2020 – ein Jahr der Reaktion und des Widerstands

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1132, 31. Dezember 2020

Nur wenige Menschen werden dem Jahr 2020 nachtrauern – einem dunklen Jahr für Millionen, die ihren Arbeitsplatz verloren, da eine riesige Anzahl von Unternehmen aufgrund von Pandemie geschlossen wurde, oder die sich mit KurzarbeiterInnengeld durchschlagen mussten, das weit unter dem normalen Lohnniveau lag. All dies kam zu den tatsächlichen Todesopfern hinzu, 1,8 Millionen weltweit, und zu den anhaltenden Folgeschäden aufgrund von COVID. Darunter leiden vor allem ältere Menschen, diejenigen, die in armen und überfüllten Verhältnissen leben, und jene, die im globalen Süden mit schlechten oder kaum vorhandenen Gesundheitssystemen überleben müssen.

Die Pandemie und die darauf folgenden Einschränkungen haben zu einem enormen Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt und in Verbindung mit den ersten Anzeichen einer weiteren großen Rezession weltweit ungeheures Elend verursacht. In den USA, der immer noch dominierenden Volkswirtschaft der Welt, waren im Sommer 20 Millionen Menschen ohne Arbeit, und die Zahl hat sich bis zum Jahresende nur halbiert.

Der von EpidemiologInnen vorhergesagte Wintereinbruch ist eingetreten und verschlimmert sich weiter, obwohl die Entwicklung mehrerer Impfstoffe innerhalb von zehn Monaten ein Triumph für die WissenschaftlerInnen ist und den ImpfgegnerInnen, den HausiererInnen mit bizarren Verschwörungstheorien und reaktionären DemagogInnen wie Trump und Bolsonaro widerspricht.

Wenn WissenschaftlerInnen und Beschäftigte in der Medizin von den reaktionären Fesseln kommerzieller und staatlicher Rivalität, von Geschäftsgeheimnis und privater Konkurrenz befreit würden und auf globaler Ebene zusammenarbeiten könnten, wenn alle ihre Einrichtungen vergesellschaftet würden, könnten viele seit langem bestehende endemische Krankheiten besiegt und zukünftige Pandemien verhindert oder kontrolliert werden.

Die Pandemie ist jedoch noch lange nicht vorbei und das Auftreten signifikanter Virusvarianten sollte uns daran erinnern, dass die Wirksamkeit von Impfstoffen durch eine zufällige Mutation untergraben werden könnte. Es ist wahrscheinlich, dass die Auswirkungen des Virus noch einen beträchtlichen Teil des Jahres 2021 andauern werden, und selbst dann wird das wirtschaftliche und soziale Leben weit von dem entfernt sein, das wir vor dem Auftreten des neuartigen Coronavirus zur Jahreswende 2019/2020 kannten.

Sicherlich hätte die Erfahrung viel schlimmer ausfallen können, wenn nicht die ÄrztInnen, das Gesundheitspersonal und die ForscherInnen auf der ganzen Welt heldenhaft gearbeitet und auf früheren Forschungen in mehreren Ländern aufgebaut hätten, um Impfstoffe zu entwickeln. Doch viele dieser WissenschaftlerInnen und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens hatten schon lange nicht nur vor den Gefahren einer Pandemie vom Typ SARS gewarnt, sondern auch vor den zerstörerischen Auswirkungen der Kürzungen staatlicher Mittel und die Notwendigkeit betont, die „Geschäftsgeheimnisse“ von Staat und den großen Pharmakonzernen zu lockern. Die bleibende Lektion des Jahres 2020, „Niemand ist sicher, bis alle sicher sind“, unterstreicht die Notwendigkeit eines Weltgesundheitssystems, das die grausamen Ungleichheiten zwischen den „fortgeschrittenen“, d. h. imperialistischen, Ländern und den „Entwicklungsländern“, d. h. halbkolonialen Ländern überwindet.

Das Jahr sah auch eine große Wende – zumindest in den Worten – der politischen FührerInnen, wenn es darum ging, die andere große Krise, die drohende Klimakatastrophe, anzusprechen. Zum Teil ist dies ein Tribut an die Wirkung der von der Jugend angetriebenen Bewegungen gegen die Klimaerwärmung, aber es war auch eine Reaktion auf die wachsende Zahl von Katastrophen, sogar in imperialistischen Ländern. Das Jahr begann damit, dass Australien einen „schwarzen Sommer“ erlebte, seine schlimmste Buschfeuersaison aller Zeiten. Hurrikane und tropische Stürme verursachten große Überschwemmungen in Texas und Louisiana. Im Herbst entflammten allein in Kalifornien Waldbrände auf über einer Million Acres (405.000 Hektar, 4.050 qkm). Infolgedessen sprachen sogar konservative bürgerliche PolitikerInnen von „grünen New Deals“ und „grünen industriellen Revolutionen“. Aber wie das Sprichwort „Hüte dich vor Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen!“ bringen, so sind diese Versprechungen wahrscheinlich nur ein trojanisches Pferd für Profitstreben.

Der Wechsel des US-Präsidenten von einem Klimawandelleugner zu einem, der einige Phrasen der Rhetorik des Green New Deal von Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) übernommen hat, garantiert nicht, dass entschlossenes Handeln die Rückkehr der USA zum Pariser Abkommen begleiten wird. Es könnte und sollte zu massenhaften direkten Aktionen ermutigen, um die US-Administration und den Kongress zu zwingen, die Emissionen zu senken. Von Küste zu Küste sind Überschwemmung und Feuer jetzt eine reale und anhaltende Gefahr in den Köpfen von Millionen AmerikanerInnen, und das kann das Bewusstsein selbst in den stursten Köpfen verändern.

Wirtschaftskrise

Die unmittelbaren Auswirkungen des Coronavirus wären noch schlimmer gewesen, wenn nicht das Gespenst des Zusammenbruchs der Gesundheitssysteme die Regierungen dazu gezwungen hätte, Lockdowns anzuordnen und die Schleusen der Staatsausgaben zu öffnen, um Unternehmen und Arbeitsplätze zu retten. Es wäre jedoch töricht, sich vorzustellen, dass diese „Kriegsmaßnahmen“, auf die der Kapitalismus in Extremfällen zurückgreift, zu einem dauerhaften Merkmal der „schönen neuen Welt“ werden, die einige PolitikerInnen versprechen. Obwohl die scheinbar grenzenlose staatliche Kreditaufnahme in den imperialistischen Kernländern von historisch niedrigen Zinssätzen profitierte, gibt es keine Garantie, dass diese aufrechterhalten werden können, und die daraus resultierende Staatsverschuldung ist in Friedenszeiten historisch beispiellos. Darüber hinaus hatten große und kleine Unternehmen, wie es scheint, schon vor COVID „ihre Kreditkarten ausgereizt“, und der marxistische Ökonom Michael Roberts sagt eine große Unternehmensschuldenkrise innerhalb der nächsten zwei Jahre voraus.

Sicher ist, dass mit dem Auslaufen der staatlichen Subventionen, wahrscheinlich innerhalb der ersten sechs Monate des kommenden Jahres, die langfristigen Auswirkungen der Pandemie deutlich werden. Zwar mag es eine Erholungsphase geben, die durch aufgestaute Nachfrage und Ausgaben in den Sektoren, die von der Pandemie profitiert haben, angeheizt wird, doch wird diese wahrscheinlich nicht von langer Dauer sein und vom Ausmaß der Insolvenzen und Schließungen, insbesondere im Einzelhandel und im Dienstleistungssektor, überschattet werden.

Die Folgen des massiven Rückgangs von Produktion und Handel rund um den Globus werden mit Sicherheit auch das Fundament des Monopolkapitals im großen Stil schwächen und ganze Branchen wie Stahl, Automobil, Luft- und Raumfahrt oder fossile Brennstoffe betreffen. Die Folgen eines Zusammenbruchs solcher Industrien wären nicht nur eine Welle von Massenentlassungen, sondern auch eine langfristige, strukturelle Arbeitslosigkeit.

Ein weiterer krisenverschärfender Faktor ist die Rivalität der imperialistischen Mächte – der USA, Chinas, Japans, der Europäischen Union –, die die multilateralen Institutionen untergräbt, die aus den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und der Zeit der Globalisierung stammen (IWF, WTO usw.). Selbst wenn Biden die eher destruktiven Vorschläge Trumps zurücknimmt und die Rhetorik der Zusammenarbeit wiederherstellt, wird die Rivalität fortbestehen und sich sogar noch verschärfen. Dies hat bereits die Schwächen und zerstörerischen Widersprüche innerhalb der imperialistischen Blöcke offengelegt und die Ambitionen der nächsten Reihe imperialistischer oder regionaler halb-kolonialer Mächte herausgefordert: Indien, Russland, Brasilien, Südafrika, Türkei, Iran. Auch diese Staaten werden unweigerlich unter dem Zerbrechen der Weltmärkte, der Kreditsysteme leiden. Ihre inneren Schwierigkeiten werden sie, wie auch die dominierenden imperialistischen Mächte, zu wirtschaftlichen und militärischen Konflikten treiben.

Die Europäische Union befand sich schon vor dem Brexit in einer sich vertiefenden Krise und ihre Hauptmächte, Frankreich und Deutschland, werden große Probleme haben, Länder wie Polen und Ungarn zu disziplinieren. Die südlichen Mitglieder der EU, Griechenland, Italien und Spanien, werden große Schwierigkeiten innerhalb der sich zentralisierenden Union haben, die von Macron und, vielleicht etwas vorsichtiger, von Merkels NachfolgerIn ins Auge gefasst wird.

Natürlich könnte eine historische Zerstörung überschüssigen Kapitals auch einen Investitionsschub in die neuen Technologien ermöglichen: Künstliche Intelligenz, globale bzw. Wirtschaftsblöcke umfassende Wertschöpfungsketten, Automationsprozesse durch Industrieroboter, Biowissenschaften etc. In der Tat könnten diese Technologien und Wissenschaften die Grundlage für eine Gesellschaft legen, die die langen Stunden der Schwerstarbeit massiv reduziert und erzwungenen Müßiggang und Armut abschafft. Aber eine solche neue industrielle Revolution – mit einem großen Umweltelement – liegt auf der anderen Seite einer großen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisenperiode.

Wenn das Kapital weiterhin regiert, werden sich die Kräfte der Zerstörung; Verarmung, Krieg, Pandemien, Klimakatastrophen zum Schreckgespenst eines historischen Rückschritts verbinden – einer Dystopie, nicht einer Utopie. Alles hängt also davon ab, ob die ArbeiterInnenklasse, die jetzt im Weltmaßstab größer denn je ist, die Kontrolle über die Wirtschaft, über die gesamte Gesellschaft übernehmen und sie international für eine optimale Zukunft der gesamten Menschheit organisieren kann. Und das ist eine Frage der Politik und der politischen Führung.

Trends in der Weltpolitik

Die außerordentlich hohen Staatsausgaben, insbesondere in den imperialistischen Ländern, die versuchen, mit den Auswirkungen der Pandemie fertig zu werden, sind selbst Gründe, warum wir im kommenden Jahr eine ernsthafte politische Dimension der Krise erwarten sollten.

Eher früher als später, vor allem wenn die Gewerkschaften und die reformistischen und linkspopulistischen Parteien passiv und vertrauensselig gegenüber Regierungen und UnternehmerInnen bleiben, wird es einen ernsthaften Versuch geben, diese Staatsausgaben zurückzufordern. Zusammen mit der drohenden Massenarbeitslosigkeit ist zu erwarten, dass dies zu einem Anstieg des Klassenkampfes führen wird, der grundlegende Fragen über die Führung eines solchen Widerstandes aufwerfen wird. Was nötig sein wird, ist die Organisation von Einheitsfronten, die es mit Regierungen aufnehmen können, sowohl mit „demokratischen“ als auch mit diktatorischen. Die Linke wird bei dem Versuch, diese aufzubauen, mit einer ernsten politischen Krise konfrontiert werden.

Dennoch erzeugt das kapitalistische System, sowohl in Krankheit als auch in Gesundheit, Widerstand gegen die offensichtlicher werdende Ausbeutung und Ungleichheit, die in seine Grundlagen eingebaut sind. Der eng mit dem Kapitalismus verbundene Prozess der Verarmung der Vielen und der Bereicherung der Wenigen hat sich während der Pandemie ungebremst fortgesetzt. Bis November waren laut der Universität von Chicago und der Universität von Notre Dame 8 Millionen AmerikanerInnen in Verarmung gefallen. In der Zwischenzeit stieg das Vermögen der 651 MilliardärInnen in den USA um mehr als eine Billion US-Dollar und erreichte Anfang Dezember 4 Billionen laut „Americans for Tax Fairness“ (AmerikanerInnen für Steuergerechtigkeit).

Obwohl ein Großteil der gestiegenen Staatsausgaben zur Stützung des scheiternden Kapitals verwendet wurde, hat ihr schieres Ausmaß sowie die von den Regierungen erzwungene Anerkennung von „wesentlichen Arbeitsplätzen“ und „lebenswichtigen Dienstleistungen“, die nach jahrzehntelangen Kürzungen fast alle schlecht bezahlt werden, einen starken Grund für Forderungen nach Lohn- und Gehaltserhöhungen, nach größeren Investitionen in Gesundheit und Bildung sowie nach Besteuerung und Enteignung des Großkapitals geschaffen.

Je mehr jedoch die Impfstoffe die Pandemie verlangsamen, desto wahrscheinlicher werden wir im kommenden Jahr Forderungen hören, die öffentlichen Ausgaben zu kürzen und die Schulden zu reduzieren, was ein Szenaria für eine Rückkehr des Austeritätsgeredes schafft. Wir werden uns dem widersetzen müssen und brauchen Parteien und Gewerkschaften, die dazu bereit und in der Lage sind.

Trotz der Pandemie war 2020 auch ein Jahr mit beachtlichen Kämpfen von ArbeiterInnen, Jugendlichen und rassistisch Unterdrückten auf der ganzen Welt. Mit „starken Männern“ an der Macht wie Trump, Bolsonaro, Duterte, Erdogan, Modi, Putin und Xi gab es viel zu bekämpfen. Das Fortbestehen dieser plebiszitären bonapartistischen oder direkt diktatorischen Regime sollte uns daran erinnern, dass der Rechtspopulismus trotz Trumps Niederlage noch lange nicht besiegt ist.

Die meiste Zeit des Jahres haben diese Führer brutale Repressionen gegen ihre Bevölkerung ausgeübt. In China hat Xi den fortgesetzten kulturellen Völkermord an den UigurInnen mit der „legalen“ Niederschlagung der Demokratieproteste in Hongkong kombiniert. Narendra Modis BJP-Regierung hat die Repression seiner Streitkräfte in Kaschmir seit der Aufhebung der Autonomie 2019 fortgesetzt. Der starke Mann der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, hat seine Angriffe auf Oppositionsparteien, das kurdische Volk und kritische JournalistInnen fortgesetzt und einen Krieg Aserbaidschans gegen die armenische Enklave Bergkarabach geschürt.

Dann waren da noch Abdel Fatah El-Sisi (Abd al-Fattah as-Sisi) in Ägypten und der Kronprinz von Saudi-Arabien, die den Bürgerkrieg im Jemen anheizten, und Netanjahu, der den Siedlungsbau im Westjordanland und die Bombardierung des Gazastreifens fortsetzte. Die Endphase von Assads blutiger Konterrevolution in Syrien und die reaktionären dschihadistischen Bewegungen in Afrika südlich der Sahara und in Afghanistan trugen zu dem düsteren Bild bei. In den ehemaligen französischen Kolonien in der Sahelzone stellten dschihadistische Rebellen die Streitkräfte verschiedener Staaten auf eine harte Probe. PräsidentInnen, die versuchten, ihre Herrschaft auszuweiten, provozierten große Straßenbewegungen, während in den Staaten am Horn von Afrika die Friedensinitiativen scheitern, was die Massenflucht aus den Kriegsgebieten noch verstärkt.

Widerstand

Doch überall auf der Welt haben wir im Jahr 2020 auch neue oder anhaltende Ausbrüche des Massenwiderstands von jungen Menschen, ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen erlebt. In den USA gab es im Mai und Juni in jeder größeren Stadt im ganzen Land Mobilisierungen gegen die rassistischen Polizisten, die George Floyd getötet hatten, was zu einem weltweiten Tag mit Demonstrationen am 6. Juni führte.

In Hongkong protestierte eine Million gegen die Verhängung neuer Sicherheitsgesetze über das Territorium. In Santiago, Chile, gab es millionenstarke Demonstrationen, ausgelöst durch eine 30-Peso-Busfahrpreiserhöhung (3,5 Ct.), die sich zu einer Rebellion gegen 30 Jahre neoliberale Regierungen und eine seit Pinochet kaum veränderte Verfassung entwickelten.

Im Herbst marschierten in Weißrussland jede Woche Hunderttausende gegen Alexander Lukaschenkos (Belarus.: Aljaksandr Lukaschenka) manipulierte Wahlen. 250 Millionen indische ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen streikten, marschierten und zelteten in Protestcamps in der Hauptstadt des Landes gegen die autoritäre und neoliberale Modi-Regierung.

Die Frauenproteste, die Polen im Herbst erschütterten, wurden durch Vorschläge ausgelöst, die Abtreibungsgesetze des Landes zu verschärfen, die bereits die restriktivsten in Europa darstellen. Hunderttausende gingen in Städten im ganzen Land auf die Straße und konnten zumindest die Verabschiedung des Gesetzes vorerst stoppen.

Die StudentInnenbewegung „Freies Volk“ in Thailand wurde durch das Verbot der wichtigsten Oppositionspartei durch das vom Militär gestützte Regime ausgelöst und erlebte im Laufe des Jahres mehrere Wellen, die zunehmend die Rolle des Militärs und sogar des Königs, der immer noch enorme Macht ausübt, in Frage stellen.

In Frankreich gab es trotz der Abriegelung gewalttätige Proteste gegen Macrons repressive neue Sicherheits- und Anti-Muslim-Gesetze. In Lateinamerika gibt es eine anhaltende Krise und auch während der Coronavirus-Krise gab es Massenprotestbewegungen. Diese führten z. B. zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung in Chile, zu riesigen Demonstrationen in Peru, zur Rückkehr der MAS an die Macht in Bolivien und in Brasilien kam es bei den Kommunalwahlen zu einem Schwenk nach links.

Boliviens einjähriger Widerstand gegen die illegitime Präsidentin (Jeanine Áñez) und die 2019 durch einen Putsch installierte Regierung erzwang die Abhaltung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die die bürgerlich-populistische Partei MAS mit großen Mehrheiten gewann, obwohl diejenigen, die den Putsch lanciert haben, immer noch die Armee und die Polizei dominieren.

All diese Ereignisse zeigen, dass der Widerstand immer noch an die Oberfläche durchbricht. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass, wenn die schlimmsten Gefahren der Pandemie aufgehoben sind, er noch weiter um sich greifen wird. Nichtsdestotrotz, wie wir an den vielen Kämpfen in diesem Jahr sehen können, sind die sozialen Bewegungen und demokratischen Aufstände mit harter polizeilicher Repression konfrontiert und den Mobilisierungen rechtspopulistischer Bewegungen, einschließlich Trumps Ermutigung von AnhängerInnen der weißen Vorherrschaft. Solche Bewegungen könnten sich in der kommenden Zeit zu offen faschistischen Kräften herauskristallisieren. In Frankreich könnte das Rassemblement National von Marine Le Pen zum Spitzenherausforderer von Macron im Jahr 2022 geraten.

Die Misserfolge der neuen linken Bewegungen des letzten Jahrzehnts, von Syriza und Podemos bis hin zu Jeremy Corbyns AnhängerInnen in der britischen Labour-Partei, zeigen alle, dass es keine friedliche parlamentarische Lösung gibt, um auch nur die neoliberale Sparpolitik zu besiegen. Was wir brauchen, sind nicht wahlkämpfende Parteien mit rein unterstützenden sozialen Bewegungen, sondern Parteien des Klassenkampfes, die mit militanten Bewegungen der Unterdrückten und kämpfenden Gewerkschaften verbunden sind. Auch Parteien, die ein unverhohlen antikapitalistisches Programm ihr eigen nennen – ein Programm für eine sozialistische Revolution.

Die wichtigste aller Lehren des Jahres 2020 ist, dass, so wie die Pandemie und die Umweltkrise nicht im nationalen Maßstab gelöst werden können, auch der Sturz des Kapitalismus und der Aufbau des Sozialismus global sein müssen. In einer Ära der unglaublichen Zunahme der Kommunikation – heute haben 4,66 Milliarden Menschen, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung, irgendeine Art von Zugang zum Internet –, in der Millionen regelmäßig Online-Kommunikation und maschinelle Übersetzung nutzen, liegen die wirklichen Hindernisse für den Aufbau einer Internationale im engen nationalen Bewusstsein und im Mangel an politischem Willen bei den Führungen von „linken“ Parteien und Gewerkschaften. Die ArbeiterInnenklasse hat zwischen den 1860er und den 1930er Jahren vier aufeinanderfolgende Internationalen aufgebaut, die ein unvergängliches programmatisches Erbe hinterlassen haben.

Die Liga für die Fünfte Internationale und ihre Sektionen in Österreich, Brasilien, Deutschland, Pakistan, Schweden, den Vereinigten Staaten von Amerika und Britannien sehen es als ihre Pflicht an, den Internationalismus in jeder ArbeiterInnenbewegung und aufbegehrenden Strömung der Unterdrückten rund um den Globus zu fördern.

Seit dem Abflauen der Bewegungen gegen die kapitalistische Globalisierung und den imperialistischen Krieg in den ersten fünf Jahren des neuen Jahrtausends, als die weltweiten und europäischen Sozialforen koordinierte globale Aktionen ins Leben riefen, ist ein deutlicher Rückgang der organisierten internationalen Versammlungen zu verzeichnen. Dieser Rückzug kam genau zu dem Zeitpunkt, als die Expansionsphase der Globalisierung mit der Rezession 2008 zu einem erschaudernden Ende kam. Obwohl diese große soziale und politische Bewegungen hervorbrachte, die sich gegenseitig beeinflussten und inspirierten – der Arabische Frühling, die Occupy-Bewegungen, die Anti-Austeritätskämpfe in Griechenland, Volksbewegungen in ganz Lateinamerika, Generalstreiks in Indien –, gab es kein internationales Forum, auf dem die Lehren aus den anfänglichen Erfolgen und dem endgültigen Scheitern gezogen werden konnten.

Während Widerstandsbewegungen spontan entstehen können und dies auch tun, gilt dasselbe nicht für Führungen und Strategien für den Sieg, d. h. politische Programme. Deshalb erfordert das Voranbringen dieser Aufgabe, dass sich alle bewussten RevolutionärInnen auf der ganzen Welt im kommenden Jahr und in den kommenden Jahren ihr neu widmen müssen.

ArbeiterInnen und Unterdrückte: Vereinigt Euch in einer neuen Weltpartei der sozialistischen Revolution – einer Fünften Internationale!




Britannien: Boris Johnsons Brexit kündigt die verschärfte Senkung von Standards an

Stellungnahme des Politischen Komitees von Red Flag, 29.12.2020, Infomail 1032, 30. Dezember 2020

Was auch immer sich eine knappe Mehrheit der WählerInnenschaft vorstellte, als sie für den Austritt aus der Europäischen Union stimmte, die StrategInnen, die den Brexit planten, wussten genau, was sie wollten. Nigel Farages UKIP (Britische Unabhängigkeitspartei) und die European Research Group (Europäische Forschungsgruppe) mit Jacob Rees-Mogg glaubten wie ihre GesinnungsfreundInnen in den USA, dass der Kapitalismus wiederbelebt werden müsse, indem man sich von staatlich erzwungenen Regelungen und Verträgen befreit.

Rechtes und rassistisches Projekt

Dabei hatten sie die Unterstützung der unternehmerischeren Teile des britischen Kapitals, Leute wie James Dyson und J. C. Bamford, die ihre eigenen Firmen aufgebaut hatten, oft gegen bereits etablierte Konzerne. Außerdem wurden sie stark von Hedgefonds-ParasitInnen wie Crispin Odey finanziert. Aus unterschiedlichen Gründen teilte auch das kleinere Kapital, das enger mit der lokalen Wirtschaft verbunden ist, ihre Feindseligkeit gegenüber staatlicher Regulierung, insbesondere gegenüber ausländischer.

Wenn Deregulierung und Abbau von Schutzgesetzen die Strategie dieser kleinen und nicht repräsentativen Minderheit war, bestand ihre Taktik darin, die zweifellos vorhandene Unzufriedenheit vieler ArbeiterInnen auszunutzen und sie auf „Brüsseler BürokratInnen“ und ArbeitsmigrantInnen zu richten. Dabei profitierten sie von der Unterstützung der rechten MedienbaronInnen, die bereit waren, nach Strich und Faden zu lügen. So versprachen sie „350 Millionen Pfund pro Woche für das Nationale Gesundheitswesen“ durch den Brexit. Und sie griffen auf unverhohlenen Rassismus zurück. „80 Millionen TürkInnen könnten hierher kommen!“ titelte des Boulevard und fasste die Hetze in der zentralen Losung zusammen „Wir müssen die Kontrolle über unsere Grenzen zurückerobern“.

Unterstützt wurden sie auch, zugegebenermaßen in viel kleinerem Umfang, von den vermeintlich „linksextremen“ Organisationen: der Communist Party of Britain, der Socialist Workers Party und der Socialist Party, die die Illusion verbreiteten, dass der Brexit irgendwie den Weg zu einer linken Regierung öffnen könnte, die ein radikales Programm der Verstaatlichung und der Sozialreform einführen würde. Warum von einer kürzlich gewählten Tory-Regierung erwartet werden konnte, dass sie das tut, bleibt ein Rätsel.

Probleme

Der Sieg stellte die Brexiteers jedoch vor ein Problem: Obwohl sie die Unterstützung des größten Teils der Mitgliedschaft der regierenden Tory-Partei hatten, waren sie in deren Führung nicht gut vertreten, deren Verbindungen eher zu den alteingesessenen Teilen des Großkapitals mit ihren engen Beziehungen zum Staatsapparat sowohl des Vereinigten Königreichs als auch der EU bestanden.

Die konservative ehemalige Premierministerin Theresa May, zuvor eine überzeugte Anhängerin eines Verbleibs in der EU, ging als Kompromissvorsitzende hervor. Sie war bereit, den Brexit zu akzeptieren, aber entschlossen, alles zu tun, um enge Verbindungen zu Brüssel aufrechtzuerhalten – eine Position, die später als „Brexit nur dem Namen nach“ verspottet wurde.

May hatte Glück, dass sie das Debakel ihrer eilig einberufenen Parlamentswahlen 2017 überlebte. Ihr knapper Sieg wurde durch die Aktionen des rechten Flügels der Labour-Partei errungen, von dem wir heute wissen, dass er absichtlich jede Möglichkeit sabotieren wollte, dass Jeremy Corbyn Premierminister wird. Mays eigener rechter Flügel jedoch, der ungeduldig auf die Vollendung der Loslösung von Brüssel wartete, während Trump noch im Amt war, machte ihre Position unhaltbar.

Mit Boris Johnson erhielten die Tories einen Vorsitzenden, der in gewisser Weise perfekt geeignet war. In der Öffentlichkeit war er voll des Getöses darüber, dass kein Abkommen besser sei als ein schlechtes Abkommen. In der Privatsphäre des Verhandlungsraums „brachte er den Brexit zustande“, indem er akzeptierte, dass Nordirland den EU-Zollbestimmungen unterworfen bleiben musste und es daher eine Grenze zwischen Großbritannien und ihm geben musste.

Johnsons Problem war, dass die klare Präferenz der Brexiteers für ein Verlassen der EU ohne Abkommen ein Rezept für eine wirtschaftliche Katastrophe war, insbesondere nach Trumps Niederlage. Die VertreterInnen des britischen Großkapitals haben ihm das zweifellos unmissverständlich klargemacht. Seine Lösung bestand darin, die Verhandlungen zu verschleppen, indem er öffentlich auf Bedingungen zu bestehen schien, die Brüssel unmöglich akzeptieren konnte, dieses Mal in Bezug auf Fischereirechte, und er so die Uhr bis zum letzten Moment herunterlaufen ließ. Dann hat er einfach ein Abkommen über die Fischerei abgeschlossen, das jederzeit im vergangenen Jahr hätte vereinbart werden können.

Frühe Zusammenfassungen des Freihandelsabkommens deuten darauf hin, dass es zwar keine Rolle mehr für den Europäischen Gerichtshof gibt, dass aber beide Seiten Zölle auf bestimmte Waren erheben können, wenn die andere Seite versucht, die Kosten zu unterbieten, indem sie z. B. Umweltschutzregeln oder Arbeitsrechte ändert.

Premierminister Johnson mag sich rühmen, dass er den Brexit „hinbekommen“ hat, aber die Realität ist, dass es ein ständiges Feilschen über die Details nicht nur des Handels, sondern auch der Produktion geben wird, zum Beispiel über die Verwendung von Komponenten aus dem Ausland in vermeintlich britischen Waren. Solche Reibereien werden zweifelsohne von der Daily Mail und dem Rest der Regenbogenpresse genutzt, um den Rassismus weiter zu schüren und „Europa“ für jeden Rückschlag verantwortlich zu machen.

Da eine beschleunigte „Deregulierung“ das Hauptziel der Brexiteers war, mag die Übereinkunft für sie wie ein Pyrrhussieg erscheinen. Sicherlich ist die Niederlage von Trump ein Schlag für ihre Pläne. Das gilt auch für den Handelskrieg zwischen den USA und China. Beide waren als HandelspartnerInnen angepriesen worden, die die EU ersetzen könnten, und versprachen eine „goldene Zukunft“ für ein „unabhängiges“ Großbritannien, was sich als eine weitere Fata Morgana von Johnson entpuppte. Auch die Handelsabkommen, die Liz Truss, Ministerin für internationalen Handel, mit anderen Ländern vereinbart hat, das letzte mit der Türkei, tun nichts anderes, als die Bedingungen beizubehalten, die Großbritannien bereits innerhalb der EU hatte.

Was die verarbeitende Industrie und den Export von Gütern betrifft, wird der Brexit also wahrscheinlich einen weiteren Rückgang bedeuten. Großbritannien ist jedoch keine große produzierende Wirtschaft; Finanz- und professionelle Dienstleistungen überwiegen bei weitem die Produktion, aber ein Großteil dieser Sektoren wird von Johnsons Deal nicht erfasst. Im Gegenteil, die EU hat gesagt, dass sie über den Zugang Großbritanniens zum Finanzhandel erst nach dem Ende der „Übergangszeit“ entscheiden wird.

Es bleibt also abzuwarten, ob die City of London ihre Position als globales Finanzzentrum halten kann, aber innerhalb Großbritanniens wird sie zweifellos weiterhin die fortgesetzte Privatisierung von Staatsvermögen und die Rückzahlung der riesigen Kredite fordern, die der Regierung während der Pandemiekrise gewährt wurden.

Spirale nach unten

Sicher ist auch, dass in einer Welt zunehmender innerimperialistischer Rivalität die Bedingungen des Abkommens keinen dauerhaften Schutz für ArbeiterInnenrechte und Arbeitsplätze bieten werden, und zwar auf beiden Seiten des Kanals. Es wurde viel über die „Gleichgewichts“-Klauseln der Übereinkunft gesprochen, die angeblich einen Schutz davor bieten sollen, dass britische Bosse die Standards senken, um europäische KonkurrentInnen zu unterbieten. Allerdings können Klagen gegen solche Änderungen erst nach deren Einführung eingereicht werden. Das bedeutet, dass sie in Kraft sein können, während sich die „Verhandlungen“ hinziehen.

Es gibt nichts, was die UnternehmerInnen in der EU daran hindern könnte, die „Gleichwertigkeit“ aufrechtzuerhalten, indem sie selbst ähnliche Änderungen einführen, was einen Wettlauf nach unten in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit, Umweltschutz, Arbeitsbedingungen und Bezahlung auslösen würde. Hier wird der schädlichste Aspekt der gesamten Brexit-Strategie deutlich: die Schaffung von Barrieren für vereinte Aktionen der ArbeiterInnenklasse über Grenzen hinweg.

Das ist der wesentliche Grund, warum die Labour-Partei gegen den Deal stimmen sollte. Als sie im Referendum gegen den Austritt war, hat sie zu Recht gesagt, dass der Brexit die falsche Strategie ist. Die Partei hätte weiterhin erklären sollen, warum das während des anschließenden Kampfes unter den Tories und bei der Wahl 2017 der Fall war. Stattdessen akzeptierten sowohl Jeremy Corbyn als auch jetzt Keir Starmer das Ergebnis und behaupteten, sie könnten eine Version aushandeln, die die Interessen der ArbeiterInnen schützen würde.

Nach dem Brexit, wenn die InvestorInnen und Finanziers aller Länder auf mehr Privatisierungen und mehr Einsparungen bestehen, müssen SozialistInnen für eine vereinte Aktion der ArbeiterInnenklasse kämpfen, um das zu verteidigen, was von den vergangenen Errungenschaften übrig geblieben ist. Das erfordert den Aufbau von Verbindungen, die sich über ganz Europa erstrecken; Basisorganisationen in Gewerkschaften, Verbundausschüsse in multinationalen Konzernen und politische Parteien, die jeden rückwärtsgewandten Nationalismus ablehnen und sich für eine internationalistische Lösung der europäischen Krisen einsetzen, die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.




Indien: Marsch der Bauern und Bäuerinnen entfacht neue Massenbewegung gegen Modi

Imran Javlad, Infomail 1132, 22. Dezember

Hunderttausende von Bauern und Bäuerinnen aus ganz Indien starteten am 25. November auf Initiative des allindischen Sangharsh-Kisan-Koordinationskomitees, das aus 300 bäuerlichen Organisationen besteht, den Delhi-Chalo-(Lasst uns nach Delhi gehen)-Marsch. Der Marsch wurde von LandarbeiterInnen, TransportarbeiterInnen und wichtigen Sektoren der ArbeiterInnenklasse unterstützt.

Hunderttausende haben sich ihm angeschlossen, mit dem Ziel, Delhi zu einer Massenkundgebung zu erreichen und die Aufhebung der neuen Gesetze zu fordern, die Kleinbauern und -bäuerinnen, LandarbeiterInnen und die Masse der Landbevölkerung zugunsten der GroßkapitalistInnen weiter verarmen lassen werden. Polizei und paramilitärische Kräfte griffen die DemonstrantInnen wiederholt mit Schlagstöcken, Tränengas und Wasserwerfern an und verletzten mehrere von ihnen.

Dies hat ihre Entschlossenheit nicht gebrochen. Zwischen dem 28. November und dem 3. Dezember blockierten schätzungsweise 150 bis 300 Tausend Bauern und Bäuerinnen Delhi im Rahmen des Delhi Chalo. Sie riefen für den 8. Dezember zu einem Stillstand in Indien auf. Elf Oppositionsparteien, darunter die Kongresspartei und die Kommunistische Partei, schlossen sich diesem Aufruf an.

Der bäuerliche Streik wird von ArbeiterInnenorganisationen, Studierenden und Frauen aus dem ganzen Land unterstützt, und es wurden Proteste in Solidarität mit dem Sitzstreik der Landbevölkerung organisiert. Bei vielen Gelegenheiten wurde die Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, mit Slogans für Freiheit und Revolution den Kampf fortzusetzen, bis die Forderungen angenommen sind. Auch TransportarbeiterInnen haben sich dem Sitzstreik angeschlossen, so dass weitere Straßen in Richtung Delhi gesperrt werden.

Die Modi-Regierung hat nicht nur versagt, diesen Marsch zu stoppen, sondern ihre gesamte Verteilungs- und Regierungspolitik ist gescheitert und entlarvt worden. Die Gespräche von Landwirtschaftsminister Narendra Singh Tomar mit den Bauern/Bäuerinnen waren bisher erfolglos, trotz der ständigen Regierungspropaganda in den Medien, die behauptet, die neuen Gesetze würden die Entwicklung und das Wohlergehen der Gesellschaft fördern.

Ziele

Der Delhi-Chalo-Marsch und der Sitzstreik der Bauern und Bäuerinnen richten sich gegen die Einführung neoliberaler Gesetze durch die indische Regierung im Namen von Reformen, die sie der Gnade der Agrar- und FinanzkapitalistInnen ausliefern werden. Die Bauern und Bäuerinnen fordern die Abschaffung von drei umstrittenen Gesetzesvorlagen, die den Mindeststützungspreis abschaffen würden. Dieser Preis, der von der Regierung festgelegt wird, sichert einen Mindestpreis für die heimischen Agrarprodukte. Nach dem neuen Gesetz wird der Verkauf und die Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten den Marktkräften unterliegen und den Preisen, die das Privatkapital und der Unternehmenssektor zu zahlen bereit sind. Dies wird wahrscheinlich zu einem wirtschaftlichen Massaker an kleinen LandwirtInnen durch Horten von Produktion und andere Mittel führen.

In ähnlicher Weise fordern die Bauern und Bäuerinnen die Rücknahme der Änderungen des Gesetzes über die Stromversorgung. Diese sollen die Versorgung der Bauern mit kostenlosem Strom stoppen. Die dritte Forderung der LandwirtInnen ist die Aufhebung der Gesetzgebung, die eine Strafe von fünf Jahren Gefängnis oder eine Geldstrafe von 10 Millionen Rupien für diejenigen vorsieht, die ihre Felder flämmen.

LandwirtInnen in Pandschab (Punjab), Haryana, Rajasthan, Uttar Pradesh und anderen Bundessstaaten wehren sich seit Monaten gegen die Gesetze. Neben den Streiks in Pandschab dagegen wurde auch der Bahnverkehr im Rahmen der Bahnstopp-Strategie ausgesetzt.

Obwohl die bauernfeindlichen Gesetze vorgeblich im Namen der Abschaffung der feudaler Verhältnisse eingeführt werden, stärken sie in Wirklichkeit die Rolle der Großkonzerne, die in der Lage sein werden, die Preise zu manipulieren, indem sie Vorräte anlegen und Lieferungen zwischen verschiedenen Bundesstaaten transferieren. Sie haben GroßkapitalistInnen wie Mukesh Ambani, Besitzer des Petrochemieriesen Reliance Industries, und Gautam Adani, Chef der Adani-Gruppe, die die Regierungspartei BJP finanziert haben, die Möglichkeit gegeben, von diesen Reformen in der Landwirtschaft zu profitieren. Diese Umstrukturierungen haben bereits zu steigenden Lebensmittelpreisen für die ArbeiterInnen geführt und die Notlage der Armen verschlimmert, die ohnehin schon den größten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben.

Inflation

Der VerbraucherInnenpreisindex für Lebensmittel stieg im Oktober um 11,07 Prozent, während die Einzelhandelsinflation mit 7,61 Prozent den höchsten Stand der letzten sechs Jahre erreichte. Beides verdeutlicht die steigende Belastung für LandwirtInnen und ArbeiterInnen im ganzen Land. Gleichzeitig bot dies den großen KapitaleignerInnen und HändlerInnen die Möglichkeit, künstliche Engpässe auf dem Markt zu schaffen, was die Lebensmittelpreise und damit ihre Gewinnspannen vervielfachte. Da die Modi-Regierung das öffentliche Verteilungssystem zerstört hat, um die Menschen daran zu hindern, Getreidenahrungsmittel zu vergünstigten Preisen zu kaufen, ist die Mehrheit der Bevölkerung auf den offenen Markt für Getreide und Gemüse angewiesen.

All dies muss vor dem Hintergrund einer dramatischen Rezession in Indien gesehen werden. Im ersten Quartal des Finanzjahres (April – Juni) sank das Bruttoinlandsprodukt um 23,9 Prozent. Am 27. November veröffentlichte das Nationale Statistikamt seinen BIP-Bericht für das zweite Vierteljahr des laufenden Fiskaljahres (Juli – September), der einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 7,5 Prozent ausweist. Dies ist eine Schrumpfung von historischem Ausmaß. Damit hat sich gleichzeitig die soziale Spaltung der Gesellschaft verschärft. Es gibt einen starken Anstieg von Armut und Arbeitslosigkeit auf der einen Seite und auf der anderen Seite enorme Investitionen. Laut Internationalem Währungsfonds sind die Profite Indiens aufgrund von Regierungspaketen und einer arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Politik gestiegen.

Der eintägige Generalstreik am 26. November, der nach Angaben der Gewerkschaften eine historische Zahl von 250 Millionen ArbeiterInnen, Bauern, Bäuerinnen und Armen zusammenbrachte, und der Delhi-Chalo-Marsch haben die Wut der ArbeiterInnenklasse und die Einheit der Kleinbauern und -bäuerinnen, ArbeiterInnen und StudentInnen gezeigt. Der indische Streik vom 8. Dezember reichte jedoch nicht aus, um die Forderungen der ArbeiterInnen und kleinen LandwirtInnen durchzusetzen. Die Verhandlungen am 9. Dezember brachten keine Ergebnisse, und die Massenprotestwelle setzt sich mit weiteren Sitzstreiks und Straßenblockaden fort, an denen sich Hunderttausende, wenn nicht Millionen, bis zum 14. Dezember beteiligten.

Die beeindruckenden Streiks der ArbeiterInnenklasse in Indien in den letzten Jahren sind auch ein deutlicher Beweis dafür, dass die Krise und Massenmobilisierungen die Modi-Regierung und ihre kapitalistische Agenda erschüttern können. Privatisierungen, arbeiterInnen- und bauernfeindliche Gesetze, die Steigerung der Profite und die Senkung der Löhne, Aufweichung des gesetzlichen Schutzes und Einschränkungen der Bedingungen der ArbeiterInnenklasse sind allesamt Teil eines größeren kapitalistischen Angriffs.

Regierung

Der Generalstreik vom 26. November sowie die wachsende Bewegung von LandwirtInnen, KleinerzeugerInnen und LandarbeiterInnen und die Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und bäuerlichen Organisationen deuten auf die Entwicklung einer Kraft hin, die nicht nur ihre Gesetze, sondern auch die hindu-chauvinistische Modi-Regierung und ihre Agenda aus den Angeln heben könnte.

Um eine solche Bewegung zustande zu bringen, müssen die Gewerkschaften über eintägige Streiks und Solidaritätsbekundungen mit den Bauern und Bäuerinnen hinausgehen. Es bedarf eines permanenten Widerstands gegen die arbeiterInnen- und bauernfeindlichen Gesetze und unbefristeter Streiks in Städten und Dörfern für Mindestlöhne und -gehälter sowie eines Massenaufstands der Bauern und Bäuerinnen gegen das Agrarkapital.

Gewerkschaften und bäuerliche Organisationen kämpfen mit Mut gegen Modis Angriffswelle. Sie sollten zur Bildung von Kampfkomitees am Arbeitsplatz, auf Bezirksebene, in der Nachbarschaft und in den Dörfern aufrufen, die ArbeiterInnen, kleine und mittlere LandwirtInnen und landlose Bauern und Bäuerinnen einschließen. Sie müssen sich zugleich gegen jede Diskriminierung auf Grundlage von Religion, Nationalität, Kaste und Geschlecht wenden. Es müssen Selbstverteidigungseinheiten gebildet werden, um die Bewegung gegen staatliche Repression und Angriffe reaktionärer Hindu-ExtremistInnen zu verteidigen.

Ein politischer Generalstreik und ein bäuerlicher Aufstand, die das Land dauerhaft lähmen, würden unweigerlich die Machtfrage aufwerfen und damit die Möglichkeit und Notwendigkeit entstehen lassen, von einem defensiven Kampf zu einem offensiven überzugehen. Das erfordert allerdings, über den gewerkschaftlichen Kampf hinauszugehen.

Die Verbindung dieses Kampfes mit dem Widerstand gegen alle Formen der Unterdrückung, der Gegenwehr gegen die BJP-Regierung mit dem Kampf gegen den Kapitalismus weist auf die Notwendigkeit einer revolutionären politischen Partei der ArbeiterInnenklasse hin, deren Programm auf Übergangsforderungen beruht. Eine solche Partei wird in der Lage sein, die Landbevölkerung zu gewinnen, wenn sie die Forderungen der Bauern und Bäuerinnen aufgreift und für die Kontrolle des Landes durch diejenigen kämpft, die es bearbeiten, die Bauern, Bäuerinnen und die LandarbeiterInnen. Ein solcher gemeinsamer Kampf würde den Weg für eine permanente Revolution in Indien öffnen, die in dem Ringen um eine ArbeiterInnen- und BäuerInnen-Regierung gipfelt, die die Herrschaft der Räte errichtet, das ausländische und indische Großkapital enteignet und eine demokratische Planwirtschaft einführt. Nur das würde es ermöglichen, den Austausch zwischen Stadt und Land zum Nutzen sowohl der bäuerlichen wie auch der städtischen Bevölkerung zu organisieren.

Zurzeit gibt es in Indien keine politische Kraft, die ein solches Programm auf nationaler Ebene vertritt. Die Kongresspartei ist, obwohl sie momentan behauptet, die Bauern, Bäuerinnen und Gewerkschaften zu unterstützen, selbst eine kapitalistische Partei, die viele der neoliberalen Angriffe, die Premierminister Modi derzeit versucht, zu ihrem logischen Ende zu bringen, begonnen hat. Die kommunistischen Parteien, die aus der stalinistischen stammen, haben in der Tat den Kampf für die revolutionäre Abschaffung des Kapitalismus schon lange aufgegeben, und auch die radikale Linke ist verwirrt und zersplittert. Wir müssen die Notwendigkeit einer Partei in den Mittelpunkt des Kampfes stellen, die eine revolutionäre Regierungslösung für die aktuelle politische Krise präsentieren kann.




Kommunalwahlen in Brasilien: Bolsonaro verliert, Linke gewinnt in Städten

Liga Socialista, Infomail 1130, 11. Dezember 2020

Die Bedeutung des zweiten und letzten Wahlgangs der brasilianischen Kommunalwahlen am 29. November liegt nicht so sehr in der genauen Zahl der abgegebenen Stimmen, sondern vielmehr in dem, was sie uns über die politische Lage des Landes vier Jahre nach dem Staatsstreich, durch den Präsidentin Rousseff von der ArbeiterInnenpartei PT abgesetzt wurde, und zwei Jahre nach der Wahl von Jair Bolsonaro zum Präsidenten aussagen.

Seit dem Putsch

Der Putsch von 2016, der einige Jahre vor der Amtsenthebung von Dilma Rousseff vorbereitet wurde, sollte nicht nur die PT aus der Regierung herausnehmen, sondern auch die Macht an die offen bürgerlichen Kräfte zurückgeben. Obwohl die PT-Regierung eine Regierung der Klassenversöhnung darstellte, war ihre bloße Existenz sowohl für die nationale Bourgeoisie als auch für den US-Imperialismus beunruhigend. Was sie wollten, war eine Regierung, die die Rechte der ArbeiterInnen zurücknimmt und sicherstellt, dass es keine Einschränkungen für die Fähigkeit des Kapitals gibt, den Reichtum des Landes auszubeuten.

Dazu mussten sie die PT und ihren langjährigen Führer Lula, aber auch den Rest der brasilianischen Linken vernichten, damit sie keine Opposition hätten. Ein solcher Staatsstreich ist keine einzelne, momentane Aktion, sondern Teil eines kontinuierlichen Prozesses. Ein Erfolg des Putsches würde die Eliminierung der PT und die effektive Vernichtung der gesamten Linken bedeuten.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 sahen wir, dass die PT noch immer am Leben war und dass sie zwar den Kandidaten des Putschlagers, den faschistoiden Bolsonaro, nicht besiegen, aber die Wahl in eine zweite Runde zwingen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war die Schlüsselaktion des Staatsstreichs die illegale Verhaftung von Lula, dem wichtigsten populären Führer des Landes, und damit die Verhinderung seiner Kandidatur. Sie taten dies, um den Wahlsieg der Rechten zu garantieren.

Es war ein Sieg des Hasses. Bolsonaro und seine AnhängerInnen und UnterstützerInnen ritten auf der Welle und wählten sich selbst im ganzen Land. Die etablierten Rechtsparteien, die brasilianische sozialdemokratische Partei PSDB, die eigentlich die Hauptpartei der Industriebourgeoisie ist, die Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung MDB, die auf dem Agrobusiness im ganzen Land basiert, und die DemokratInnen, die DEM, die Nachfolgerin der offiziellen Partei unter der Militärregierung, verloren die Kontrolle über den Putsch und wurden von der extremen Rechten besiegt, so dass sie gezwungen waren, Bolsonaro in der zweiten Runde zu unterstützen.

Hätte der Putsch den beabsichtigten Weg eingeschlagen, wäre heute die Linke zerstört worden, ganz ohne Kräfte für den Kampf. Darüber hinaus würden die PSDB und die MDB die politische Szene dominieren und ihren Einfluss auf die mittleren und großen Gemeinden verstärken. Doch dies war nicht der Fall.

Die Kommunalwahlen

Der große Verlierer dieser Wahlen war zweifelsohne Bolsonaro, dessen Versuch, eine eigene Partei aufzubauen, völlig scheiterte. Nur 13 BürgermeisterkandidatInnen akzeptierten seine ausdrückliche Unterstützung, und von diesen waren nur zwei erfolgreich. Die Höhepunkte dieser Niederlage waren die Siege von Crivella (Republikaner) in Rio de Janeiro und Hauptmann Wagner (PROS – Republikanische Partei der sozialen Ordnung) in Fortaleza.

Er war nicht der einzige Verlierer, denn auch die traditionellen Parteien der Rechten, die MDB und PSDB, konnten keine wirklichen Gewinne erzielen. Diese Parteien förderten den Putsch von 2016 in der Erwartung, die Macht zu übernehmen, aber sie wurden bei den Wahlen von 2018 geschlagen. Ihre Kandidatur für das Präsidentschaftsamt kam nicht zum Erfolg, und sie verloren schließlich an Boden in den Landesregierungen und im Parlament.

Seitdem konnten sie sich nicht etablieren und sind den so genannten „Zentrumsparteien“ unterlegen, die keine klaren Programme haben, sondern auf der Grundlage von lokalen Geschäften, Klientelismus, Ausbeutung öffentlicher Ämter und Vetternwirtschaft florieren. Dies ist der Sektor, der seit dem Putsch am stärksten gewachsen ist. Ihr Wachstum begann unter Bolsonaro, hat sich aber unabhängig von ihm fortgesetzt.

Nach dem Putsch verloren die PT und die Linke im Allgemeinen die Kontrolle über viele Gemeinden, aber sie wurden durch den Staatsstreich nicht völlig zerschlagen. Im Gegenteil, diese Wahlen zeigen, dass sie in großen und mittelgroßen Städten allmählich wieder an Boden gewinnen. Der Putsch, die Anti-PT und die Verbreitung rechter Ideen haben es nicht geschafft, die Linke zu besiegen.

Wir können jedoch nicht sagen, dass der Bolsonarismus besiegt ist. Bolsonaro geht zweifellos geschwächt aus diesen Wahlen hervor, aber die rechtsextreme Bewegung, die sich mit ihm erhoben hat, ist immer noch da. Die anhaltende Stärke der kleinen Parteien der Mitte bedeutet, dass sich Brasilien in einer Art politischem Patt befindet, und das kann nicht ewig so weitergehen.

Die linke Kampagne

In Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern trat der linke Flügel in der zweiten Runde zur Eroberung von 18 Rathäusern an und gewann 5. Vergleicht man dies mit den Wahlen von 2016, bei denen die PT in 7 antrat und nur eine gewann, war dies ein Durchbruch.

Darüber hinaus erhielt der Hauptkandidat der Linken in São Paulo Guilherme Boulos von der Partei des Sozialismus und der Freiheit, PSOL, 40,62 Prozent, über 2 Millionen der Stimmen. In den entsprechenden Wahlen von 2008, 2012 und 2016 erhielt die Partei insgesamt 289.000 Stimmen. Diese Zahlen zeigen, dass die PSOL zwar nicht das Rathaus, aber einen großen Sieg in São Paulo errungen hat. Außer in São Paulo gewann die PSOL auch in Pará, wodurch Edmilson zum Bürgermeister der Stadt Belém gewählt wurde.

Der große Fehler der PT und der Linken war, mit wenigen seltenen Ausnahmen, dass sie keine Kampagne zu nationalen Themen führten. Es versäumt zu haben, die ernste Situation, in der wir leben, anzuprangern, ist eine selbst auferlegte Niederlage für die Linke, die die Gelegenheit der Kommunalwahlen nicht genutzt hat, um die ArbeiterInnen um die KandidatInnen und ihre FührerInnen zu mobilisieren.

Sie zeigt auch die Wurzel der politischen und Identitätskrise der Linken. Diese Kampagne hätte den Putsch, die Bolsonaro-Regierung und die Angriffe auf die ArbeiterInnenrechte anprangern, die Rücknahme der Arbeits- und sozialen Sicherheits„reformen“, die Wiederverstaatlichung des Energiekonzerns Petrobras und der Ölquellen sowie die Annullierung aller Klagen gegen Lula und die linken FührerInnen fordern sollen. Es hätte eine Kampagne sein sollen, um die Militanz zu mobilisieren und die Klasse auf künftige Kämpfe vorzubereiten.

Schließlich wissen wir sehr gut, wofür die bürgerlichen Wahlen dastehen und wem sie  dienen. Unter keinen Umständen glauben wir, dass sie die vom Kapitalismus auferlegten Probleme lösen können. Wir stehen vor einer politischen Krise der brasilianischen Linken, und um eine Lösung zu finden, müssen wir über die gegenwärtigen linken Parteien hinausgehen. Die Illusion, dass bei den Wahlen 2022 durch die Wahl einer fortschrittlichen Regierung auf der Grundlage eines breiten Bündnisses alles gelöst wird, um Bolsonaro zu besiegen, dient nur dazu, die ArbeiterInnenklasse zu demobilisieren.

Für uns besteht der wirkliche Weg nach vorn darin, die ArbeiterInnenklasse und die sozialen Bewegungen zu mobilisieren und eine revolutionäre Partei aufzubauen, mit einem Programm, das der Agenda der unmittelbaren und Übergangsforderungen der ArbeiterInnenklasse entspricht und den Weg zum Sturz des Kapitalismus öffnet.

Bürgerliche Wahlen werden den Forderungen der ArbeiterInnenklasse nicht gerecht, aber sie können und müssen eine Gelegenheit sein, die Debatte mit den ArbeiterInnen zu eröffnen, um den wirklichen Ausweg aufzubauen und dafür zu mobilisieren. Nur mit einem revolutionären Programm wird es uns gelingen, den bürgerlichen Staat zu zerstören und auf seinen Trümmern einen sozialistischen Staat unter dem Kommando der ArbeiterInnen aufzubauen.




MetallerInnen demonstrieren gegen Schließung des Daimler-Werks in Berlin

Martin Suchanek, Infomail 1129, 10. Dezember 2020

2.500 Arbeiterinnen und Arbeitern droht das Aus. So viele arbeiten – noch – am Berliner Daimler-Standort Marienfelde, viele seit ihrer Ausbildung. Nun steht er auf der Kippe und droht dem globalen Spar- und Rationalisierungskurs der KonzernchefInnen zum Opfer zu fallen. Auch wenn es keinen formellen finalen Schließungsbeschluss gibt, zeichnet sich das Ende der Produktion ab. In Verbrennungsmotoren, deren Komponenten bislang in Berlin gefertigt wurden, soll nicht weiter investiert werden. Von einer Umstellung der Produktion ist bislang nichts bekannt.

So stellt auch der Ruf nach Informationen eine der unmittelbaren Forderungen der Beschäftigten, der Betriebsräte, Vertrauensleute und der IG Metall dar.

Demonstration und Betriebsversammlung

Wie an vielen anderen Daimler-Standorten rief die Gewerkschaft, die noch im Juli dem letzten Sparprogramm zugestimmt hatte, um betriebsbedingte Kündigungen bis 2030 in Deutschland zu verhindern, zu Demonstrationen und Betriebsversammlungen auf.

Am heutigen 9. Dezember wenigstens stehen die Bänder in Berlin-Marienfelde endlich einmal still. Wie schon im November beteiligt sich ein großer Teil der Belegschaft, weit über 1.000 Menschen, an der Demonstration, die vom Werkstor durch den Stadtteil und zurück führt. Anschließend findet eine Online-Betriebsversammlung statt, von der Tausende wenigstens mehr Klarheit erhoffen.

Für die KollegInnen ist es nicht die erste und, wollen sie ihre Arbeitsplätze verteidigen, sicher auch nicht die letzte Aktion. Auf der Homepage der Berliner IG Metall gibt sich der Betriebsratsvorsitzende Michael Rahmel entschlossen: „Wir Daimler-Beschäftigte werden am Mittwoch nicht arbeiten. Wir nehmen uns diesen Tag, um dem Vorstand klar zu zeigen, dass wir uns von ihm nicht abwracken lassen.“

Die vergleichsweise radikale Rhetorik in der Pressemeldung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die IG Metall keine Kampfstrategie zur Verteidigung der Arbeitsplätze hat. Die Forderung nach einem Bekenntnis zur Zukunft des Standortes darf uns nicht weismachen, dass Gewerkschaftsapparat und Betriebsratsspitze durchaus bereit sind, über weitere „Opfer“ zu verhandeln, dem Konzern „entgegenzukommen“. So erklärt Jan Otto, der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Berlin, in derselben Meldung: „Wir erwarten auf der Betriebsversammlung eine klare Ansage des Vorstandes, dass er zumindest Teile des Stilllegungsbeschlusses zurücknimmt, wir mehr Zeit und die Zusage bekommen, dass hier nicht Teile dieses Werkes rasiert werden.“

Mit anderen Worten: Wenn sich der Konzern zum sozialpartnerschaftlichen Ausgleich bereit erklärt, sichern wir den Weihnachtsfrieden in der schönen Daimler-Welt. Schließlich wäre es nicht der erste „sozialverträgliche Umbau“, den Betriebsräte und IG Metall „mit“gestaltet hätten.

Damit, so erinnern die GewerkschaftsrednerInnen auf der Kundgebung die Bosse, wäre Daimler schließlich immer gut gefahren. Irene Schulz, Hauptrednerin auf der Zwischenkundgebung und Mitglied des IG-Metall-Vorstandes, verdeutlich dabei die Taktik der Bürokratie. Einerseits appelliert sie an die KollegInnen, lobt ihren Einsatz, ihre Arbeit und auch ihren Widerstandswillen. Der Konzern müsse wissen, dass er mit deren Kampfkraft zu rechnen hätte.

Andererseits erinnert sie den Konzern daran, dass die Gewerkschaft durchaus Verständnis für die schwere Lage „unseres“ Unternehmens hätte – ganz als würde Daimler irgendwie auch den Beschäftigten oder wenigstens der IG Metall gehören. Diese hätte sich jedenfalls für KurzarbeiterInnengeld und Milliardensubventionen eingesetzt, die Daimler wie der Autoindustrie zugutekamen. Da wäre es doch nur anständig, fair und gerecht, dass der Konzern auch den Standort erhalten würde.

Natürlich weiß auch Schulz, dass es um Fairness und Gerechtigkeit nicht geht, und macht bei dieser Gelegenheit den Standort auch noch schmackhaft. Hier könne die Transformation zur E-Mobilität praktisch und in eine „Brückentechnologie“ investiert werden: den ökologischen Verbrennungsmotor, unfreiwillig doppeldeutig auch als „Umweltverbrenner“ angepriesen. Doch all das Co-Management hilft nichts, schließlich hat Daimler schon ein Management und auch eine Konzernstrategie.

Co-Management schadet

Im Kampf gegen alle Entlassungen und die konzernweite, globale Offensive der Bosse schadet das Co-Management. Das lehrt nicht nur die Erfahrung und jede einigermaßen nüchterne Einschätzung des Kapitalismus.

An diesem Tag wird es regelrecht spürbar. Kampfstimmung will bei den Beschäftigten nicht aufkommen. Sorgen und Existenzangst sind allgegenwärtig, fast noch mehr aber Pessimismus und Perspektivlosigkeit. Die Masse der Demonstrierenden folgt der IG Metall, fühlt sich von „ihrem“ Konzern verlassen und hofft doch darauf, weiter arbeiten zu dürfen.

Jahre des sozialpartnerschaftlichen Kurses, ständig neue Produktivitätsabkommen, Benchmarks (interne Leistungsvergleiche) und stetiges Zurückweichen haben Spuren hinterlassen in Gestalt einer relativ privilegierten Stellung der Kernschichten beim industriellen Exportkapital. Diese arbeiterInnenaristokratischen Schichen bildeten und bilden den Kern der SozialpartnerInnenschaft. Ihre Arbeit prägt einerseits extreme Arbeitsproduktivität, -intensität und damit eine sehr hohe Ausbeutungsrate. Andererseits erhalten sie vergleichsweise hohe Löhne, Sonderzahlungen und Boni. Letztere werden 2020 mit 1000 Euro wohl mager ausfallen im Vergleich mit den Vorjahren – doch die Hoffnung auf ein „gutes“, partnerschaftliches Ende stirbt viel zu langsam.

Die klassenkämpferischen Teile der Belegschaft sind vielmehr ausgedünnt – nicht nur wegen der Verhältnisse in dieser Produktionssphäre, sondern auch weil Betriebsratsbürokratie und IG-Metall-Apparat als politische Polizei, als Ordnungsfaktor für das Kapital wirken – und zwar seit Jahrzehnten. So hoffen die meisten Beschäftigten nicht viel anders als IG Metall und Betriebsrat auf ein Weihnachtswunder der SozialpartnerInnenschaft.

Letztlich flehen diese Apparate das Kapital an, irgendwie die soziale Regulation des Kapitalismus in Deutschland auch über die gegenwärtige Krise retten zu können. Dabei besteht das Neue gerade darin, dass die SozialpartnerInnenschaft und die damit verbundene Stillhaltepolitik auch große Teile der ArbeiterInnenaristokratie, darunter Belegschaften wie bei Daimler-Marienfelde, nicht integrieren, sondern in die Arbeitslosigkeit oder Leitarbeit führen werden.

Globale Offensive

Daimler wie die gesamte Autoindustrie steht vor einer grundlegenden Umstrukturierung, bei der es nicht bloß, ja nicht einmal in erster Linie um die Veränderung der Produktpalette und neue Antriebssysteme geht. Es dreht sich vor allem darum, den Konzern für einen globalen Vernichtungswettkampf mit konkurrierenden Unternehmen fit zu machen. Daher wird gekürzt, Personal abgebaut – und zwar nicht nur, wenn die Wirtschaft strauchelt, sondern selbst wenn Milliardengewinne eingefahren werden.

Die drohende Schließung in Marienfelde stellt selbst einen Teil einer globalen „Sparoffensive“ dar, die einmal mehr auf Kosten der Belegschaften gehen soll, die seit Jahren von einer Produktivitätssteigerung, von einer „Benchmark“ zur anderen getrieben werden.

Erfüllt wurden diese Programme alle – ausgezahlt haben sie sich vor allem für den Weltkonzern. Trotz Umsatzeinbrüchen im Corona-Jahr wartete Daimler lt. FAZ im 3. Quartal mit einer Gewinnerwartung von 3,7 Milliarden Euro vor Steuern auf – mehr als im Vergleichsquartal 2019. Ende 2020 soll sich dieser Trend fortsetzen.

Am milliardenschweren Kürzungsprogramm, dem rund 30.000 Beschäftigte, darunter die Berliner KollegInnen zum Opfer fallen sollen, hält der Konzern fest – „sozialverträglich“, wenn möglich, weniger sozialverträglich, wenn nötig. Offenherzig, wie es sich gegenüber der LeserInnenschaft der FAZ gehört, erklärt die Konzernspitze auch, warum das so ist: „Nicht Wachstum um des Wachstums willen sei das Gebot der Stunde, so betonte Daimler-Vorstandsvorsitzender Ola Källenius in dieser Woche in einer Journalistenrunde, sondern profitables Wachstum.“

Die Corona-Pandemie hat das Unternehmen gut überstanden, insbesondere wegen der raschen Erholung des chinesischen Marktes und der gestiegenen Nachfrage nach luxuriösen Autos. Vor der E-Mobilität soll der Verbrenner die Aktienkurse befeuern. Damit diese weiter steigen und das Wachstum profitabel bleibt, wird zugleich das nächste Kürzungsprogramm durch den Konzern getrieben und der Ruf nach staatlicher Unterstützung bei der Transformation zur E-Mobilität laut.

Welche Politik?

Das Daimler-Management reagiert damit auf die veränderten und verschärften Bedingungen der globalen Konkurrenz. Die sozialpartnerschaftliche Ausrichtung der IG Metall und die Politik des Co-Managements erweisen sich in dieser Lage nicht nur als arbeiterInnenfeindlich. Diese angeblich realistische Politik entpuppt sich als reinster Utopismus, als Beschwörung eines Klassenkompromisses, dessen ökonomische Grundlagen längst der Vergangenheit angehören.

Eine solche Politik demoralisiert, desorientiert und entpolitisiert die Lohnabhängigen. Sie führt zum Rückzug und zur Niederlage. Während die Apparate krampfhaft hoffen, die SozialpartnerInnenschaft und ihre Position als Mittler zwischen Lohnarbeit und Kapital zu halten, sollen die ArbeiterInnen auch noch die Folgen dieser Politik ausbaden.

In dieser Situation wird der Bruch mit der SozialpartnerInnenschaft, mit Co-Management und sozialdemokratischer Unterordnung zur Notwendigkeit, wenn Schließungen, Entlassungen, Flexibilisierung, Kürzung auf dem Rücken der Beschäftigten gestoppt und verhindert werden sollen. Ein solcher Schritt erfordert freilich auch den Bruch mit der Politik der Klassenzusammenarbeit und mit der ArbeiterInnenbürokratie in den Gewerkschaften und Großkonzernen, die diese verkörpert. Dafür ist der Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung nötig, um für eine Erneuerung der Gewerkschaften zu sorgen.

Dies mag vielen in weiter Ferne erscheinen – unrealistisch angesichts des Kräfteverhältnisses und vorherrschenden Bewusstseins der Klasse. Allein, der Schritt ist letztlich alternativlos. Wer eine klassenkämpferische Politik vertritt, kann sicherlich auch verlieren. Wer selbst den Kampf für diese ablehnt oder hinausschieben will, hat jedoch schon verloren.

Flugblatt der Gruppe ArbeiterInnenmacht zur Demonstration und zur Aktionswoche gegen drohende Schließungen und Entlassungen bei Daimler: Gegen alle Entlassungen und Schließungen! Stoppt die Angriffe!



USA: Was können wir von „Bidenomics“ erwarten?

Marcus Otono, Infomail 1129, 8. Dezember 2020

Es ist verlockend, einen Blick auf die 50-jährige Karriere des designierten Präsidenten der USA, Joseph Robinette Biden, Jr., in der Politik zu werfen. 48 Jahre agierte er bisher auf nationaler Ebene im Senat und als Vizepräsident. Diese langjährige Bilanz kann uns bei einer aktuellen Einschätzung seiner Wirtschaftspolitik helfen. Und es wäre richtig, wenn man versuchen würde zu beurteilen, wo seine politische und wirtschaftliche Ausrichtung liegt. Wenn uns das Jahr 2020 jedoch irgendetwas gezeigt hat, dann, dass eine rein historische Bewertung, sei es von Parteien oder PolitikerInnen, unter den erdrückenden Bedingungen der anhaltenden und mehrfachen Krisen der Nation nicht ausreicht.

Wie jemand unter den Bedingungen kapitalistischer Stabilität regieren und reagieren wird, im Vergleich z. B. mit der Zeit vor der Großen Rezession von 2008, gilt vielleicht nicht unter dem dreifachen Schlag von COVID-19, einem schweren wirtschaftlichen Abschwung im Zusammenhang mit der Pandemie und einer scharfen Krise der sozialen Gerechtigkeit, die durch den Polizeiterror gegen Minderheiten, insbesondere Schwarze, ausgelöst wurde.

Es ist auch nützlich, sich daran zu erinnern, dass vor der Reihe tiefer wirtschaftlicher Krisen in den 1970er Jahren, die den langen Boom beendeten, als der Neokeynesianismus die vorherrschende Wirtschaftsideologie war, die Vorväter des Neoliberalismus, Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek, als ideologische Außenseiter, wenn nicht gar als Sonderlinge angesehen wurden. Nach der „neoliberalen Revolution“ von Reagan-Thatcher waren es die KeynesianerInnen, die wie die Dinosaurier behandelt wurden. Dies sollte uns daran erinnern, dass tiefe kapitalistische Krisen, in denen alte Methoden einfach nicht funktionieren, zu einem umfassenden Umdenken der IdeologInnen führen, und nicht umgekehrt.

Neoliberalismus

Unter den DemokratInnen war Biden ein früher bekehrter Anhänger des Neoliberalismus. Er wurde ein starker Befürworter ausgeglichener Haushalte und unterstützte Steuersenkungen, die die Sozialausgaben einschränkten. Diese endeten in der Ära, die von Roosevelts New Deal bis zu Johnsons Großer Gesellschaft dauerte. Biden stimmte zusammen mit 36 DemokratInnen für den ersten Haushalt von Ronald Reagan. Wie ein kürzlich erschienenes Buch über Biden zeigt, hatte dies schlimme Folgen für die Menschen, die die Demokratische Partei wählten.

„Die Kürzungen haben unzählige Menschenleben ins Chaos gestürzt: 270.000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst verloren ihren Arbeitsplatz, mehr als 400.000 Familien wurden von der Sozialhilfeliste gestrichen und mehr als 1 Million Beschäftigte hatten keinen Anspruch auf erweiterte Arbeitslosenunterstützung.“ (Baranko Marcetik, Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden, Verso, New York 2020, S. 49)

Es ist also keine Übertreibung zu behaupten, dass Biden ein entschiedener Anhänger des kapitalistischen Systems und der MilliardärInnenelite ist, die dieses System kontrolliert. Es ist auch nicht falsch zu behaupten, dass Biden kein Problem damit hat, die Ziele des US-Imperialismus in der Welt mit offener und verdeckter militärischer Macht zu unterstützen, was ihn, politisch gesehen, in den USA zu einem Neokonservativen machen würde.

„Ich habe dafür gestimmt, in den Irak zu gehen, und ich würde dafür stimmen, es wieder zu tun“, sagte Biden im August 2003. Er unterstützte auch den Krieg gegen Afghanistan und trat auch für die Invasion Großbritanniens auf den Malvinas ein. (In: Baranko Marcetik, Joe Biden the hawk, Jacobin Magazine, 08.02.2018)

Alle diese Beobachtungen über Joe Biden sind wahr, aber daraus zu schließen, dass sie die Wirtschaftspolitik unter einer Biden-Präsidentschaft kurz- bis mittelfristig, d. h. bei der Bekämpfung des COVID-19-Virus, der Rezession und während des Aufschwungs, bestimmen werden, wäre eine zu voreilige Schlussfolgerung.

Der Grund dafür, dass die politischen Instinkte von Präsident Biden in seinen ersten Jahren abgestumpft oder relativiert werden könnten, lässt sich auf eine Sache reduzieren. Wenn ein Land vor einer größeren Krise steht, ist die erste Pflicht des bürgerlichen Staates – unabhängig von der aktuellen Doktrin – die Rettung des Systems. Die USA taumeln durch eine von einer Pandemie angeheizte Rezession, die schlimmer ist als die, die uns 2008 getroffen hat. Das bedeutet, dass Biden wie ein Getriebener Ausgaben tätigen muss, um überhaupt eine Chance zu haben, das System zu retten, das am Rande des Abgrunds eines möglichen Zusammenbruchs steht.

Bidens politische Karriere hat indessen trotz aller Ideologien, denen er zeitweise anhängt, eines gezeigt: dass er ein politischer Pragmatiker ist. Pragmatisch gesprochen: Wenn Biden Erfolg haben will, darf er nicht an eine Agenda von Sparmaßnahmen und niedrigen Steuern gebunden sein, in der Hoffnung, dass sie fruchtbar wird, denn das war nie der Fall und wird es auch nicht sein.

Natürlich wird der Erfolg von Konjunkturprogrammen nicht allein von Biden und der Demokratischen Partei abhängen. Die Wahlergebnisse haben gezeigt, dass die RepublikanerInnen in keiner Weise aus dem Regierungsrahmen herausfallen. Sie scheinen tatsächlich Sitze im Repräsentantenhaus gewonnen zu haben, obwohl die DemokratInnen dort immer noch über eine knappe Mehrheit verfügen. Und Biden hat die Präsidentschaft gewonnen, obwohl der Wahlverlierer Trump noch nicht formell nachgegeben hat und mit unseriösen Klagen und regelrechten Raubaktionen versucht, die Ergebnisse zu kippen, und mit Verzögerungstaktiken kämpft. Trump wird wahrscheinlich keinen Erfolg haben, aber da er und die Republikanische Partei die Bundesgerichte mit ihrem Gefolge vollgepackt haben, können sie nicht völlig ausgezählt werden, bis das Wahlkollegium zusammenkommt und den Biden-Sieg offiziell macht.

Dann gibt es da noch den Senat, die antidemokratische Institution, die während ihrer gesamten Existenz ein Fluch für progressive Initiativen war. Seit mindestens 2010, als der republikanische Senator Mitch McConnell Mehrheitsführer dieser Kammer wurde, hat er es sich zur Aufgabe gemacht, jegliche Gesetzgebung oder Initiativen der Demokratischen Partei in der Exekutive oder Legislative zu behindern, selbst solche, die als „mitte-rechts“ gelten würden. McConnells Obstruktionspolitik diente nur dazu, „Siege“ der Legislative unter den DemokratInnen zu verhindern, und in dieser Eigenschaft kann von ihm erwartet werden, dass er alles einschränkt, was Biden vorbringt, nur weil Biden ein „D“ (Demokrat) hinter seinem Namen trägt.

Dann stellt sich also die Frage, ob die Republikanische Partei den Senat behalten wird. Diesem Ziel ist sie nach den Wahlen nahe. Sollten sie auch nur eine der Stichwahlen zum Senat in Georgia gewinnen, wird McConnell ein Vetorecht über Bidens Wirtschaftsinitiativen und sogar über die Auswahl seines Kabinetts haben. Mit einer Wende zu Gunsten der Demokratischen Partei bei den Wahlen in Georgia wird Biden jedoch eine effektive Mehrheit haben, eine Stimmengleichheit im Senat mit Vizepräsidentin Kamala Harris als ausschlaggebender Stimme.

Damit die Rechnung von McConnell aufgeht, darf freilich kein/e RepublikanerIn, die Disziplin zu brechen und mit der Demokratischen Partei abzustimmen. McConnell hat während seiner Jahre als Mehrheitsführer die republikanische Disziplin bemerkenswert gut eingehalten, aber es gab gelegentlich Ausreißer, vor allem Mitt Romney, Lisa Murkowski und Susan Collins. Mit republikanischen Siegen in Georgia wird McConnell zumindest die Gelegenheit haben, alles, was Biden zu tun versucht, zu bremsen und möglicherweise zu blockieren.

Besserer Neuaufbau

Was wird Präsident Biden zu tun versuchen, und wie stehen die Chancen, dass es ihm gelingen wird, das als Gesetz in Kraft zu setzen? Nun, es heißt „Build Back Better“ (Besserer Neuaufbau; BBB). Das Konzept basiert, grob gesagt, auf der Katastrophenhilfsstrategie der Vereinten Nationen, die 2015 in Sendai, Japan, für die Planung des Wiederaufbaus nach Naturkatastrophen entworfen wurde. Diese Strategie ist gewissermaßen das Gegenteil dessen, was von Naomi Klein als „Katastrophenkapitalismus“ betitelt wurde. Während der Katastrophenkapitalismus natürliche, politische und wirtschaftliche Schocks nutzte, um ein reines und unregulierte „Überleben des Stärkeren“ des Kapitalismus zu durchzusetzen, was als Neoliberalismus bekannt wurde, nutzt das BBB-Konzept die Wiederaufbaubemühungen nach Katastrophen, um auf eine zentralere Planung zu drängen, mit staatlicher Finanzierung, die eine Wirtschaft auf grünere, gerechtere und allgemein eher „linkspopulistische“ Weise wiederaufbaut. Kurz gesagt, bedeutet dies eher eine Rückkehr zur keynesianischen Wirtschaftspolitik, wie sie von den New-Deal-DemokratInnen in den USA und den sozialdemokratischen und Labour-Regierungen in Europa verfolgt wird. Hinzu kommen Elemente der Modern Money Theory (Moderne Geldtheorie; MMT). In Bidens ursprünglichen Vorschlägen ist die Rede davon, über einen Zeitraum von zehn Jahren mehr als 7 Billionen US-Dollar für die Modernisierung der Infrastruktur, „grüne“ Verkehrsinitiativen und andere Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels auszugeben, aber mit zusätzlichen Maßnahmen, um auch die interne Gewerbebasis des US-Kapitalismus wieder aufzubauen. Dies würde im Idealfall für gut bezahlte Arbeitsplätze innerhalb der USA sorgen.

Ironischerweise greift dieser Wiederaufbau der US-Produktionsbasis auch auf unheimliche Weise Donald Trumps Ideen über die Notwendigkeit deren Wiederaufbaus auf, auch wenn sich das „Wie“ dessen, der Protektionismus bis hin zu Handelskriegen, von Trump unterscheidet. Die Bezahlung für diese ehrgeizigen Programme würde durch eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Wohlhabenden erfolgen, zusammen mit einer gewissen geldpolitischen Lockerung im MMT-Stil durch die US-Notenbank und natürlich durch „Wachstum“. Das ist immer der Rückgriff auf einen buchhalterischen Trick im Kapitalismus, um Haushaltsdefizite zu verniedlichen. „Wachstum“ soll immer Defizite abdecken, auch wenn niemand weiß, ob es eintritt oder das auch tut.

Die Inspiration mag der Sendai-Plan sein, aber er leiht sich auch viel von Roosevelts ursprünglichem New Deal in seinem Bestreben, die wirtschaftliche Ungleichheit zu verringern und die Infrastruktur wieder aufzubauen, was mit Roosevelts Kriegsanstrengungen in den 1940er Jahren und mit Trumans Kaltem Krieg erst richtig in Gang kam. Diese Fakten sollten uns daran erinnern, dass die nationale Einheit zwischen den Parteien und mit der organisierten ArbeiterInnenklasse nur unter Kriegs- und Halbkriegsbedingungen möglich war. Und sie wurde durch den massiven Anstieg der Profitrate unterstützt, der durch die Zerstörung, Abnutzung und Erneuerung veralteten US-Kapitals verursacht wurde. Ohne dies hätten die Staatsausgaben allein nicht den langen Boom erzeugt. Als sie Ende der sechziger Jahre zurückging, vervielfachten sich die Krisen mit Stagnation und Inflation, und die Ära des New Deal und der Großen Gesellschaft endete. Der junge New Dealer Biden „reifte“ zu einem Fiskalkonservativen heran. Wird er sich nun wieder zu einem New Dealer zurückentwickeln?

Biden gab den Startschuss für diese Lobbyarbeit zum Wiederaufbau der US-Infrastruktur am Montag, den 16. November, durch ein Treffen mit UnternehmenschefInnen, darunter die Vorstandsvorsitzenden von GM, Microsoft, Target, Gap Inc. und den GewerkschaftsführerInnen, allen voran Richard Trumka von der AFL-CIO, aber auch mit den Vorsitzenden von AutomobilarbeiterInnen-, Dienstleistungs-, Nahrungsmittel- und HandelsarbeiterInnen sowie Staats- und Kommunalbedienstetengewerkschaften. Nach diesem Online-Treffen war er von den Aussichten auf eine Zusammenarbeit zwischen diesen beiden grundsätzlich konkurrierenden Interessengruppen positiv überrascht.

Die obersten GewerkschaftsbürokrateInnn werden sich freuen, im Weißen Haus willkommen geheißen und von Biden als LeiterInnen gewichtiger Institutionen anerkannt zu werden, aber die Ergebnisse für ihre Mitglieder dürften dürftig ausfallen. Die Gegenleistung wird darin bestehen, dass diese FührerInnen ihre Macht nutzen werden, um Biden das Regieren zu erleichtern und jeden wirklichen Kampf zurückzuhalten, wenn er darum geht, die Kosten der COVID-Pandemie und der Rezession auf die Massen abzuwälzen, die für ihn gestimmt haben.

COVID besiegen

Die Katastrophe, die den Versuch, das BBB in Kraft zu setzen, ausgelöst hat, ist die Coronavirus-Pandemie und die daraus resultierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Schocks, die sie hinterlassen hat. Die Bewältigung eines Winters mit zunehmenden COVID-19-Infektionen, Krankenhausaufenthalten und Todesfällen wird die erste Aufgabe von Joe Biden sein, wenn er im Januar 2021 sein Amt antritt.

Die wahlberechtigte Öffentlichkeit erwartet dies und insbesondere diejenigen, die die Demokratische Partei gewählt haben. Eine jüngste Umfrage von Morning Consult/Politico ergab, dass 69 % der Befragten forderten, die Kontrolle der Ausbreitung des COVID müsse die oberste Priorität der Biden-Regierung darstellen, wobei 66 % die wirtschaftliche Entlastung von der Pandemie und ihren Folgen und 64 % einen allgemeineren wirtschaftlichen Impuls forderten. Hier wird sich die Kontrolle durch den Senat als entscheidend für jeden neuen Wirtschaftsstimulus erweisen.

Aber sie werden auf Widerstand und Sabotage seitens der Mehrheit der RepublikanerInnen im Kongress und in den von ihnen regierten Staaten stoßen. Mitch McConnell hat bereits angedeutet, dass die Republikanische Partei ein weiteres Coronavirus-Konjunkturprogramm nicht für notwendig hält, da sie der Meinung ist, dass sich die Wirtschaft auf dem Weg zurück zur Gesundung befindet. Dies zeigt die Tatsache, dass das 2,2 Billionen Dollar schwere HEROES-Gesetz (Gesetz zu Erholung von Gesundheitswesen und Wirtschaft), das eine Folgemaßnahme zum CARES-Gesetz (Coronahilfs- und Wirtschaftssicherheitsgesetz) darstellt, vor sechs Monaten vom Repräsentantenhaus verabschiedet wurde, aber noch nicht einmal eine Anhörung im Senat erlebte, geschweige denn eine Abstimmung. Dies sagt uns, dass jedes neue Konjunkturpaket, das von einem republikanisch dominierten Senat gebilligt werden soll, wahrscheinlich weniger umfangreich sein wird als das bereits bestehende Paket des Kongresses.

Die UnterstützerInnen des Kapitals, sowohl bei der Demokratischen wie bei der Republikanischen Partei, haben immer die Entwicklung der Wohlhabenden in der Gesellschaft als Indikator für den Zustand der allgemeinen Wirtschaft betrachtet, und in Zeiten kapitalistischer Stabilität kann dies für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ein Zeichen der wirtschaftlichen Erholung sein. In Zeiten extremer wirtschaftlicher Krise, wenn der Populismus rechts und links aufsteigt, ist die Bourgeoisie jedoch auch gespalten. Die Sektion der besitzenden Klasse, die Biden vertritt, sieht die Notwendigkeit einer Ablenkung, die die steigende antikapitalistische Stimmung eindämmt, eine Stimmung, die mit Sicherheit wachsen wird, wenn nichts dagegen unternommen wird, dass während der Pandemie bereits die 11 Millionen Dauerarbeitsplätze verloren gegangen sind, und gegen die Möglichkeit einer massiven Räumungswelle, nachdem der Schutz der MieterInnen durch das CARES-Gesetz am Ende des Jahres ausläuft. Nichts entlarvt den Kapitalismus so sehr wie eine massive Zahl von arbeitslosen Lohnabhängigen und ihren Familien, die ohne Wohnung auf der Straße leben.

Da ist auch die Frage der Zulassung und Verteilung eines Impfstoffs gegen Coronavirus und COVID, wo nach dem klassischen Szenario „gute und schlechte Nachrichten“ verfahren wird. Die gute Nachricht ist natürlich, dass es nicht nur einen, sondern zwei verschiedene Impfstoffe gibt, die in Vorversuchen das Versprechen eines Schutzes gegen das Coronavirus mit einer 95 %igen Effizienzrate gezeigt haben. Die Vorstellung, dass das Ende dieses langen Albtraums von Todesfällen, Krankheiten und wirtschaftlichen Verwerfungen in Sicht ist, ist für die Gesellschaft als Ganzes ungeheuer ermutigend, aber der Prozess und die Infrastruktur für die Verteilung dieses Impfstoffs an die breite Öffentlichkeit ist entmutigend und erfordert eine monatelange Vorlaufzeit. Es ist auch eine Vorlaufzeit, die mit jedem Tag dringlicher, verkürzt wird, an dem Trump und seine UnterstützerInnen, zu denen die gesamte gewählte Republikanische Partei und die Mehrheit ihrer WählerInnen gehören, den Übergang zu einer Biden-Regierung hartnäckig hinausschieben.

Die Entscheidung, welcher Impfstoff verwendet werden soll, die Massenproduktion des gewählten Impfstoffs, die Festlegung der Prioritäten, wer die frühesten Impfungen erhält, die Nachverfolgung der Impfungen, falls mehr als eine erforderlich ist, die Kosten und, wer diese trägt, sowie eine Unzahl anderer Entscheidungen – all dies muss von demjenigen entschieden werden, der 2021 den Amtseid als Präsident ablegt. Angesichts der Tatsache, dass in den USA jeden Tag Tausende von Menschen am SARS-CoV-2-Virus sterben und jede Minute eine neue Infektion auftritt, dass die Krankenhäuser überfordert sind oder kurz davor stehen, überfordert zu werden, tötet jeder Tag der Verzögerung durch politische Spielerei Menschen.

„Bidenomics“ – die fortschrittlichste Wirtschaftspolitik seit dem New Deal?

Einige Medien, insbesondere Newsweek und Fox News, haben behauptet, dass eine Biden-Administration mit Build Back Better die fortschrittlichste Agenda seit Franklin Roosevelts New Deal während der Großen Depression aufgetischt hätte. Kein geringerer reformistischer Schlagzeilenlieferant als Bernie Sanders selbst schloss sich dieser Ansicht über die Politik Bidens an, nachdem die Empfehlungen der Arbeitsgruppe zur Einheit der Demokratischen Partei im Juli veröffentlicht worden waren.

Je nach verwendetem Taktmaß könnte es die erste Verbesserung nach den 40 Jahren Wirtschaftspolitik markieren, die unter Reagan eingeführt und unter Bill Clinton als „Washingtoner Konsens“ gefestigt wurde. Sie reicht jedoch bei weitem nicht an das heran, worauf die „demokratischen SozialistInnen“ wie Sanders und Alexandra Ocasio-Cortez gedrängt haben. Es gibt keine Betragszahlung für alle für Medicare for All (Gesundheitsversorgung für alle), aber es gibt einen Einstiegsplan, der als „öffentliche Option“ bezeichnet wird, eine Entscheidung, die im Affordable Care Act (erschwingliche Versorgung) von 2010 bewusst nicht getroffen wurde. Es gibt keinen einheitlichen Green New Deal, aber viele der Elemente, die den GND ausmachen, sind in Bidens BBB enthalten. Und es ist eine beträchtliche Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde geplant, obwohl dies in Etappen und nicht in einem Rutsch geschehen soll.

Wenn Biden diese linkspopulistische Wunschliste umsetzen könnte, würde er sicherlich den Anspruch erheben, eine transformative Figur in der kapitalistischen Politik zu sein, wie Roosevelt auf der linken oder Reagan auf der rechten Seite. Wie wir oben sagten, ist der BBB das Gegenteil des Katastrophenkapitalismus und wird von der Rechten zweifellos jederzeit als „Katastrophensozialismus“ bezeichnet werden. Doch auch wenn es sich nicht um Sozialismus handelt, wäre die Umsetzung dieser Programme immer noch beinahe ein Wunder unter den gegenwärtigen Bedingungen des kapitalistischen Verfalls und der sinkenden Profitrate eine reine Spekulation. Vor allem die Steuererhöhungen sind schon bei ihrem Beginn tot, wenn die RepublikanerInnen in der Senatsmehrheit bleiben, und das könnte auch dann der Fall sein, wenn die DemokratInnen das ausschlaggebende Mandat gewinnen. Da sie eine kapitalistische politische Partei sind, sind viele demokratische SenatorInnen sehr abgeneigt, Steuern zu erhöhen, selbst bei denen, die sich höhere Steuern am meisten leisten können, den Reichen und den multinationalen Konzernen. Hinzu kommt, dass die Wirtschaft immer noch versucht, sich von der CoVid-Krise zu erholen, und die Aussichten selbst einer bescheidenen Steuererhöhung für Unternehmen bestenfalls zweifelhaft sind.

Nach anfänglichen Versuchen, einige dieser Vorschläge einzubringen, können wir in Anbetracht von Bidens Geschichte berechnen, wo diese „fortschrittlichste Agenda seit dem New Deal“ enden wird. Trägheit ist eine handfeste Angelegenheit, nicht nur physisch, sondern auch in der Politik. Die Trägheit ist auf der Seite der 40 Jahre „Reaganomics“. Wir können einige Maßnahmen gegen die Pandemiekrise erwarten, selbst von McConnell und der Republikanischen Partei. Aber diese würde nicht annähernd das ausgleichen, was die ArbeiterInnenklasse infolge von den wirtschaftlichen Schocks durch das Virus bereits durchlitten hat und was ihr noch in Kürze bevorstehen würde. Die Arbeit an dem Verteilungsprozess des/der Impfstoffe/s wird vorangehen, zumal damit eine Menge Geld zu verdienen ist, und je schneller er verfügbar ist, desto eher werden alle Entschuldigungen für das Herunterfahren der Wirtschaft beseitigt und die Geschäfte können wie vordem weitergehen. Aber was kommt dann?

Wenn es ernsthafte Reformen mit wirklichen Verbesserungen im Gesundheitswesen, im Lohnniveau, gesellschaftlich aufgewerteter Arbeit für die Arbeitslosen und für jene in unsicheren und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnissen geben soll, kann dies nicht durch das Warten auf Bidens Instinkte, „die Hand zur anderen Seite auszustrecken“, geschehen. Wie Rosa Luxemburg sagt, sind selbst ernsthafte Reformen nur ein Nebenprodukt der Revolution oder der Furcht vor ebendieser. In den 1930er und 1960er Jahren haben Revolutionen außerhalb der USA und massenhafte Gewerkschafts- und Bürgerrechtskämpfe unsere HerrscherInnen davon „überzeugt“, die Bedrohung durch Sozialausgaben und Arbeitsrechte und -beschaffungsmaßnahmen abzuwenden. Wenn der Druck jedoch nachlässt, versucht die herrschende Klasse, alles zurückzuholen.

Die einzige Hoffnung, einen Kongress und einen Präsidenten mit konservativen Instinkten zu überwinden, liegt darin, ihnen Furcht vor massenhaften und militanten Straßen- und Betriebsaktionen einzuflößen. Eine weitere Waffe stellt das Vorantreiben zum Aufbau einer sozialistischen und ArbeiterInnenpartei, die unabhängig von den DemokratInnen auftritt, dar. Ihre erste Aufgabe wäre die Führung und Organisierung von Kämpfen in den Kommunen und Betrieben. Diese sollten nicht nur gegen wirtschaftliche Entbehrungen, sondern auch gegen Rassismus, Polizeigewalt, Rechte von Frauen, LBGTIAQ-Meschen und der indigenen Bevölkerung geführt werden und die Beendigung der Verfolgung von „illegalen“ MigrantInnen einschließen. Außerdem hat sich in den Wahlen 2020 durch Trump der Welt der undemokratische Charakter des Verfassungs- und Wahlsystems offenbart. All diese Punkte müssen sich in einem Aktionsprogramm für eine neue ArbeiterInnenpartei niederschlagen. Wahlen sind wichtig, um die Ideen des echten Sozialismus zu verbreiten und unseren Fortschritt zu dokumentieren. Aber die Orientierung auf Wahlen darf nicht Sinn und Zweck einer solchen Partei sein.

Selbstredend werden die PolitikerInnen der Demokratischen Partei und die falschen FührerInnen in der ArbeiterInnenbewegung darum betteln aufzuhören und wollen uns belehren, dass wir der Sache schaden würden, wenn wir eine solche Offensive ins Leben rufen. Aber dies muss geschehen, wenn wir irgendetwas Substantielles erreichen wollen. So muss Politik für die Linke gemacht werden. Legislaturperioden und Gesetze erfolgen nur auf den Druck der Straße und bestätigen Errungenschaften. Sie gehen ihnen nicht voraus.

Wenn wir selbst Zugeständnisse gegen alle Widrigkeiten und dank eigener Kraft durchfechten, dann kann ein echter Sozialismus für Millionen wieder erstrebenswert sein, wie dies schon einmal in der Zeit den Industrial Workers of the World (IndustriearbeiterInnen der Welt; IWW) mit dem Präsidentschaftskandidaten Eugene V. Debs und den ursprünglichen sozialistischen und frühen kommunistischen Parteien der Fall war.




Britannien: Labour-Krise wegen Repression gegen AnhängerInnen Corbyns

Dave Stockton, Infomail 1128, 4. Dezember 2020

Am 29. Oktober 2020 wurde Jeremy Corbyn, Labour-Vorsitzender von September 2015 bis April 2020, von der Parteimitgliedschaft suspendiert und ihm seine Mitgliedschaft in der Parlamentsfraktion der Labour-Partei entzogen. Die Maßnahme wurde von dem nicht gewählten Generalsekretär der Partei, David Evans, in Absprache mit dem Parteichef Keir Starmer ergriffen. Als Vorwand wurde Corbyns Reaktion auf die Veröffentlichung des Berichts der Kommission für Gleichberechtigung und Menschenrechte (EHRC) vom Oktober 2020 über den Umgang der Labour-Partei mit Antisemitismus unter seiner Führung angeführt. Er hatte erklärt:

„Ein/e AntisemitIn ist ein/e AntisemitIn zu viel, aber das Ausmaß des Problems wurde auch aus politischen Gründen von unseren GegnerInnen innerhalb und außerhalb der Partei sowie von einem Großteil der Medien dramatisch überbewertet. …. Auch wenn ich nicht alle Ergebnisse (des EHRC) akzeptiere, vertraue ich darauf, dass seine Empfehlungen rasch umgesetzt werden, um den Weg aus dieser Zeit zu ebnen.“

Im Bericht selbst wurde Corbyn weder für einen der antisemitischen Vorfälle verantwortlich gemacht noch kam er zur Ansicht, dass diese weit verbreitet waren, trotz derständigen Behauptungen prominenter rechtsgerichteter und pro-israelischer Labour-Abgeordneter sowie des Oberrabbiners und des Abgeordnetenrats, von denen ohnehin nicht gesagt werden kann, dass sie die gesamte jüdische Gemeinde repräsentieren. Weder die ultraorthodoxen noch die liberalen Synagogen oder viele säkulare und sozialistische Juden und Jüdinnen werden von ihnen vertreten.

Hexenjagd der Rechten

Das Nationale Exekutivkomitee der Labour-Partei setzte ein Gremium ein, das sich mit der Suspendierung Corbyns aus der Partei befassen sollte, wodurch seine volle Mitgliedschaft rasch wiederhergestellt wurde. Aufruhr entstand durch die konservativen und die liberalen Medien, die rechtsgerichteten Abgeordneten und den Rat jüdischer Parlamentsabgeordneter. Mitglieder der Labour-Parlamentsfraktion drohten mit dem Austritt aus der Partei. Dann kündigte der Generalsekretär der Partei, unterstützt von Starmer, an, dass Corbyn nicht wieder Mitglied der parlamentarischen Fraktion der Labour-Partei werden würde.

Evans, ein Veteran der New-Labour-Amtszeit von Tony Blair, wies letzte Woche die Parteigliederungen in den Wahlkreisen unter Androhung von Disziplinarmaßnahmen an, nicht über die Suspendierung von Corbyn zu diskutieren. Starmer selbst sowie rechte Abgeordnete und führende Persönlichkeiten im Schattenkabinett haben diese Entscheidung lautstark und öffentlich unterstützt. Den lokalen Parteigliederungen wird jedoch dasselbe Recht verweigert – und sie wurden praktisch mundtot gemacht. Wo Parteigliederungen in Wahlkreisen wie Bristol West die Behandlung von Corbyn diskutiert haben, wurden ihre gewählten AmtsträgerInnen von nicht gewählten nationalen und regionalen ParteibürokratInnen suspendiert.

Dieses neue harte Vorgehen gegen die Rechte der Mitglieder hat bereits einen weiteren Rückschlag ausgelöst. Der benachbarte Labour-Wahlkreis Bristol Nordwest widersetzte sich in ähnlicher Weise den Anordnungen von Evans und verabschiedete einen Antrag, in dem er Corbyns Suspendierung als „spalterisch, demoralisierend und falsch“ kritisierte und fortfuhr, dass sie „unsere Partei schwächen würde, wenn wir stark sein müssen, um dem Schaden zu widerstehen, den die Politik der Tories Millionen von Menschen zufügt.“

Andere Labour-Parteigliederungen in Wahlkreisen und Ortsgruppen verabschieden immer mehr Anträge, in denen sie Jeremy Corbyn unterstützen oder Keir Starmer und David Evans verurteilen oder sogar gänzlich ablehnen. Andere werden durch antidemokratische Interventionen von regionalen FunktionärInnen daran gehindert, dies zu tun. Vierzehn Mitglieder des 39 Mitglieder zählenden Nationalen Exekutivausschusses (NEC) der Labour-Partei haben einen offenen Brief geschrieben, in dem sie sowohl David Evans als auch Keir Starmer verurteilen.

Hintergrund

Sobald Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden gewählt worden war, formierte sich eine Koalition von zwei Kräften: dem alten Blair-Flügel auf dem äußeren rechten Spektrum der Partei und der sogenannten Mitte-Links-Gruppierung. Beide vertraten die Auffassung, dass eine linke Führung wegen Medienfeindlichkeit niemals eine Wahl gewinnen könne, wie einen Glaubensgrundsatz und gingen daran, die Wahl der Mitglieder zu „korrigieren“. Mit der Erzwingung einer erneuten Wahl des Vorsitzenden im Jahr 2016 wurden sie erneut rundum geschlagen. Das war der Zeitpunkt, an dem die Kampagne zur Verleumdung und Diskreditierung von Corbyn richtig losging.

Im Wissen um seine lange Identifikation mit der Verteidigung der palästinensischen Rechte und seiner Opposition gegen die imperialistischen Kriege Großbritanniens und der USA haben sie ihn als Antisemiten und Rassisten ins Visier genommen. Tatsächlich weist Corbyn wahrscheinlich die längste und beständigste Geschichte aktiver Opposition gegen alle Formen von Rassismus und Faschismus aller Labour-Abgeordneten auf, die bis in die 1970er Jahre zurückreicht.

Bald zielte die Anti-Corbyn-Koalition auf die gesamte Corbyn-Bewegung ab, die die Mitgliederzahl der Labour-Partei von 190.000 auf 550.00 erhöht und sie damit zur größten linken Partei Europas gemacht hatte. Eine Handvoll jüdischer Abgeordneter, die lange Zeit AnhängerInnen Israels waren, behaupteten, Opfer „linker AntisemitInnen“ zu sein, ohne dass es nennenswerte Hinweise oder überhaupt Beweise dafür gab. Sie erklärten, dass im Falle der Wahl von Labour die jüdischen Menschen in physischer Gefahr wären und aus dem Land fliehen müssten. All dies wurde durch Fernsehsendungen wie die berüchtigte Panorama-Sendung vom Juli 2019 und die tägliche Propaganda in den Tory-Boulevardzeitungen und dem liberalen Guardian noch verstärkt. Prominente schwarze AktivistInnen und jüdische AntizionistInnen wurden ins Visier genommen und suspendiert oder ausgeschlossen.

Das Problem war, dass Corbyn und sein Beraterteam sowie Jon Lansman, der das Momentum-Netzwerk als sein Privateigentum betrachtete und führte, sich weigerten, sich diesem Ansturm zu widersetzen. Sie ließen zu, dass ihre AnhängerInnen aus der Partei gejagt wurden. Warum? Weil sie befürchteten, dass jedes Zurückschlagen zum Ausscheiden rechter Abgeordneter vor der Wahl führen und damit die Aussicht auf eine Regierung unter Corbyn zunichtemachen würde.

Tatsächlich verließen fünf von ihnen Labour, aber ihre „Partei“ verschwand bald. All dies offenbarte jedoch, dass auch das Projekt der reformistischen Labour-Linken die Beibehaltung eines Blocks mit der Labour-Rechten – in diesem Fall der großen Mehrheit der Parlamentsfraktion der Labour-Partei – erfordert. Das strategische Problem dabei ist, dass die Rechte die Linke nicht braucht, da sie die viel direktere Vertretung der Bourgeoisie innerhalb der Labour-Partei darstellt, ja normalerweise sogar ihre unhinterfragte Führung.

Angesichts des Mangels an „Beweisen“, auf die im EHRC-Bericht Bezug genommen wird (es sei denn man hält willkürliche Behauptungen auf irgendwelche Facebook-Posts und Tweets dafür), ist es empörend, dass die Untersuchung sich nicht auf die ungeheuerliche Verleumdungskampagne und die Sabotage durch die Parteibürokratie im Labour-Hauptquartier bezog.

Ein Bericht der Minderheit von Corbyn-AnhängerInnen, die in der Victoria Street Southside arbeiteten, schildert die entsetzlichen Schikanen, denen sie von der Anti-Corbyn-Bürokratie ausgesetzt waren, sowie von der völligen Sabotage der Corbyn-Führung und des Wahlkampfs 2017. Dieser wurde unterdrückt und musste über andere Kanäle nach außen dringen, weil die Parteiführung nichts gegen diese Repressionen unternahm.

Corbyn bereitete den Weg zu dieser Niederlage nicht nur durch seinen katastrophalen Umgang mit der politischen Krise um Brexit in den Jahren 2018 – 2019, sein Versagen im Kampf gegen die Scheinantisemitismus-Kampagne und sein Unvermögen, die Mitgliedschaft die Partei gründlich demokratisieren zu lassen, sondern auch durch seinen Rücktritt nach der Niederlage von 2019 und die Bahnung des Weges für Starmer.

Momentum unter Lansman trug ebenfalls zur Katastrophe bei, indem er die Entwicklung der  Bewegung zu einer wirklich autonomen Organisation der Basismitglieder blockierte. Stattdessen reduzierte er sie einem Jubelchor für Corbyn und McDonnell. Als Corbyn zurücktrat, stimmte daher eine große Minderheit seiner AnhängerInnen für Starmer. Die linken Abgeordneten nahmen dann eine höflich unterstützende Haltung gegenüber dem neuen Vorsitzenden ein, wie es das parlamentarische Protokoll nahelegt.

Der Kampf geht weiter

Trotz der Repressionen, die auf die Mitgliedschaft in den Ortsverbänden abzielen, hat die Zahl der verurteilenden Resolutionen weiter zugenommen. Darüber hinaus haben mehrere hochrangige GewerkschaftsführerInnen, darunter Len McCluskey von Unite, der größten Einzelspenderin der Partei, so heftig wie seit vielen Jahren nicht mehr protestiert. Er bezeichnete Starmers de facto Rücknahme der einstimmigen Wiederherstellung der Corbyn-Mitgliedschaft als „eine rachsüchtige und nachtragende Aktion, die die Demokratie aushöhlt“, als „Kapitulation vor dem Druck von außen“ und als Einleitung einer „Hexenjagd“. 14 Mitglieder des Exekutivausschusses der Labour Party unterzeichneten eine Erklärung, in der sie diese Aktionen ablehnten. In der Folge verließen 13 von ihnen die Sitzung des Nationalen Exekutivkomitees, als die Parteitrechte Margaret Beckett und nicht Ian Murray von der Gewerkschaft der Feuerwehrleute (FBU) zur Vorsitzenden dieses Gremiums gewählt wurde.

Die Suspendierungen von FunktionsträgerInnen aus Wahlkreisen, die zu Recht das Verbot missachtet haben, dass Parteimitglieder über Ereignisse dieser Größenordnung diskutieren dürfen, zeugen von der Existenz einer Spitze, die entschlossen ist, der Partei eine bürokratische Diktatur aufzuzwingen. Angesichts des Ausbleibens einer Konferenz bis mindestens September 2021, des Lockdowns bis mindestens März, des „Purdah“ (Verschleierung) während der Kommunalwahlen im Mai 2021 und der Sturm laufenden RegionalfunktionärInnen ist es eindeutig notwendig, dass die Basis die Kontrolle übernimmt. Sie sollte sich den völlig undemokratischen Anweisungen widersetzen und zusammen mit den örtlichen Verbindungsausschüssen mit angeschlossenen Gewerkschaften das weitere Funktionieren von Ortsgruppen, Wahlkreisparteigliederungen, Ortsgruppen der Labour-Jugend usw. sicherstellen.

Es ist die Pflicht jeder Ortsgruppen- und Wahlkreis-Parteigliederung, jeder angeschlossenen Gewerkschaft auf nationaler und örtlicher Ebene, sich nicht nur der Zusammenarbeit mit der Bürokratie in der Victoria Street zu verweigern, sondern auch eine Notparteikonferenz einzuberufen, um alle gegen Corbyn oder die Linke ergriffenen Maßnahmen rückgängig zu machen, den Parteichef zu rügen (und auf eine neue Führungswahl zu drängen) und David Evans von seinem Posten zu entfernen. Der/die GeneralsekretärIn der Partei und alle führenden regionalen FunktionärInnen sollten gewählt und nicht ernannt werden. Da Starmer nun über eine Mehrheit im Nationalen Exekutivkomitee verfügt, werden die Widerstandskräfte eine eigene Konferenz einberufen müssen, nicht nur, um sich dem Putsch von Starmer gegen die Mitgliedschaft zu widersetzen, sondern auch, um einen kämpferischen Aktionsplan gegen die Tories und die Massenarbeitslosigkeit zu verabschieden, die die Wirtschafts- und Covid-Krisen ausgelöst haben.

Eine demokratische Partei der ArbeiterInnenklasse muss eine militante Partei des Klassenkampfes sein. Wo Ortsgruppen und Wahlkreisparteigliederungen suspendiert sind, sollten sie sich sofort mit angeschlossenen Gewerkschaftsgliederungen und Gewerkschaftsräten organisieren, um eine solche Konferenz vorzubereiten und sich am Klassenkampf gegen die Tories – zum Thema Arbeitslosigkeit usw. – zu beteiligen. Die Abgeordneten der Socialist Campaign Group sollten eine eigene Fraktion im Parlament bilden, mit Jeremy Corbyn als Ehrenmitglied.

Wenn dieser Putsch der rechten Parlamentsfraktion, des Vorsitzenden und des Chefs der Parteibürokratie gegen die individuelle Mitgliedschaft und die Mehrheit der Gewerkschaften, zugelassen wird, wird es eine endgültige und historische Niederlage nicht nur für Corbyn, sondern für die gesamte Labour-Linke geben.

Aber die Schlacht ist noch nicht vorbei, vor allem weil die Rechte darauf bestand, Corbyn zu brechen und seine AnhängerInnen auszuschalten. Sie drängte Starmer, den EHRC-Bericht zu nutzen, um die Linke zu demütigen und zu knebeln. Ein mit den Gewerkschaften ausgehandeltes Abkommen scheiterte, als Starmer sich unter dem Druck des pro-zionistischen jüdischen Abgeordnetenrats und von Labour-Abgeordneten weigerte, Corbyn wieder in die Parlamentsfraktion aufzunehmen.

Die Empörung über das Vorgehen von Starmer bietet die Gelegenheit zum Gegenangriff. Dies erfordert jedoch die Einigkeit all jener, die eine Einheit mit Starmer weder als wünschenswert noch als möglich akzeptieren. Tatsächlich bedeutet es, das Ziel einer wirklichen Revolution in der Labour-Partei anzusteuern, die Auflösung der nicht gewählten Parteibürokratie, die Unterordnung der Parlamentsfraktion und der StadträtInnen unter die Disziplin von Gremien, die von den Basismitgliedern in den Ortsgruppen und auch in den angeschlossenen Gewerkschaften gewählt werden. Nicht zuletzt bedeutet es, die Partei in den Klassenkampf gegen die Massenarbeitslosigkeit, gegen die Privatisierung, gegen den gesamten Tory-Angriff auf den „Sozialstaat“ zu stürzen.




Frankreich: Nieder mit den „Sicherheits“-Gesetzen und der Straffreiheit der Polizei!

Marc Lassalle, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Die zweite Welle der Pandemie, verbunden mit einem zweiten monatelangen Shutdown, stellt sicherlich bei weitem nicht die beste Voraussetzung dar, um einen Abwehrkampf gegen das drakonische neue Sicherheitsgesetz von Staatspräsident Emmanuel Macron zu organisieren. Doch seine Regierung sieht sich plötzlich mit großem Widerstand konfrontiert: Mehr als hunderttausend marschierten am 28. November in Dutzenden von Demonstrationen im ganzen Land. Allein in Paris war die Demonstration massiv, und selbst das Innenministerium, das dafür berüchtigt ist, solche Zahlen herunterzuspielen, sprach von 46.000 daran teilnehmenden Menschen. Nach Angaben der OrganisatorInnen beteiligten sich 200.000!

Die Menschen auf den Straßen haben absolut Recht, das neue ultrarepressive Sicherheitsgesetz abzulehnen. Sollte es angenommen werden, würde es jede/n bestrafen, der/die Bilder von PolizistInnen mit dem Ziel verbreitet, „ihre physische oder psychische Integrität zu gefährden“. Natürlich sind die Bestimmungen absichtlich vage gehalten, aber wenn es angenommen würde, würde es die Rechte von JournalistInnen ernsthaft einschränken, ebenso wie die Freiheit von allen Menschen, missbräuchliche oder gewalttätige Handlungen der Polizei als Beweismittel für eine Anzeige zu filmen.

„Auf dem Weg zu einem Polizeistaat?“ lautet der Titel einer Analyse dieses Gesetzes, die vom Syndicat de la Magistrature, der Gewerkschaft der RichterInnen, erstellt wurde und in der behauptet wird, dass das Gesetz jede demokratische Kontrolle der Polizei noch weiter schwächen würde. Gérald Darmanin, Innenminister und Hauptbefürworter dieses Gesetzes, hatte den VertreterInnen der Polizei bereits vor der Abstimmung über das Gesetz in der Assemblée Nationale (dem französischen Parlament) versichert: „Seien Sie versichert, dass wir zusammen mit dem Präsidenten und dem Premierminister immer da sein werden, um Sie zu schützen.“

Laut der NGO-ReporterInnen von Sans Frontières (Ohne Grenzen) „könnten die PolizeibeamtInnen, wenn sie mit einem/r JournalistIn konfrontiert werden, der/die sie filmt, davon ausgehen, dass diese Bilder in großem Umfang mit dem Ziel reproduziert werden, sie zu kompromittieren, und könnten daher die betreffenden Personen festnehmen, um sie wegen eines offensichtlichen Vergehens zu verfolgen“. In der Tat hat Darmanin bereits klargestellt, dass JournalistInnen, die über Demonstrationen berichten wollen, sich bei den Polizeibehörden akkreditieren sollten, was eine weitere offensichtliche Verletzung der Rechte der Presse darstellt.

Tagtägliche Polizeigewalt und Rassismus

Zwei aktuelle Beispiel von Polizeimethoden machen deutlich, warum jede/r die bestehenden Rechte verteidigen sollte. Die erste ereignete sich am 24. November, als die Polizei etwa hundert MigrantInnen, die auf dem Place de la République (Platz der Republik) im Zentrum von Paris Zelte aufgeschlagen hatten, gewaltsam vertrieb. Einige MigrantInnen wurden brutal zu Boden geworfen, andere wie Müll aus ihren Zelten gezerrt, mit Schlagstöcken geschlagen und mit Tränengas besprüht. Selbst Darmanin fühlte sich genötigt, diese Bilder als „schockierend“ zu bezeichnen. Natürlich stellt das keinen „Einzelfall“ dar, sondern war und ist seit Monaten alltägliche Praxis im Umgang mit MigrantInnen und Roma, die zu Tausenden aus maroden Lagern rund um Paris und anderswo vertrieben wurden.

Der gewalttätige Überfall von vier PolizistInnen auf den (schwarzen) Musikproduzenten Michel Zecler, nur weil er keine Gesichtsmaske trug, begleitet von rassistischen Beleidigungen, erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Polizeibrutalität kein Einzelfall ist. Ohne diese Bilder wären diese Übergriffe unbekannt oder unbewiesen geblieben, und die Polizei würde von völliger Straffreiheit profitieren. Als Reaktion auf den Protest von „Black Lives Matter“ in den USA marschierten im Juni zwanzigtausend Menschen in Paris, um diese systematische Anwendung staatlicher Gewalt anzuprangern, wie z. B. den Erstickungstod von Adama Traoré im Jahr 2016 im Polizeigewahrsam, oder die Vergewaltigung eines jungen Mannes, Théo, mit einem Schlagstock, der so schwer verletzt wurde, dass er operiert werden musste usw. Beides geschah in Aulnay-sous-Bois im Norden von Paris.

Das neue Sicherheitsgesetz ist nur das letzte in einer langen Liste repressiver Maßnahmen, die oft im Gefolge von Terroranschlägen überstürzt eingeführt wurden: 30 solcher Gesetze in den letzten 20 Jahren. Vor einem Monat schockierte der brutale Mord an Samuel Paty, einem Lehrer, bei einem Terroranschlag das ganze Land. Diesen Schock versuchte die Regierung für repressive Gesetze zu missbrauchen – unter dem Vorwand, die „Meinungsfreiheit“ zu verteidigen – ein makaberer Witz, wenn man bedenkt, was sie selbst tut: das Arsenal der Sicherheitsgesetze zu verstärken und eine brutale Unterdrückung jeglicher Proteste vorzubereiten.

Dasselbe geschah unter allen früheren Präsidenten: Jacques Chirac, dann Nicolas Sarkozy und François Hollande. Abgesehen von der Stärkung eines Polizeistaates haben diese Maßnahmen auch ein kurzfristigeres Ziel: Sie zielen darauf ab, die rechten WählerInnen und sogar die AnhängerInnen des reaktionären Rassemblement National (des ehemaligen Front National; FN) davon zu überzeugen, dass Macron eine energische rechte Politik verfolgt und sie deshalb bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 für ihn stimmen sollten. Es ist kein Zufall, dass alle wichtigen MinisterInnen der gegenwärtigen Regierung Macrons früher Persönlichkeiten der rechtsgaullistischen Partei UMP (Union pour un mouvement populaire; Union für eine Volksbewegung) waren, insbesondere Jean Castex (Premierminister), Gérald Darmanin (Innenministerium) und Bruno Le Maire (Wirtschaft).

Ein weiteres kürzlich von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz gegen „Separatismus“ (gegen „antirepublikanisches Gedankengut“) stellt in Wirklichkeit ein weiteres islamfeindliches Gesetz dar, das nahelegen soll, dass der Islam unweigerlich hinter Unsicherheit und Terrorismus steht. Hinzu kommen eine weit verbreitete, von der Regierung geförderte Hexenjagd in den Medien, die Halal-Regale (mit Lebensmitteln gemäß islamischem Kodex) in Supermärkten als Zeichen von „Separatismus“ anprangert, Angriffe auf die „Islamo-Linke“ als gefährlichen Wundbrand an Universitäten oder die Schließung des Kollektivs gegen Islamophobie (CCIF), einer Organisation zur Verteidigung der Opfer antimuslimischer Angriffe.

Während die Regierung nun kleinere symbolische Gesetzesänderungen anbietet, fordern die Gewerkschaften zu Recht Einstellung und Aufgabe des gesamten Projekts. Die Solidarität zwischen allen Opfern des Rassismus und der organisierten ArbeiterInnenklasse ist unerlässlich für diesen Kampf. Angesichts einer neuen Welle von Massenentlassungen in wichtigen Unternehmen wie Renault, das die Schließung seines Werks in Flins, seines wichtigsten französischen Standorts, mit einem Verlust von 2.574 Arbeitsplätzen plant, wird das neue Sicherheitsgesetz morgen gegen ArbeiterInnen und Jugendliche in Streikposten, bei Betriebsbesetzungen oder auf der Straße eingesetzt werden, die ihre Arbeitsplätze und ihre demokratischen Rechte verteidigen.

Die Demonstrationen vom letzten Wochenende können zum Fanal für den Aufbau einer gemeinsamen Massenbewegung werden – gegen die sog. Sicherheitsgesetze, gegen Rassismus und zum Kampf gegen Schließungen und Massenentlassungen!




Politische Krise in Schweden: Streikmaßnahmen weisen den Weg vorwärts

Arbetarmakt, Infomail 1128, 1. Dezember 2020

Seit die Parlamentswahlen im September 2018 zu einem Patt im Parlament geführt haben, hinkt Schweden von einer Beinahe-Krise zur nächsten. Es dauerte bis Januar 2019, bevor eine Koalitionsregierung aus SozialdemokratInnen und Grünen mit parlamentarischer Unterstützung durch Zentrumspartei und Liberale gebildet werden konnte, und selbst dann war dies eine Minderheit im Riksdag (Abgeordnetenparlament).

Zugeständnisse an Bürgerliche

Die Alternative hätte eine rechtsgerichtete Koalition einschließlich der rechtsextremen, rassistischen SchwedendemokratInnen bilden können. Um dies zu vermeiden, waren die sozialdemokratische und die Grünen-Partei bereit, Schlüsselmaßnahmen aus dem Programm der Zentrumspartei und der Liberalen zu akzeptieren. Damals bemerkte das Magazin The Economist, dass das „Januar-Abkommen“ acht Vorschläge enthielt, „die in direktem Widerspruch zum [sozialdemokratischen] Manifest stehen, wie z. B. die Abschaffung von Gewinnbeschränkungen im privaten Wohlfahrtssektor und eine zusätzliche Einkommenssteuer für HochverdienerInnen“.

Unter den acht Maßnahmen waren zwei, die zum Kern der sozialdemokratischen Tradition gehörten: die Vermarktung von Mieten und ein Angriff auf das Kündigungsschutzgesetz (LAS), ein zentrales Gesetzeswerk aus den 1970er Jahren. Selbst mit dem Abkommen verfügte die Regierung nicht über eine parlamentarische Mehrheit, so dass sich alle Augen auf die Linkspartei und ihren Vorsitzenden Jonas Sjöstedt richteten, der das Abkommen (zu Recht) als einen Schritt in Richtung zunehmender Ungleichheit und weiterer Angriffe auf die Rechte und Bedingungen der ArbeiterInnenklasse charakterisiert hatte. Die Mitglieder der Linkspartei und ihre WählerInnen griffen auf die sozialen Medien zurück, um ihre Führung aufzufordern, „den roten Knopf zu drücken“, d. h. die neue Regierung und das neoliberale Abkommen abzulehnen.

Wie ein Mitglied der Linkspartei, der ehemalige Abgeordnete Daniel Sestrajcic, der den linken Bezirk Malmö vertritt, schrieb: „Wenn die SozialdemokratInnen die Partei von dem, was von der Sozialdemokratie übrig geblieben ist, säubern und ihre eigene Umwandlung zu einer offen bürgerlichen Partei annehmen wollen, dann ist das ihre eigene, traurige Entscheidung. Für die Linkspartei gibt es nur einen Knopf zu drücken: den roten.“

Die Liberalen und die Zentrumspartei erkannten die potentielle Schlüsselrolle der Linkspartei und bestanden darauf, dass das Abkommen eine Klausel enthält, dass die Regierung ihr keinen Einfluss auf ihre politische Richtung gestattet. Nach Erhalt einer „geheimen Notiz“ des sozialdemokratischen Premierministers Stefan Löfven, dass diese Klausel nun angeblich veraltet sei, kündigte die Linkspartei an, dass sie sich bei der Abstimmung über die Regierungsbildung der Stimme enthalten werde, und sorgte damit für deren Bildung. Um die Pille eines solch demütigenden Rückziehers zu versüßen, behauptete Sjöstedt, dass, wenn die Regierung eine von zwei „roten Linien“, nämlich die Vermarktung von Mieten oder rechtliche Angriffe auf die Arbeitsplatzsicherheit, überschreite, die Linkspartei für die Absetzung von Stefan Löfven stimmen würde.

Regierungsbildung mit Unterstützung der Linkspartei

Wie Arbetarmakt, die schwedische Sektion der Liga für die Fünfte Internationale, seinerzeit schrieb, hätte die Drohung mit einer großen Prise Salz aufgenommen werden müssen. Jahrzehntelang bestand die langfristige Strategie der Linkspartei darin, in eine Regierungskoalition mit den SozialdemokratInnen eingebunden zu werden und sich so einen „linken Einfluss“ in der Verwaltung des bürgerlichen Staates zu sichern.

Die Linkspartei begründete ihre Unterstützung für eine nach rechts gehende Koalition als das „kleinere Übel“ im Vergleich zu einer rechtsgerichteten Koalition mit den SchwedendemokratInnen. Natürlich ist es lobenswert, diese daran zu hindern, irgendeine Rolle in der Regierung zu gewinnen, jede/r Sozialist/in würde dem zustimmen, aber sie aus der Regierung herauszuhalten, ist das eigentliche Ziel, und dazu bedarf es einer langfristigen Strategie. Die Unterstützung einer Regierung, die sich dem Angriff auf die ArbeiterInnenrechte und der „Vermarktung“, d. h. der Erhöhung der Wohnkosten, verschrieben hat, wird unweigerlich genau die Bedingungen verbessern, unter denen die SchwedendemokratInnen aufblühen können.

Es sickerte etwa zu dieser Zeit durch, dass sozialdemokratische Insiderinnen von ihrer größten Befürchtung sprachen: eine militantere Linkspartei könne Teile des LO (Landsorganisationen i Sverige), des wichtigsten Gewerkschaftsbundes, abspalten und „sich als große, linkssozialistische Partei etablieren“. Jede echte sozialistische Partei hätte alles in ihrer Macht Stehende tun müssen, schrieben wir, um genau das zu tun. Mit dieser Haltung hätte sie dann gestärkt in eine mögliche neue Wahlperiode gehen, nicht den Respekt von Stefan Löfven gewinnen, sondern irgendwo weit weg von den Büros und Wohnungen der Abgeordneten sich an die ArbeiterInnen und Armen des Landes wenden können, an alle, die von rechter und rassistischer Politik bedroht sind.

Die natürlichen Losungen wären gewesen: Keine Unterstützung für das Januar-Abkommen oder für die darauf basierende bürgerliche Regierung Löfven! Alle offen bürgerlichen Parteien aus der Regierung heraus! Kein Einfluss für die SchwedendemokratInnen! Bringt alle bürgerlichen Vorschläge zu Fall – bringt die Regierung zu Fall!

Stattdessen begnügten sich die Abgeordneten der Linkspartei mit der Androhung eines Misstrauensvotums gegen Löfven zu einem späteren Zeitpunkt, sollte er ihre „roten Linien“ überschreiten, und sie enthielten sich bei der entscheidenden Abstimmung über die Regierung. Bei späteren Enthüllungen stellte sich heraus, dass ein Teil der hinter verschlossenen Türen vereinbarten Abmachung darin bestand, dass der LO-Vorsitzende, ein überzeugter Sozialdemokrat, auf linken Parteitagen sprechen sollte, zusammen mit anderen symbolischen Krümeln, die der Linkspartei als Belohnung dafür gegeben wurden, dass sie der neuen Regierung nicht im Wege stand.

In den fast zwei Jahren seither hat die sozialdemokratisch-grüne Regierung einige der Vorschläge des Januar-Abkommens auf Zeit blockiert. Sie sieht sich mit Drohungen von beiden Seiten konfrontiert: von rechts, wenn ihre liberalen AnhängerInnen im Parlament, die mit dem mangelnden Fortschritt unzufrieden sind, zu ihren früheren BündnispartnerInnen bei den ChristdemokratInnen und SchwedendemokratInnen wechseln, und von links durch LO und den Mieterbund, zwei konstituierenden Teilen der sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung, falls sie tatsächlich versuchen sollte, die Vorschläge umzusetzen.

Was den Plan zur Vermarktung der Mieten betrifft, so hat die Regierung versucht, den Vorschlag in einem Ausschuss zu begraben, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass das Thema verschwindet. Die Führung des 538.000 Mitglieder starken MieterInnenverbandes, der die Mieten in Tarifverträgen aushandelt, fühlte sich ihrerseits durch den Druck ihrer Mitglieder gezwungen, eine Kampagne gegen den Vorschlag zu starten, zu Demonstrationen aufzurufen und Petitionen gegen den Vorschlag einzureichen. Vor allem im Raum Göteborg haben radikalere Kräfte zu Recht weiter gedrängt und Proteste organisiert, nicht nur gegen diesen Vorschlag im Besonderen, sondern gegen das gesamte, verrottete Januar-Abkommen an sich.

Der LAS-Konflikt

Gemäß dem Abkommen würde das Verfahren zur Behandlung von vorgeschlagenen Angriffen auf das Gesetz über die Beschäftigungssicherheit (LAS) darin bestehen, dass ein Parlamentsausschuss einen Bericht veröffentlicht und dann auf der Grundlage dessen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und der Arbeit„geber“Innenorganisation, dem schwedischen UnternehmerInnenverband, geführt werden. Die Ergebnisse dieser Verhandlungen würden dann von der Regierung zum Gesetz gemacht. Sollte jedoch als Schlüsselbedingung kein Kompromiss zwischen den Arbeitsmarktparteien erzielt werden, würde die Angelegenheit wieder an die Regierung zurückgehen, um sie per Gesetz zu lösen.

Dies verschaffte den Arbeit„geber“Innenverbänden natürlich einen großen Vorteil: Sollten sich die Gewerkschaften weitreichenden Angriffen widersetzen, müssten sich die „ArbeitgeberInnen“ nur zurücklehnen und stattdessen die Regierung die Änderungen für sie durchführen lassen.

Diese Bedingung war sowohl für Premierminister Löfven als auch für die sozialdemokratische Führung von Vorteil. Wenn sie die LO-Führung dazu bringen könnten, den Angriffen zuzustimmen, würden die geplanten Gesetzesänderungen, ursprünglich eine Erfindung der Liberalen und der Zentrumspartei, stattdessen auf magische Weise in einen Vorschlag der Gewerkschaften selbst verwandelt.

Nachdem der Ausschuss seinen Bericht vorgelegt hatte, räumte sogar Premierminister Löfven ein, dass die Vorschläge „stark zugunsten der Arbeit,geber’Innen geneigt“ waren, und benahm sich damit, als ob angesichts des Initiators der Gesetzesänderungen und der Anweisungen an den Ausschuss dies eine Überraschung sei. Mit anderen Worten, ein besseres Ergebnis hätten die KapitalistInnen nicht verlangen können.

Zwei Hauptvorschläge des Berichts waren, dass es den UnternehmerInnen freigestellt werden sollte, fünf statt zwei ArbeiterInnen von der üblichen Regel „Zuerst drin, als LetzteR raus“ von Kündigungen auszunehmen, und dass das derzeitige Recht der ArbeiterInnen in kleineren Unternehmen, eine ungerechtfertigte Kündigung vor Gericht für ungültig erklären zu lassen, aufgehoben werden sollte. Wie die militante Gewerkschafterin Daria Bogdanska in einem Interview mit Arbetarmakt sagte, waren die Vorschläge des Berichts eindeutig nur als ein Anfang weiterer Angriffe gedacht und würden es „den Bossen viel, viel leichter machen, MitarbeiterInnen aus heiterem Himmel zu entlassen, selbst bei kleineren Konflikten, Ungehorsam oder einfach durch das Erfinden eines Grundes, um z. B. GewerkschaftsaktivistInnen loszuwerden“.

Die erste Verhandlungsrunde …

Während die LO-Führung als Teil des sozialdemokratischen Parteiapparats betrachtet werden kann (bis 1990 waren die LO-Mitglieder automatisch Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, und der/die LO-Vorsitzende hat immer noch einen Sitz im sozialdemokratischen Exekutivausschuss), muss die Gewerkschaftsführung immer noch eine Mitgliedschaft berücksichtigen, da sie in ihrer Rolle als Vermittlerin des wirtschaftlichen Klassenkampfes gefangen ist.

Schon vor den LAS-Verhandlungen konnten wir den Beginn einer Fragmentierung des LO beobachten, wobei eine Reihe von Gewerkschaften, darunter die 500.000 Mitglieder starke Kommunal, die größte LO-Branchengewerkschaft, die Kommunal- und Gesundheitsbeschäftigte organisiert, rebellierte und im Vorfeld der jährlichen Tarifvertragsverhandlungen mit der Koordinierung des Verbandes brach.

Diese Risse in der Bürokratie weiteten sich bereits vor Beginn der Verhandlungen aus, wobei innerhalb der LO-Führung hektische Aktivitäten stattfanden, um eine Einigung zu erzielen und damit das Gesicht der Regierung zu wahren. Bereits im Dezember 2019 konnte die Gewerkschaftspresse enthüllen, wie eine kleine Gruppe sozialdemokratischer LoyalistInnen innerhalb der LO-Führung aktiv an der Seite des Arbeit„geber“Innenverbandes arbeitete, um ein Abkommen vorzubereiten und sich im Vorfeld der Verhandlungen heimlich mit ihnen auf eine Absichtserklärung zu einigen. Der skandalöse Brief, der den kritischeren Gewerkschaftsteilen wie Kommunal vorenthalten wurde, machte deutlich, dass diese BürokratInnen bereits bereit waren, den UnternehmrInnen das Recht einzuräumen, jede/n ArbeiterIn nach Belieben zu entlassen, sogar noch vor jeglichen Verhandlungen.

In einem Antrag an den LO-Kongress erklärten die Gewerkschaften Kommunal und Seko (die Gewerkschaft der Beschäftigten im Dienstleistungssektor und in der Kommunikationsbranche), dass sie kein Vertrauen mehr in die Verhandlungen des Dachverbandes zu diesem Thema hätten, während Byggnads (Svenska Byggnadsarbetareförbundet; BauarbeiterInnengewerkschaft) äußerte, dass ihr Zutrauen in diesen „beschädigt“ sei. Der Berufsverband der Angestellten, TCO, sah ähnliche Proteste, bei denen u. a. LehrerInnen- und KrankenpflegerInnengewerkschaften drohten, dem Verhandlungskomitee ihr Vertrauen zu entziehen.

Den KritikerInnen gelang es jedoch nicht, die Verhandlungen zu stoppen, die mit der im Juni beginnenden ersten Runde starteten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der LO-Teil des Verhandlungsausschusses bereit erklärt, „große Zugeständnisse“ zu machen, d. h. Verrat an ihrer Mitgliedschaft zu begehen.

Dennoch waren die Verbandsspitzen nicht bereit, ganz so weit zu gehen, wie es die nun selbstbewussten VertreterInnen des schwedischen Kapitalismus verlangten, und die Verhandlungen scheiterten. Erneut wurde der Vorschlag an die Regierung zurückgegeben. Wieder einmal lag der Druck auf der Linkspartei, die sich in einer Art politischem Angsthasenspiels wiedersah. Würden sie ihre Drohung zurückziehen, jetzt, da sie die Regierung tatsächlich stürzen könnte? Würde Löfven in der Lage sein, den LO zur Wiederaufnahme von Verhandlungen zu drängen? Oder könnte er die Liberalen und die Zentrumspartei davon überzeugen, die Niederlage bei diesem Vorschlag zu akzeptieren?

Die Linkspartei ihrerseits interpretierte ihre Drohung mit der „roten Linie“ dahingehend, dass das LAS nicht per Gesetz und gegen den Willen der Gewerkschaften geändert werden dürfe. Wie die neue Vorsitzende der Linkspartei, Mehrnoosh „Nooshi“ Dadgostar, sagte, zöge sie neue Verhandlungen vor, aber ohne die Drohung einer Änderung per Gesetz, die, so argumentierte sie, durch die Drohung der Linkspartei, die Regierung zu stürzen, falls es dazu kommen sollte, zunichtegemacht wurde. Die Linkspartei wollte, erklärte Dadgostar, Premierminister Löfven „mehr Zeit“ geben (um die Parteien zu zwingen, die Verhandlungen zu erneuern), und dass erstere dann „das Problem lösen“ würde.

Was die Führung der Linkspartei jedoch nicht erklärt hat, war genau das, worüber die Parteien verhandeln sollten. Was sollte „gelöst“ werden? Selbst wenn die Drohung, das Gesetz im Parlament zu ändern, als aus der Gleichung herausgenommen betrachtet werden könnte (was nicht sicher war), würde dies nur dazu führen, dass die Gewerkschaften durch das Abkommen vom Januar gezwungen wären, über Angriffe auf die Beschäftigungssicherheit zu verhandeln.

Während die Linkspartei zögerte, handelten die Sozialdemokratische Partei und ihre Verbündeten in der Gewerkschaftsbürokratie. Sie bereiteten eine zweite Verhandlungsrunde vor, um einem Misstrauensvotum im Parlament zuvorzukommen, sei es auf Initiative der Linkspartei oder der rechten Opposition, die offen ihre Absicht erklärt, im Falle einer Machtübernahme die gleichen brutalen Angriffe auszuführen, selbst wenn sie die Regierung in dieser Frage zu Fall bringen sollte.

 … und die zweite Runde

Sobald die Verhandlungen gescheitert waren, trafen sich die LO-VertreterInnen wieder heimlich mit ihrem Gegenüber von der UnternehmerInnenseite, um die Wiederaufnahme der Verhandlungen zu erörtern. Wie die Gewerkschaftspresse berichtete, wurde diesmal sogar der LO-Exekutivausschuss außen vor gelassen, und die AnführerInnen kritischer Gewerkschaften wurden erst informiert, als ein Vorschlag für die Wiederaufnahme der Verhandlungen vorlag.

Da sie wussten, dass mehrere der Mitgliedsgewerkschaften ihre Ablehnung insbesondere in der Frage der Änderung der zulässigen Entlassungsbedingungen versprochen hatten, riefen die BürokratInnen, die für einen Verhandlungsabschluss waren, den Rest des Vorstands erst zu einer Sitzung ein, nachdem sie neue Verhandlungen vorbereitet hatten – „wie ein Blitz aus heiterem Himmel“, wie der Vorsitzende der BauarbeiterInnengewerkschaft bemerkte. Die BauarbeiterInnengewerkschaft gab daraufhin ihren Vorbehalt gegen die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit „einer Waffe am Kopf“ zu Protokoll, zusammen mit der MalerInnengewerkschaft, der Dienstleistungs- und Kommunikations-, der Gebäudeinstandhaltungs-, der Papier- und der TransportarbeiterInnengewerkschaft.

Trotzdem wurden neue Verhandlungen aufgenommen, die eindeutig dem Wunsch von Teilen der LO-Exekutive entsprangen, die sozialdemokratische Regierung zu retten und die Parteien der Liberalen und des Zentrums zu beschwichtigen. Wie ein/e GewerkschaftsvorsitzendeR gegenüber der Gewerkschaftspresse sagte, haben die VertreterInnen für einen Vertragsabschluss „offensichtlich die Regierung und die SozialdemokratInnen in Rechnung gestellt“, was ein/e andere/r GewerkschaftsvorsitzendeR als „die schlimmste Art von schmutzigen Tricks“ bezeichnete.

Doch selbst nach dieser beträchtlichen Anstrengung der Bürokratie für ein Verhandlungsabkommen konnte sich der Verhandlungsausschuss nicht auf die von den UnternehmensvertreterInnen vorgeschlagenen Angriffe einigen, und am 15. Oktober scheiterte die zweite Verhandlungsrunde. Am Ende lehnte die gesamte LO-Exekutive den zweiten Deal ab. Diesmal erschien jedoch die Verhandlungsdelegation der Angestellten- und FreiberuflerInnenverbände beschämend auf einer Pressekonferenz mit dem/r Vorsitzenden des Arbeit„geber“Innenverbandes und erklärte, sie „bedauere“ die Ablehnung des Abkommens durch den Gewerkschaftsdachverband und erklärte sich bereit, ein eigenes Abkommen zu schließen. Hier erklärten sich die TCO-BürokratInnen bereit, die LO-Beschäftigten den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen – ein Verrat, der verurteilt werden muss.

Zurück zum Parlament

Jetzt wickelt sich die Regierung wieder einmal fest. Während Premierminister Löfven erklärt hat, dass der weithin verabscheute Ausschussbericht zur LAS nun für ungültig erklärt wurde, ist die sozialdemokratische Führung unsicher, wie sie weiter vorgehen soll. Löfven deutet einen weiteren Ausschuss an, diesmal auf der Grundlage des nur vom Gewerkschaftsverband der Angestellten und freien Berufe akzeptierten Deals und mit den vom LO abgelehnten Angriffen auf den Kündigungsschutz. Hoffentlich – für Löfven – würde dies dann zu einer dritten Verhandlungsrunde führen, in der der LO irgendwie überzeugt werden könnte, die Angriffe abzusegnen. Mit anderen Worten, die Bedrohungen für die Beschäftigungssicherheit sind nach wie vor sehr real.

Unterdessen wird für die Linkspartei das, was im Januar 2019 impliziert war, nun klarer artikuliert. Die Partei tritt jetzt offener als ein externer (in der Praxis ausgeschlossener), aber loyaler Teil der Unterstützungsbasis der Regierung im Parlament auf. Ihr Hauptanliegen bleibt es, Löfven an der Macht zu halten, indem sie auf dem hohen Anspruch beharrt, sich als verlässliche und würdige Koalitionsnachwuchspartnerin für eine künftige sozialdemokratische Regierung zu positionieren. Bei den ersten wirklichen Tests ihrer berühmten „roten Linien“ zeigte die Parteiführung ihre Loyalität gegenüber den Interessen der sozialdemokratischen Bürokratie.

Die langfristige Strategie der Linkspartei bedeutet, dass sie letztlich auch nicht bereit ist, die sozialdemokratische Hegemonie über die Gewerkschaft und die breitere ArbeiterInnenbewegung anzufechten. Sie ist nicht in der Lage, das Vakuum zu füllen, das durch den Rückzug der SozialdemokratInnen aus einigen Hochburgen entstanden ist, ohne sie offen herauszufordern. Löfven weiß, dass die heutige Linkspartei eine rein parlamentarische Konstruktion ist. Wenn nur ihre Abgeordneten ihren Worten Kraft verleihen, ohne eine Bewegung in den Betrieben, in den Gewerkschaften oder auf den Straßen, die sie unterstützt, wäre eine Neuwahl für die Linkspartei ebenso gefährlich wie für die SozialdemokratInnen.

Neben einem Misstrauensvotum kann man über eine Reihe anderer Wege aus der Krise für die Regierung spekulieren, aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint keiner davon sehr wahrscheinlich. Die Liberalen und die Zentrumspartei könnten in ihren Forderungen nach einer „Reform“ des Kündigungsschutzes nicht leicht nachlassen. Die Linkspartei könnte die Regierung stürzen, aber ohne dass sich sonst etwas ändern würde, wäre wahrscheinlich eine blau-braune moderate/christdemokratische/schwedendemokratische die nächste, und die würde sicherlich die Rechte und Bedingungen der ArbeiterInnenklasse angreifen wollen, so wie es die jetzige Regierung versprochen hat.

Auch wenn Löfven den Liberalen und der Zentrumspartei ihre Änderungen im LAS-Gesetz verweigerte, könnten sie ihr altes Bündnis mit den Moderaten und ChristdemokratInnen nicht ohne weiteres reformieren, um eine neue Regierung zu bilden, da sich diese Parteien nun in eine entschieden konservative und rechte Richtung bewegt haben und damit beschäftigt sind, die Grundlagen für ein Bündnis mit den SchwedendemokratInnen zu legen.

Lösung zu welchen Bedingungen?

Wie die LO-Führung zu Recht betont, geht es bei den Verhandlungen und dem Vorschlag aus dem Abkommen vom Januar, der zu ihnen geführt hat, in Wirklichkeit um mehr als nur um Änderungen am LAS. Stattdessen vergleicht der LO den Prozess mit der Entwicklung eines neuen Saltsjöbaden-Abkommens (unter Bezugnahme auf den historischen Vertrag von 1938, der das „schwedische Modell“ für den Arbeitsmarkt einläutete und die Prinzipien des offiziellen, wirtschaftlichen Klassenkampfes regelte). Die Angriffe auf das LAS sollten daher als Beginn einer eskalierenden Demontage aller traditionellen Rechte der ArbeiterInnenklasse in Schweden betrachtet werden.

Wenn im Januar-Abkommen von „Flexibilität“ die Rede ist, dann ist das ein Code nicht nur für eine Rückkehr zum Arbeitsmarkt des frühen 20. Jahrhunderts mit TagelöhnerInnenarbeit und sehr schwachem Schutz für die ArbeiterInnenklasse, sondern auch etwas Neues, was die Art und Weise betrifft, wie die IT-Technologie die kapitalistische Produktion selbst weniger abhängig von festen (und für die ArbeiterInnenklasse „sicheren“) Strukturen für Lohnarbeit macht, die den Arbeitsmarkt des 20. Jahrhunderts und damit die Gewerkschaftsstrategie im schwedischen Modell charakterisierten. Vorbei ist die Zeit, in der eine LO-Gewerkschaft neue Beschäftigte in der Fabrik X einfach an ihrem ersten Arbeitstag als Mitglieder registrieren und sich dann 40 Jahre lang zurücklehnen und Beiträge eintreiben konnte, während sie in aller Ruhe Tarifverträge aushandelte.

Angesichts einer solchen Umgestaltung des Arbeitsmarktes, die bereits in vollem Gange ist, stellt sich nicht nur die Frage nach einem defensiven Kampf, sondern auch nach einer völlig anderen Art von Gewerkschaftsbewegung, die bereit ist, neuen Formen der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung entgegenzutreten. Die Frage ist nicht nur, ob die Führung der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenbewegung bereits gewonnene Reformen verteidigen kann, sondern ob sie dafür sorgen können, dass dieser Übergang zu den Bedingungen der ArbeiterInnenklasse und nicht zu denen des Kapitals gelöst wird. Der Kampf um das LAS ist ein Lackmustest dafür, wie alle beteiligten Parteien diese Herausforderung annehmen werden.

Die taktischen Manöver der sozialdemokratischen Führung zeigen deutlich, dass sie dem Machterhalt Vorrang vor einer prinzipientreuen Verteidigung der Rechte der ArbeiterInnenklasse einräumt. Und die Untätigkeit der Führung der Linkspartei zeigt (bestenfalls), dass sie nicht in der Lage oder nicht willens ist, gegen die Regierung zu kämpfen. Von den anderen Parteien im Riksdag, den offen bürgerlichen, können wir natürlich nichts anderes erwarten als fortgesetzte Angriffe, damit sie die Profite ihrer Klientele sichern.

Die Methoden der LO-Führung gegen die widerspenstigen Gewerkschaftsführungen, die sich bisher gegen die Angriffe gewehrt haben, zeigen, dass man ihr für eine langfristige Verteidigung nicht trauen kann, geschweige denn, dass sie bereit wäre, in die Offensive zu gehen. Auch können die TCO-Gewerkschaftsmitglieder nichts von ihrer Verhandlungsdelegation erwarten, was die pathetische Zurschaustellung ihres/r Vorsitzenden nach der zweiten Verhandlungsrunde Seite an Seite mit den Bossen unterstrichen hat. Die Lösung für die Arbeiterinnen aller Gewerkschaften, die nun Angriffen auf ihre Beschäftigungssicherheit ausgesetzt sind, besteht daher darin, sich zu unseren eigenen Bedingungen zu wehren.

Zurückschlagen

Seit Dezember 2019 zirkuliert in der Gewerkschaftsbewegung auf Initiative der Gewerkschaft in der Volvo-Lkw-Fabrik in Umeå eine Petition der ArbeiterInnen zur Verteidigung des Kündigungsschutzes. Alle GewerkschafterInnen sollten mit neuer Kraft versuchen, sie in ihrer Gewerkschaftsabteilung einzubringen. Verabschiedet und verbreitet die Petition der Gewerkschaft/ArbeiterInnen!

Aber eine Petition kann nur den ersten Schritt im Verteidigungskampf verkörpern. Die BürokratInnen in den Führungsetagen der Gewerkschaften führen ihr Leben oft unter völlig anderen Bedingungen als ihre eigenen Mitglieder und werden deshalb nicht mehr Widerstand leisten als den, zu dem wir sie zwingen. Die Führung der LO- wie auch die aller TCO-Gewerkschaften muss unter Druck gesetzt werden, keine neuen Verhandlungen zu diesen Bedingungen aufzunehmen, mit einem Mandat, nicht zu streiken, und wenn es bereits eine politische Vereinbarung über den Angriff auf die Beschäftigungssicherheit gibt.

Es sollte nur darüber verhandelt werden, wie die Bedingungen verbessert werden können, nicht darüber, wie viel schlechter die Dinge sein sollten. Wenn das Foulspiel des LO zur Erzielung einer Einigung und zum Ausverkauf unserer Rechte weitergeht, und es gibt keinen Hinweis auf das Gegenteil, müssen die AktivistInnen in den kritischen Gewerkschaften darauf hinwirken, dass ihre VertreterInnen nicht nur aus dem Verhandlungsausschuss ausscheiden, sondern auch mit dem LO vollständig brechen. Zieht das faule Mandat des Verhandlungsausschusses zurück! Keine Verhandlungen unter dem Galgen!

Neben der Petition der Beschäftigten und dem Druck der Basis für ein klares Nein zu neuen Verhandlungen müssen alle Beschäftigten, ob GewerkschafterInnen oder nicht, auch damit beginnen, politische Streiks vorzubereiten und zu organisieren. Diese Forderung ist z. B. auch vom Gewerkschaftsnetzwerk der Linkspartei und der (stalinistischen) Kommunistischen Partei erhoben worden, allerdings nur im Sinne einer kurzfristigen Protestaktion. Das würde nach der derzeitigen Praxis nicht gegen das tarifvertragliche Streikverbotsmandat verstoßen. Solche kürzeren politischen Streiks wären ein Schritt in die richtige Richtung, aber in dieser ernsten Situation können wir es uns nicht leisten, dort stehenzubleiben. Wir müssen wilde Streiks und einen allgemeinen politischen Streik organisieren, um die Angriffe abzuwehren und die Beschäftigungssicherheit zu stärken und nicht zu schwächen, unabhängig davon, was im Tarifvertrag über Streiks steht. Organisiert wilde Streiks!

Die Führungen des LO, des TCO, der SozialdemokratInnen und der Linkspartei sind auf die Probe gestellt worden. Wenn die ArbeiterInnenklasse mit Bedrohungen unserer Rechte konfrontiert ist und die KapitalistInnenseite ihre Positionen überall vorantreibt, wird uns der Weg der Kompromisse und Zugeständnisse nur in den Ruin führen. Da die KapitalistInnen nie in ihren Bemühungen nachlassen, unsere Ausbeutung zu verstärken, kann der Kampf zur Verteidigung des LAS nicht durch die parlamentarischen Erwägungen der ReformistInnen oder den Konsens innerhalb der LO eingeschränkt werden, wenn sie unsere Rechte ausverkaufen. Ein Zurückschlagen der Angriffe, sei es in Form eines Verrats durch die LO oder durch das Gesetz, durch politische Streiks wird der erste Schritt sein, um nicht nur den Kampf für das LAS zu gewinnen, sondern die ArbeiterInnenbewegung unter einer neuen Führung zu reorganisieren, die auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet ist und die ArbeiterInnenklasse nicht verraten wird.




Schulen coronafrei, statt für Corona schulfrei!

Richard Vries und Christian Gebhardt, Infomail 1128, 30. November 2020

Im ersten Lockdown noch sehr zurückhaltend agierend, blickt die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) nun ziemlich besorgniserregenden Zahlen und Aussichten entgegen: 3.200 Schulen in der BRD befinden sich Mitte November nicht im Regelbetrieb, 4,2 % der LehrerInnen und 3,4 % der SchülerInnen (26.123) waren derweil hessenweit in Quarantäne.

Die Fallzahlen-Dunkelziffer wiederum ist gerade bei Letzteren besonders hoch, da jüngere Menschen eher asymptomatische oder symptomfreie Krankheitsverläufe aufweisen, wohingegen die Weiterverbreitung entsprechend aktueller Studien zumindest unter den älteren Jahrgängen gleichbleibend hoch liegt.

Mit 52 an Covid-19 Verstorbenen innerhalb von 24 Stunden verbucht sich daneben auch noch Mittwoch, der 25. November 20, als bisheriger Negativrekordtag in Hessen sowie bundesweit, mit erstmals über 400 Verstorbenen.

Trotz alledem werden in jenem November 2020 in Frankfurt/Main und Offenbach (https://www.op-online.de/offenbach/corona-offenbach-hanau-darmstadt-maskenpflicht-main-kinzig-covid-19-hohe-inzidenz-90091554.html), obgleich Inzidenzwerte von weit über 200 bzw. 300 Infizierten pro 100.000 EinwohnerInnen registriert wurden, lediglich die positiv getesteten SchülerInnen in eine Quarantäne geschickt, nicht aber deren Kontaktpersonen. Hier gilt das Motto: Jedes Gesundheitsamt und jedeR SchuleiterIn entscheidet für sich selbst, was „vertretbar“ und vor allem „machbar“ ist, um das höhere Ziel der Weiterführung des Schulbetriebes zu gewährleisten. Da werden dann auch gerne mal Probleme schlicht und ergreifend „wegdefiniert“, wenn nun erst ab einer Inzidenz von 200 pro 100.000 EinwohnerInnen ein Hotspot für Schulen festgelegt ist. Der Sommer wurde vonseiten der Politik, u. a. des Kultusministeriums, verschlafen und die Schulen auf die absehbaren „harten Wintermonate“ nicht vorbereitet.

Warum wird an Schulöffnung festgehalten?

Es würde nur ca. 1 Milliarde Euro kosten, um alle Schulen in ganz Deutschland für diese Jahreszeit mit Luftfilteranlagen auszustatten. Kein Vergleich etwa zu den weiteren still und heimlich bewilligten 3 Milliarden Euro für die Autoindustrie im Monat November – ohne Auflagen oder gar benötigte, detaillierte Antragstellungen, versteht sich. Trotzdem soll dort etlichen Tausend MitarbeiterInnen gekündigt werden, wie das Beispiel bei der Lufthansa eindrucksvoll zeigt. Die Staatshilfen rollen weiterhin fast ungehemmt. Unterdessen gibt es bis dato nicht einmal kostenlose Masken für die Beteiligten an den Schulen.

Unabhängig davon untermalt die Bundesregierung immer wieder ihre Forderung nach dem Ausbleiben von Schulschließungen wie zum Anfang des Jahres. In Anbetracht der damaligen Erfahrungen hinsichtlich eines bis auf die Spitze getriebenen Auseinanderdriftens der Bildungsschere sowie der sozialen und digitalen Umstände ist das sicherlich auch nachvollziehbar. Wobei unter anderem von Markus Söder (CSU) nebenbei auch völlig offen der tatsächliche Grund für diese konsequente Haltung genannt wird: Die Betreuung der Kinder, damit ihre Eltern trotz der Pandemie weiterhin ihrer Arbeit nachgehen können.

Der Leiter des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, betont indes gebetsmühlenartig, dass kein einziges Bundesland die Empfehlungen seiner Bundesoberbehörde für Schulen bisher wirklich umsetze.

Hiernach würde schon bei 35 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen eine erweiterte Maskenpflicht im Unterricht gelten und nicht erst bei „deutlich mehr“ als 50 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen sowie ab der 7. Klasse, wie nun im gemeinsamen Beschlusspapier von Bund und Ländern am Mittwoch, den 25.11.20, verabschiedet. Tiefer greifende, unbestimmte Maßnahmen solle es demzufolge erst ab Inzidenzen von über 200 geben. Nach dem neu veröffentlichten „Corona-Fahrplan“ für Bayern und den dortigen „neuen Hotspots ab 200“ soll an weiterführende Maßnahmen in Schulen sogar erst ab einer Inzidenz von 300 gedacht werden.

Um den vorgeschlagenen Mindestabstand in Schulen aber überhaupt einhalten zu können, müssten, gemäß dem Ratschlag des RKI, allerdings bereits ab 50 Infektionen pro 100.000 EinwohnerInnen grundsätzlich eine Aufteilung von Schulklassen oder Wechselunterricht stattfinden. Letzterer ist aufgrund von Platz- und Personalmangel aber meist überhaupt gar nicht umsetzbar oder wird, obwohl mit eigenem und durchdachtem Konzept der jeweiligen Lehrkräfte vor Ort versehen, fortlaufend vom Kultusministerium und nun eben auch nochmal auf Bundesebene untersagt.

Die Rolle der GEW

Die GEW hat sich nach ihrem eher zaghaften Auftreten im ersten Lockdown immer stärker und mit klareren Forderungen hervorgetan. Sie verlangt die Umsetzung der RKI-Vorgabe nach Wechselunterricht, die Entzerrung der Arbeitslasten auf die Lehrkräfte sowie die Notwendigkeit des Ausbaus der Digitalisierung, um überhaupt einen effektiven und alle SchülerInnen erreichenden Wechselunterricht zu ermöglichen.

Aber auch andere Vorschläge der GEW-Vorsitzenden Marlis Tepe wie, die Räumlichkeiten von leeren Jugendherbergen zu nutzen, um dort zusätzlich Unterricht abzuhalten, werden vernachlässigt ebenso wie Unterrichtsstaffelungen oder Hybridunterricht, weil mit einer Welle der Hoffnung durch die zeitnahen Impfstoffankündigungen sowie bundesweit beschlossenen, verfrühten Winterferien ab Samstag, den 19. Dezember, etwaige Fortschritte in anderen Bereichen vereitelt werden.

Zusammenfassend für viele Bundesländer, darunter Hessen und Baden-Württemberg, haben sich keine substantiellen Änderungen kraft der „neuen“ Beschlüsse vom 25. November  ergeben. Außer einigen kosmetischen Beschlüssen (wie das Vorziehen der Weihnachtsferien) gab es keine neuen Vorgaben, die nicht schon in einigen Bundesländern seit Beginn des Schuljahres eingesetzt werden und sich dort als nicht ausreichend erwiesen haben. Das einzig Neue ist, dass an Schulen eine neue Teststrategie des Bundes Abhilfe schaffen soll. Sollte es zu einer positiven Infektion in einer Klasse kommen, sollen nun bundesweit alle MitschülerInnen dieser Gruppe für 5 Tage in Isolation gehen. Erst nach einem negativen Schnelltest soll der Besuch des Präsenzunterrichts wieder aufgenommen werden.

In Hessen wurde vonseiten des dortigen Landesverbandes der GEW die Initiative für eine Petition mit dem Aufruf „Hessen braucht ein Konzept für den Unterricht unter Pandemiebedingungen – und zwar jetzt!“ gestartet. Diese trifft an sich auch durchaus den Kern der Sache, wenn sie feststellt:

„Ausgerechnet im Bereich der Schulen mit 900.000 Schülerinnen, Schülern und Beschäftigten bleibt die Landesregierung untätig. Schwere Versäumnisse der vergangenen Jahre schlagen in dieser Situation zusätzlich zu Buche: Marode Schulgebäude, Fachkräftemangel, unzureichende Digitalausstattung usw. (…) Um flächendeckende Schulschließungen zu verhindern, müssen die Schulen zum Wechselmodell zwischen Präsenzunterricht und Distanzunterricht übergehen. Hierfür haben die Schulen bereits im Frühjahr praktikable Konzepte entwickelt, die weiter ausgebaut werden.“

Um auf eine solche Situation an den Schulen sowie entsprechende Forderungen gezielt aufmerksam zu machen, ist das Mittel der Petition hier zunächst sicherlich angebracht, aber eben auch bei weitem nicht genug. Die GEW sollte sich nicht hinter Petitionen und dem bloßen Propagieren von Forderungen verstecken. Sie sollte dazu übergehen, die Kraft ihrer Mitgliedschaft in die Waagschale zu werfen und physische Aktionen in Form von Kundgebungen, Personalversammlungen und Streiks zu organisieren. Ganz nach dem Motto: „Coronafreie Schulen statt für Corona schulfrei!“

Ansatzpunkte und Vorbilder

Denn Ansatzpunkte für gemeinsame Aktionen mit unseren SchülerInnen gibt es allemal. Ob in Kassel unter dem Motto „Unverantwortlich!“, in Berlin unter dem Slogan: „Schule sicher oder Schule zu!“ oder mit dem geplanten Streik an mehreren Schulen in Frankfurt/Main zeigen die SchülerInnen den LehrerInnen der GEW, welche Aktionsformen derzeit notwendig sind, um Druck aufzubauen. Hier sollte die GEW die Zusammenarbeit suchen und gemeinsame Aktionen mit den SchülerInnen planen.

Als Vorlage dafür dienen können auch Beispiele aus Frankreich. So berichtet die Junge Welt am 6. November: „Blockierte Schuleingänge, streikende Lehrer, Schüler die Flugblätter verteilen und Banner aufhängen. (…) Initiiert hat das ein breites Bündnis von Gewerkschaften, darunter die CGT, Force ouvrière sowie SNES-FSU, die größte Organisation im Erziehungsbereich. Letztere hat zum Streik bis zum 13. November aufgerufen, die CGT sogar bis zum Monatsende.“

Die Forderungen sind währenddessen nahezu deckungsgleich mit denen hierzulande.

Zum nationalen Aktionstag des Gesundheitsstreiks am 10. November beteiligten sich im Nachbarland indes 20 % der Lehrkräfte, im Großraum Paris sogar fast die Hälfte dieser an weiteren Protesten. Grund dafür mag wohl auch sein, dass ein noch breiteres Bündnis aus ganzen 6 Gewerkschaften dazu aufgerufen hatte. Alles übrigens unter Corona-Auflagen.

„Strategiewechsel statt Weiterführung des sozialpartnerschaftlichen Kurses für den ,Standort Deutschland‘!“ fordert zwischenzeitlich die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) in ihrer Abschlusserklärung vom 26.01.20 in Frankfurt/Main. Anders als mit einer solch klaren Richtungsänderung der Gewerkschaftsapparate insgesamt, angestoßen durch eine klassenkämpferische Basis, die nicht selbst die Kosten der Krise zahlen will, wird sich auch und gerade im Bereich von Bildung und Erziehung mittel- und langfristig nichts ändern. Dieser Tatsache muss jetzt die GEW entgegenblicken, um ihren Forderungen wirklich ernst gemeinten Nachhall zu verleihen.

Wir als Gruppe ArbeiterInnenmacht sprechen uns ebendeswegen für kämpferische Mobilisierungen zu Aktionen unter Einhaltung der Corona-Auflagen ein, sofern keine ausreichenden Hygienekonzepte an Schulen vorzufinden sind. Kontrollkomitees, zusammengesetzt aus LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern, sollten dann während eines Streiks selbst entscheiden, was passieren muss, damit die Einrichtung schnellstmöglich und coronasicher wieder geöffnet werden kann. Nur so kann schließlich verhindert werden, dass es nicht nur bei gutgemeinten Phrasen bleibt.

Die GEW hat hierfür im Vergleich zum Jahresanfang Schritte in die richtige Richtung gemacht. Zu beobachten wird bleiben, ob sie diese auch zielgerichtet fortführt und ihre Mitgliedschaft zusammen mit SchülerInnen, Eltern und der breiteren ArbeiterInnenbewegung mobilisiert. Um dies zu erreichen, dürfen wir uns zugleich nicht auf die Ankündigungen der GEW-Spitze verlassen. Klassenkämpferische Gewerkschaftsmitglieder müssen sich selbst an der Basis zusammenschließen und gemeinsam mit SchülerInnen und Eltern von unten Druck machen und gemeinsame Aktionen und Streiks einfordern, vorbereiten und organisieren, um sichere Schulen zu erkämpfen.

Schließlich eines führt uns diese Corona-Pandemie nunmehr deutlich vor Augen: Die Auswirkungen der Krise sollen wir bezahlen! Daher muss sich ein Kampf für sichere Schulen auch als Teil einer bundesweiten, ja internationalen Antikrisenbewegung begreifen.