatsausgaben über Bord zu werfen. Die Zinssätze, die jahrelang bei Null lagen, um die zur Stagnation neigenden Volkswirtschaften anzukurbeln, erlaubten es den Staaten nun, Billionen zu leihen und in den imperialistischen Kernländern die Lohnabhängigen (bzw. die sie beschäftigenden Unternehmen) dafür zu bezahlen, dass sie ihre qualifizierten Arbeitskräfte behalten oder diese von zu Hause aus arbeiten. Die Unterbrechung der Versorgungsketten und der Weltmärkte sowie die wiederholten Aussperrungen haben zwar enorme Verluste verursacht, doch das volle Ausmaß der Kapitalvernichtung wird erst deutlich werden, wenn die Pandemie aufhört. Der Internationale Währungsfonds sagt voraus, dass das weltweite Bruttoinlandsprodukt bis 2024 immer noch 2,8 % unter dem Wert liegen wird, den es vor dem pandemiebedingten Einbruch gehabt hätte.

Gleichzeitig sind  diktatorische Regionalmächte wie Saudi-Arabien und der Iran in blutige Kriege in Äthiopien und im Jemen verwickelt. Am Horn von Afrika und in der gesamten Sahelzone schüren Militärputsche, islamistische Guerillabewegungen und kriminelle Banden das Chaos, während die Regierungstruppen ebenso frei Gräueltaten begehen wie die TerroristInnen. Das Wettrüsten zur See zwischen den USA und China in Ostasien, der neue AUKUS-Militärpakt zwischen USA, Australien und Großbritannien sowie Chinas Unterdrückung in Hongkong und der Provinz (Uigurisches Autonomes Gebiet) Xinjiang machen ebenfalls deutlich, dass die Welt in eine Phase verschärfter zwischenimperialistischer Rivalität eingetreten ist, die den Ausbruch von Stellvertreterkriegen zwischen den Regionalmächten verspricht.

Zusammengefasst haben diese Faktoren zu einer sich vertiefenden politischen Krise in den alteingesessenen bürgerlichen Demokratien geführt. Im Jahrzehnt nach der Großen Rezession stagnierten die Reallöhne in vielen imperialistischen Ländern und sanken in den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Begleitet wurde dies von Kürzungen der Sozialleistungen, um die enormen Subventionen für Unternehmen zu finanzieren, die als „zu groß zum Scheitern“ eingestuft wurden.

Die bürgerliche Demokratie ohne Wohlstand ist ein instabiles Phänomen, und es hat eine weit verbreitete politische Polarisierung stattgefunden. Die Präsidentschaft von Donald Trump polarisierte und destabilisierte die US-Innenpolitik. Zwar wurde er 2020 abgewählt, aber dann erfolgte das beispiellose Spektakel, in dem er versuchte, sich an die Macht zu klammern, und die Invasion des US-Kapitols durch seine halbfaschistischen AnhängerInnen. Trotzdem sind die RepublikanerInnen in den Augen der Hälfte der WählerInnenschaft nicht diskreditiert, und ein Comeback eines/r anderen RechtspopulistIn im Jahr 2024 stellt eine reale Möglichkeit dar.

Nächstes Jahr könnte Jair Bolsonaro aufgrund seiner großen faschistischen AnhängerInnenschaft und seiner Unterstützung im Militär einen ernsthafteren Versuch als den von Trump unternehmen, sich mit einem Putsch gegen die Wahlniederlage zu wehren. Die Impf- und AbriegelungsgegnerInnen in Europa sind in der Regel mit bereits bestehenden rechten Parteien wie der Freiheitlichen Partei Österreichs und der Alternative für Deutschland verbunden. Die letztgenannte Entwicklung zeigt, wie groß die Unzufriedenheit in den Mittelschichten und auch in den weniger klassenbewussten Teilen der ArbeiterInnenklasse ist.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kam es in den letzten Jahren trotz der Beschränkungen für öffentliche Aktivitäten auch zu Massenmobilisierungen. In Indien zwang ein riesiger eintägiger Generalstreik im November 2020, gefolgt von einer einjährigen Blockade in Delhi durch Bauern und Bäuerinnen, die gegen neoliberale Landwirtschaftsgesetze protestierten, den „starken Mann“ Modi zu einem demütigenden Einlenken. Dann ereigneten sich noch die enormen Black-Lives-Matter-Mobilisierungen in den USA nach dem Mord an George Floyd.

Die großen „Schulstreiks für die Zukunft“ im Jahr 2019 haben die Frage des Klimawandels auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die sudanesische Massenbewegung von 2018 – 2019, die den Diktator Umar (Omar) al-Baschir stürzte, kehrte im Oktober dieses Jahres zurück, nachdem der Interimspräsident Abdel Fattah Burhan die zivilen VertreterInnen aus dem Souveränen Rat verdrängt hatte. In Chile führten Massenproteste im Oktober 2019 zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung und zur Abschaffung der Pinochet-Verfassung. In der 2. Runde der Präsidentschaftswahlen wurde der Reformist Boric im Dezember 2021 ins Amt gehievt.

Die Beunruhigung der Bevölkerungen angesichts von Armut, Inflation, Arbeitslosigkeit, extremen Wetterereignissen und Krieg ist also durchaus gerechtfertigt. Immer wieder haben sie ihre Bereitschaft gezeigt, auf der Straße zu protestieren. Was fehlt, ist eine politische Führung mit einem Programm, um die Kräfte zu lenken, die den korrupten MillionärInnen und den Militärregimen die Macht entreißen und sie in die Hände von Räten und Milizen der ArbeiterInnen in den Städten und auf dem Land und der Jugend legen können.

Angesichts dieser Herausforderungen haben sich die Organisationen der ArbeiterInnenklasse und ihrer Verbündeten jedoch als träge und durch verschiedene Arten von Reformismus stockkonservativ erwiesen. Diese Blockade zu durchbrechen, damit die neue Welt aus der Agonie der alten geboren werden kann, ist die Aufgabe der RevolutionärInnen weltweit, und die internationale Organisation ist dabei der Schlüssel zum Erfolg.

Die Pandemie hält an

Die Covid-19-Pandemie ist eindeutig noch nicht vorbei, wie die „vierte Welle“ in Deutschland, Österreich und anderen mittel- und osteuropäischen Ländern sowie die rasche Ausbreitung der „Omikron“variante zeigen. Sie wird weiterhin starke wirtschaftliche Auswirkungen auf ein kapitalistisches System zeitigen, das sich 2019 bereits von einem Jahrzehnt der beinahe Stagnation auf eine weitere große Rezession zubewegte. Das Virus ist nicht nur zu ansteckenderen Varianten mutiert, sondern während alle imperialistischen Länder außer Russland einen Großteil ihrer Bevölkerung geimpft haben, waren nur einige Halbkolonien (vor allem in den Golfstaaten, in Ostasien und Lateinamerika) dazu in der Lage, und das mit erheblicher Verzögerung. Der tatsächliche wirtschaftliche Tribut, den die Krankheit in Afrika, Lateinamerika und weiten Teilen Asiens fordern wird, dürfte enorm sein, doch das Angebot an Impfstoffen wurde von den imperialistischen Ländern aufgekauft. Das wahre Ausmaß der Verwüstung für die Bevölkerungen in der halbkolonialen Welt kann man nur erahnen.

Die Pandemie hat die Gesundheitsdienste der Welt an ihre Belastungsgrenze gebracht und die kapitalistischen Volkswirtschaften gestört, Lieferketten unterbrochen, Arbeitskräfte entlassen und zu Konkursen geführt. In den älteren imperialistischen Ländern konnten einige dieser Auswirkungen durch Kurzarbeit und massive Almosen an die Arbeit„geber“Innen aufgefangen werden, die durch historisch niedrige Zinssätze gestützt wurden.

Dennoch stiegen die Börsen und Anleihemärkte nach einem kurzzeitigen Absturz im zweiten Trimester 2020 bis zum Jahresende wieder auf neue Höchststände. Dies deutet nicht auf eine Erholung der Realwirtschaft hin (des Teils, der Mehrwert erzeugt und realisiert), sondern vielmehr auf eine weitere Aufblähung des fiktiven Kapitals, das keine ausreichend rentablen Ziele für Investitionen in produktive Industrien finden kann. ZentralbankerInnen und FinanzministerInnen  warnen nun vor einer Rückkehr zur Inflation und, wenn die so genannten realen Volkswirtschaften um die Stagnation herum schwanken, zu einer „Stagflation“, wie sie zuletzt in den 1970er Jahren zu beobachten war, einem Jahrzehnt explosiver Klassenkämpfe, Revolutionen und Konterrevolutionen.

Die Internationale Arbeitsorganisation hat errechnet, dass in den Jahren 2020 – 2021 umgerechnet 100 Millionen Vollzeitarbeitsplätze verlorengegangen sind, und befürchtet, dass die Zahl im Jahr 2022 weiter steigen wird, da staatliche Unterstützungsausgaben zurückgezogen werden und Unternehmen in Konkurs gehen, wobei junge und weibliche ArbeiterInnen am stärksten betroffen sind. Sobald der Aufschwung abgeschlossen ist, werden große Veränderungen in Handel und Industrie sichtbar werden.

Die kommende Klimakatastrophe

Während die Regierungen der Welt auf der Klimakonferenz in Glasgow das Ziel bekräftigten, den globalen Temperaturanstieg bis 2050 unter der vom Weltklimarat (IPCC) gesetzten Grenze von 1,5 °C zu halten, ließen sie den Konzernen freie Hand, um weiterhin Bergbau und Bohrungen durchzuführen. Die IPCC-ExpertInnen sagen voraus, dass die Welt in Wirklichkeit auf einen Anstieg von 2,4 °C zusteuert. Selbst der niedrigere Wert würde extreme Hitzewellen, einen Anstieg des Meeresspiegels mit Überflutung von Inseln und Küstenstädten sowie die Zerstörung der Artenvielfalt an Land und in den Ozeanen bedeuten.

Der Klimawandel wird auch enorme politische Auswirkungen mit sich führen. In ganz Afrika haben die Verknappung der Wasserressourcen und die Versteppung von Acker- und Weideland bereits zu verstärkter Migration und zu Konflikten zwischen ViehzüchterInnen und LandwirtInnen sowie zwischen Staaten um Wasserressourcen geführt, die alle dramatisch zunehmen werden.

Unterdessen breiten sich extreme Wetterereignisse aus: riesige Waldbrände in Australien, Griechenland und entlang der Westküste der USA und Kanadas, Überschwemmungen in Deutschland und China, zerstörerische Wirbelstürme auf den Fidschiinseln und in Indonesien. In vielen Regionen Afrikas und in Afghanistan herrschen aufgrund von Dürren Hungersnöte . Obwohl das Leid in diesen Gebieten zum Teil durch Kriege und pandemiebedingte Verwerfungen verursacht wird, können die meisten dieser Ereignisse direkt auf den Klimawandel zurückgeführt werden. Die Konferenz in Glasgow hat es jedoch völlig versäumt, Maßnahmen zu ergreifen, die die Ursachen des vom Menschen verursachten Klimawandels auch nur ansatzweise zu begrenzen beginnen könnten. Ihre „große Errungenschaft“ bestand lediglich in der Aufforderung an die Regierungen, ihre Subventionen für die Kohle-, Öl- und Gasförderung einzustellen, ohne dass ein wirklicher Zeitplan für die Beendigung der Förderung festgelegt wurde.

Der Klimawandel stellt ebenso wie Pandemien, Rezessionen und Kriege eine existenzielle Herausforderung für den Kapitalismus als Produktionsweise und Klassenherrschaft dar. Seine Unfähigkeit, die Produktivkräfte zu planen und entwickeln, ohne gewaltige zerstörerische Kräfte, Zusammenbrüche und zunehmende Ungleichheiten freizusetzen – was Marx den metabolischen Bruch mit der Natur nannte –, verurteilt ihn trotz all seiner technologischen und wissenschaftlichen Wunderwerke zu einem sozialen System im Verfall. Dies hat ein Schlaglicht auf die Untauglichkeit des Kapitalismus geworfen, auf die vorrangige Bedeutung des Profits gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Die Revolution des 21. Jahrhunderts wird sich nicht nur mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und den Kriegen befassen müssen, sondern auch mit der ganzen Reihe von Umweltkatastrophen und künftigen Pandemien, die zur Krise „Sozialismus oder Barbarei“ in unserer Welt beitragen.

Stagflation führt zum Einbruch

Der marxistische Wirtschaftswissenschaftler Michael Roberts kommentiert, dass „die Prognosen für das durchschnittliche jährliche reale BIP-Wachstum in praktisch allen großen Volkswirtschaften für dieses Jahrzehnt einen geringeren Anstieg vorhersagen als für das der 2010er Jahre – das ich die Lange Depression genannt habe“. Gleichzeitig setzt sich die Inflation in den Volkswirtschaften weltweit durch und untergräbt Löhne, Renten und Ersparnisse, was die zur Ankurbelung des Aufschwungs gedachten Ausgaben stoppen könnte, ganz zu schweigen von der Ankündigung einer neuen Ära (neo-)keynesianischer Sozialausgaben, auf die linke sozialdemokratische und populistische ReformistInnen hoffen.

Der Einbruch von 2020 beendete ein Jahrzehnt, in dem die Weltwirtschaft trotz Aufschwungs zur Stagnation tendierte. Die Ursache hierfür liegt in der Überakkumulation von Kapital, die ihrerseits darauf zurückzuführen ist, dass innerhalb der Produktion keine ausreichend rentablen Investitionsbereiche gefunden wurden und das Kapital folglich in unproduktive, ja parasitäre umgeleitet wurde. Nur eine wirklich umfassende Kapitalvernichtung, bei der alte Industrien mit niedrigen Profitraten stillgelegt werden, könnte dieses Problem in Angriff nehmen. Ein großer Einbruch, gefolgt von einer langen Depression, würde jedoch nicht nur die Profitraten langfristig erhöhen, sondern auch die anderen Hauptmerkmale unserer „Epoche der Kriege und Revolutionen“ (und Gegenrevolutionen) hervorbringen. Die Großmächte, die davon besessen sind, ihre wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft in der Welt zu verteidigen oder zu erlangen, sind noch weniger geneigt, multilaterale Institutionen, Verträge oder Vereinbarungen wieder in Kraft zu setzen. Die USA sind führend bei der Verhängung von Sanktionen gegen alle, die ihre Interessen verletzen. Kalte und Handelskriege können sich in heiße Kriege verwandeln, wenn lebenswichtige strategische Interessen auf dem Spiel stehen.

Rivalität zwischen Großmächten

Nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Afghanistan strömt eine neue Welle verzweifelter Flüchtlinge in die Nachbarstaaten wie Iran und Pakistan, angetrieben von den vielen Menschen, die in diesem Land vorm Verhungern stehen. Tausende erreichen die Grenzen der Europäischen Union, was zum Teil auf das zynische Vorgehen des weißrussischen Diktators Alexander Lukaschenko zurückzuführen ist, der von seinem großen Bruder, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, unterstützt wird.

Putin führt einen Kampf mit der EU, seit die Nato ihre Mitgliedschaft bis an die Grenzen Russlands ausgedehnt und „farbige Revolutionen“ im „nahen Ausland“, einschließlich der Ukraine, angezettelt hat. Sein Gegenangriff umfasste die Einnahme der Krim, die Unterstützung der ostukrainischen SeparatistInnen und des Assad-Regimes, eines langjährigen Verbündeten und Protegés der UdSSR und später der Russischen Föderation. Die USA und Russland sind mitverantwortlich für den Beginn eines neuen Kalten Krieges in Europa, der sich durchaus parallel zu dem zwischen den USA und China in Asien entwickeln könnte.

In China hat Xi Jinping seine Führungsrolle auf unbestimmte Zeit verlängert. Die „historische Resolution“ des sechsten Plenums des Zentralkomitees der KPCh hat seine bonapartistische Rolle noch verstärkt, indem sie ihn als „Kern“ bezeichnet und ihn auf den gleichen Status wie Mao Zedong (Mao Tse-tung) hebt. Diese Rolle des Schiedsrichters spiegelt eindeutig tiefe Spannungen innerhalb der beiden herrschenden Kräfte in China wider, der parteigebundenen militärisch-staatlichen kapitalistischen Bürokratie und der wachsenden Großbourgeoisie im Privatsektor. Xis Antikorruptionskampagne richtet sich sowohl gegen (unbekannte) bürokratische KonkurrentInnen als auch gegen superreiche KapitalistInnen wie den Alibaba-Gründer Jack Ma, die aus Angst, sie könnten Verbindungen zur chinesischen Bourgeoisie im Ausland, vor allem in Taiwan, knüpfen, in die Schranken gewiesen wurden.

Ein weiterer Aspekt ist die Verstärkung des chinesischen (Han-)Chauvinismus durch die KPCh mit der Verfolgung der UigurInnen und der Bedrohung Taiwans, den Marineanlagen im Südchinesischen Meer und den gemeinsamen Manövern mit Russland in der Nähe von Japan. Das Programm „Gemeinsamer Wohlstand“ wird als Mittel zur Überwindung der Kluft zwischen den Superreichen und den Massen sowie der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Regionen des riesigen Landes, einschließlich der Kluft zwischen Stadt und Land, angepriesen, und das, obwohl alle „aus der absoluten Armut herausgeholt“ wurden. Eine Reihe chinesischer Unternehmen und GeschäftsführerInnen hat sich jedoch beeilt, Geld in den herumgereichten Hut zu stecken.

Xis starkes Auftreten im Ausland, seine Nichtteilnahme an der Klimakonferenz, aber ein persönliches Treffen mit Biden, sollen zeigen, dass auch China zu einer „unverzichtbaren Nation“ geworden ist. Darüber hinaus mehren sich Hinweise aus den Staaten Südasiens und Afrikas, dass es sich bei der Neue-Seidenstraße-Initiative um ein imperialistisches Investitionsprojekt handelt, das für autoritäre und geradezu diktatorische Regime (Myanmar und vielleicht Afghanistan) attraktiv ist, weil die chinesische Hilfe nicht an die Einhaltung von Menschenrechten geknüpft ist. Wenn China, ebenso wie Russland, mit solchen Regimen assoziiert wird, könnte dies dem Land in den ideologischen Kämpfen des Kalten Krieges mit den USA nicht gut bekommen.

Aber auch die alten „demokratischen“ Imperialismen untergraben den Ruf ihres „weichen Drucks“ , indem sie sich weigern, Flüchtlinge aus Kriegen und Invasionen aufzunehmen, die sie selbst verursacht haben. Sie sind ebenso, ja mehr noch, daran schuld, dass sie sie durch hohe, mit Stacheldraht besetzte Zäune und den Einsatz von Streitkräften am Überschreiten der weißrussisch-polnischen Grenze hindern, obwohl die EU-Staaten völkerrechtlich verpflichtet sind, alle Asylanträge zu prüfen.

Die Europäische Union sieht sich mit einer weiteren großen Einwanderungskrise konfrontiert, nicht wegen einer unerträglichen Zahl von Flüchtlingen und WirtschaftsmigrantInnen, sondern wegen des rassistischen Drucks populistischer Parteien, die sich dagegen wehren, dass die Regierungen ihren vertraglichen Verpflichtungen zur Bearbeitung von Asylanträgen nachkommen. Das gilt an der Kanalküste ebenso wie in den Wäldern von Belarus.

Brüssel wird seine rassistische Einwanderungspolitik fortsetzen und die „Festung Europa“ für die meisten Flüchtlinge abschotten, während es einige Fach- und hochqualifizierte Arbeitskräfte zulässt, um die rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien zu beschwichtigen. Ihr Rassismus gegen Flüchtlinge und gegen MuslimInnen wird weiterhin ein wichtiges Mittel sein, um reaktionäre Bewegungen zu mobilisieren, aber in der aktuellen Situation orientieren sich die meisten jetzt an den reaktionären Bewegungen gegen die Impfung und präsentieren sich als VerteidigerInnen der „Freiheit“.

Wäre die EU eine echte gemeinsame Volkswirtschaft, wäre sie nach den USA der zweitgrößte Wirtschaftsraum, eine wirtschaftliche Riesin, aber eine politische Zwergin. Ihr Zusammenhalt liegt Lichtjahre hinter den USA und China zurück, und der Brexit hat ihr finanzielles und militärisches Gewicht verringert. Frankreich hat sich unter Emmanuel Macron für wirtschaftlichen und politischen Föderalismus und eine von den USA unabhängige militärische Stärke eingesetzt. Deutschland hingegen hat sich mit wirklich entscheidenden Maßnahmen in diese Richtung zurückgehalten. Das Erfordernis der Einstimmigkeit bei wichtigen Reformen bedeutet, dass die osteuropäischen Staaten ein Veto gegen wichtige Initiativen wie eine einheitliche, von den USA unabhängige europäische Armee einlegen können.

Progressive Massenbewegungen

In der Zwischenzeit haben die Bewegungen zur Rettung des Planeten, wie Fridays for Future und der Global Climate Strike, internationale Ausmaße angenommen. Es gab Proteste auf der ganzen Welt, einschließlich der Mobilisierung von Bauern, BäuerInnen und indigenen Gemeinschaften im globalen Süden. Aber wie Glasgow (und die Konferenz von Paris davor) gezeigt haben, waren sie nicht in der Lage, das Verhalten der Regierungen und der naturzerstörenden Konzerne zu ändern, nicht einmal die Subventionen für die Kohleproduktion „auslaufen“ zu lassen, geschweige denn den Kohlebergbau oder die Öl- und Gasförderung zu stoppen.

Demokratische Revolutionen gegen repressive Regime, die von der Jugend der Welt angeführt wurden, verbreiteten sich am Ende der Großen Rezession im Jahr 2011 in den arabischen Ländern, in Südostasien (Myanmar und Thailand) und in Lateinamerika. Da es ihnen jedoch nicht gelang, den militärischen Unterdrückungsapparat zu zerschlagen, die korrupten herrschenden Klassen zu stürzen und neue Machtorgane der ArbeiterInnen, der Jugend und der Unterdrückten zu installieren, haben sich die „demokratischen Frühlinge“ fast alle in „konterrevolutionäre Winter“ verwandelt, wofür das brutale Regime von as-Sisi in Ägypten der beste Beweis ist. Die anhaltende Mobilisierung im Sudan nach dem Putsch vom 25. Oktober 2021 unter der Führung von General Abdel Fattah Burhan zeigt jedoch die Dynamik der Volkskräfte und, dass die Eliten immer wieder vor der Herausforderung stehen, in Zeiten der Wirtschaftskrise stabile, dauerhafte repressive Regime zu schaffen.

Dennoch gibt es eine regelrechte Pandemie von „starken Männern“, darunter Duterte auf den Philippinen, die Juntas in Myanmar und im Sudan, Bolsonaro in Brasilien, Erdogan in der Türkei, Modi in Indien, Xi in China, bin Salman in Saudi-Arabien – die Liste ist endlos. Das Problem, mit dem fortschrittliche Kräfte auf der ganzen Welt konfrontiert sind, ist die begrenzte Wirksamkeit von friedlichem Protest. Selbst massenhafte und langanhaltende Proteste werden scheitern, solange der Staat die Moral und Disziplin seiner Repressionskräfte aufrechterhalten kann.

Führungskrise

Ein weiteres Merkmal der weltweiten Situation liegt in der Schwäche der „Mitte-Links“-Regierungen, die in einer Reihe von Ländern an die Macht gekommen sind und in anderen in den Startlöchern stehen, wenn es den reaktionären populistischen FührerInnen nicht gelingt, sich an der Macht zu halten. In Brasilien würde Bolsonaro wahrscheinlich durch den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva ersetzt, dessen gewählte Nachfolgerin Dilma Rousseff durch einen Putsch von Justiz und Parlament abgesetzt wurde. Es war Lulas „Volksfront“ mit den verräterischen bürgerlichen Parteien, die den Weg für Bolsonaro freigemacht hat. Selbst wenn Lula gewinnen und sich erneut im Amt etablieren sollte, würde sich der Zyklus mit ziemlicher Sicherheit wiederholen, dieses Mal mit der Hinzufügung einer mächtigen faschistischen Bewegung, einem Erbe von Bolsonaros Präsidentschaft.

Größere parlamentarische Reformen sind nur in zwei Szenarien möglich: ein florierender expansiver Kapitalismus, der sich „Brosamen von seinem Tisch“ leisten kann, oder ein Massenaufstand, der mit einer Revolution droht und ernsthafte Reformen zu einer realistischen Option für eine bedrohte herrschende Klasse macht. Da weder das eine noch das andere existiert, Letzteres aufgrund der erdrückenden Wirkung der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bürokratie, sind anhaltende politische Krisen in den kommenden Jahren fast garantiert.

Die Rückkehr der Taliban an die Macht nach der schmachvollen Niederlage der USA und dem chaotischen Abzug aus Kabul hat zur Destabilisierung ganz Südasiens, einschließlich Afghanistan, Pakistan, Indien, Bangladesch, Sri Lanka und Myanmar, beigetragen. Dahinter steht die Rivalität zwischen den USA und China und der verzweifelte Versuch Indiens, beide herauszufordern. Xi Jinpings „Neue Seidenstraße“-Initiative, die die regionale Vorherrschaft sichern soll, wird für künftige Konflikte rund um den Indischen Ozean sorgen.

Heute wird die Region jedoch von legitimen demokratischen Kämpfen um nationale Rechte erschüttert. Die UigurInnen, die Rohingya, die TamilInnen, die Kaschmiris, die BelutschInnen und eine Vielzahl ethnisch-linguistischer Gemeinschaften in Afghanistan haben alle unter Pogromen und ethnischen Säuberungen durch Militärregime und fundamentalistische Gruppen gelitten, seien sie nun hinduistisch, muslimisch, buddhistisch oder, wie im Fall der UigurInnen, angeblich kommunistisch.

Die Kräfte in Europa und Nordamerika, die sich für palästinensische Belange einsetzen, sahen sich einem bösartigen Gegenangriff des israelischen Staates und seiner UnterstützerInnen in den imperialistischen Regierungen und den rechtsgerichteten Medien gegenüber. Der anfängliche Erfolg der Kampagnen zur Entlarvung des Apartheidcharakters des israelischen SiedlerInnenstaates führte zu einer Flut von falschen Anschuldigungen wegen rassistischer Judenfeindlichkeit. Ihr größter Schlag lag in ihrem Beitrag zum Sturz von Jeremy Corbyn aus der Führung der Labour-Partei. UnterstützerInnen der palästinensischen Sache, darunter auch mutige fortschrittliche Juden und Jüdinnen, wurden in Großbritannien ins Visier genommen, und jede ernsthafte Kritik an Israel wird nun in den Medien als Antisemitismus gebrandmarkt.

Nie war die Notwendigkeit einer neuen Internationale deutlicher, wenn die ArbeiterInnenklasse der Welt und ihre natürlichen Verbündeten unter den sozial und rassisch Unterdrückten und der armen Bauern-/Bäuerinnenschaft sich vereinen und ihren Widerstand gegen die Angriffe des heimischen Kapitalismus und Imperialismus stärken sollen. Doch die Parteien, die sich selbst als sozialistisch oder kommunistisch bezeichnen, und die trotzkistischen zentristischen Kräfte auf weltweiter Ebene haben sich größtenteils in die nationale Isolation zurückgezogen, selbst im Vergleich zu den antikapitalistischen, antineoliberalen, globalisierungskritischen oder Antikriegsmobilisierungen des Zeitraums 1998 – 2006.

In jenen Jahren versammelten sich auf weltweiten und kontinentalen Sozialforen KlimaaktivistInnen, indigene Gruppen, FeministInnen, progressive GewerkschafterInnen und linke sozialistische Gruppen verschiedener Art. Aber die reformistischen Parteien wie die brasilianische Arbeiterpartei (PT) und kämpferische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) (wie Attac) lähmten diese Treffen mit einer Zwangsjacke aus „keine Abstimmungen“ über Maßnahmen, keine politischen Parteien, keine Debatten, die zur Annahme von politischen Konzepten führten. Die teilweisen Ausnahmen bildeten das Europäische Sozialforum in Florenz (2002) und das Weltsozialforum in Porto Alegre (2003), die eine weltweite Antikriegsbewegung mit mehreren zehn Millionen TeilnehmerInnen ins Leben riefen.

Was sollen wir tun?

Nach der Großen Rezession, den Occupy-Bewegungen und dem Arabischen Frühling folgten internationale Bewegungen von Frauen und farbigen Menschen. ReformistInnen und RevolutionärInnen in diesen fortschrittlichen Bewegungen reichten sich in gemeinsamen Aktionen gegen Kriege und die Misshandlung von MigrantInnen erneut die Hand.

Organisatorisch basierte diese Zusammenarbeit eher auf Netzwerken als auf demokratischen repräsentativen Strukturen. Obwohl viele diese „Führungslosigkeit“ gelobt haben, überließ das die Entscheidungen über Politik und Taktik selbsternannten AkademikerInnen, radikalen JournalistInnen und „GemeindeführerInnen“. Während die meisten ihre Solidarität untereinander verkünden, erkennen sie nicht, dass all die verschiedenen Bewegungen eine viel stärkere Einheit für den Sieg benötigen. Schritte in diese Richtung könnten durch Einheitsfronten unternommen, in denen Ziele demokratisch vereinbart und dann gemeinsam umgesetzt werden.

Identitätspolitik, bei der die subjektive Erfahrung der Unterdrückung die vorrangige Determinante für Ziele und Taktiken ist, spaltet die Unterdrückten eher, als dass sie sie vereint. Obwohl viele in diesen Bewegungen tatsächlich die Notwendigkeit anerkennen, die Kräfte der ArbeiterInnenklasse zu gewinnen, und sich selbst als antikapitalistisch und sogar marxistisch bezeichnen, akzeptieren sie nicht, dass der Sturz des Kapitalismus ein gemeinsames Programm und die Integration in den Klassenkampf mittels einer revolutionären Partei erfordert. Dies ist zum Teil das Ergebnis der Versäumnisse und Verbrechen der Sozialdemokratie, des Stalinismus und der zentristischen Spielarten des Trotzkismus.

Ohne ein neues Weltprogramm für die Revolution werden die Lösungen für die brennenden Fragen der Umwelt, der Rassen- und Geschlechterungleichheit und der Armut nicht gefunden werden können. Nur eine wiedergeborene und international organisierte ArbeiterInnenbewegung, die die jungen AktivistInnen einbezieht, die sich bereits in all diesen Kämpfen engagieren, kann eine Avantgarde schaffen, die in der Lage ist, den Kapitalismus an jeder dieser Fronten herauszufordern. Die von uns skizzierten Krisen werden dazu beitragen, vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen zu schaffen, die noch größer sind als die, die 2010 – 2011 nach der Großen Rezession auftraten.

Aus diesem Grund ruft die Liga für die Fünfte Internationale alle kämpferischen und fortschrittlichen Kräfte, die den Kapitalismus und den Imperialismus als Feind anerkennen, dazu auf, sich erneut zu versammeln, um über die Strategie zu diskutieren und gemeinsame Aktionen zu organisieren. Ihr Ziel sollte die Entwicklung eines gemeinsamen Aktionsprogramms ausmachen, das den ArbeiterInnen und Unterdrückten der Welt einen Weg von den heutigen Kämpfen hin zu einer Weltrevolution aufzeigt.




Gorillas: Von Ausbeutung und Klassenkampf

Jan Hektik, Infomail 1174, 31. Dezember 2021

„2021 in a nutshell: Gorillas“ – mit dieser Werbung trat der Lieferdienst Gorillas vor ungefähr einem Jahr erstmals auf. Für viele Beschäftigte könnte daran sogar etwas dran sein, denn für sie heißt Gorillas in a nutshell: Ausbeutung, Schikane, Kündigung, Arbeitsrecht-mit-den-Füßen-treten.  Seit Monaten kämpfen sie gegen das Unternehmen um grundlegende Arbeitsrechte und eine Betriebsratsgründung.

Wer ist eigentlich Gorillas? Es ist ein so genanntes „Start-up“-Unternehmen aus Berlin, welches als Geschäftsmodell in Zeiten der Pandemie die kostengünstige und schnelle Auslieferung von (vor allem) Lebensmitteln per Fahrrad betreibt. Wie bei anderen Unternehmen dieser Art auch (z. B. Flink) ist es hierbei wichtig, sehr schnell liefern zu können und dabei möglichst nicht wesentlich teurer zu sein als der Gang zum Supermarkt, quasi das Amazon-Geschäftsmodell für Lebensmittel. Doch wer in der Schule mal den Sozialkundeunterricht besucht hat und zudem Addition und Subtraktion beherrscht, weiß, dass die Einnahmen aus den Verkäufen, neben den Anschaffungskosten von Rädern, dem Bezahlen von Mieten und den Löhnen der ArbeiterInnen auch noch Gewinne für den/die UnternehmerIn abwerfen sollen. Da wundert es nicht, dass die FahrerInnen (Rider) Mindestlohn erhalten, eher, dass sie ihn überhaupt bekommen.

Es ist eine Mischung aus Tricksereien arbeitsrechtlicher Grauzonen, halblegalen oder ganz illegalen Arbeitszeitbemessungs-, Kündigungspraktiken und Befristungen sowie quasi keinen Ausgaben für die Ausrüstung. Das Ergebnis dessen ist, dass die ArbeiterInnen neben miesen Lohnbedingungen zusätzlich enormem Zeitdruck und verheerenden Sicherheitsrisiken ausgesetzt sind, während sie gleichzeitig jeden Monat nachrechnen müssen, ob sie nicht um ihre Arbeitszeit beschissen werden.

Lebensgefährliche Arbeitsbedingungen

Wer innerhalb von 15 Minuten mit einem Fahrrad Einkäufe ausliefern soll, muss sich schnell im Straßenverkehr bewegen. Jede Person, die in deutschen Großstädten schon mal so unterwegs war, weiß, dass das schon nicht ungefährlich ist, wenn man Zeit hat. Aber wenn einem/r unter Zeitdruck und mit übermäßigem Gepäck beladen der Lenker oder der Sattel mitten auf der Kreuzung abfällt, ist die Grenze zum Wahnsinn erreicht. Genau das berichten aber vermehrt Rider und zwar auch, nachdem sie explizit auf solche Defekte hingewiesen haben. Das ist auch gewissermaßen vorhersehbar. Schließlich ergibt die Lösung oben beschriebener Subtraktionsaufgabe, dass es weder häufige Wartung noch neue Räder geben kann, wenn man noch Gewinn einfahren will. Interessant hierbei ist auch, dass viele der Rider migrantisch sind und teilweise kein oder sehr schlecht Deutsch sprechen. Böse Zungen könnten gar behaupten, hier werde versucht, mangelnde Kenntnisse über Regeln des deutschen Arbeitsrechts und Möglichkeiten der Vernetzung auszunutzen.

Ganz nebenbei räumt hier die Wirklichkeit mit dem Klischee der lieben netten Start-ups und Kleinbetriebe auf, in denen die ArbeiterInnen und der/die UnternehmerIn ein Teil derselben Familie seien und die Klassengegensätze wohlwollend aufgelöst würden. Aber wie in der Familie ist die schöne idyllische Fassade oft nur dazu da, die Misshandlungen und Schindereien dahinter zu verbergen.

Arbeitskampf

Wie es in Start-ups und in prekären Verhältnissen üblich ist, ist die gewerkschaftliche Organisierung quasi gleich null. Dies ist einerseits darauf zurückzuführen, dass der Betrieb neu und es auch unwahrscheinlich ist, dass Menschen, die scheinbar noch nicht lange genug im deutschen Arbeitsleben stehen, um die Sprache zu sprechen, eine gewerkschaftliche Organisierung aufweisen. Andererseits ist das auch eine Folge der Ausrichtung der Gewerkschaften auf die sogenannten Stammbelegschaften bzw. das Fernhalten von LeiharbeiterInnen und sonstig prekär Beschäftigten.

Auch wirkt die zurückhaltende und bürokratische Gewerkschaftslandschaft insbesondere auf prekär Beschäftigte nicht unbedingt reizvoll, da diese eigentlich auf kämpferische Gewerkschaften und Solidaritätsstreiks anderer für das Gesamtkapital schmerzhafterer Sektoren als LieferantInnen und TelefonistInnen angewiesen wären. Doch der Streik ist rechtlich nur geschützt, wenn er von einer Gewerkschaft ausgerufen wird und nicht gegen die Friedenspflicht verstößt. Davon abweichende Arbeitskämpfe stellen einen Kündigungsgrund dar.

Dass ursprünglich Streiks nicht nur mit Kündigung, sondern auch mit Polizeigewalt und Schlägertrupps bekämpft wurden und das Streikrecht nur ein Ergebnis des Kampfes und des Kräfteverhältnisses ist, haben hierzulande scheinbar allzu viele vergessen. Nicht so jedoch die Gorillasworkers. Eine Reihe von selbstorganisierten, sogenannten wilden Streiks und Besetzungen wurde mit Kündigungen beantwortet. Dagegen wurde geklagt und gekämpft, Kündigungen wurden zum Teil zurückgenommen. Gegen die anstehende Betriebsratswahl klagt das Start-up weiterhin und baut seine Strukturen um, um die Betriebsratsgründung zu vermeiden. Die Medien und die radikale Linke wurden aufmerksam. Letztere versuchte sich in Solidarität mit den Kämpfen.

Perspektive

Ein Blick auf die Zahlen zeigen aber auch, welche Schwierigkeiten noch vor den Beschäftigten und allen UnterstützerInnen liegen. An den Arbeitskämpfen beteiligten sich an vielen Standorten weniger als 10 % der FahrerInnen, die an den Betriebsratswahlen sieht nicht viel besser aus. Lediglich ein Berliner Store wurde fast vollständig bestreikt.

Angesichts der schwierigen Voraussetzung sollte das niemand kleinreden. Andererseits drücken sich natürlich auch die widrigeren Kampfbedingungen aus. Gerade hier muss ver.di dafür kritisiert werden, sich des Kampfs nicht anzunehmen, und stattdessen zum Beispiel mit seinen riesigen Ressourcen mehrsprachige Flugblätter und Betriebsinfos zu drucken und verteilen.

Zweitens wird bei Gorillas wie auch bei anderen Firmen mit prekären Arbeitsbedingungen, wo mitunter schon seit Jahren immer und immer wieder gegen miese Löhne und so weiter gekämpft wird –  denkt an Amazon – deutlich, dass der Kampf gegen die Ausweitung des prekären Sektors eigenlich eine Antwort der ArbeiterInnenklasse insgesamt braucht. Es geht nicht nur darum, in einzelnen Betrieben zu kämpfen (was natürlich ein Ausangspunkt sein kann), sondern dass Gewerkschaften und reformistische Parteien dazu getrieben werden müssen, auf gesetzlicher Ebene für deutlich höhere Mindestlöhne; massive Strafen für Unternehmen, die Unionbusting betreiben und Betriebsratswahlen verhindern; eindeutige Arbeitszeitregelungen von einer 30-h-Woche usw. einzustehen.

Uns ist klar, dass die ChefInnen von ver.di und der DGB sich davor drücken, diesen Kampf zu führen. Umso mehr beweist er, dass es nicht einfach nur darum geht, ver.di mehr ins Boot zu holen, sondern auch, die Gewerkschaften basisdemokratisch zu reorganisieren, um es nicht der Führung zu überlasssen, auf welche privilegierten Schichten der ArbeiterInnenklasse sich gestützt wird – und auf welche armen und überausgebeuteten nicht. Das Prekariat organisieren heißt, für klassenkämpferische Opposition in ver.di und Co. einzutreten – und sie selbst aufzubauen. Denn das ist die Bilanz von 2021 und Gorillas in a nutshell.




Südafrika: Nachruf auf Desmond Tutu (1931 – 2021)

Jeremy Dewar, Infomail 1174, 30. Dezember 2021

Der Antiapartheidaktivist und Befreiungstheologe Desmond Tutu ist am zweiten Weihnachtsfeiertag im Alter von 90 Jahren nach einem langen Kampf gegen den Krebs gestorben.

Tutu ist vor allem für sein aktives Engagement im Kampf gegen die südafrikanische Apartheid bekannt, deren Sturz eine der großen historischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts darstellte. Er nutzte seine Ämter zunächst als Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrates und später als erster schwarzer anglikanischer Erzbischof von Kapstadt (daher sein Spitzname „The Arch“), um den gewaltfreien Widerstand gegen die Apartheid zu fördern.

Liberale Antiapartheidbewegung

In der Praxis bedeutete dies, dass Tutu zwar Miet- und Schulstreiks in den Townships unterstützte und sogar zu einem Generalstreik aufrief, sich aber auch gegen Umkhonto we Sizwe (Xhosa: Der Speer der Nation), den militärischen Flügel der Afrikanischen Nationalkongress-Partei ANC, und gegen Repressalien seitens der Bewegung gegen KollaborateurInnen („necklacing“) wandte. Dies machte ihn zu einer idealen Symbolfigur für die liberale Antiapartheidbewegung, die von seinem Freund und frühen Mentor Trevor Huddleston initiiert wurde. Er war jedoch ein mutiger und freimütiger Verfechter des Kampfes gegen den Staat der abstoßenden, weißen Vorherrschaft und brandmarkte auch dessen politisch-ideologischen Zwilling – den zionistischen Siedlerstaat Israel. Während seine eigene Kirche und die meisten Labour-, sozialdemokratischen und liberalen PolitikerInnen wie Feiglinge davor zurückschreckten, ihn zu verurteilen, tat Tutu das nicht.

Seine Unterstützung der Kampagne für Boykott, Vielfalt und Sanktionen (BDS) war wahrscheinlich sein größter Beitrag zum Sturz der Apartheid. Sie trug dazu bei, moralische Sympathie in aktive Unterstützung umzuwandeln und das zunehmend isolierte Regime dort zu treffen, wo es weh tut – in den Taschen.

Tutu nutzte sein Privileg als Erzbischof in vollem Umfang, um die Welt zu bereisen und für BDS zu werben, 1984 den Friedensnobelpreis zu erhalten und ein Jahr später vor den Vereinten Nationen zu sprechen. Noch wichtiger als dies war Tutus Fähigkeit, der Macht die Wahrheit zu sagen und damit die jungen Reihen der Antiapartheidallianz zu ermutigen und zu erweitern, etwa als er Präsident Reagan sagte: „Amerika kann zur Hölle fahren!“ Und das von einem Mann der Geistlichkeit.

Die Grenzen seiner widersprüchlichen Position – für die Befreiung, aber gegen die Mittel zu ihrer Verwirklichung – wurden deutlich, als er Senator Ted Kennedy auf eine Tour durch die Townships mitnahm und das Treffen von AktivistInnen gestört wurde, die sich über die Unterstützung eines US-imperialistischen Politikers empörten.

Seine Achillesferse war sein kleinbürgerlicher Pazifismus, denn er schloss den totalen Sieg der einen oder anderen Seite aus. Als die revolutionären Kräfte 1984 – 86 ihre Offensive gegen das System starteten, war es Tutu, der sich als erster als Vermittler anbot. Obwohl er zunächst von Präsident Pieter Willem (PW) Botha abgewiesen wurde, fand Tutus Kampagne für Versöhnung, d. h. christliche Vergebung, 10 Jahre später bei Südafrikas erstem schwarzen Präsidenten Nelson Mandela Anklang.

Wahrheits- und Versöhnungskommission

Tutu führte von 1996 bis 1998 den Vorsitz der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC). Die TRC, die vom regierenden ANC handverlesen wurde, obwohl ihr auch einige AnhängerInnen der Apartheid angehörten, erhielt die Befugnis, Zeugenaussagen von Opfern (beider Seiten!) anzuhören, Wiedergutmachung zu leisten und entweder Rehabilitierung oder Amnestie (für diejenigen, die „Reue“ zeigten) zu gewähren. Die Betonung auf Vergebung und nicht auf Gerechtigkeit wurde dadurch unterstrichen, dass Tutu vor jeder Sitzung ein Gebet verlas.

Obwohl 22.000 Opfer der Apartheid identifiziert und angehört wurden, stieß die Weigerung, zwischen der Gewalt des/r UnterdrückerIn und der der Unterdrückten, die das Recht hatten, sich dagegen in Stellung zu bringen, zu unterscheiden, vielen sauer auf – ebenso wie die „Vergebung“ von 849 TäterInnen, die über die Köpfe der Unterdrückten hinweg amnestiert wurden.

Am schlimmsten war, dass die TRC es versäumte, kollektive Forderungen gegen das Apartheidsystem als Ganzes anzusprechen, indem sie sich mit denjenigen befasste, die ganz oben in der Pyramide standen.

Der ehemalige Präsident Frederik Willem (FW) de Klerk, dem es nicht gelungen war, die Kommission von vornherein zum Scheitern zu bringen, weigerte sich rundheraus, die Verantwortung seiner Regierung für die von seinen Sicherheitskräften begangenen Verbrechen anzuerkennen. De Klerks Vorgänger PW Botha weigerte sich sogar, vor der Sitzung Kommission zu erscheinen, und bezeichnete sie als „Zirkus“. Tutu konnte nichts tun, um die beiden zu weiteren Schritten zu zwingen oder sie vor Gericht zu stellen. Die Familie von Steve Biko, des 1977 ermordeten Führers der Schulstreiks von Soweto, war eine von vielen, die sich durch Tutus TRC einer wirklichen Gerechtigkeit beraubt fühlten.

Später setzte Tutu mutig Israels Behandlung der PalästinenserInnen mit der der schwarzen Bevölkerung Südafrikas gleich und unterstützte die BDS-Kampagne der PalästinenserInnen mit den Worten:

„Ich war in den besetzten palästinensischen Gebieten und habe die nach Rassen getrennten Straßen und Wohnungen gesehen, die mich so sehr an die Bedingungen erinnerten, die wir in Südafrika unter dem rassistischen System der Apartheid erlebt haben“.

Wegen solcher Äußerungen bezeichnete ein Blogger der Zeitschrift Times of Israel Tutu noch vor seiner Beerdigung als „heimtückischen Antisemiten“ und wiederholte damit die Beschimpfungen, die die ApologetInnen der Apartheid in den 1980er Jahren gegen den „Arch“ ausstießen.

Einige Linke sind versucht, Tutus Rolle in der TRC als einen Ausrutscher in seinem sonstigen  Leben für die Befreiung zu betrachten, zumal er sich später, zusätzlich zu seiner bereits erwähnten unerschütterlichen Unterstützung für die Sache der PalästinenserInnen, für LGBT-Rechte, das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch und für die gemiedenen und ausgeschlossenen AIDS-Opfer einsetzte. Er scheute sich auch nicht, die Korruption des ANC und die Nichteinhaltung von Versprechen an die schwarzen Armen und die ArbeiterInnenklasse anzuprangern. Er forderte auch, dass Tony Blair und George W. Bush als Kriegsverbrecher nach Den Haag geschickt werden sollten (Irak), und weigerte sich einmal, mit ersterem ein Podium zu teilen.

Aber die TRC war entscheidend für die demokratische Konterrevolution, die der ANC durchführte. Die Kommission lieferte den ideologischen Deckmantel für die „Versöhnung“, die die ANC-Führung unter der Leitung von Nelson Mandela dem weißen Monopolkapital anbot. Der Nationalen Partei, die jahrzehntelang über die Apartheid regiert hatte, wurden MinisterInnen in einer Koalitionsregierung und die Leitung der Zentralbank angeboten, obwohl sie bei den ersten, allumfassenden Wahlen 1994 nur 20 Prozent der Stimmen erhalten hatte, ein Drittel des vom ANC erzielten Anteils. Die Freiheitscharta und insbesondere die Paragraphen, die eine Verstaatlichung forderten, wurden zugunsten einer „Verfallsklausel“ verworfen, die die Rechte des (weißen) Privateigentums garantierte.

Tutu war nie Mitglied des ANC . Er verbot anglikanischen Geistlichen den Beitritt zu irgendeiner politischen Partei, arbeitete aber eng mit dem legalen Arm des ANC, der Vereinigten Demokratischen Front, und, als dieser frei war, mit Mandela zusammen. Trotz seiner tiefen Abneigung gegen die stalinistische SACP leitete Tutu die Beerdigung ihres Generalsekretärs Chris Hani, der 1993 von einem weißen Rassisten ermordet wurde. Zu diesem Zeitpunkt stand die SACP jedoch bereits an der Spitze der Bestrebungen für eine Volksfrontregierung und eine kapitalistische „Etappe“ der Revolution, d. h. eine demokratische Konterrevolution.

Viele in der Linken waren der Meinung, dass dies nur eine vorübergehende Phase sein würde, und rieten zur Unterstützung des ANC. Workers Power und die Vorgängerorganisation der Liga für die Fünfte Internationale gehörten nicht zu ihnen. Tragischerweise haben wir Recht behalten, und Millionen von schwarzen SüdafrikanerInnen, landlosen Bauern und Bäuerinnen, ArbeiterInnen und arbeitslosen Jugendlichen, müssen mit dem Erbe leben.

Tutus aufrichtige Sympathie für die Unterdrückten bedeutete jedoch, dass er auch der neuen schwarzen Elite, etwa Jacob Zuma, dem abgesetzten südafrikanischen Präsidenten, „die Wahrheit sagte“ und offen darüber sprach, wie wenig die Armen und Ausgebeuteten von den Früchten der Befreiung erhalten hatten – im krassen Gegensatz zu MillionärInnen wie dem jetzigen Präsidenten Cyril Ramaphosa. Er war jedoch nicht bereit, das Recht und die Notwendigkeit der Ausgebeuteten und Unterdrückten anzuerkennen, „mit allen Mitteln“ um die Macht zu kämpfen.

Während wir also Tutus Beiträge zum Kampf und seinen Mut anerkennen, solidarisieren wir uns politisch mit denen, die heute für ein sozialistisches Südafrika kämpfen.




Europäische Linke: Lässt sich der Kapitalismus transformieren?

Alex Zora, Infomail 1174, 28. Dezember 2021

„Die Arbeiter haben kein Vaterland.“ Dieses bekannte Marxzitat ist wohl den meisten Linken ein Begriff. Schon früh galt der Anspruch der ArbeiterInnenbewegung, sich auch international zu organisieren. Heute ist der größte Zusammenschluss der Linken links von Sozialdemokratie und Grünen in Europa die Europäische Linke (EL). Wir wollen uns im Folgenden ansehen, wie sie ihrem Anspruch „Transformierung von Gesellschaften und die Überwindung des heutigen Kapitalismus“ gerecht wird.

Wer ist die Europäische Linke?

Die Europäische Linke wurde 2004 in Rom gegründet. Sie ist der organisierte Zusammenschluss von 28 europäischen linken Parteien – großteils aus EU-Staaten, aber nicht ausschließlich. Die wichtigsten und größten Parteien bilden die deutsche Linkspartei, die französische Bewegung von Mélenchon (La France Insoumise) – die jedoch nur Beobachterstatus hat –, die spanische Izquierda Unida sowie Griechenlands Syriza. In Österreich ist die KPÖ Mitglied in der Europäischen Linken und Der Wandel – Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt ist Partnerorganisation.

Im Europäischen Parlament steht ihr die Fraktion der Linken GUE/NGL nahe, in der Abgeordnete von 19 linken Parteien sitzen. Hiervon kommt der Großteil, aber wiederum nicht alle, der Abgeordneten aus Mitgliedsparteien der Europäischen Linken. Insgesamt zählen die Parteien der Europäische Linken ungefähr eine halbe Million Mitglieder.

Die Grundsätze

Auf dem Gründungskongress 2004 in Rom wurde auch ein Manifest angenommen. Der Name sollte dabei nicht täuschen, handelt es sich doch eher um sehr kurz gefasste Grundsätze, die grob die politische Richtung vorgeben. Es sieht sich in der Tradition und den Werten von Sozialismus, Kommunismus, ArbeiterInnenbewegung, Feminismus, internationaler Solidarität, aber auch von Humanismus und liberalem Denken. Es stellt die Zentralität der Europäischen Union als Raum der politischen Auseinandersetzung fest, bei gleichzeitig grundlegender Kritik an der Richtung der Entwicklung sowie den Ausformungen des modernen Kapitalismus in Europa. Man möchte „der EU einen anderen Inhalt geben: selbstständig von der US Hegemonie, offen gegenüber dem globalen Süden, alternativ zum Kapitalismus in seinem sozialen und politischen Modell [ … ]“. Dafür wird die „Notwendigkeit einer tiefgreifenden sozialen und demokratischen Transformation“ gesehen.

Grundsätzlich stammt die Europäische Linke in erster Linie aus der Tradition des Eurokommunismus und vertritt eine offene Kritik am „Kommunismus“ sowjetischer Prägung. Diese Kritik kommt aber nicht aus einer linken, revolutionären, sondern eigentlich aus einer rechten parlamentarisch-reformistischen Richtung. Die Tatsache, aber dass eine Kritik am „real existierenden Sozialismus“ geübt wird, führte in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten, in erster Linie mit den traditionalistisch ausgerichteten, stalinistischen Parteien (wie der KKE aus Griechenland, der PCP aus Portugal oder der ArbeiterInnenpartei Ungarns), die entweder nie Teil der Europäischen Linken wurden oder wieder austraten.

Transformationstheorie vs. Populismus

Die vorherrschende Ausrichtung der Europäischen Linken wird zumeist aus der Transformationstheorie abgeleitet bzw. mit ihr begründet. Kurz zusammengefasst geht es bei der Transformationstheorie (wahlweise auch als „radikaler Reformismus“, „radikale Realpolitik“ oder „revolutionäre Realpolitik“ bezeichnet) darum, den Widerspruch zwischen revolutionärer Politik (die fälschlicherweise zumeist mit den stalinistischen Parteien identifiziert wird) und Reformismus (also Sozialdemokratie) zu überwinden. An beiden wird Kritik geübt und – gestützt auf TheoretikerInnen wie Antonio Gramsci, Karl Polanyi oder Nicos Poulantzas – wird versucht, diesen Widerspruch zu überwinden. Hierbei wird mit zentralen Erkenntnissen der marxistischen Theorie gebrochen wie der Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution, der Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seiner Ersetzung durch die direkten Machtorgane der Arbeitenden und Unterdrückten. Kurz zusammengefasst lässt sich das beispielhaft an der Analyse von Nicos Poulantzas zeigen: „[D]as innere Kräfteverhältnis des Staates zu ändern, meint nicht aufeinanderfolgende Reformen als kontinuierlicher Fortschritt, die schrittweise Einnahme der staatlichen Maschinerie oder die Eroberung der höchsten Regierungsposten. Diese Veränderung besteht in der Ausweitung effektiver Brüche, deren kulminierender Punkt – und es wird zwangsläufig so ein Punkt existieren – im Umschlagen der Kräfteverhältnisse auf dem Terrain des Staates zugunsten der Volksmassen liegt.” (Poulantzas, Staatstheorie) Was diese Theorie in der Praxis bedeutet, werden wir weiter unten noch genauer beschreiben. Für jene, die an einer ausführlicheren Kritik der Transformationstheorie interessiert sind, verweisen wir auf „Aktualität und Diskussion der bolschewistischen Revolutionskonzeption“, zu finden in unserem Theoriejournal Revolutionärer Marxismus Nr. 47 oder auf unserer Homepage.

In den letzten Jahren hat sich aber innerhalb des europäischen Linksreformismus noch eine weitere Strömung dazugesellt. Mit Podemos in Spanien, La France Insoumise von Mélenchon in Frankreich oder dem Flügel von Sahra Wagenknecht in der deutschen Linkspartei kam noch eine dezidiert populistische Ausprägung hinzu. Teilweise gestützt auf TheoretikerInnen wie Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, teilweise auch einfach beeinflusst durch die chauvinistischen Tendenzen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung, kam es zu einer bewussten Ablehnung einer marxistischen Klassenanalyse und zu einer stärkeren Orientierung auf den Konflikt zwischen „dem Volk“ und „der Elite“. Zumeist geht das einher mit stärkeren Bezügen auf das Volk und die Nation und einer misstrauischen Haltung gegenüber Kämpfen gegen soziale Unterdrückungsformen wie Sexismus oder Rassismus (was hierbei gerne pauschal als Identitätspolitik bezeichnet wird).

Die Praxis der Europäischen Linken

Entscheidend für eine politische Partei ist natürlich nicht nur das politische Programm. Oft zeigt sich erst in der Praxis, aus welchem Holz vorgeblich fortschrittliche Kräfte wirklich geschnitzt sind. Das sieht man nur allzu oft, wenn sozialdemokratische oder grüne Kräfte an der Regierung beteiligt sind. Die nationalen Parteien der Europäischen Linken stehen natürlich im Vergleich zu diesen Kräften deutlich seltener in der Situation der Regierungsverantwortung, was die praktischen Beispiele stark einschränkt. Es gibt sie aber trotzdem.

Aktuell sind Kräfte der Europäischen Linken zum Beispiel in Spanien an der Regierung beteiligt. Gemeinsam mit der sozialdemokratischen PSOE, die den Regierungschef stellt, ist Unidas/Unidos Podemos – die Wahlallianz aus Podemos und dem EL-Mitglied Izquierda Unida – an der Regierung beteiligt. An den kapitalistischen Verhältnissen in Spanien hat sich dadurch aber überhaupt nichts geändert. Der Teil der Bevölkerung, der armutsgefährdet ist, hat sich seit ihrem Antritt nicht relevant verändert (21,5 % 2018; 21 % 2020), die Durchschnittslöhne setzten ihr kontinuierliches Sinken seit 2015 auch unter der Regierung mit Beteiligung der Europäischen Linken fort. Dass Spanien unter der „linken“ Regierung auch weiterhin eine Monarchie unterhält, Katalonien und dem Baskenland das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt und das europäische Grenzregime mitträgt, muss dazu kaum noch extra erwähnt werden. Das Schlimmste aus Sicht der Europäischen Linkspartei ist aber, dass sie als Juniorpartnerin überhaupt nicht von einem möglicherweise seriöseren Image als Regierungspartei profitiert. Kam Unidos/Unidas Podemos bei den Wahlen 2016 noch auf über 20 %, hält sie sich aktuell in Umfragen bei ungefähr 10 %. Profitiert haben hiervon auf der einen Seite die regierenden SozialdemokratInnen, auf der anderen die radikale Rechte von Vox.

Doch aus Sicht der Europäischen Linken könnte man natürlich argumentieren, dass man als Juniorpartnerin in einer Regierung oft nicht wirklich das eigene Programm durchsetzen kann (Warum geht man dann aber überhaupt in solche Regierungen?). Aber als Beispiel, wo Parteien der Europäischen Linken dominant an der Regierung beteiligt sind, kann man sich beispielsweise regionale Regierungen wie in Thüringen ansehen. Dort wird im Wesentlichen der kapitalistische Status quo mitverwaltet: Abschiebungen und Zwangsräumungen sind weiterhin normal, die Situation für die ArbeiterInnenklasse ist nicht substantiell besser als in den umliegenden Bundesländern etc. Wie wenig sich die Parteien der Europäischen Linken an der Regierung von der Sozialdemokratie unterscheiden, zeigt sich auch darin, wie wenig sie in offene Konflikte mit den Zentralregierungen kommen. Sogar das sozialdemokratische Rote Wien war hier deutlich fortschrittlicher positioniert.

Doch das wichtigste Beispiel ist gleichzeitig das tragischste: Griechenland. Hier wurde Syriza Anfang 2015 getragen durch eine Welle der Proteste der ArbeiterInnenklasse zur stärksten Kraft. Die griechische ArbeiterInnenklasse setzte große Hoffnungen in sie und ihr teilweise radikales Programm. Doch Syriza verriet ihre Basis und eigenen Grundsätze auf ganzer Linie. Nach dem von Alexis Tsipras einberufenen Referendum über die Schuldenrückzahlung, bei dem sich mehr als 60 % der GriechInnen gegen die Schuldenrückzahlungspläne von EU, EZB und IWF aussprachen, verriet Syriza einfach diese überwältigende Mehrheit und führte ein hartes Sparprogramm durch, das teilweise sogar schlimmer ausfiel als das der davor regierenden Konservativen. Gleichzeitig wurden in den Wochen nach dem Referendum die linken Kräfte in Syriza aus den wichtigen Positionen der Partei gedrängt. Dabei war Griechenland 2015 das zentrale Land des europäischen Klassenkampfes, wo die Zukunft der Sparpolitik entschieden wurde. Anstatt die griechische ArbeiterInnenklasse, die klassenkämpferischer und geschulter in Streiks und Besetzungen als jede andere in Europa war, zum Kampf und auf europäischer Ebene die Linke für eine Kampagne der internationalen Solidarität zu mobilisieren, wurde lieber dem Kapital klein beigegeben. Das ist die praktische Konsequenz der Transformationstheorie, die sich in der Praxis in nichts vom klassischen Reformismus sozialdemokratischer Prägung unterscheidet!

Mit dem Kapitalismus brechen, statt ihn zu verwalten!

Was Beispiele wie Griechenland oder Spanien zeigen, ist, dass die grundlegende strategische Ausrichtung nicht einmal im Eigeninteresse der Parteien der Europäischen Linken funktioniert. Vielmehr profitieren andere politische Kräfte (in Spanien die Sozialdemokratie und radikale Rechte, in Griechenland die Konservativen) von den hohlen Versprechungen der Parteien der EL. Doch international gibt es auch Beispiele wie die „trotzkistisch“ geprägte Front der Linken und ArbeiterInnen (FIT) in Argentinien, die bei den Wahlen im November diesen Jahres mit fast 1,4 Millionen Stimmen und 5,9 % zur drittgrößten Kraft aufgestiegen ist und eine Beteiligung am kapitalistischen Status quo ablehnt.

Wer ernsthaft den Kapitalismus überwinden möchte, kann sich nicht zu seinem/r HandlangerIn machen. Wo sich eine Partei zur Regierungsverantwortung im bürgerlichen Staat aufschwingt – egal ob führend oder als Juniorpartnerin, national oder regional – gerät sie letztlich immer zur Verwalterin des kapitalistischen Elends und der entsprechenden Verhältnisse.




Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.




Nein zum Ausschluss des Palästinakomitees aus dem Festival gegen Rassismus der Stuttgarter DGB-Jugend!

Stellungnahme des Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften, Metallertreff Stuttgart, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Das Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften sowie der Metallertreff Stuttgart hat folgende Erklärung gegen den Ausschluss des Palästinakomitees von dem Festival gegen Rassismus der Stuttgarter DGB-Jugend abgegeben. Der Text wurde ursprünglich auf der Seite der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) veröffentlich. Die Gruppe ArbeiterInnenmacht unterstützt die Stellungnahme und solidarisiert sich mit dem Palästinakomitee (PaKo). Hier der Text im Wortlaut von Zukunftsforum und Metallertreff im Wortlaut:

Nein zum Ausschluss des Palästinakomitees aus dem Festival gegen Rassismus der Stuttgarter DGB-Jugend!

Gewerkschaften müssen antirassistisch sein, denn jede Spaltung der Klasse durch Rassismus ist eine Schwächung ihrer Kampfkraft. Gewerkschaften müssen sich dem Erstarken der Rechten widersetzen, indem sie den Kampf gegen Rassismus aktiv und gemeinsam mit AkteurInnen sozialer und demokratischer Bewegungen führen, und dieses Bewusstsein dadurch in der Klasse verankern. Genauso müssen Gewerkschaften sich dem staatlichen Rassismus, der uns spaltet und schwächt, entgegenstellen. Wir unterstützen daher vollkommen die Initiative der DGB-Jugend Stuttgart, im Sommer 2022 ein „Festival gegen Rassismus“ zu organisieren.

Umso mehr sind wir empört, wie die zuständige DGB-Sekretärin bereits nach dem ersten Treffen von UnterstützerInnen des Festivals elementare Grundsätze des gewerkschaftlichen Antirassismus opfert, um einem regierungskonformen Bild von „Antirassismus“ gerecht zu werden. Im Nachgang des Treffens teilte die DGB-Jugendbildungsreferentin Anja Lange dem Stuttgarter Palästinakomitee den Ausschluss aus dem eben gebildeten Vorbereitungskomitee mit. Die Rechtfertigung für diesen Schritt ist mehr als dürftig und gipfelt in der Behauptung, das Palästinakomitee zeige auf seinen Plakaten „antisemitische Darstellungen von Jüd*innen“. Auf welche Plakate sie sich bezieht, führt sie nicht aus. Wir halten diese Darstellung für haarsträubend, verleumderisch und den Ausschluss für undemokratisch. Das Palästinakomitee (PaKo) ist in Stuttgart seit Jahren regelmäßig auf antifaschistischen/antirassistischen Aktionen vertreten und hat auch mehrfach u.a. in öffentlichen Veranstaltungen das Erstarken des Antisemitismus thematisiert und in einen Zusammenhang gestellt zum zunehmenden gesellschaftlichen Rassismus im Allgemeinen und gegen die PalästinenserInnen im speziellen.

Der Ausschluss wurde offensichtlich nicht unter den UnterstützerInnen diskutiert, geschweige denn demokratisch beschlossen. Auf dem zweiten Treffen des Festivalkomitees führte diese Missachtung demokratischer Grundsätze dazu, dass sich 5 der 10 am Treffen teilnehmenden Organisationen unmittelbar zum Austritt aus der Initiative gezwungen sahen. Auf dieser Grundlage wird es kein Festival geben, das sich „antirassistisch“ nennen kann!

Das Pako ist ein Bündnispartner im Kampf gegen Rassismus, und das muss auch für das „Festival gegen Rassismus“ der DGB-Jugend gelten. Wir sind wütend über den Ausschluss aus dem Festivalkomitee und fordern von der DGB-Jugend Stuttgart, diesen Schritt zu revidieren. Wir rufen auch alle gewerkschaftlich Aktiven und alle TeilnehmerInnen des Festivalkomitees auf, sich klar gegen den Ausschluss zu positionieren und eine demokratische Debatte darüber einzufordern! Eine derart schwerwiegende politische Anschuldigung, wie Anja Lange sie vorbringt, muss offen für alle zur Diskussion gestellt werden. Das Palästinakomitee hat das Recht, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, wie auch alle Beteiligten im Festivalkomitee die Möglichkeit haben sollen, Stellung zu beziehen. Wir zitieren daher an dieser Stelle aus einem offenen Brief, den das Palästinakomitee als Reaktion auf den Ausschluss verfasst hat:

Mit dem Palästinakomitee Stuttgart e.V. greift ihr einen Verein an, für den es seit der Gründung im Jahr 1982 selbstverständlich ist, Jüd:innen und Juden als Teil der gemeinsamen Bewegung gegen die Unterdrückung der Palästinenser:innen in alle unsere Initiativen einzubeziehen. Seit unserer Gründung sind wir selbstverständlich auch bei antifaschistischen und antirassistischen Aktionen in Stuttgart und Umgebung aktiv.

(…)

Euer Vorgehen macht deutlich, dass wir es mit einem Missbrauch des Antisemitismusvorwurfes zu tun haben, mit dem Kritiker:innen der israelischen Politik diffamiert werden. Das ist sehr gefährlich, denn es lenkt die Aufmerksamkeit ab von ultrarechten Kräften, die in erster Linie für den Antisemitismus in der BRD verantwortlich sind. Diese Rechtsextremen nutzen selbst sehr gerne den Antisemitismusvorwurf, um in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen und die Linke unter Druck zu setzen, von diesem Druck sind in erster Linie die zahlreichen Migrant:innen aus der Region sowie die Palästinasolidarität betroffen. Dafür gibt es in Stuttgart passende Beispiele: Seit dem Jahr 2018 ist es die AFD, die mit an erster Stelle die Ausgrenzung des Palästinakomitees Stuttgart und dessen Ausschluss aus städtischen Institutionen und von Fördermitteln betreibt.

Das Verhalten von Anja Lange widerspricht auch dem Instagrampost, in dem die DGB-Jugend Baden-Württemberg die Initiative angekündigt hat:

Dabei wollen wir explizit darauf achten, dass das Festival in seiner Vorbereitung und Durchführung auch von Rassismus betroffenen Menschen mitgestaltet wird. Konsequent im Sinne des Festivals ist natürlich, dass bewusst diskriminierendes oder bedrohendes Verhalten von uns Veranstalter*innen nicht geduldet wird.

Dieses Bekenntnis gilt offenbar nicht für einen Verein von und in Solidarität mit den PalästinenserInnen, der nicht zuletzt auch die palästinensische Diaspora und deren Kampf gegen rassistische Politik repräsentiert, und der dabei einen dezidiert linken Standpunkt vertritt. Gewerkschaftlicher Antirassismus muss alle fortschrittlichen und demokratischen Organisationen von MigrantInnen und solche, die soziale und demokratische Fragen in den Herkunftsländern im Blick haben, einbeziehen!

Zukunftsforum Stuttgarter Gewerkschaften, Metallertreff Stuttgart




[’solid] Berlin: Was tun mit dem ersten Schritt nach Links?

Lukas Resch, REVOLUTION, Infomail 1174, 21. Dezember 2021

Ein Beschluss gegen den RGR-Koalitionsvertrag, ein Antizionist im LandessprecherInnenrat (LSPR) und ein „Nein zur EU der Banken und Konzerne“, ein klares Bekenntnis zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“: Diese und weitere Entwicklungen in [’solid] Berlin sorgen seit der letzten Wahl für Aufsehen, bis in die bürgerlichsten Teile der Presse hinein. Einige Reaktionen aus der eigenen Organisation und der Mutterpartei lassen es scheinen, als hätte man das rote Berlin ausgerufen. Von ewig gestrigen StalinistInnen ist die Rede, öffentliche Hetzkampagnen gegen eigene Mitglieder lassen nicht lang auf sich warten. Was ist los in [’solid] Berlin?

The way so far …

Spricht man mit Mitgliedern, zeigt sich ein positiv gestimmtes Bild: Bei der Wahl zum LSPR schafften es die linkeren Basisorganisationen, diesen gemeinsam mit einigen neuen und vielversprechenden Gesichtern zu besetzen. Auch auf der letzten Landesvollversammlung zeichnete sich ein deutlich linkeres Bild ab als in der Vergangenheit. Unter anderem wurde beschlossen:

Eine Aufforderung an die Linkspartei Berlin, die Koalitionsverhandlungen abzubrechen, und an die Mitglieder, gegen den Vertrag und die Koalition mit den Grünen und der SPD zu stimmen; ein Beschluss gegen die alleinige Zusammenarbeit mit Jusos und grüner Jugend, um nicht als RGR-Jugend zu erscheinen. Eine Zusammenarbeit in größeren Bündnissen wird damit nicht ausgeschlossen.

Dies stellt einen Schritt in die richtige Richtung dar, auch wenn es weiter notwendig sein wird, die Jusos als die Massenjugendorganisation einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei (1) zu gemeinsamen Mobilisierungen aufzufordern. Diese Notwendigkeit stellt sich auch bezüglich der Grünen Jugend, die trotz ihrer ökobürgerlichen Mutterpartei über eine Verankerung in der Umweltbewegung verfügt.

Eine Einschätzung der „EU der Banken und Konzerne“, die ersetzt werden soll durch „die Vereinigung europäischer Staaten“ (auch wenn unklar ist, wie diese  erreicht werden und wie sie aussehen soll), suggeriert immerhin einen „Bruch mit der EU“ (wobei aufgepasst werden muss, dass nicht einfach für einen „linken“ Austritt Deutschlands aus der EU eingetreten wird, sondern für eine sozialistische Vereinigung Europas).

Trotz allem: eine willkommene Entwicklung, die einige Mitglieder von [’solid] bereits von einem Linksrutsch sprechen lässt. Diese Entwicklungen sind, immerhin, ein frischer Wind, erst recht nach der zerschmetternden Wahlniederlage der Linkspartei bei der Bundestagswahl.

Grenzen

Deswegen wollen wir die Situation nutzen, um uns zu positionieren und zur Diskussion über das weitere Vorgehen etwas beizutragen.

Die neue Zusammenstellung des LSPR ist sicher ein Schritt nach vorne, auch wenn dieser noch in der kommenden Zeit beweisen muss, ob der radikale Ruf der ihm vorauseilt, auch entsprechende Taten mit sich bringt.

Die Ergebnisse der Landesvollversammlung sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Man stellt sich entschieden gegen die Ausrichtung der Berliner Linkspartei und erhebt den Anspruch, eine eigene, sozialistische Perspektive dagegenzuhalten.

Der erste Dämpfer ist da natürlich, die Abstimmung gegen die RGR-Koalition verloren zu haben. Von den 50 % der teilnehmenden Linksparteimitglieder haben 75 % für diese gestimmt.

Wie geht es jetzt also weiter für alle, die sich eine linkere, antikapitalistische Politik und Linkspartei wünschen und dafür im Jugendverband kämpfen?

Wir wollen uns auf zwei Punkte konzentrieren: die Grenzen, an die revolutionäre Jugendliche in der Linkspartei und [’solid] stoßen, und die Taktik, mit der sie kämpfen können.

Zunächst das Ernüchternde: Das, was in [’solid] Berlin passiert – ebenso die gewisse Bewegung in der Basis der Linkspartei –, stehen einer bundesweit gegenläufigen Tendenz gegenüber. Real sind die Linkspartei und ihr Jugendverband in den letzten Jahren nach rechts gegangen. Auch wenn sich in den letzten Wochen eine linke Opposition in Berlin gebildet hat und im Landesverband Nordrhein-Westfalen nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahlen ein linker Landesvorsitzender gewählt wurde, so ändert das noch nicht das Gesamtbild. Ramelows Regierungspolitik stellt keine Ausnahme dar. Für alle Landesregierungen mit LINKE-Beteiligung gilt: Mitgehangen, mitgefangen – mit kapitalistischer Realpolitik. Und das gilt auch für Berlin.

Das ist auch kein Zufall oder einfach eine Schwäche gegenüber der größeren SPD, sondern das Interesse der Linksparteiführung . Sie betreibt reformistische Politik, die immer nur den Kompromiss mit dem Kapitalismus sucht, mit dem Leute wie Klaus Lederer an sich ganz gut leben können. Daher ist es für ihn auch kein Problem gewesen, DWe fallen zu lassen.

An die Grenzen dieses Führungsapparates werden alle RevolutionärInnen, die gern eine andere Linkspartei und ein antikapitalistisches [’solid] hätten, irgendwann stoßen, solange dieser Apparat die Partei und ihre Strukturen kontrolliert – so, dass der Apparat die Kontrolle gut behalten kann. Das muss sich auch in [’solid] niederschlagen, und wenn es der Geldhahn ist, an dem die Mutter vielleicht mal dreht.

 … and the way ahead

Ohne über diese Grenzen Gedanken anzustellen, wird jeder Versuch, [’solid] revolutionär umzugestalten, in blindem Aktivismus und Selbstverbrauch oder aber Anpassung an den erwähnten Apparat enden. Unserer Meinung nach sollte sich daher jede//r klar machen, dass es bei der Konfrontation mit der reformistischen Mehrheit und dem Apparat um eine grundsätzliche Auseinandersetzung geht. Letztlich vertritt der Reformismus nicht den Klassenstandpunkt der Lohnabhängigen, sondern ordnet vielmehr deren Interessen jenen der herrschenden Klasse unter.

Trotzdem kann sich das Ringen mit dem Apparat lohnen und unzufriedene Jugendliche in (und außerhalb von) [‚solid] um revolutionäre oder wenigstens eine alternative Politik zu RGR sammeln. Dazu sollten die vorhandenen Ansätze der letzten Wochen vertieft werden. Konkret sollten sich alle Jugendlichen zu einer Opposition organisieren – einer Fraktion.

Die angepeilte Taktik, um die eigene Mutterorganisation mittels einer digitalen Kampagne wieder auf die eigenen Werte zu besinnen, begleitet von Veranstaltungen, kann das nur begrenzt leisten, ist sie doch dazu verurteilt, vor allem einen Nachhall im eigenen Kreis hervorzurufen.

Darüber hinaus braucht es ein Sammeln um Aktionen wie Demonstrationen bis hin zu Streiks in Schule und Betrieb und mehr – wenigstens braucht es jetzt die Debatte darum. Und für sich alleine bringen solche Aktionen auch noch nichts. Es sollte sich auf einige Forderungen verständigt werden, die für Jugendliche gerade akut sind, um die mobilisiert werden kann und mit denen auch andere – Jusos, Grüne Jugend, Gewerkschaftsjugendliche, DWe usw. angesprochen werden können. Beispiele?

  • Sofortige Umsetzung des DWe-Volksentscheids! Gerade Jugendliche können sich das Wohnen ohne (reiche) Eltern nicht leisten! Dazu braucht es eine Massenbewegung und die Unterstützung der Gewerkschaften und MieterInnenverbände, um die Vergesellschaftung durch politische Streiks und Mietboykotts durchzusetzen!
  • Für eine echte Verkehrswende in Berlin – keine S-Bahn-Zerschlagung, dafür massive Einschränkung des Straßenverkehrs, Ausbau von S-Bahn und Tram, kostenloser ÖPNV!
  • Für die Kontrolle über coronabedingte Schulöffnungen und -schließungen durch demokratische Komitees der SchülerInnen und LehrerInnen selbst!

Das sind nur mal drei Beispiele. Der Kampf um solche Forderungen ist einer gegen die RGR-Regierung, und damit gegen Lederer und Co! Völlig richtig ist deshalb, dass [’solid] am kommenden Dienstag zu Protesten gegen RGR aufruft.

Aber es sind die nächsten Monate, die durchscheinen lassen werden, ob die gewisse Dynamik in [’solid] (und Linkspartei) nach links weitergetrieben werden kann oder im Treibsand reformistischer Realpolitik ausgebremst wird. Denn trotz aller positiven Berliner Entwicklungen der letzten Monate im Windschatten der Wahlen – DWe, Krankenhausstreik oder eben auch ein gewisser Linksdrall in DIE LINKE – gegen die Regierung zu kämpfen wird eine andere Nummer, in der das Überwinden der defensiven Position mit davon abhängen wird, ob sich revolutionäre, antikapitalistische Kräfte sammeln können und in [’solid], Jusos usw. reinwirken können.

Daher sollten sich AntikapitalistInnen ernsthaft überlegen, inwieweit sie in ihrem Kampf auf die LINKE setzen wollen, die die nächsten fünf Jahre Verrat schon ab Tag 1 beginnt, oder ob ein revolutionärer Bruch mit der Partei sinnvoller ist. Früher oder später wird dieser unserer Meinung nach unausweichlich. So oder so sind wir für die Debatte mit Euch offen.

Übrigens: Vor sieben Jahren hat die Jugendorganisation REVOLUTION eine umfassende Broschüre rausgebracht, die [’solid] kritisch beleuchtete und RevolutionärInnen im Jugendverband einen Handlungsvorschlag zur Sammlung ihrer Kräfte machte … immer noch aktuell: http://onesolutionrevolution.de/wp-content/uploads/2011/04/Solid-Polemik_Lukas_Müller_2014.pdf

Endnote

(1) Unter einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei verstehen wir eine bürgerliche Partei, die sich jedoch über historische Verbindungen, über Gewerkschaften, proletarische Mitgliedschaft und WählerInnen auf die Klasse der Lohnabhängigen stützt, mit dieser organisch verbunden ist.




Berliner Linkspartei-Spitze in Feierlaune

Martin Suchanek, Infomail 1173, 19. Dezember 2021

Nach dem deutlichen Ja der LINKEN-Mitglieder zum Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen präsentierte sich die Parteispitze am vergangenen Freitag, den 17. Dezember, in seltener Feierlaune. Sie darf weitermachen – im Berliner Senat. Die Wahl der rechten Sozialdemokratin Franziska Giffey zur neuen Regierenden Bürgermeisterin der Hauptstadt gilt als sicher, die rot-grün-rote Landesregierung kann fortgesetzt werden.

Insgesamt beteiligten sich 4220 (53,64 %) der 8016 Mitglieder der Berliner Linkspartei am Entscheid über den Koalitionsvertrag, davon waren 3926 Stimmen gültig. 2941, also 74,91 %, votierten für Rot-Grün-Rot, 880 oder 22,4 % stimmten mit Nein, 105 (2,67 %) enthielten sich.

Die Landesparteivorsitzende Katina Schubert – und mit ihr die gesamte Senatsriege um den alten und zukünftigen Kultursenator Klaus Lederer – konnten ihre Freude kaum verbergen. „Das ist ein klarer Auftrag für uns. Das gute Ergebnis ist Rückenwind für die aktuellen und kommenden Herausforderungen,“ erklärt sie und lässt weiter verlauten:

„Wir haben angekündigt, den Berlinerinnen und Berlinern die Stadt zurückzugeben. Daran werden wir entschlossen und mit voller Kraft weiterarbeiten.

Am 20. Dezember 2021 werden unsere Senator:innen offiziell nominiert und sie werden ihre Ressorts mit progressivem Gestaltungswillen entschlossen ausfüllen. Wir haben uns viel vorgenommen, wie wir unsere Stadt in den nächsten Jahren weiter sozial und ökologisch verändern wollen.“ (https://dielinke.berlin/start/presse/detail/news/klares-ja-der-linken-mitglieder-zum-koalitionsvertrag-1/)

Kröten

Angesichts der miesen Bilanz der letzten fünf Jahre und des ausgehandelten Koalitionsvertrages fragt man sich: Lebt die Spitze der Berliner Linkspartei bloß in ihrer eigenen Welt, fernab jeder Realität? Ist sie einfach nur zynisch oder beides? Oder bewirbt sich da jemand für ein (Real-)Satiremagazin?

Faktisch begräbt der Koalitionsvertrag den Volksentscheid für die Enteignung der großen Wohnungsbaukonzerne, die Privatisierung schwebt weiter über der Berliner S-Bahn, die outgesourcten Töchter von Vivantes und Charité sollen auch in der nächsten Legislaturperiode nicht zurückgeholt werden. An den Schulen soll das reaktionäre BerufsbeamtInnentum wieder gestärkt werden. Freuen kann sich dafür die Berliner Polizei, deren Befugnisse ausgeweitet, deren Personal aufgestockt und für die auch neues (Repressions-)Gerät angeschafft werden soll. Die rassistische Abschiebepraxis soll, wie schon unter dem letzten Senat, fortgesetzt werden.

So viel zum „progressiven Gestaltungswillen“ der kommenden Jahre, so viel zur Rückgabe der Stadt an die Berlinerinnen und Berliner.

Für die ArbeiterInnenklasse und die Berliner Linke gibt es an der Fortsetzung der Koalition nichts schönzureden, nichts zu verteidigen. Im Gegenteil: DIE LINKE Berlin gerät nur zur noch jämmerlicheren Juniorpartnerin von SPD und Grünen. Deren SenatsheldInnen und die Mehrheit ihrer Abgeordneten werden wohl, da sollte sich niemand Illusionen machen, so ziemlich jede Kröte schlucken, so ziemlich jeden Scheiß mitmachen.

Da hilft es auch nichts, wenn die KoalitionsbefürworterInnen darauf verweisen, dass sie einige drittrangige „progressive“ Projekte fortführen und ansonsten einige Luftschlösser in den Senatskanzleien in Auftrag geben dürfen. Neben diesen „Gestaltungsspielräumen“ rechnen sich die UnterstützerInnen von Rot-Grün-Rot außerdem an, dass sie so die von Giffey eigentlich bevorzugte  Ampel in Berlin verhindert hätten. Damit die rechte Sozialdemokratin erst gar keine Chance hat, die Koalition zu brechen, gibt sich DIE LINKE nicht nur im Koalitionsvertrag so willfährig, wie es die FPD wohl nicht gewesen wäre.

Nun sollte niemand den Mitgliedern, die mit Ja gestimmt haben, unterstellen, dass sie damit auch jeden faulen Kompromiss, jedes Zugeständnis der Senatsriege und der Parteispitze gleich mit befürwortet hätten. Aber unabhängig von den politischen Illusionen, Wünschen oder vom Opportunismus der Mehrheit der Mitglieder wird die Führung deren Votum zur Rechtfertigung ihrer opportunistischen, bürgerlichen Politik im Senat und im Abgeordnetenhaus heranziehen. Schließlich würde sie nur den Willen der Basis umsetzen – und diesem mögen sich die parteiinternen KritikerInnen endlich beugen. Sie mögen schweigen oder am besten die Arbeit des Senats konstruktiv und „solidarisch“ begleiten.

Opposition

In der Tat wirft der Ausgang der Abstimmung ein Licht auf das Kräfteverhältnis in der Berliner Linkspartie und den Zustand der Organisation. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass nur etwas mehr als die Hälfte der Mitglieder an der Abstimmung teilgenommen haben. Rund 4000 beteiligten sich erst gar nicht an der Entscheidungsfindung – und das bei einem für die Berliner Linkspartei zentralen politischen Thema. Dies illustriert ein für reformistische Parteien typisches Phänomen – nämlich, dass sich die Parteiführung nicht nur auf einen bürokratischen Apparat, sondern auch auf eine passive Mitgliedschaft stützt. Gerade weil die Arbeit in den verschiedenen Körperschaften des bürgerlich-parlamentarischen Systems die zentrale politische Aktivität der Partei ausmacht, bilden auch diese „AktivistInnen“, deren Masse nicht im Abgeordnetenhaus, sondern in Bezirksämtern, Beiräten, Bezirksverordnetenversammlungen sitzt, das eigentliche Rückgrat der Partei.

Dies erklärt auch, warum der Anteil der Nein-Stimmen in der Mitgliedschaft, also an der Basis, eher geringer ausfiel als unter den Parteitagsdelegierten, wo er über ein Viertel ausmachte. Leider liegen noch keine Zahlen vor, wie sich die 880 GegnerInnen der rot-grün-roten Koalition auf die Bezirke verteilen. Es dürften aber Neukölln und Mitte Zentren der Ablehnung bilden (jedenfalls was die öffentliche Wahrnehmung betrifft).

Schließlich erklärt die Mehrheit auch, dass die Berliner Linkspartei (und davor die PDS) schon seit Jahrzehnten von den RegierungssozialistInnen dominiert werden. Insofern bedeuten selbst 22,4 % Nein-Stimmen, dass diese Dominanz geschwächt wurde –, und das Agieren der rot-grün-roten Regierung könnte dieses Kräfteverhältnis weiter zugunsten der Opposition verschieben.

Es hängt von der Opposition ab, welche Perspektive sie selbst einnimmt, wie sie sich zur neuen Landesregierung, zur Parteimehrheit und zu den sozialen Bewegungen und den Lohnabhängigen verhält, die unweigerlich mit Rot-Grün-Rot in Konflikt geraten werden.

Sollten die GegnerInnen der Regierung darauf verzichten, den Kampf gegen die neue Regierung auf der Straße und parteiintern organisiert fortzuführen, so wäre die ganze Abstimmung wenig mehr gewesen als ein Sturm im Wasserglas. Die Opposition würde sich dann als politische Episode, als parteiinterne Begleitmusik zu den Niederungen der Regierungspolitik erweisen. Eine solche Opposition würde sich als politischer Wurmfortsatz der Parteiführung entpuppen, die ihrerseits wenig mehr als einen Wurmfortsatz von SPD und Grünen darstellt.

Die Opposition in der Linkspartei kann aber auch den Kampf aufnehmen und ihre Chance nutzen, die 880 Nein-Stimmen zu einer organisierten Kraft gegen die kommenden Angriffe der Regierung und gegen die RegierungssozialistInnen zu gestalten.

Dazu muss sie sowohl das Bündnis mit der Linken außerhalb und links der Linkspartei, mit den sozialen Bewegungen wie DWe enteignen, antirassistischen Kräften, der Krankenhausbewegung und vielen anderen vertiefen und suchen. Wir schlagen daher vor, rasch ein Aktionbündnis gegen die Angriffe des kommenden Senates zu gründen, um dagegen auf der Straße und in den Betrieben zu mobilisieren.

Das erfordert aber auch eine politische Klärung in der Opposition, die Schaffung einer politisch-programmatischen Plattform, die sich nicht nur gegen den Koalitionsvertrag, sondern auch gegen die reformistischen Grundlagen der Linkspartei richtet und für eine revolutionäre Alternative eintritt. Auch dazu sollte, ja müsste sich diese Opposition auch für die Linke außerhalb der Linkspartei öffnen, um so einen strategischen und programmatischen Diskussionsprozess zur sozialistischen Neuformierung voranzubringen.




Linke Koalition in Graz: Fortschritt nur oberhalb der Wurzel

Michael Märzen, Infomail 1173, 19. Dezember 2021

Nach dem jüngsten Wahlsieg der KPÖ in Graz steht nun die linke Koalition gemeinsam mit Grünen und SPÖ. Die Stadtregierung wurde am 17. November angelobt und Elke Kahr zur Bürgermeisterin gewählt. Das Arbeitsprogramm der Linkskoalition trägt den Titel „Gemeinsam für ein neues Graz. Sozial. Klimafreundlich. Demokratisch.“ Viele linke Kräfte in Österreich sehen in der Arbeit der KPÖ Graz nun ein mögliches Erfolgsmodell. Denn nicht nur der Wahlkampf war erfolgreich, der Koalitionspakt lässt auch einige Verbesserungen erhoffen. Es zeigt sich allerdings ebenfalls, dass diese Linksregierung keine Ansätze für radikale Veränderungen in Planung hält.

Regierungsprogramm

Das Arbeitsprogramm der neuen Grazer Stadtregierung liest sich eingangs durchaus positiv. So stellt sie sich in die Tradition des Antifaschismus, der Friedens-,

Frauen- und Umweltbewegung. Außerdem wird die Klimakrise als eine zentrale Herausforderung unserer Zeit bezeichnet. Das zeigt klar, wo sich die drei Parteien mit ihrer gemeinsamen Arbeit verorten. Weitere Bezüge auf eine Bewegung, eine wirkliche Einbindung der Bevölkerung oder gar eine Ermächtigung der Lohnabhängigen fehlen allerdings.

Für einen Eindruck vom Arbeitsprogramm der Koalition seien an dieser Stelle ein paar der 21 Schwerpunktprojekte genannt: An erster Stelle wird die Realisierung der Süd-West-Strecke genannt, einer Straßenbahnverbindung, die schon vor zwei Jahren im Grazer Gemeinderat beschlossen wurde. An zweiter Stelle steht die Schaffung leistbaren Wohnraums durch den Bau neuer Gemeindewohnungen, aber leider nicht, wie viele. An dritter Stelle kommt „jeden Tag einen Baum pflanzen“. Weitere nennenswerte Punkte sind die Reduktion der Kinderbetreuungsbeiträge, die Erhöhung des Zuschusses zur Jahreskarte Graz und zum Klimaticket Steiermark, ein Fahrrad für jedes Kind oder die Ausrichtung der Wirtschaftsförderung nach sozialen, regionalen und ökologischen Kriterien. Und – abseits von diesen Schwerpunkten – das Bekenntnis zu einem ausgeglichenen Budget.

Brisanz „Haus Graz“

Ein zentrales Anliegen im Wahlprogramm der KPÖ Graz war die „Wiedereingliederung aller ausgelagerten Betriebe in das Eigentum der Stadt und Rückführung der Grazer Linien in einen städtischen Eigenbetrieb“. Dabei ging es insbesondere um das „Haus Graz“, also um die direkten und indirekten Beteiligungen der Stadt, denn die Ausgliederungen brächten keine Einsparungen und der Gemeinderat habe keine Entscheidungsbefugnis über Leistungen, Tarife und Personalpolitik mehr. Nach der Wahl war das Thema schnell vom Tisch.

Laut KP-Klubobmann Manfred Eber habe man sich das genauer angesehen und festgestellt, dass man bei einer Rekommunalisierung unter den Abteilungen keine Gegenrechnungen mehr anstellen könnte und man Körperschaftssteuer zahlen müsse. Das würde Belastungen in Höhe von einem bis zu zweistelligen Millionenbetrag jährlich bedeuten. Stattdessen findet sich im Koalitionspakt nur noch die Sicherstellung von Plätzen in den Aufsichtsräten für alle im Stadtsenat (= Proporzregierung) vertretenen Parteien. Das Argument ist schwer nachvollziehbar, denn immerhin müssten sich über Zusammenführungen und die Abschaffung von teuren Managergehältern deutliche Einsparungen bewirken lassen. Und wenn nicht, könnte man es sich oder die Reichen ruhig auch ein bisschen kosten lassen. Denn die Überführung von zentralen Unternehmen in öffentliches Eigentum ist wohl das wichtigste Anliegen kommunistischer Politik, weil sie den Weg aus der Profitlogik ebnet und demokratische Kontrolle bis zur Verwaltung durch die ArbeiterInnen selbst ermöglicht und damit die Durchsetzung der Interessen jener, welche die notwendige Arbeit in unserer Gesellschaft leisten.

Kommunismus und Kommunalregierung

Überhaupt zeichnet sich die Linkskoalition nicht gerade durch eine Konfrontation mit dem Kapital aus. In einem Bündnis mit den Grünen und der Sozialdemokratie ist das auch nur schwer vorstellbar. Zugegeben, die Möglichkeiten einer Stadtregierung hierfür sind durchaus begrenzt und die Stimmung der Massen ist nicht unbedingt revolutionär.

Aber trotzdem wäre es Aufgabe einer linken Regierung unter Führung von KommunistInnen, in Worten und Taten die Widersprüche zwischen den Klassen für alle sichtbar zu machen und zuzuspitzen. Als Stoßrichtung wäre es ratsam, sich die Worte der Kommunistischen Internationale von 1920 aus den Leitsätzen über die kommunistischen Parteien und den Parlamentarismus in Erinnerung zu rufen. Dort heißt es unter anderem, dass KommunistInnen die „Mehrheit in Kommunaleinrichtungen nutzen sollen, um revolutionäre Opposition gegen die bürgerliche Zentralgewalt“ zu treiben, „die Schranken (zu) zeigen, die die bürgerliche Staatsgewalt wirklich großen Veränderungen entgegensetzt“ und „auf dieser Grundlage schärfste revolutionäre Propaganda (zu) entwickeln“.

Statt sich aber darauf zu konzentrieren, betont die KPÖ lieber die Arbeit auf Augenhöhe selbst mit den reaktionären bürgerlichen Kräften ÖVP und FPÖ. Wenn sie sich nicht auf die Enge des Stadtbudgets einschränken würde, könnte sie weitreichende Sozialmaßnahmen einleiten und einen politischen Kampf um deren Finanzierung führen. Und zumindest über die Rekommunalisierung könnte sie mit demokratischen Kontrollmechanismen in den Betrieben gewisse Möglichkeiten zur Ermächtigung der arbeitenden Menschen aufzeigen. Im Gegensatz dazu ist lediglich der Aussage des Klubobmanns der SPÖ-Graz beizupflichten, dass der Regierungspakt sehr viele sozialdemokratische Themen beinhalte. Und was das in der Realität bedeutet, haben Jahrzehnte sozialdemokratischer, bürgerlicher Reformpolitik zur Genüge bewiesen.