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Britannien – Das Referendum über den Brexit und seine Nachwirkungen

Internationales Sekretariat der Liga für die Fünfte Internationale, 28. Juni 2016, Infomail 890, 29. Juni 2016

Der Sieg des „Brexit“, des britischen Austritts aus der Europäischen Union, vom 23. Juni hat Schockwellen nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt zur Folge. Börsen stürzten ab; manche erlitten größere Einbrüche als nach dem Zusammenbruch der Lehman Brothers 2008. Auch wenn die erste Panik verfliegen mag, so ist das nur ein Vorgeschmack darauf, was passiert, wenn die wirtschaftlichen Konsequenzen des Verlassens der größten Handelszone der Welt offenkundig werden. Während die führenden europäischen PolitikerInnen erklären, dass die EU überleben wird und keine weiteren Staaten dem britischen Beispiel folgen werden, haben populistische PolitikerInnen wie Marine Le Pen den Sieg des Brexit gefeiert und rufen zu einer Volksabstimmung in Frankreich auf. In Britannien selbst hat er die Büchse der Pandora des Rassismus und britischen Chauvinismus geöffnet.

Polnische Kulturzentren und Moscheen wurden mit rassistischen Parolen beschmiert. Kinder, die für MigrantInnen gehalten werden, wurden auf Schulhöfen beschimpft oder misshandelt, Erwachsene auf der Straße angegriffen. Die Polizei berichtet von einem alarmierenden Anstieg von Hassverbrechen. Zweifellos ist ein großer Teil davon das Werk bislang noch kleiner faschistischer Gruppen, aber etliches davon ist die direkte, wenn auch unorganisierte Folge des Hasses gegen MigrantInnen und Geflüchtete, der täglich von den vier bis fünf meistgelesenen Boulevard-Zeitungen verbreitet wird.

Spaltung der KapitalistInnen

Es ist auch den Milliardärsmedien zu verdanken, dass das Gift des Chauvinismus Sektoren der ArbeiterInnenklasse erfasst hat, die normalerweise Labour wählen, und erst recht die fremdenfeindlichen Teile der Mittelklassen und Millionen ArbeiterInnen, die ohnedies kein Klassenbewusstsein haben, regelmäßig die Tories wählen und keinen Gewerkschaften beitreten würden. Die Darstellung des Brexit als eine Rebellion des „Heart of England“ (des Herzens Englands) gegen die privilegierte, hauptstädtische Elite spielt direkt in die Hände der von Nigel Farage geführten UKIP (United Kingdom Independence Party). Sie lenkt außerdem auch von den wirklichen Gründen für das Referendum ab, der Spaltung der britischen KapitalistInnenklasse zwischen jenen, die groß und konkurrenzfähig genug sind, international zu operieren, und den kleineren, national orientierten, die das nicht können.

Diese Spaltung spiegelt sich in der Konservativen Partei wider, deren FührerInnen und Abgeordnete im Allgemeinen die Interessen der mächtigsten, aber zahlenmäßig sehr kleinen KapitalistInnen zum Ausdruck bringen. Die Basis der Partei besteht aber aus der viel größeren Zahl kleiner KapitalbesitzerInnen, den von ihnen Abhängigen, darunter oft deren Angestellte. In der Kampagne stellte sich eine Minderheit der Führung der Konservativen Partei – vor allem Boris Johnson und Michael Gove – auf die Seite der Brexit-BefürworterInnen, um ihre eigenen Aussichten zu verbessern, Cameron abzulösen. Wie fast alle AnalystInnen, so glaubten auch sie, dass sich die lange als sicher erscheinenden Prognosen erfüllen würden, dass das Remain (Verbleib)-Lager gewinnen würde und Britannien in der EU bliebe – allerdings mit Johnson als Premierminister.

Diese Fehlkalkulation hat den britischen KapitalistInnen eine tiefe politische Krise beschert. Ihre ganze ökonomische Strategie wurde durch ihre eigene politische Partei aufs Spiel gesetzt. Noch schlimmer: Die Austritts-Politik hat jetzt ein, wenn auch vollkommen fragwürdiges, „demokratisches Mandat“, und ihre Partei wird wahrscheinlich von jenen leichtfertigen Abenteurern geführt werden, die eine Mehrheit für den Brexit mobilisiert haben. Die Sache wird noch schlimmer dadurch, dass das ungewollte Resultat des Referendums nicht nur den fragilen Zusammenhalt der EU auf die Probe stellt, sondern auch das Auseinanderfallen des Vereinigten Königsreichs selbst, da sowohl in Schottland wie in Nordirland eine große Mehrheit gegen den Brexit stimmte.

Die Führung der Labour Party

Die Krise der bürgerlichen Klasse macht es umso schändlicher, dass die Labour-Rechte, die seit den Tagen Tony Blairs über eine Mehrheit in der Parlamentsfraktion der Partei verfügt, sich in dieser Situation entschlossen hat, einen lange geplanten Coup gegen den linken Parteivorsitzenden, Jeremy Corbyn, zu initiieren, der vor weniger als einem Jahr von einer großen Mehrheit der Mitglieder und UnterstützerInnen gewählt worden war.

Dem Narrativ von UKIP und der Boulevardpresse folgend, stellen sie das Ergebnis als Rebellion der „Kernregionen von Labour“ gegen die hauptstädtische Mittelklasselinke Londons und der großen Städte dar. Das ist eine ungeheuerliche Entstellung der Realität: Rund zwei Drittel der WählerInnen der Labour Party haben für den Verbleib in der EU gestimmt, während nur 40 Prozent der WählerInnen der Konservativen der offiziellen Politik ihrer Partei folgten, für den Verbleib zu stimmen.

Nichtsdestotrotz müssen revolutionäre KommunistInnen zur Kenntnis nehmen, dass eine signifikante Zahl von WählerInnen aus der ArbeiterInnenklasse für die durch und durch reaktionäre Politik des Brexit gestimmt hat. Diesem wurde durch die Kommunistische Partei Britanniens (CPB) und ihrer Tageszeitung, den „Morning Star“, der Socialist Workers Party (SWP, Schwesterorganisation von Marx21), der Socialist Party (Sozialistische Partei, Schwesterorganisation der SAV) und ihren jeweiligen Wochenzeitungen ein „linker“ Anstrich gegeben. Sie traten für einen „linken“ Austritt, den Lexit, ein und argumentierten, dass dieser die Pläne der herrschenden Klasse durchkreuzen und Cameron zu Fall bringen würde. Diese simple Herangehensweise an den Klassenkampf ruft uns Trotzkis ätzende Bemerkung in Erinnerung, dass jeder Idiot eine Meisterstratege wäre, wenn es nur darum ginge, überall dort, wo die herrschende Klasse ein Plus macht, ein Minus zu setzen.

Die CPB und die SP haben sogar mit der Idee geliebäugelt, dass die Migration tatsächlich ein Problem wäre, dass die Konkurrenz mit den polnischen ArbeiterInnen wirklich die Löhne gedrückt hätte. Die CPB tritt für eine Form kontrollierter Einwanderung ein. Die internationale Organisation der SP, das „Komitee für eine Arbeiterinternationale“ proklamierte den 23. Juni gar zu einem großen Sieg der ArbeiterInnenklasse und legte nahe, dass dieser zu einem Wahlsieg Jeremy Corbyns führen könnte. Die SWP unterscheidet sich davon immerhin positiv, indem sie die Forderung nach offenen Grenzen unterstützt. Gleichwohl hat sie mit ihrem Eintreten für den Brexit die ArbeiterInnen dazu aufgerufen, Grenzen, die bislang relativ offen waren, zu schließen! Nach der Abstimmung hat die SWP außerdem wenigstens realisiert, dass eine massive anti-rassistische Kampagne wegen der direkten Folgen ihres vorgeblichen „Sieges“ notwendig geworden ist.

Viele Menschen stimmten für den Austritt, weil sie um ihre Lebensbedingungen fürchten. Das ist zweifellos verständlich. Die Vorstellung, dass der Verbleib in der EU gegen ihre wirklichen Interessen verstoßen würde oder ihre Ängste vor Migration gerechtfertigt wären, beruht auf Einbildung und einer chauvinistischen Verkehrung der realen Ursachen der Probleme von Millionen. Aber was gab Schlagwörtern wie „Wiedererlangung der Kontrolle über das Land“, von „Souveränität“ und „Unabhängigkeit“ die Macht zu überzeugen? Es ist der zunehmende Verlust selbst von beschränkter Kontrolle über das eigene Leben, dieses nach eigenen Wünschen zu gestalten. Tony Benn hat vor Jahren Lord Actons bekanntem Ausspruch über die Korruption durch Macht dahingehend umformuliert, dass Machtlosigkeit korrumpiert und die absolute Machtlosigkeit absolut korrumpiert“. Das Maß an Macht über ihr eigenes Leben, dass ArbeiterInnen einmal errungen hatten, war das Resultat besser bezahlter Arbeit, sicherer Arbeitsplätze, sozialen Wohnungsbaus und expandierender Sozialleistungen. Nicht „Europa“ hat das alles zerstört, sondern die britische KapitalistInnenklasse, die an der Spitze des Neo-Liberalismus, der Privatisierungen, des Outsourcing und der Verlagerungen stand.

Das Ausbleiben jedes ernsthaften Kampfes zur Verteidigung der Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen durch Labour und die Gewerkschaften bedeutet, dass viele Menschen, besondern die älteren, erwerbslosen EinwohnerInnen in den niedergehenden, ehemaligen Industriestädten berechtigterweise auf das ganze „Establishment“ empört sind – seien es die PolitikerInnen aus dem Parlament in Westminster, die „ExpertInnen“ und BürokratInnen, die allesamt für die soziale Verwüstung ihrer Gemeinden verantwortlich sind.

Ein damit verbundener Faktor ist der Niedergang der Gewerkschaften, die nur noch halb so groß sind wie in den 80er Jahren. Zusammen mit einem Rückgang der Kampfkraft und Kampfbereitschaft bedeutet das, dass viele Menschen keine Erfahrungen mit gemeinsamen effektiven Aktionen gegen Entlassungen, Kürzung sozialer Dienste oder Wohnungsnot haben. Das hat sie für die Argumente der Rechts-PopulistInnen von UKIP unter Nigel Farage empfänglich gemacht, die etwas tun konnten, was die Austrittsbefürworter aus der konservativen Elite um Boris Johnson nicht tun hätten können. UKIP benutzte links klingende Demagogie über die langen Wartelisten beim sozialen Wohnungsbau, die Finanzierungskrise im Gesundheitswesen NHS, marode Schulen und niedrige Löhne, um dafür die migrantischen ArbeiterInnen verantwortlich zu machen.

Die offenkundigen Krisen der europäischen Union – die Bankenkrise, dann die Finanzkrisen in den Mitgliedsländern, die Austeritätskrise, die den schwächeren Ländern der Eurozone aufgezwungen wurde, und schließlich die sog. „Flüchtlingskrise“ im vergangenen Jahr – trugen alle zum weit verbreiteten Misstrauen gegen „Europa“ bei. Hinzu kam, dass mit Ausnahme von Corbyn und McDonnell alle PolitikerInnen auf beiden Seiten des Referendums „vergaßen“, dass der britische Kapitalismus 2008 selbst eine fundamentale Krise durchmachte. Sie „vergaßen“, dass die britischen Bosse Niedriglöhne durchgesetzt hatten und britische Regierungen, ob von den Tories oder Labour, eine Kürzungspolitik ohne jeglichen Druck von Brüssel durchsetzten.

Schließlich scheint es bei einem Referendum – anders als bei Parlamentswahlen, wo das undemokratische britische Mehrheitswahlrecht sicherstellt, dass die meisten Stimmen tatsächlich nichts zählen –, tatsächlich auf jede Stimme anzukommen. Was auch immer die unterschiedlichen Motive der einzelnen WählerInnen für ihre Wahl sein mögen, so werden sie zu einem Thema gebündelt. Das war zweifellos ein machtvoller mobilisierender Faktor für Millionen, die sich mehr und mehr von den beiden größten Parteien entfremdeten, die beide dazu aufriefen, in der EU zu verbleiben.

Aussichten

Das Anschwellen des antieuropäischen Chauvinismus wird im September VertreterInnen des rechten Flügels der Konservativen Partei, wahrscheinlich Boris Johnson oder Theresa May, an die Regierungsspitze bringen. Sie werden den Artikel 50 des Abkommens von Lissabon aufrufen müssen und mit harten Bandagen auf die Wirtschaft durchschlagende Verhandlungen mit der EU beginnen. Sie werden ferner sicher einen neuen Kürzungshaushalt verabschieden wollen. Die Bank von England hat signalisiert, 250 Milliarden britische Pfund aufzutreiben, wenn dies notwendig sein sollte, um die Banken und den Finanzplatz  London City zu stabilisieren, während sie für das Gesundheitswesen oder den sozialen Wohnungsbau keinen Penny übrig hat.

Der Einfluss von Farage und seiner UKIP wird während der Verhandlungen über den Brexit wachsen. Bei einer wahrscheinlich vorgezogenen Wahl dürfte diese Partei erstmals eine beträchtliche Anzahl von Parlamentssitzen gewinnen. Das ist um so wahrscheinlicher angesichts der Anstrengungen, Corbyn als Führer der Labour Party wegzuputschen. Dieser offene Verrat  wäre eine echte Chance für UKIP, die bewusst auf Stimmenfang bei Labour-WählerInnen in Kleinstädten und Vororten aus ist. Die UKIP hofft, dort große Einbrüche zu erzielen mit Hilfe ihrer Demagogie, dass ihr die sozialen Probleme und die vernachlässigte „einheimische“ (damit meint sie weiße) ArbeiterInnenschaft am Herzen lägen, während sie den eingewanderten ArbeiterInnen  aus Europa die Schuld an allen Unannehmlichkeiten in die Schuhe schieben will.

Da die ökonomische Schrumpfung, die sich schon vor der Brexit-Abstimmung abzeichnete, Britannien sehr hart treffen wird, kann auch die ‚Souveränität’ keinen Schutz vor den Kräften der Märkte, d. h. den Gesetzen des weltumspannenden Kapitalismus bieten. Wenn sich die Verhandlungen zwischen Britannien und der EU hinziehen, wird sich die Sachlage wirtschaftlich verschlechtern, und es wird sich klar zeigen, dass es kein Abkommen über einen kompletten Einwanderungsstopp geben kann. Dies birgt die große Gefahr, dass die Befürworter von direkter Aktion als einzigem Ausweg  Oberwasser gewinnen können. In einer solchen Atmosphäre werden erwartungsgemäß Rufe nach der Abschiebung von ausländischen Arbeitskräften und Flüchtlingen lauter und physische Übergriffe von faschistischen Gruppen häufiger. Rassismus wird in all seinen hässlichen Formen um sich greifen, wenn er nicht massenhaft  bekämpft wird. Über das Potenzial dazu verfügen nur Labour und die Gewerkschaften.

Nicht zuletzt wird die britische Entscheidung in Europa die eurofeindliche Rechte beflügeln, die bereits vor dem 23. Juni auf dem Vormarsch war. Front National in Frankreich und andere Gruppierungen in den Niederlanden, in Dänemark und einer Reihe von ost- und mitteleuropäischen Ländern, die den Austritt fordern und das Banner der nationalen Souveränität schwenken und ihren Hass auf EinwanderInnen hinausschreien, selbst wenn es bei ihnen kaum welche gibt, werden profitieren. Dies hat eine Gegenreaktion bei den europäischen HerrscherInnen hervor gerufen, auch teils unter der Wählerschaft wie in Spanien, wo es zu  einer Ablehnung des rechten wie linken Populismus und einem Zug zu der Geborgenheit traditioneller Parteien wie der konservativen Volkspartei von Mariano Rajoy gekommen ist, die – so denken sie – Stabilität gewährleisten kann.

Angela Merkels Antwort auf das britische Votum fiel im Gegensatz zu ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble unerwartet milde aus.  Ihre Äußerung zeugt von dem Bewusstsein, nicht zu stark gegenüber den schwächeren EU-Staaten auftrumpfen zu wollen, weil diese sonst mit Gedanken an Abstimmungen oder den Austritt spielen könnten, was die auseinanderdriftenden Tendenzen innerhalb der Europäischen Union verstärken könnte. Die Brexit-Seuche könnte sich leicht wie ein Wundbrand ausbreiten.  Zum anderen halten es viele für notwendig, Britannien zurückzuweisen, weil es die anderen ermutigt.

Die Schwäche der nationalen ArbeiterInnenbewegungen bei der Bekämpfung von Kürzungspolitik und beim Widerstand gegen den flüchtlingsfeindlichen Rassismus ist der mit entscheidende Faktor für das Anwachsen des reaktionären Nationalismus in Britannien ebenso wie in ganz Europa. Es ist ihnen nicht gelungen zu zeigen, dass „ein anderes Europa möglich“ ist, wie es bei den Euromärschen und anschließend bei den europäischen Sozialforen im Zeitraum von 1997 bis 2007 zu zeigen versucht worden ist.  Welche Ironie der Geschichte ist es, dass ausgerechnet im Augenblick, als der Kapitalismus in seine ernsteste Krisen- und Stagnationsperiode  seit dem 2. Weltkrieg eintrat, sich die Bewegungen der europäischen ArbeiterInnen und der Linken hinter die eigenen Landesgrenzen zurückgezogen haben.

Obschon es bedeutsame Ausnahmen davon gab, besonders in Griechenland, Frankreich, Belgien, Spanien und Portugal, lag es auf der Hand, dass die Bewegungen selbst dort durch nationale Beschränktheit beeinträchtigt worden sind. Notwendig sind nicht nur Solidaritätsbekundungen, sondern ist ein gemeinsamer Kampf aller europäischen ArbeiterInnen gegen ihre eigenen Regierungen, um zu verhindern, dass sie Kürzungen und sogenannte Arbeitsreformen durchdrücken. Auf dieser Grundlage können die EU-Behörden, die Kommission, die Zentralbank getroffen werden und zwar knallhart. Diese Institutionen sind nämlich nicht die allmächtigen Menschenfresser, als die sie die AustrittsbefürworterInnen hinstellen wollen. Die Verstärkung nationaler Spaltungen ist allerdings der völlig falsche Weg, sie zu bekämpfen.

Wenn die Regierungen Spaniens, Italiens, Frankreichs und schließlich Deutschlands daran gehindert werden können, ihre Politik des Sozialkahlschlags, der Lohndrückerei, der Deregulierung von Gesundheit, der Sicherheit am Arbeitsplatz und der Arbeitszeit  sowie der weiteren Einschränkung der Gesundheits- und Bildungsversorgung  durchzusetzen, dann kann ein ganzer Erdteil vom Kampf nicht nur um ein ‚soziales’, sondern ein sozialistisches Europa erfasst werden.

Deshalb brauchen wir nicht nur eine Gegenbewegung gegen Kürzungen und Rassismus und alle Auswirkungen des Brexit-Prozesses in Britannien, sondern gemeinsame Kampfmaßnahmen der ArbeiterInnen in ganz Europa.  Dies kann aber weder motiviert sein durch eine Verteidigung der bestehenden EU, ein Gebilde, das Griechenland und andere Mittelmeeranrainer zermalmt hat, noch durch einen Austritt seiner Mitgliedstaaten aus ihr.

Das Banner eines vereinten ArbeiterInnen-Europa, der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa, muss entfaltet werden: eines Gebietes, das seine Grenzen weit offen hält für Flüchtlinge und alle, die dort für dessen Aufbau arbeiten wollen. Ein solches Europa kann dazu beitragen, dass sich solche Regionen rasch entwickeln, wo der Mangel an Arbeitsstellen, Schulen und Krankenhäusern junge Leute dazu treibt, das Land zu verlassen und bei der Seeüberfahrt nach Europa ihr Leben zu riskieren. Dann wird die Bewegungsfreiheit für Menschen ein wahrhaft freiwilliges Gut sein und einander helfen, eine bessere Welt aufzubauen.




Internationale Solidarität statt Nationalismus und Festung Europa

Die Krise der EU und die „Flüchtlingsfrage“

Resolution von ArbeiterInnenmacht und Arbeiter*innenstandpunkt, Infomail 873, 26. März 2016

Ein EU-Gipfel jagt den anderen. Die Staats- und Regierungschefs, AußenministerInnen und die EU-Kommission verhandeln fast täglich das  sog. „Flüchtlingsproblem“, das vor allem ein Problem für die Geflüchteten ist.

Sinnbildlich für Millionen Opfer von Krieg, Unterdrückung und Vertreibung sitzen tausende Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan unter unmenschlichen Bedingungen an der griechisch-mazedonischen Grenze fest. Die „Balkanroute“ wurde für sie längst polizeilich-militärisch abriegelt. Mithilfe der türkischen Regierung, von Kriegsschiffen der NATO-Staaten unter Führung der deutschen Marine sollen die Flüchtlinge am Grenzübergang in das EU-Gebiet gehindert und in die Türkei zurückgeschickt werden. Jene, die es doch schaffen, haben sich an sog. „Hot Spots“ einzufinden, um dort der „zügigen“ Behandlung ihrer Asylgesuche zu harren und möglichst schnell abgeschoben zu werden.

Auf dem Rücken der Geflüchteten wird unter den europäischen Regierungen ein menschenverachtender Streit ausgetragen. Auf der einen Seite geben sich die deutsche Regierung unter Kanzlerin Merkel im Verbund mit EU-Kommissionschef Juncker als VertreterInnen der „europäischen Lösung“. Darunter verstehen sie eine Abriegelung der EU-Außengrenzen, gezielte, regulierte Zuwanderung, Verteilung von AsylbewerberInnen auf alle europäischen Staaten und die raschest mögliche Aufhebung von Grenzkontrollen im EU-Raum. Für diese Zielsetzung sind Abkommen mit der Türkei sowie den nordafrikanischen Staaten unerlässlich, die letztlich darauf hinauslaufen, dass der Staats- und Repressionsapparat dieser Länder als vorgelagerter EU-Grenzschutz eingesetzt wird.

Der vorgebliche „Humanismus“ dieser „europäischen Lösung“ besteht vor allem darin, dass das polizeiliche und militärische Abfangen der Flüchtlinge auf Territorien außerhalb der EU verlagert wird. Dabei wird nicht nur großzügig über die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, den Krieg gegen das kurdische Volk und Aushebelung der Meinungsfreiheit hinweggesehen. Wer wissen will, wie es zukünftig bei der „europäischen Lösung“ aussehen soll, der soll an die Grenzen Nordafrikas zu Spanien blicken. Dort haben Zäune und Grenzschutz die Zahlen der Flüchtlinge deutlich reduziert. Wer solche Hindernisse dennoch überwinden will, muss das Risiko in Kauf nehmen, bei Grenzübertritt beschossen zu werden oder im Mittelmeer elendig zu ersaufen. Auch wenn es niemand sagt: gerade das Mittelmeer, in dem allein 2015 fast 4.000 Geflüchtete ertrunken sind, soll abschrecken. Nicht „großzügige“ Rettung, sondern gezieltes Absaufen sollen die Geflüchteten stoppen.

Während Merkel und Co. ihre menschenverachtende Politik mit leerem Gerede von der „humanitären Verantwortung“, von der „Verpflichtung zur Menschlichkeit“ ideologisch verkleistern, verzichten die Gegenspieler aus Osteuropa, die österreichische Bundesregierung und ihre GesinnungsgenossInnen in anderen Ländern längst auf solche Floskeln. Für Leute wie Orban, die polnische Regierung, Rechts-Konservative wie Seehofer und erst recht offen rassistische Parteien (FPÖ, AfD, FN, …) gilt es als Markenzeichen, sich durch besonders inhumane, menschenverachtende Vorschläge hervorzutun. Gewendete Sozialdemokraten wie Faymann ziehen sich auf die Position eines vorgeblichen „Realismus“ zurück, demzufolge die „Aufnahmekapazität“ und eine sog. „Belastungsgrenze“ zur weiteren „Integration“ erreicht seien. Wer jetzt noch nach Europa fliehen wolle, der müsse v.a. abgeschreckt werden – auch wenn’s schwer falle.

Dass die Zahl der Flüchtlinge in die EU reduziert und „unter Kontrolle“ gebracht wird – darin bestehen grundlegend keine Differenzen. Wohl aber darüber, wie dieses „Problem“ in den Griff zu kriegen und wer dafür verantwortlich sei.

Das ist einerseits ein Kampf darum, wer die Kosten der sog. „Flüchtlingskrise“ zu übernehmen hätte. Deutschland drängt zur Zeit auf eine „europäische Lösung“, um einen Teil der Kosten auf andere EU-Staaten abzuwälzen und um die Schengen-Verträge im Sinne der exportorientierten Wirtschaft zu wahren. Natürlich geht es dabei ohne Zynismus und Doppelbödigkeit nicht ab. Jahrelang hatte die Berliner Koalition die Forderungen Italiens nach Übernahme von Flüchtlingen aus Afrika durch andere EU-Staaten mit dem Verweis auf die Dublin-Verordnungen kategorisch abgelehnt. Nachdem jetzt die Balkanroute dicht ist, weigert sich „natürlich“ auch die deutsche Regierung, Flüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen und so das Land zu entlasten. Im Gegenteil: bei aller Kritik an Faymann, Orban und Co. nehmen Merkel, Steinmeier und Schulz unmittelbare Auswirkungen von deren rassistischer Politik gerne mit. Dass es nur noch wenige Flüchtlinge nach Deutschland schaffen, soll schließlich auch die Berliner Regierung „entlasten“.

Die Frage der „Kostenverteilung“ ist jedoch nur eine Frage, die die EU entzweit. Es zeigt sich hier auch, wie fragil die „europäische Einigung“ selbst ist und wie provisorisch letztlich die „europäischen Institutionen“ sind. In den letzten Jahren konnte der deutsche Imperialismus v.a. den südeuropäischen Ländern seine Politik im Zuge der sog. „Schuldenkrise“ diktieren. Griechenland wurde weitgehend unter Kontrolle Brüssels und Berlins gestellt. Diese Gewaltakte waren Resultat der ökonomischen Vormacht Deutschlands im EU-Raum und v.a. in der Euro-Zone. Aber diese Politik trieb schon damals die EU an ihre Grenzen – nicht zuletzt weil sie v.a. dem französischen und italienischen Imperialismus nur allzu schmerzlich die dominante Rolle Deutschlands offenbarte.

Die „Flüchtlingskrise“ offenbart auch die Grenzen dieser Vormachtstellung. Die EU selbst ist kein Staat, sondern ein Staatenbund. Die politische Macht in der EU liegt nicht in Brüssel, aber sie liegt auch nur zum Teil in Berlin. Die Nationalstaaten verfügen über die Möglichkeiten, ihr „Recht“ geltend zu machen – und tun das auch. Dabei sieht sich die deutsche Regierung einer durchaus heterogenen gegnerischen Koalition im Inneren wie im Äußeren gegenüber, die aus unterschiedlichen Motiven handelt. Das trifft nebenbei auch auf ihre verbliebenen Verbündeten zu. Die „Flüchtlingsfrage“ ist dabei oft genug nur ein Vorwand.

a) Die neben Deutschland wichtigsten imperialistischen Länder – Frankreich, Britannien, Italien – lehnen die Berliner Politik in unterschiedlichem Ausmaß ab. Cameron will wegen der Abstimmung über den Verbleib Britanniens in der EU und der drohenden Niederlage gegen die nationalistische, rechte Mobilisierung nicht auch noch als „Grenzöffner“ dastehen. Aber zugleich ist die britische Regierung auf Zugeständnisse aus Berlin und Brüssel angewiesen, um im eigenen Land für den Verbleib in der EU werben zu können. Da Britannien nicht Teil des Schengen-Raums ist, nimmt es ohnedies nicht an der Freizügigkeit der EU im vollem Umfang teil. Mehr als für jede andere Regierung ist für die britische die Flüchtlingsfrage eine, mit der in anderen Belangen politisches Kleingeld gemacht wird. Anders als jede andere imperialistische Macht Europas jedoch hat Britannien kein Interesse daran, die kapitalistische Integration hin zu einem Supra-Staat voranschreiten zu lassen.

Frankreich, oder auch die Niederlande, befürworten zwar verbal eine „europäische Lösung“ – nennenswert Flüchtlinge aufnehmen wollen sie aber nicht. Andere wie Schweden haben ihre Grenzen mehr oder weniger dicht gemacht.

b) Italien, Spanien und generell die Länder Südeuropas haben ein Interesse an einer „europäischen Lösung“. Sie können noch am ehesten als Verbündete von Merkel und Co. gelten. Erstens richtet sich die Politik der osteuropäischen und Balkanländer direkt gegen Griechenland und Italien. Zweitens tragen im österreichisch-osteuropäischen „Modell“ im Zweifelsfall Griechenland, Italien, Spanien und Malta die Kosten für die Aufnahme von Flüchtlingen, die Abriegelung ihrer Grenzen und müssen obendrein auch die „humanitäre“ Verantwortung für die mörderische Drecksarbeit übernehmen.

c) Die EU-Mitgliedsstaaten Osteuropas haben im Kurs gegen Merkel lange Zeit eine „Vorreiterrolle“ übernommen, obwohl in die meisten von ihnen nur die wenigsten migrieren möchten. Schon die Übernahme einiger Zehntausend erschien Warschau, Prag oder den baltischen Staaten eine „Zumutung“. Hier mischt sich unverhohlener Rassismus mit dem „Gerechtigkeitsempfinden“ der selbst brutal Erniedrigten. Im Zuge der Restauration des Kapitalismus wurden große Teile der Industrie, ja der Ökonomie dieser Länder zerstört. Die Migration von Millionen Lohnabhängigen nach Westeuropa und Britannien ist nur die Kehrseite eines Überangebots an Arbeitskräften infolge des wirtschaftlichen Niedergangs. Die Bevölkerung musste durch Jahrzehnte von Spar- und Strukturanpassungsmaßnahmen. Wenn „wir“ schon bluten mussten, so soll anderen, so das Credo der osteuropäischen Regierungen, auch nichts geschenkt werden. Daraus speist sich in der Schulden-Frage ihre Unterstützung des eisernen Finanzministers Schäuble gegen die „faulen Griechen“. Jetzt soll auch den Flüchtlingen nichts geschenkt werden. Jüngst hat sich die österreichische Bundesregierung an die Spitze dieser Allianz gestellt. Sie hat jedoch durchaus andere Interessen als die Balkanstaaten, Ungarn usw. Die „Flüchtlingsfrage“ ist für den schwachbrüstigen österreichischen Imperialismus auch ein, noch dazu recht kostengünstiges Mittel, sich als „Führungsnation“ und „Schutzmacht“ der „armen Völker“ anzupreisen. Geht es gegen die Geflüchteten, schickt das „neutrale Österreich“ schon mal Grenzschützer nach Mazedonien.

(d) In einigen Ländern haben sich als Antwort auf die kapitalistische Krise links-reformistische oder links-populistische Parteien mit Massenanhang gebildet. Aber das blieb im Wesentlichen auf Südeuropa beschränkt. In der Regel ging die Bewegung nach rechts. Die Krise trifft oder bedroht nicht nur die ArbeiterInnenklasse, sondern auch das KleinbürgerInnentum, die Mittelschichten, ja auch die schwächeren Teile der Bourgeoisie. „Existenzangst“ macht sich breit. Die Konkurrenz nimmt real zu. Flüchtlinge und MigrantInnen werden als unmittelbare KonkurrentInnen, als Bedrohung des „eigenen“ Arbeitsplatzes, des Wohnraums, der „eigenen“ Kultur usw. in Stellung gebracht. Aufgrund der politischen Schwäche der reformistischen Parteien (ob nun Sozialdemokratie oder Linksparteien) und der Gewerkschaften, ihrer Klassenkollaboration und Politik des immer prekärer werdenden „sozialen Ausgleichs“ erscheinen die RechtspopulistInnen, RassistInnen bis hin zu offenen FaschistInnen als „radikaler“. Die Masse gesellschaftlicher Verzweiflung und Depression wird so zu einer reaktionären Kraft formiert. In vielen Ländern Osteuropas befinden sich die Kräfte längst an der Regierung. In praktisch allen anderen haben sie sich zu Parteien mit einer Millionenmasse von WählerInnen formiert (FPÖ, FN, AfD, UKIP, …). Auch wenn die meisten von ihnen schon seit Jahren im Aufstieg sind, so haben sie sich gerade durch ihren Rassismus und Nationalismus weiter gestärkt. Die bürgerlichen Parteien haben teilweise deren Forderungen selbst übernommen; die SozialdemokratInnen schwanken zwischen Übernahme (Faymann, Hollande) oder einem Kurs auf den „vernünftigen“, „humanistischen“ Teil des Kapitals bzw. seiner VertreterInnen. Das ist auch der Grund, warum in Deutschland die SPD verlässlicher hinter Merkel steht als weite Teile der CDU/CSU.

Kern des Konflikts

Um die Geflüchteten geht es dabei im Grunde nicht. Dass die Festung Europa „geschützt“ werden muss, darin besteht kein Dissens. In den wichtigsten Staaten der EU herrscht zweifellos auch Einigkeit, dass Massenmigration aus den halb-kolonialen Ländern außerhalb der EU auch in Zukunft notwendig sein wird. Es geht nur darum, dass die so selektiert wird, dass sie den (erwarteten) Anforderungen des Arbeitsmarktes entspricht, es geht also um kontrollierte Migration.

Der eigentliche Konflikt dreht sich um eine andere Frage. Es geht darum, was die EU sein oder, genauer, werden soll. Die Regierung und auch die EU-Kommission wollen, dass die EU in der Flüchtlingsfrage handele als wäre sie ein Staat. Das ist vom Standpunkt des deutschen Imperialismus, genau genommen seines vorherrschenden Flügels, aus auch folgerichtig. Wenn die EU zu einem weltmachtfähigen Block unter deutscher Führung werden soll, der es mit den USA und China aufnehmen kann, muss sie handeln wie ein Staat, muss ihre kapitalistische Integration nicht nur auf ökonomischer, sondern vor allem auch auf politischer Ebene voranschreiten. Daraus erklärt sich auch die Tiefe der aktuellen Konflikte, des Gegensatzes zwischen der deutschen Regierung und eines größeren Teils der EU-„Partner“.

Die Tatsache, dass sich die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten dem verweigert, zeigt, dass der deutsche Imperialismus nicht nur in der Flüchtlingsfrage eine Niederlage erlitten hat. Das wird letztlich auch durch ein Abkommen mit der Türkei nicht zu übertünchen sein, auch wenn Merkel das als „Erfolg“ gemeinsamer Anstrengung verkaufen wird. So lässt das jüngste Abkommen mit der Türkei Merkel das Gesicht wahren, doch gab es massiven Unmut gegen das Vorpreschen Berlins im bilateralen Gipfel mit der Türkei. Die EU verpflichtet sich, die lächerlich geringe Obergrenze von 72000 syrischen Flüchtlingen aus der Türkei legal aufzunehmen. Zugleich winken der Türkei schnellere Auszahlung der bereits vor langem vereinbarten Finanzhilfe von 3 Milliarden Euro, die Aussicht auf weitere 3 Milliarden sowie Erleichterungen beim Visaverfahren für türkische StaatsbürgerInnen. Ferner soll ein Modus für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen gefunden werden, der das Veto Zyperns umgeht. Im Gegenzug soll die Türkei alle „illegal“ nach Griechenland Geflüchteten zurücknehmen und darf sie nicht einfach abschieben, sondern soll die Genfer Flüchtlingskonvention beachten. Die 72000 Aufzunehmenden dürfen allerdings innerhalb der EU nur auf freiwillig zur Aufnahme bereite Länder verteilt werden.

Das ist auch die Ursache dafür, warum in Deutschland nicht nur (oder nicht einmal so sehr) der Aufstieg der AfD die CDU herumtreibt. Mit dieser rassistischen Partei gäbe es rein wahltaktisch betrachtet für die Konservativen sogar eine Alternative zur Großen Koalition und ein zusätzliches Disziplinierungsinstrument gegenüber SPD (und auch den Gewerkschaften). Aber der Konflikt um die „Zukunft Europas“ wird nicht nur von der deutschen Regierung mit den osteuropäischen oder der österreichischen ausgetragen, er zieht sich auch durch die herrschende Klasse in Deutschland und ihre Parteien.

In der Flüchtlingsfrage spitzt sich die Frage nach der Zukunft Europas, die Frage, ob eine kapitalistische Einigung möglich ist oder nicht, zu. Für die Gegner Merkels läuft die Frage letztlich darauf hinaus, dass die EU ein Bund von Nationalstaaten zu bleiben habe, der allenfalls durch einen gemeinsamen Markt und eine gemeinsame Währung verbunden sein solle. Die Einführung von Grenzkontrollen im Inneren der EU stellt auf Dauer freilich selbst das in Frage. Ohne Freizügigkeit des Verkehrs von Waren und Arbeitskräften fällt von der EU als „Wirtschaftsraum“ schon vieles weg; die Kosten für den wirtschaftlichen Austausch werden größer, die Tendenz zu einer „Renationalisierung“ wird stärker werden.

Umgekehrt hat aber die Krise der letzten Jahre gezeigt, dass selbst die aktuelle wirtschaftliche Konstruktion der EU und des Euro unter anderem an der fehlenden politischen Einheit leidet, dass das ungleichzeitige politische und wirtschaftliche Voranschreiten die inneren Widersprüche der EU vertieft, dass also ihr Auseinanderbrechen wahrscheinlicher wird. Ob das nun der Form eines „Endes“ der EU bedarf, sei dahingestellt. Es mag aber sehr wohl so sein, dass sie als eine, weniger wichtige Institution weiter existiert – aber an ihre Stelle andere Entwicklungen treten, um die sich die dominierenden imperialistischen Staaten formieren (z.B. Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten, ….).

Mit der Krise der EU um die Flüchtlingsfrage droht Merkels Politik zu scheitern, die EU in einen quasi-staatlichen, imperialistischen Block unter deutscher Führung zu manövriere. Daher (und letztlich nur daher) ist die aktuelle Krise auch eine, die ihre eigene politische Zukunft in Frage stellt. In jedem Fall aber verdeutlicht sie, dass es in der EU und v.a. mit der „Strategie“ des deutschen Imperialismus nicht mehr so weiter gehen kann wie bisher. Alles muss früher oder später auf den Prüfstand. Die aktuelle Krise und gerade die Rolle des österreichischen Imperialismus zeigen, dass auch auf einen langjährigen Verbündeten wie Österreich nicht immer und unbedingt Verlass ist, dass auch solche Länder früher oder später diszipliniert werden müssen. Ebenfalls teilen die anderen EU-Mächte nicht die geostrategische Ausrichtung der BRD auf das Schlüsselland Türkei.

Ob die aktuelle Krise mithilfe der Türkei „gelöst“ werden kann, ob sich eher die Vorstellungen der deutschen Regierung oder ihrer Gegner kurzfristig durchsetzen – in jedem Fall würde das zwei Entwicklungen mit sich bringen. Erstens würde es die Krise der EU verschärfen, deutlicher zu Tage treten lassen und damit auch die Notwendigkeit, deren Auseinanderbrechen oder die Neuformierung beispielsweise in Form eines Kerneuropas auf die Tagesordnung setzen. Zweitens gehen alle auf Kosten der Geflüchteten und MigrantInnen – und somit auf Kosten eines großen Teils der ArbeiterInnenklasse und Unterdrückten. In dieser Hinsicht sind beide Lösungen gleichermaßen reaktionär.

Die Führungen der ArbeiterInnenklasse – ob sozialdemokratische Parteien, Gewerkschaften, aber auch die „Linksparteien“, allen voran Syriza in Griechenland – haben sich in den Dienst ihres „eigenen“ nationalen Interesses gestellt. Die einen tun dies auf national-bornierte, rückwärtsgewandte Weise, indem sie sich vor den Karren des eigenen Kapitals und längst zur Utopie gewordener „nationaler wirtschaftlicher Unabhängigkeit“ spannen. Die anderen, indem sie sich mehr oder weniger der deutschen Variante einer Festung Europa mit „menschlichem Antlitz“, also der üblichen Verlogenheit anschließen. Eine eigenständige Klassenpolitik kann so nicht entwickelt werden.

Damit werden letztlich auch die zahlreichen HelferInnen, die seit dem Sommer 2015 viel Zeit, Energie und Enthusiasmus aufwandten, um angesichts behördlichen Versagens für die Notversorgung von Refugees zu sorgen, letztlich ausgelaugt, demoralisiert. So wichtig und richtig es ist, dass sie zu Zehn- wenn nicht Hunderttausenden geholfen haben und helfen, so lassen sich die unzureichende Versorgung der Geflüchteten, das mehr oder weniger bewusst in Kauf genommene „Chaos“ bei deren Unterbringung und die endlosen Hindernisse für ihre reale Integration in die Gesellschaft nicht im permanenten, selbstorganisierten Notbetrieb wettmachen.

Zentrale Forderungen

Entscheidend ist, dass es einer politischen Kampagne und Kämpfen der gesamten ArbeiterInnenklasse bedarf, um zentrale politische Forderungen landes- wie europaweit durchzusetzen:

1. Öffnung der EU-Außengrenzen, Aufhebung der Grenzkontrollen und Öffnung der Balkanroute! Aufhebung aller Einschränkungen des Asylrechts! Keine Abschiebungen! Kein Abkommen mit der Türkei, Nein zu Hot-Spots und dem Einsatz von Polizei und Armee zum Grenzschutz, Auflösung von Frontex und den EU-Sondereinheiten! Volle StaatsbürgerInnenrechte, für alle die in der EU leben!

2. Volle Freizügigkeit der Geflüchteten und MigrantInnen in ganz Europa! Weg mit allen nationalen wie europaweiten Einschränkungen der Freizügigkeit (z.B. Residenzpflicht in einigen Staaten, Kontigentlösungen zwischen europäischen Staaten)! Legalisierung des Status aller Menschen, die in Europa leben (wie der Sans Papiers)! Alle Refugees und MigrantInnen sollen – wie die BürgerInnen der EU – das Recht auf freie Wahl ihres Wohnortes haben.

3. Wohnraum für alle! Statt des Lagersystems treten wir für die Unterbringung der Geflüchteten in Wohnungen ein. Um ausreichend Wohnraum für die Geflüchteten wie für wohnungssuchende Jugendliche und Lohnabhängige, Arme und Obdachlose zur Verfügung zu haben, soll erstens zu Spekulations- und Profitzwecken leer stehender Wohnraum entschädigungslos enteignet werden. Zweitens kämpfen wir für ein staatliches Wohnungsbauprogramm unter Kontrolle der MieterInnen und Gewerkschaften, finanziert aus der Besteuerung von Unternehmensgewinne, großen Privatvermögen und Großgrundbesitz.

4. Wenn die „Integration“ kein leeres Gerede sein soll und Geflüchtete nicht gegen andere Arbeitssuchende ausgespielt werden sollen, müssen wir für das Recht auf Arbeit eintreten. Alle Zugangsbeschränkungen aufgrund von Flucht oder Nationalität müssen abgeschafft werden. Alle MigrantInnen und Flüchtlinge müssen zu den gleichen Mindestbedingungen eingestellt werden wie andere Lohnabhängige: zu einem Mindestlohn, der von der jeweiligen ArbeiterInnenbewegung festgelegt wird; zweitens zu tariflichen Verträgen mit Gesundheitsvorsorge, Urlaub und Rentenansprüchen. Drittens muss die Arbeitszeit auf 35 Stunden als Schritt zur Aufteilung der Arbeit auf alle Arbeitssuchenden verringert werden. Zusätzlich treten wir für ein Programm öffentlicher, gesellschaftlich nützlicher Arbeiten (im Gesundheits- und Bildungsbereich, für den Ausbau des Verkehrssystems und den ökologischen Umbau der Ökonomie) unter ArbeiterInnenkontrolle ein, um nicht „nur“ für Geflüchtete, sondern für alle Arbeitslosen und „Unterbeschäftigten“ Arbeit zu schaffen. Schließlich muss dieser Kampf angesichts weiterer drohender wirtschaftlicher Verwerfungen mit dem gegen Massenentlassungen und Betriebsschließungen verbunden werden.

5. Die „soziale Frage“ und der Kampf gegen jede Einschränkung demokratischer Rechte für die Flüchtlinge und MigrantInnen sind der Schlüssel, um der Spaltung der Lohnabhängigen entlang ihrer Nationalität oder ethnischen Herkunft wirksam entgegentreten zu können. Es braucht ein Aktionsprogramm, das die gesamte ArbeiterInnenklasse gegen Rassismus, Abschiebungen, rechte Hetze und Anschläge mobilisieren kann und das letztlich mit dem Kampf für eine Neuaufteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit verbunden ist. Die Forderung nach offenen Grenzen muss mit der Mobilisierung gegen Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit und Billigjobs verzahnt werden.

6. Gegen die zunehmende rassistische Hetze, Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte wie auch auf UnterstützerInnen braucht es effektiven Schutz. Die Polizei, der bürgerliche Staat haben sich hier wiederholt als „blind“ auf dem rechten Auge erwiesen. Wer sich auf diese verlässt, wird nur allzu leicht ganz verlassen. Es braucht vielmehr organisierte Selbstverteidigungsstrukturen von Geflüchteten, MigrantInnen, der Linken und der ArbeiterInnenbewegung. Nur so können diese eine Massenunterstützung erhalten, die z.B. aus Betrieben kurzfristig mobilisiert werden kann.

7. Der Kampf gegen Rassismus bedeutet auch, alle sprachlichen und sonstigen Barrieren für die Geflüchteten und MigrantInnen abzuschaffen. Vor Behörden, bei Arbeits- und Mietverträgen müssen sie ihre eigene Sprache sprechen können und Dokumente und ÜbersetzerInnen müssen kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Für alle Geflüchteten muss es ausreichend Sprachkurse in der jeweiligen Landessprache geben, für die Kinder und Jugendlichen das Recht auf muttersprachlichen Unterricht verwirklicht werden. Vom Standpunkt des gemeinsamen Kampfes aus wichtig ist die Öffnung der Gewerkschaften wie der gesamten ArbeiterInnenbewegung für die Geflüchteten. Ob und wie viele von ihnen in den Herkunftsländern LohnarbeiterInnen waren oder „besser gestellt“, ist letztlich nebensächlich. Entscheidend ist vielmehr, dass vielen von ihnen in Europa nur eine Perspektive als zukünftige Lohnabhängige offensteht. Die ArbeiterInnenklasse hat sowohl eine politische und moralische Verpflichtung, diesen Menschen beizustehen, wie auch ein Eigeninteresse, die Verbindung zwischen diesen (zukünftigen, oft durch rechtliche Diskriminierung vom Arbeitsmarkt ferngehaltenen KollegInnen) möglichst rasch herzustellen.

8. Der antirassistische Kampf beschränkt sich nicht auf die Solidarität und den gemeinsamen Kampf mit den Flüchtlingen und MigrantInnen, den Opfern der Überausbeutung (halb)kolonialer Unterdrückung durch den Imperialismus, Despotien, reaktionäre Regime, von Krieg und Bürgerkrieg. Bekämpfen der „Fluchtursachen“ bedeutet nichts weniger als der Kampf gegen die imperialistischen Interventionen der „eigenen“ herrschenden Klasse und ihrer Verbündeten. Es bedeutet auch die Unterstützung der Kämpfe gegen Ausbeutung, Unterdrückung, Diktatur – so z.B. die Solidarität mit der syrischen Revolution, dem kurdischen und palästinensischen Widerstand.

ArbeiterInneneinheitsfront gegen Rassismus!

Diese Forderungen, diese acht Punkte stellen für uns Schlüsselaspekte des Kampfes gegen Rassismus und für die demokratischen Rechte der Refugees und MigrantInnen dar. Um diese Forderungen in der gegenwärtigen Lage durchzusetzen, wird letztlich die Systemfrage, die Frage der gesellschaftlichen Ordnung aufgeworfen. Wer vom Kapitalismus, nicht reden will, dessen Anti-Rassismus wird letztlich hohl und rein moralisch, bürgerlich-humanitär bleiben müssen.

Aber wir wollen keinesfalls die Zustimmung zur Gesamtheit dieser Forderungen und ihrer inneren Verbindung mit der Notwendigkeit des Sturzes des Kapitalismus zu einer Voraussetzung für den gemeinsamen Kampf machen – für offene Grenzen, Schutz und Selbstverteidigung gegen RassistInnen und FaschistInnen, für Wohnraum oder das Recht aus Arbeit.

Wir kämpfen für eine europaweite anti-rassistische Bewegung, die sich diese Schlüsselforderungen zu eigen macht. Wir gehen aber davon aus, dass das nicht bloß oder in erster Linie durch Konferenzen oder Diskussionen um Forderungen zustande kommt. Oft mag es „nur“ möglich sein, eine solche Bewegung um einzelne dieser Forderungen oder auch nur um eine Aktionseinheit, eine Einheitsfront von Linken, MigrantInnen und ArbeiterInnenorganisationen herum aufzubauen.

Um die aktuelle rechte und rassistische Welle zu stoppen, ist es nicht nur notwendig, ein Aktionsprogramm zu erarbeiten und dieses zu verbreiten. Es geht vor allem darum, jene Kraft zu formieren, zu gewinnen, die sich wirksam entgegenstellen kann. Das ist die multi-nationale ArbeiterInnenklasse in ganz Europa, ob nun „InländerInnen“ oder MigrantInnen. Nur sie verfügt über die gesellschaftliche Kraft, ein solches Programm durch Massenmobilisieren, Demonstrationen, Streiks, Formierung und Unterstützung von Schutzgruppen gegen rechte Angriffe auch durchzusetzen.

Um die Klasse zu gewinnen, braucht es aber nicht nur die Kritik an der Politik ihrer bestehenden Organisationen und ihrer zumeist reformistischen Führungen. Es ist unerlässlich, die bestehenden Massenorganisationen immer wieder zum Kampf um ein solches Programm oder einzelne Forderungen aufzufordern. Natürlich wollen diese Führungen das in der Regel nicht; große Teile des Apparates dieser Parteien und Gewerkschaften sind hin und her gerissen, ob sie gegen Rassismus kämpfen oder selbst Sozialchauvinismus mit demokratischen Phrasen praktizieren sollen. Die sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen „ArbeiterInnenführerInnen“ ziehen es vor, dass es zu keiner gemeinsamen Aktion kommt oder wollen am liebsten möglichst große Teile der bürgerlichen Klasse dabei haben. Sie ziehen eine Staatsaktion dem Kampf vor.

Daraus darf aber nicht der falsche ultra-linke Schluss gezogen werden, dass sich Forderungen an sozialdemokratische Parteien, an „Linksparteien“ oder sozialdemokratisch geführte Massengewerkschaften „erübrigt“ hätten oder, dass diese nur an jene reformistischen Organisationen zu richten wären, die schon erklärt haben, dass sie gegen Rassismus kämpfen wollten. Im Gegenteil, der massive staatliche Rassismus, die Entstehung von landesweiten rassistischen Parteien, der Zulauf für offene FaschistInnen zeigen, dass sich ein tödlicher Gegner für die gesamte ArbeiterInnenklasse formiert, der, selbst wenn man wollte, durch die „Einheit“ der radikalen, anti-kapitalistischen Linken an den meisten Orten schon gar nicht mehr gestoppt werden kann.

Die „radikale Linke“, MigrantInnenorganisationen, der linke Flügel reformistischer Parteien, radikalere Teile des Kleinbürgertums (z.B. vom linken Flügel der Grünen) mögen für die notwendige Aktionseinheit leichter zu gewinnen sein, an vielen Orten deren „Kern“ bilden. Allein der Kampf gegen die Einreisebeschränkungen, für ausreichenden Wohnraum, für Arbeitsplätze für alle wird nur gewinnbar sein, wenn es gelingt, die organisierten ArbeiterInnen und, wo immer möglich, deren Organisationen in den Kampf zu ziehen. Auf Forderungen an die Sozialdemokratie, die Linksparteien, die Gewerkschaften, also alle Massenorganisationen, die historisch in der ArbeiterInnenklasse gewachsen und in dieser verankert sind, zu verzichten, heißt nicht, besonders radikal zu sein, sondern nur die eigene Passivität angesichts der Aufgabe, eine gemeinsame Kampffront zu bilden, pseudo-radikal zu verbrämen.

Genauso falsch ist es andererseits, die Bereitschaft der FührerInnen von Massenorganisationen zur gemeinsamen Aktion zur Vorbedingung für jedes reale Handeln zu machen. Initiativen von linken, radikalen Gruppierungen wie z.B. „Jugend gegen Rassismus“, die aus einem Schulstreik mehrerer tausend SchülerInnen erwachsen sind, stellen einen richtigen Ansatzpunkt dar, eine bundesweite Koordinierung und Bündelung der Kräfte wenigstens unter Jugendlichen zu schaffen. Niemand stellt in Frage, dass „Jugend gegen Rassismus“ heute noch keine Masseneinheitsfront darstellt. Deswegen aber fernzubleiben, wie es SAV und SDAJ tun, hat nichts mit dem konsequenten Eintreten für eine „Einheitsfront“ zu tun, sondern ist nur eine sektiererische Ausrede für die Ablehnung der gleichberechtigten Zusammenarbeit mit anderen Kräften der „radikalen“ Linken.

Schändlicher freilich als diese sektiererische Passivität von kleinen „linken“ Gruppierungen ist natürlich allemal die Passivität der Gewerkschaften oder die Weigerung ganzer „Spektren“ der mehr oder weniger „radikalen“ Linken, bundesweite und letztlich europaweite Bündnisse auf Basis klarer, einfacher Forderungen und der Verständigung zur Massenmobilisierung zu bilden. Diese Politik kann nur in den Ruin führen.

Die Einheitsfront für die wir eintreten, soll um klare Absprachen zur Aktion und konkrete Forderungen herum geschlossen werden. Gemeinsame Propaganda und „Welterklärungen“ sind dabei weder notwendig noch nützlich. Jede Gruppierung sollte das Recht auf Kritik der „BündnispartnerInnen“ auch bei der gemeinsamen Aktion haben. Die einzige Verpflichtung, die mit Bündnissen einhergehen sollte, ist jene der konsequenten Mobilisierung und der Umsetzung verpflichtender Absprachen. Bündnisse sollten auf das Praktische, auf den gemeinsamen Kampf gegen einen gemeinsamen Gegner beschränkt sein. Deshalb können und sollen sie auch an des „Teufels Großmutter“, also auch an verräterische, bürgerliche ArbeiterInnenführerInnen, an reformistische, bürgerliche ArbeiterInnenparteien und verbürokratisierte Gewerkschaften gerichtet werden.

Die Einheitsfront ist nicht nur notwendig, um die Massen im Kampf zu mobilisieren, ohne den Bruch mit „ihren“ Führungen zur Vorbedingung für gemeinsame Aktionen zu machen. Sie ist auch ein Mittel, den AnhängerInnen reformistischer Parteien zu helfen, ihre Vorstände, Abgeordneten, VertreterInnen, ja ihre MinisterInnen in der Praxis zu testen. Die Aufforderung zu einem Bruch mit den bürgerlichen Parteien, zu einem „Richtungswechsel“ ist dabei ein unerlässliches Mittel – weil so den AnhängerInnen dieser Parteien vor Augen geführt werden kann, dass sie für konsequente demokratische und soziale Forderungen gar nicht kämpfen wollen, zum Kampf regelrecht getragen werden müssen.

Das heißt, die Einheitsfronttaktik, wie sie vom Marxismus und vor allem von der Kommunistischen Internationale auf den ersten vier Kongressen entwickelt wurde, ist nicht nur ein Mittel zur Herstellung möglichst großer Einheit der Lohnabhängigen und Unterdrückten gegen Kapital, Staat oder reaktionäre Mobilisierungen. Sie ist auch ein Mittel, das Kräfteverhältnis innerhalb der ArbeiterInnenklasse zu ändern. Sie kann helfen, den Lohnabhängigen und zuerst wohl deren politisch aktivsten und bewusstesten Teilen klarzumachen, dass ihre politischen und gewerkschaftlichen Führungen dem Kampf ausweichen, selbst für die von ihnen proklamierten Versprechungen nicht kämpfen wollen.

Zweitens eröffnet sie aber auch ein Feld dafür, diesen Lohnabhängigen deutlich zu machen, dass der Verrat, die Kapitulation, die Klassenzusammenarbeit ihrer „VertreterInnen“ nicht nur deren Einbindung und Privilegien, nicht nur deren Verrat oder Feigheit zu verdanken ist. Die reformistische Strategie, den Sozialismus oder wenigstens Verbesserungen für die Massen über eine Serie staatlicher Reformen Schritt für Schritt einzuführen, den Kapitalismus immer mehr zu „humanisieren“ und zu „bändigen“, ist letztlich eine Utopie.

Gerade die Frage der Migration, der Flucht zeigt, auf welche Widerstände schon der Kampf für grundlegende demokratische Rechte von ein oder zwei Millionen Menschen in Europa stößt. Angesichts von fast einer halben Milliarde EinwohnerInnen in der EU, angesichts gigantischer Profite der großen Monopole wären die Summen für die Integration von ein paar Millionen Flüchtlingen kein großes Problem. Verglichen mit den Milliarden, die zur Rettung von Banken und Konzernprofiten verballert wurden, sprechen wir von geringen Summen.

Doch in der „europäischen Politik“ wird um die Interessen der imperialistischen Mächte wie die der nationalen KapitalistInnenklassen der halb-kolonialen Länder der EU gerungen. Für die Lohnabhängigen gibt es allenfalls schöne Worte. Die Realität sind jedoch weitere Kürzungsprogramme wie z.B. die Angriffe auf die Renten in Griechenland oder die französische „Agenda“, die Hollande gerade durchsetzen will. „Umverteilung“, „sozialer Ausgleich“ waren gestern. Allenfalls gibt es sie noch für einen kleineren Teil der „besser gestellten“ Lohnabhängigen. Für die Geflüchteten gibt es keine Demokratie, sondern Selektion. Entweder ab in ihre „sicheren Herkunftsländer“ oder eine „Zukunft“ als billige, rassistisch diskriminierte Arbeitskräfte.

Die Herstellung der Einheit der Klasse gegen diese Spaltungen bedeutet zugleich die Erhöhung ihrer Kampfkraft. Sie bedeutet aber auch, dass v.a. die bewusstesten ArbeiterInnen, die Avantgarde, für ein Programm gewonnen werden müssen, das davon ausgeht, dass der Kampf gegen Rassismus, für die elementaren sozialen Forderungen der ArbeiterInnenklasse, untrennbar mit dem Kampf um die Überwindung der Nationalstaaten und des Kapitalismus in Europa verbunden ist. In dem Sinne ist die Einheitsfront auch ein Mittel, diese politische Klärung unter den Lohnabhängigen voranzubringen, ihr Bewusstsein für die Tatsache zu schärfen, dass ihre Interessen letztlich im Rahmen des Kapitalismus nicht dauerhaft gesichert werden können. Der Alternative zwischen einer weiteren kapitalistischen Einigung Europas unter Führung der großen imperialistischen Staaten, allen voran Deutschlands, einem „Europa verschiedener Geschwindigkeiten oder dem Zerfall in „unabhängige“ Nationalstaaten mit ihren eigenen Währungen, Grenzen, der „Balkanisierung“ des Kontinents müssen sie die einzig fortschrittliche Alternative entgegenstellen: den Kampf für ArbeiterInnenregierungen und die Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas!