Skizze der Weltlage

Emilia Sommer, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nach der Pandemie Luft holen? Kaum möglich. Das letzte Jahr bot ein breites Repertoire an kapitalistischen Krisensymptomen. Angefangen mit dem noch immer anhaltenden Krieg in der Ukraine über große Aufstände wie im Iran oder in Sri Lanka, die mit massiver und gewaltsamer Repression bekämpft wurden und immer noch werden, bis hin zur Inflation und damit einhergehenden massiven Preissteigerungen. Als ob das nicht genug wäre, so merken wir schon jetzt sehr deutlich die Auswirkungen des Klimawandels wie beispielsweise bei der Flut in Pakistan, die im Spätsommer 2022 ein Drittel der Landesfläche überflutete. Es scheint, als würde eine Krise die nächste jagen, und dazwischen gibt es keine Zeit zum Aufatmen. Doch warum ist das so? Woher kommt das und wie wirkt es sich auf die ohnehin prekäre Lage von Frauen aus?

Es herrscht Krise – aber warum?

Ökonomische betrachtet, besteht der zentrale Grund für die gegenwärtige Krisenperiode darin, dass die Ursachen der Finanzkrise 2007/08 nie gelöst wurden. Die Regierungen haben nur deren Auswirkungen im Zaum gehalten. Im Kapitalismus erfordern Krisen eigentlich die Vernichtung von überschüssigem Kapital, um einen neuen Wachstums- und Expansionszyklus einzuleiten. Doch das hätte auch die Vernichtung von industriellem und Finanzkapital aus den imperialistischen Metropolen in großem Stil erfordert.

Stattdessen wurden sie mit der Politik des „billigen Geldes“ und massiven Schulden gerettet. Die Krisenkosten wurden durch soziale Kürzungen, steigende Preise und die Ausdehnung prekärer Arbeit (wie zum Beispiel Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse) auf den Rücken der Arbeiter:innenklasse abgewälzt – und natürlich auch auf die bäuerlichen Massen im globalen Süden.

Die Niedrigzinspolitik, die zunehmende Privatisierung von öffentlichen Unternehmen, eine massive globale Verschuldung und viele weitere „Maßnahmen gegen die Krise“ schafften es nicht, eine neue ökonomische Dynamik zu entfachen, und die Wirtschaft stagnierte. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass nun der Spielraum, die aktuelle Situation abzufedern, wesentlich geringer ist.

Durch die Coronapandemie wurde die sich vorher schon anbahnende erneute Wirtschaftskrise ausgelöst und massiv verschärft. Denn durch das Virus haben sich die Finanz- und die Gesundheitskrise synchronisiert. Im Zuge dessen stieg die Verschuldung auf das Dreifache des Welt-BIP (Bruttoinlandsprodukt aller Länder). Die Verwertung des Kapitals stagniert und es kommt zu einer zunehmenden Blasenbildung (Ausdehnung des spekulativen und fiktiven Kapitals).

Das Ergebnis: massiv steigende Konkurrenz zwischen imperialistischen Kräften im Kampf um die Neuaufteilung der Welt. Denn niemand verfolgt das Interesse, als „Krisenopfer“ von anderen übertrumpft zu werden. In diesem Zusammenhang muss auch die reaktionäre russische Invasion in der Ukraine betrachtet werden. Die Karten der internationalen Beziehungen werden neu gemischt und zugleich haben sie erhebliche Auswirkungen auf die globale Wirtschaftsordnung.

Dabei konnte die NATO unter Führung der USA ihre eigenen Interessen stärken und beispielsweise den Block der EU dazu bringen, die Wirtschaftsbeziehungen gegenüber dem russischen Imperialismus auf Eis zu legen. Durch den Krieg sowie die Sanktionen der G7 sind die Folgen der Unterbrechung der Getreide-, Gas- und Ölversorgung weit über Europa spürbar. Insbesondere die Inflation befeuert die aktuelle Lage.

Derzeit befinden wir uns bereits in einer globalen Hochinflationsphase, die laut einer Studie von Economic Experts Survey (EES), internationalen Wirtschaftsexpert:innen, bis 2026 anhalten könnte. Allerdings gibt es hier sehr große Unterschiede. Die höchsten Inflationsraten weltweit mit deutlich über 20 % werden in diesem Jahr in Nord- und Ostafrika, Teilen Asiens und Südamerika erwartet. Europa und Nordamerika haben durchschnittlich mit rund 10 % Inflationsrate zu kämpfen. In 50 asiatischen und afrikanischen Ländern ist die Ernährungssicherheit gefährdet. Infolge der erneut gestiegenen Lebensmittelpreise sind Hungersnöte und Hungerkrisen neben Angriffen auf die ArbeiterInnenklasse weltweit zu erwarten, was wiederum Regierungskrisen wie in Sri Lanka befeuert.

Konkrete Verschlechterung

Wie bereits geschrieben, hat die Coronapandemie  eine weltweite Krise ausgelöst, die die Situation der Frauen massiv verschlechterte. Dabei haben sie beispielsweise in  informellen Beschäftigungsverhältnissen schon während des ersten Monats der Pandemie 70 % ihres Einkommens verloren. Weltweit ging die Beschäftigung von Frauen zwischen 2019 und 2020 um 4,2 % zurück, während sie bei Männern um „nur“ 3 % sank, so ein Kurzbericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus dem Jahr 2021. Darüber hinaus haben die Doppelbelastung durch Carearbeit und die Gewalt gegen Frauen massiv zugenommen.

Das Problem an der aktuellen Lage besteht darin, dass vielerorts der Stand vor der Pandemie nicht wieder erreicht worden ist. Der Krieg in der Ukraine, der die Preissteigerungen befeuert, verschärft also die Situation erneut. Der Zustand einzelner Bereiche wie die Belastung in der häuslichen Carearbeit hat sich zwar gebessert, dennoch gibt es viele, in denen es zu einer Überlappung der Krisenfolgen kommt oder die Auswirkungen sich erst später bemerkbar machen wie beispielsweise bei der Frage der Altersarmut.

Beschäftigung und Armut

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) gibt in ihren Trends für 2023 an, dass Frauen und junge Menschen auf dem Arbeitsmarkt deutlich schlechter dastehen als der Durchschnitt der Lohnabhängigen. Weltweit lag die Erwerbsquote der Frauen im Jahr 2022 bei 47,4 Prozent, während sie bei den Männern 72,3 Prozent betrug. Dieser Unterschied von 24,9 Prozentpunkten bedeutet, dass auf einen nicht erwerbstätigen Mann zwei nicht erwerbstätige Frauen kommen. Konkret bedeutet das, dass mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen wurden und nun einen schwereren Einstieg haben.

Längerfristig verstärkt dies die kaum verwunderliche Tendenz, dass weltweit Frauen  häufiger von Armut betroffen sind als Männer. Hinzu kommt eine generelle verstärkte Altersarmut bei Frauen, die dadurch begünstigt wird, dass sie weniger im gleichen Beruf verdienen, durch Schwangerschaften teilweise aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden und danach meist für weniger Geld wieder integriert werden und generell häufiger in Teilzeitbeschäftigung gedrängt werden und somit weniger verdienen, um die Reproduktionsarbeit im Haushalt verrichten zu können.

Inflation und Energiepreise

Die aktuelle Lage mit der Teuerung von Lebensmitteln sowie Energiepreisen bedeutet, dass Frauen zum einen verstärkter in Armut leben. Im April 2022 publizierten die Vereinten Nationen den Bericht „Global Gendered Impacts of the Ukraine Crisis on Energy Access and Food Security and Nutrition“. Hieraus geht eindeutig hervor, dass der Ukrainekrieg global die Versorgung mit Lebensmitteln und Energie massiv verschlechtert hat. Dies liegt an der Schlüsselrolle Russlands und der Ukraine auf den globalen Märkten für Energie und Grundnahrungsmittel.

So sind die Lebensmittelpreise seit Januar 2022 um über 50 Prozent gestiegen, während Rohöl um über 33 Prozent teurer geworden ist. Über 90 Prozent des Weizens in Armenien, Aserbaidschan, Eritrea, Georgien, der Mongolei und Somalia wurden aus Russland und der Ukraine importiert. Dadurch sind diese Länder in hohem Maße von Ernährungsunsicherheit bedroht. Außerdem bildet die Ukraine eine wichtige Weizenquelle für das Welternährungsprogramm (WFP), das 115,5 Millionen Menschen in mehr als 120 Ländern unterstützt. Dabei ist zu betonen, dass dieser Engpass langfristig auftreten wird. Schätzungen gehen davon aus, dass 30 Prozent der ukrainischen landwirtschaftlichen Flächen aufgrund des Krieges nicht mehr nutzbar sind. Hinzu kommen schlechtere Ernten durch fehlende Kapazitäten, Felder instand zu halten, was die Situation perspektivisch verschärfen könnte.

Carearbeit – bezahlt und unbezahlt

Bekanntlich stellt der Sozial- und Pflegesektor ein wichtiges Beschäftigungsfeld für Frauen dar. Das wird auch deutlich, wenn man sich die Studie der ILO „The gender pay gap in the health and care sector: A global analysis in the time of COVID-19” aus dem Jahr 2022 genauer ansieht. Ihr zufolge liegt der Anteil der Arbeitskräfte im Gesundheits- und Pflegesektor an der weltweiten Gesamtbeschäftigung bei 3,4 % und ca. 67 % aller Beschäftigten in diesem Bereich sind weiblich. Herauszustreichen ist dabei, dass der Durchschnittsverdienst in diesem Sektor niedriger ausfällt als in anderen Segmenten des Arbeitsmarktes. Hinzu kommt, dass das geschlechtsspezifische Lohngefälle mit 24 % im Durchschnitt höher ist als in anderen Sektoren, was darin begründet liegt, dass auch hier Frauen wesentlich stärker in den schlecht bezahlten Bereichen arbeiten sowie miesere Bedingungen für den Wiedereinstieg nach einer Schwangerschaft vorfinden. Betont sei, dass die Pandemie die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert hat. Insbesondere die Situation in Krankenhäusern spitzt sich weiter zu.

Ebenso angespannt war sie bezüglich der unbezahlten Reproduktionsarbeit. Besonders betroffen waren hierbei Eltern sowie jene, die Angehörige zu Hause pflegen, durch den Wegfall von Schulen, Kitas und weiteren Unterstützungsangeboten. Dabei gaben  Mütter fast dreimal so häufig wie Väter an, dass sie den Großteil oder die gesamte zusätzliche unbezahlte Betreuungsarbeit aufgrund Schließung von Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen übernommen haben: 61,5 % der Mütter von Kindern unter 12 Jahren geben an, dass sie den größten Teil oder die gesamte zusätzliche Betreuungsarbeit übernommen haben, während nur 22,4 % der Väter tun. So ist es kaum verwunderlich, dass besonders diese Mütter die Gruppe verkörpern, die zwischen dem vierten Quartal 2019 und dem dritten Quartal 2020 im Durchschnitt der OECD-Länder am ehesten von der Erwerbstätigkeit in die Nichterwerbstätigkeit wechselten. Zwar hat sich die Situation unmittelbar durch die Öffnung der Betreuungsangebote wieder erholt. Doch die Pandemie hat die bereits existierende Kluft in der unbezahlten Reproduktionsarbeit verstärkt und durch die schlechtere Position von Frauen auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig verschlechtert.

Warum eigentlich?

Wie wir an diesen Beispielen sehen, trifft es Frauen in Krisensituation wesentlich stärker. Denn gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Diese Arbeiten sind zwar gesellschaftlich notwendig und letztlich auch für die Reproduktion des Gesamtkapitals erforderlich, aber sie werfen meistens keinen Profit für Einzelkapitale ab. Daher drängen diese darauf, dass die staatlichen Kosten dafür als erste gekürzt oder Leistungen ausgelagert und privatisiert werden. Diese werden also „eingespart“ oder teurer und somit für die ärmeren Schichten unerschwinglich.

Statistisch trifft dies daher Frauen besonders, da sie häufiger prekäre Arbeitsplätze wie Leiharbeits- und Teilzeitstellen besetzen oder im informellen Sektor arbeiten und so Schwankungen des Arbeitsmarkts stärker ausgesetzt sind. Dies findet häufig unter dem Deckmantel von mehr Zeit für die Familie statt. In Wirklichkeit nehmen Frauen aber häufiger diese Angebote an, da sie weniger Geld als ihr Partner verdienen. und wenn es dann darum geht, wer zu Hause bleibt und Reproduktionsarbeit verrichten soll, ist das praktische Ergebnis, dass es den Part trifft, der weniger verdient. So wird die geschlechtliche Arbeitsteilung weiter reproduziert, bedeutet aber auch, dass Frauen stärker von Krisen getroffen werden.

Die Ursache des Problems liegt also in der unbezahlten Reproduktionsarbeit, die versucht wird, ins Private hineinzudrängen, sowie in der geschlechtlichen Arbeitsteilung an sich. Das Sinnbild der bürgerlichen Kleinfamilie mit ihren Stereotypen verkörpern der Mann, als Hauptverdiener und Versorger; die Frau, die sich um die Kinder kümmert.

Perspektiven

Die aktuelle Weltlage spitzt sich immer weiter zu, die Krise breitet sich aus, die Fronten der imperialistischen Mächteblöcke verhärten sich und das offene Aufrüsten derer lässt vermuten, dass sich auch in Zukunft kriegerische Auseinandersetzungen häufen könnten. Die Ausbeutung und Unterdrückung halbkolonialer Länder nimmt stetig zu und die Klimakrise scheint mit aktuellen Taktiken der Regierungen unabwendbar. Damit einhergehend verstärken sich die Angriffe auf die Arbeiter:innenklasse und damit auch allen voran auf Frauen. Die Auswirkungen der Krise, die Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse und die Unterdrückung der Frau, stehen also in einem engen Verhältnis zueinander und bedingen sich teils gegenseitig. Um gegen kommende Krisen kämpfen zu können, braucht es ein Antikrisenprogramm, mit welchem in aktuelle ökonomische und soziale Kämpfe interveniert werden muss. Doch der Kampf gegen Frauenunterdrückung, Krisen und für die Umwelt kann nur Hand in Hand mit dem gegen den Kapitalismus erfolgen.




Widerstand: Aber wie?

Leonie Schmidt / Katharina Wagner, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

In den letzten Jahren haben die weltweiten Krisen immer mehr zugenommen. Seien es zum einen die Auswirkungen der Coronapandemie, Umweltzerstörung und zunehmender Klimawandel oder zum anderen der derzeit stattfindende Ukrainekrieg mit einhergehender Inflation und Energiekrise. Ursache von alle dem: der Kapitalismus. Die Kosten und Konsequenzen werden natürlich auf dem Rücken der Arbeiter:innenklasse ausgetragen. Zusätzlich kommen rechtskonservative Kräfte  in vielen Ländern an die Regierung oder rechte Bewegungen erlangen mehr Relevanz. Oftmals wollen diese Kräfte traditionelle, reaktionäre Rollenbilder vertreten und das Kapital stärken.

Die Wirtschaftskrise 2007/08 hatte bereits für einen starken Rollback gegen Frauen gesorgt und die Coronapandemie diesen zusätzlich verstärkt: erstens aufgrund einer neuen Wirtschaftskrise, welche durch die zugespitzte Lage katalysiert wurde; zweitens durch die Lockdowns, welche häusliche Gewalt verstärkten, sowie die Überlastung der Pflege, in welcher ebenfalls mehrheitlich Frauen beschäftigt sind. Hinzu kommen nun noch der seit Februar 2022 geführte Ukrainekrieg und die damit einhergehende Energiekrise, was zusammen genommen zu weltweiter Inflation und enormen Preissteigerungen geführt hat.

Auch diesmal leisten Frauen weltweit massiven Widerstand dagegen. So zum Beispiel im Iran, wo sie seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa (kurdischer Name Jina) Amini nach ihrer Verhaftung durch die „Sittenpolizei“ im September 2022 weiterhin ihren Protest unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadi“ (kurdisch für „Frauen, Leben, Freiheit“) gegen das religiöse, unterdrückerische Regime und die herrschende Diktatur auf die Straße tragen. Und das trotz enormer Repression, zahlreicher Verhaftungen, Folter und bereits vollstreckter Todesurteile. Mittlerweile konnten sie eine breite gesellschaftliche Unterstützung quer durch alle Altersgruppen und Geschlechter für ihren Kampf erreichen und damit enormen Druck auf das Regime ausüben.

Anlässlich des internationalen Tages gegen Gewalt an Frauen am 25. November gingen ebenfalls weltweit Frauen auf die Straße, um gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Eine weiterer großer Aktionstag unter dem Slogan „One Billion Rising“ fand am Valentinstag statt, an dem sich weltweit rund 1 Milliarde Frauen an dem Flashmob beteiligten, um gegen Gewalt an Frauen und für Gleichberechtigung einzutreten.

Darüber hinaus gab es in den letzten Jahren immer wieder große Proteste: Ob nun im Rahmen der letzten Sommer stattfindenden Verschärfungen des Abtreibungsrechts in den USA oder anlässlich des Austritts der Türkei aus der Istanbuler Konvention zum Schutz von Frauen im Juli 2021  – überall auf der Welt demonstrierten Millionen Frauen für ihre Rechte.

Des Weiteren spielen Frauen auch im Kampf gegen den derzeitigen Ukrainekrieg eine zentrale Rolle. So organisieren sie in Russland beispielsweise innerhalb der Bewegung „feministischer Widerstand gegen den Krieg“ (Feminist Anti-War Resistance; FAR) vielfältige Proteste gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine.

Was all diese feministischen Proteste eint, ist, dass sie meist (spontan) um aktuelle  Vorfälle entstehen und spezifische Forderungen aufstellen. Sie werden allerdings meist nicht mit anderen bestehenden Bewegungen wie z. B. der Klimabewegung oder Kämpfen gegen Preissteigerungen und Inflation koordiniert. Daher bleiben sie häufig national isoliert und stark hinter ihren Mobilisierungsmöglichkeiten zurück.

Was brauchen wir?

Für eine internationale, erfolgreiche Frauenbewegung müssen wir anerkennen, dass der Kampf um Frauenbefreiung (und die Befreiung anderer geschlechtlich Unterdrückter) eng mit dem gegen den Kapitalismus verknüpft sein muss, denn die Frauenunterdrückung wurzelt in der Klassengesellschaft und ihre materiellen Ursachen müssen abgeschafft werden, um diese selber vollständig verschwinden zu lassen.

Einen Fokus stellt dabei die Reproduktionsarbeit in der Arbeiter:innenfamilie dar, in welcher die Ware Arbeitskraft (re)produziert wird, also durch Hausarbeit, Erziehung, Carearbeit etc. Diese ist  wichtig für den Fortbestand des Kapitalismus und wird vornehmlich von Frauen ausgeführt. Es ist dabei wesentlich, deren Vergesellschaftung und gleiche Verteilung auf alle selbst als Teil des Klassenkampfes zu begreifen, als Kampf der gesamten Arbeiter:innenklasse.

Entgegen den bürgerlichen Vorstellungen einer alle Klassen umfassenden Frauenbewegung muss berücksichtigt werden, dass es auch unter Frauen gegensätzliche Klasseninteressen gibt und diese in einer solchen Bewegung nicht einfach „ausgeglichen“ werden können. So verfolgen Frauen des (höheren) Kleinbürgertums und der Bourgeoisie andere Interessen, wie bspw. Frauenquoten und Plätze in der Chefetage, während das für proletarische Frauen nicht relevant ist. Während letztere um existenzsichernde und gleiche Löhne kämpfen müssen, wollen bürgerliche „Schwestern“ und jene aus den gehobenen Mittelklassen diese möglichst gering halten, um die Profite und Einkommen ihrer eigenen Klasse zu sichern.

Ähnlich wie kleinbürgerliche Ideologien erkennen sie den engen Zusammenhang von Kapitalismus und Privateigentum mit der Frauenunterdrückung nicht, von der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ganz zu schweigen. Sie erblicken vielmehr in deren ideologischen Ausdrucksformen (Stereotypen, Geschlechterrollen, sexuellen Vorurteilen, Heterosexismus … ) die Ursache der Unterdrückung. Ihre Strategie erschöpft sich in verschiedenen Formen des liberalen, radikalen oder reformistischen Feminismus, was ihre relativ privilegierte Stellung als Kleineigentümer:innen oder Akademiker:innen (Bildungsbürger:innen) gegenüber der Masse der werktätigen Frauen widerspiegelt. Dementsprechend ist eine klare antikapitalistische Ausrichtung relevant sowie die Verknüpfung von Kämpfen der Frauenbewegung und der Arbeiter:innenklasse.

Angesichts des globalen Rechtsrucks ist es dabei unbedingt notwendig, sich als ersten Schritt auf gemeinsame Forderungen für den koordinierten globalen Kampf zu einigen. Dafür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:

1. Volle rechtliche Gleichstellung und Einbeziehung in den Produktionsprozess!

Auch wenn gefeiert worden ist, dass nun fast überall auf der Welt Frauen wählen dürfen, haben sie vielerorts nicht die gleichen Rechte. Das bedeutet praktisch beispielsweise erschwerte Scheidungsmöglichkeit oder keine politische Teilhabe. Ein Verbot, arbeiten zu gehen oder dies nur von zuhause aus tun zu können, bedeutet vollkommene ökonomische Abhängigkeit von Partner oder Familie. Dort, wo diese Frauen nicht organisiert sind, müssen wir die Gewerkschaften dazu auffordern, sie für unsere Reihen zu gewinnen. Dies ist ein wichtiger Schritt, der deutlich macht, dass auch sie Teil der Arbeiter:innenklasse sind.

2. Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Während Reaktionär:innen versuchen, den Lohnunterschied damit zu erklären, dass Frauen einfach in weniger gut bezahlten Berufen arbeiten, weil sie angeblich „nicht so hart arbeiten können“ wie Männer, ist für uns klar: Der Unterschied in der Lohnhöhe folgt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, die der Kapitalismus reproduziert. Der Lohn der Frau erscheint bis heute in den meisten Ländern als „Zuverdienst“ zu dem des Mannes.

3. Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Ob durch religiöse Vorschriften, rassistische Hetze oder Abtreibungsgegner:innen: Überall auf der Welt sind Frauen damit konfrontiert, dass man versucht, über ihre Körper zu bestimmen. Deswegen treten wir dafür ein, dass sie selbstständig entscheiden können, was sie anziehen dürfen oder ob sie schwanger werden oder bleiben wollen.

4. Recht auf körperliche Unversehrtheit!

Ob nun sexuelle Grenzüberschreitungen, Vergewaltigungen oder Femizide: Gewalt gegen Frauen ist allgegenwärtig!

Dabei ist herauszustellen, dass dies ein internationales Problem verkörpert und nicht auf bestimmte Regionen bzw. Religionen beschränkt ist, wie manche Reaktionär:innen behaupten. Es ist vielmehr eine Frage der gesellschaftlichen Basis und der politischen Bedingungen, wo und wie stark religiöse Vorstellungen zur Ideologie rückschrittlicher Bewegungen werden und Einfluss gewinnen.

Essentiell ist es, die Forderung nach Selbstverteidigungskomitees aufzuwerfen, die in Verbindung mit der Arbeiter:innenbewegung und den Unterdrückten stehen. Der Vorteil solcher Strukturen besteht darin, dass Frauen nicht passive Opfer bleiben sollen, sondern man ihnen die Möglichkeit gibt, sich aktiv gegen Unterdrückung zu wehren. Daneben ist diese Forderung für Marxist:innen wichtig, weil wir nicht auf Polizei oder Militär als verlässliche Verbündete setzen können. Diese stehen oft vielmehr auf der Seite der Täter oder sind selbst welche. Außerdem schaffen Selbstverteidigungsstrukturen ein Gegengewicht gegen ihr Gewaltmonopol und das des bürgerlichen Staates allgemein.

5. Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Dies ist eine essentielle Forderung, um die Doppelbelastung von Frauen zu beenden und letzten Endes auch einer der Schritte, die die geschlechtliche Arbeitsteilung – und mit ihr die Stereotype – beenden. Grundgedanke ist es, die Arbeit, die wir tagtäglich verrichten, um uns zu reproduzieren (essen, Wäsche waschen, Kindererziehung), nicht länger im stillen Kämmerlein alleine zu absolvieren, sondern sie kollektiv zu organisieren und auf alle Hände zu verteilen. Dies kann dann beispielsweise in großen Wohneinheiten, Kantinen oder Waschküchen erfolgen.

Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung!

Diese Frauenbewegung muss multiethnisch und international sein, da das Patriarchat und der Kapitalismus ein weltweites System darstellen und es in den vorherrschenden kleinbürgerlich geprägten Feminismen oftmals nur um „die westliche, weiße Cisfrau“ geht. Es ist wichtig, dass eben auch die Belange von Frauen aus halbkolonialen Ländern oder rassistisch Unterdrückten in imperialistischen Staaten ins Zentrum gerückt werden, weil sie unter besonders heftigen Formen der Ausbeutung leiden und, global betrachtet, den größten Teil der proletarischen Frauen ausmachen.

Des Weiteren darf es sich nicht nur um einen losen Zusammenschluss handeln, da dessen Mobilisierungspotential zeitlich ebenso wie in der Schlagkraft begrenzt ist, wenn es sich nur um unkoordinierte lokale bzw. nationale Aktionen handelt. Die Frauenbewegung steht dann letzten Endes vor zwei Aufgaben:

Erstens, sich als globale, organisierte Bewegung um gemeinsame Ziele, verbindliche Aktionen und Kampagnen zu koordinieren. Dazu müssen gemeinsame Bezugspunkte wie die obigen Forderungen gefunden, aber auch gemeinsame Kämpfe verschiedener Strömungen geführt werden. So bspw. mit der Organisierung von Streiks im öffentlichen Dienst, der Umweltbewegung oder der Bewegung gegen Rassismus. Beispielsweise könnte auch der gemeinsame Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen oder den Ukrainekrieg relevant werden. Diese Forderungen müssen in die Bereiche unseres alltäglichen Lebens getragen werden wie Schule, Uni und Arbeit. Hier müssen wir uns dafür einsetzen, dass darüber nicht nur geredet wird, sondern auch konkrete Errungenschaften damit einhergehen. Dafür müssen Aktions- und Streikkomitees aufgebaut werden. Mit diesen alltäglichen Forderungen wie bspw. Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist es revolutionären Frauen möglich, einen gemeinsamen Kampf auch mit Reformist:innen oder kleinbürgerlichen Feminist:innen führen.

Entscheidend ist jedoch, welche Klasse einer solchen Bewegung ihren Stempel aufdrückt. Oben genannte Forderungen können dabei die Grundlage für den Aufbau einer internationalen, proletarischen Frauenbewegung bilden, in der Revolutionär:innen um politische Hegemonie und Führung kämpfen.

Eng damit verbunden damit ist eine zweite Aufgabe, nämlich für eine Internationale zu werben und die Notwendigkeit dieser Organisierungsform aufzuzeigen. Eine Bewegung braucht nicht nur gemeinsame Forderungen, sondern auch eine Führung und klare klassenpolitische Ausrichtung, um erfolgreich zu sein. Wohin lose, wenngleich dynamische Bewegungen führen, können wir an verschiedensten Kämpfen sehen: seien es der Arabische Frühling, Fridays for Future oder auch die Frauen*streikbewegung. Die Dominanz bürgerlicher, kleinbürgerlicher oder reformistischer Kräfte hat diese Bewegungen selbst in eine Krise oder gar zum Scheitern geführt.

Revolutionäre Frauen stehen daher nicht „nur“ vor der Aufgabe, in aktuellen feministischen Bewegungen und anderen Foren und Kämpfen um eine klassenpolitische Ausrichtung zu ringen.  Wir müssen uns auch in aktuelle Tarifauseinandersetzungen beispielsweise im öffentlichen Dienst einschalten. Auch die Unterstützung von Klimaaktivist:innen oder Aktionen zum Kampf gegen Inflation und Preissteigerungen sind eine wichtige Aufgabe von Revolutionärinnen. Zudem müssen wir unter jenen Kräften, die die Notwendigkeit einer internationalen, ja selbst einer proletarischen Frauenbewegung anerkennen, zu Konferenzen aufrufen, um zu gemeinsamen Forderungen und international koordinierten Aktionen zu kommen. Dazu müssen wir auch reformistische Organisationen wie Linkspartei, DGB-Gewerkschaften oder selbst die SPD sowie feministische Gruppierungen und Kampagnen ansprechen, um so vor allem deren Basis in die Aktion zu ziehen, gemeinsame Kämpfe zu führen und zugleich praktisch die Fehler der reformistischen Führung offenzulegen.

Die gemeinsame Aktion und der Kampf für eine internationale Frauenbewegung erfordern auch ein internationales Programm und den Kampf für eine neue Arbeiter:inneninternationale. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Frauenunterdrückung selbst untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden ist, also nur durch den Sturz dessen wirklich beseitigt werden kann. Daher ist der Kampf für eine proletarische Frauenbewegung untrennbar mit dem für eine revolutionäre, Fünfte Internationale verbunden.




Indiens reaktionäres Regime und die Lage von Frauen

Jonathan Frühling, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

1,4 Milliarden Menschen zählt die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Laut Prognosen des IWF könnte Indien bereits im Jahr 2027 auf Rang vier aufzurücken – und damit Deutschland überholen. Doch Größe allein bedeutet nicht Reichtum. Indien ist ein Land voller Widersprüche, ein extremes Beispiel für die kombinierte und ungleichzeitige Entwicklung im Rahmen des imperialistischen Weltsystems. So entsteht das Bild einer aufstrebenden Macht, die zwischen Hightechindustrie und massiver Armut der Bevölkerung hin- und herpendelt. Im Folgenden wollen wir uns dabei die Lage von Frauen genauer anschauen. Doch bevor wir dazu kommen, wollen wir eine kurze Skizze der aktuellen Regierung und ihres Regimes geben.

Das Regime der BJP

Seit 2014 wird das Land von der Bharatiya Janata Party (Indische Volkspartei; BJP), einer der rechtesten Regierungsparteien der Welt, regiert. Die BJP hängt einer Ideologie an, die als Hindutva (hinduistischer Nationalismus, kurz Hindunationalismus) bezeichnet wird. Der Hinduismus wird als einzig legitime Kultur im indischen Staat angesehen. Alle anderen Kulturen, Religionen, Nationalitäten, Indigene und untere Kasten gelten als feindliche und schädliche oder jedenfalls als untergeordnete Elemente, die oder deren Widerstand bekämpft werden müssen. Das betrifft vor allem Muslim:innen, Kashmiri, Sikhs, Dalits (unterste Kaste) und Adivasi (Indigene).

Sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik werden als Kulturkampf inszeniert. Nach außen werden die Kulturen anderer Staaten als Gefahr angesehen, im Inneren werden die anderen Religionen, d. h. vor allem der Islam, Ziel der Hetze des Hindunationalismus. Die Funktion dieser Ideologie besteht darin, Feindbilder zu schaffen, um gleiche Hindu verschiedener Klassen bzw. Kasten an den Staat und seine kapitalistische und neoliberale Politik zu binden.

Denn es ist gerade die neoliberale Politik, die den Premierminister Narendra Modi Zustimmung unter den Kapitalist:innen einbringt. Während wichtige Teile des indischen Großkapitals lange in der Kongresspartei ihre politische Vertretung sahen, schwenkten in den letzten 10 – 15 Jahren fast alle Großkonzerne zur BJP um. Und diese agiert ganz in deren Interesse.

So erfolgten während der ersten Amtszeit Modis massive Angriffe auf die Gewerkschaften und Arbeitsschutzgesetze wie die Aufhebung des Rechtsschutzes für Festanstellungen und von Arbeitszeitbeschränkungen. Doch das ist nicht alles. Im Zuge von Modis Amtszeit hat sich das politisch-gesellschaftliche Klima extrem nach rechts verschoben.

Aufrufe zum Mord an Menschen muslimischen Glaubens durch hohe hinduistische Kleriker waren nur die Spitze des Eisberges an Volksverhetzung. Diese politische Stimmung hat auch bereits schon zu Pogromen geführt, wie z. B. 2020 in Delhi. Damals griff ein hinduistischer Mob muslimische Viertel an, um Protest gegen ein antimuslimisches Gesetz zu verhindern. Es starben dabei 26 Muslim:innen und 15 Hindus.

Bei der BJP handelt es sich zwar nicht um eine genuin faschistische Organisation, aber sie stützt sich sehr wohl auf rechte faschistoide Milizen wie die Bajrang Dal (Brigade Hanuman; Jugendflügel der Vishva Hindu Parishad; VHP. Diese ist wiederum auf dem rechten Flügel der Sammlungsbewegung Sangh Parivar angesiedelt) und die Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligenorganisation; RSS). Die RSS ist eine paramilitärische, rechtsgerichtete hindunationalistische Gruppe, die über 50.000 Zweigstellen und Waffenausbildungslager besitzt. Sie wurde in den 1920er Jahren als antibritische, aber auch streng hinduistische und antimuslimische Organisation gegründet. Stark von Mussolini und Hitler beeinflusst, soll sie heute zwischen 5 bis 6 Millionen Mitglieder zählen. Sangh Parivar (Familie der Verbände) ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Hinduorganisationen, die von der RSS hervorgebracht wurden, wobei die Regierungspartei BJP eng mit ihr verbunden ist, sich auf sie stützt und ihre Agenda bedient.

Anders als ein faschistisches Regime kamen Modi und die BJP nicht infolge der Machteroberung einer kleinbürgerlich-reaktionären Massenbewegung an die Regierung. Sie zerschlugen auch nicht die organisierte Arbeiter:innenbewegung. Aber unter Modi etablierten sie einen parlamentarisch-demokratisch legitimierten Bonapartismus. Die rechten Verbände wie die RSS stellen zwar nicht den Kern der Regierungsmacht und des Staatsapparates dar, wohl aber organisierte kleinbürgerliche Hilfstruppen, vor allem gegen religiöse und nationale Minderheiten.

Während Modis Regime den großen Kapitalen enorme Zugewinne brachte und versucht, Indien in deren Interesse als Machtfaktor zu etablieren, so ist seine Regierung auch für die Masse der Frauen in Indien eine Kampfansage.

Die Lage von Frauen

Die widersprüchliche Situation innerhalb Indiens wird deutlich, wenn man die Lage von Frauen betrachtet. Aus dem Artikel „Why Indian women may lead the tech world of tomorrow“, von  Times of India am 4. Mai 2020 veröffentlicht, geht hervor, dass Frauen fast 50 % aller Studierenden im MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik)-Bereich umfassen und Indien mit 42 % den höchsten Anteil an weiblichen MINT-Absolvent:innen auf der ganzen Welt hat.

Ihr Anteil an den Beschäftigten in Wissenschaft, Technik und technologischen Forschungsinstituten liegt aber bei nur 14 % und zeigt damit ein zentrales Problem des Landes auf. Denn sieben Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Indien noch immer gering, teilweise sogar rückläufig.

1990 waren noch 35 % aller Frauen beschäftigt. Heute sind es nur noch 25 %, womit Indien auf Platz 145 von 153 Ländern liegt. Hierbei ist anzumerken, dass diese Zahl vor allem so gering ist, da Frauen wesentlich häufiger im informellen Sektor arbeiten, also keine offiziellen Verträge (und damit einhergehenden Arbeitsschutz) haben. Interessant ist jedoch, dass der Anteil der Frauen, die einer Erwerbstätigkeit nachgehen, in den Städten geringer ist als in den ländlichen Gebieten, obwohl es dort eigentlich mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und höhere Löhne gibt. Der entscheidende Grund dafür ist aber, dass die Familien von Kleinbauern/-bäuerinnen und Arbeiter:innen in diesen Regionen ohne weibliche Erwerbsarbeit nicht überleben könnten.

Ein ähnliches Szenario ist auch bei den alphabetisierten Frauen zu beobachten. 35,5 % aller Frauen sind Analphabetinnen (und nur 19,1 % aller Männer). Obwohl die Alphabetisierung die Erwerbstätigkeit von Frauen fördert, ist in den meisten Bundesstaaten nur ein geringer Anteil der gebildeten Frauen in der Stadt erwerbstätig. Auf der anderen Seite ist der Anteil der alphabetisierten Frauen auf dem Lande in verschiedenen Bereichen der bezahlten Arbeit viel höher als in den Städten.

Auch wenn keine offiziellen Zahlen verfügbar sind, so ist davon auszugehen, dass die Coronapandemie die Situation nochmal drastisch verschlechtert hat. Mit einem Minus von 7,7 % hat die Wirtschaft in Indien deutlichere Einbußen hinnehmen müssen als in anderen Ländern. Allein der Tourismusbereich ist um rund 58 % eingebrochen. Die Arbeitslosenquote stieg von 5,3 auf 8,0 %. Die Inflationsrate ist von zuvor 3,7 auf nun 6,6 % angestiegen und extrem viele Jobs im informellen Sektor sind weggefallen.

Das zeigt schon mal eines: Frauen in Indien sind keine homogene Masse, sondern ihre Situation ist stark von ihrer Herkunft geprägt, von ihrer Klassen- und Kastenzugehörigkeit, ihrer Nationalität oder Religion. Dies kann man auch an der Frage der häuslichen Gewalt nachvollziehen. Laut Regierungsumfragen ist jede dritte Frau häuslicher Gewalt ausgesetzt. Besonders betroffen sind dabei Dalitfrauen, die ungefähr 16 % aller Frauen ausmachen. Sie haben beispielsweise einen sehr eingeschränkten Zugang zur Justiz und in Fällen, in denen der Täter einer dominanten Kaste angehört, herrscht für diesen weitgehende Straffreiheit. Dalitfrauen gelten daher als leichte Zielscheibe für sexuelle Gewalt und andere Verbrechen, da die Täter fast immer ungestraft davonkommen. So zeigen beispielsweise Studien, dass in Indien die Verurteilungsquote bei Vergewaltigungen von Dalitfrauen unter 2 % liegt, während sie bei Vergewaltigungen aller Frauen in Indien 25 % beträgt.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer Probleme: Frauen und besonders Mädchen leiden auch deutlich öfter an Mangelernährung, da es üblich ist, dass Frauen erst nach den männlichen Teilen der Familie essen und für diese oft nicht mehr genug übrig bleibt. Frauen werden massiv für ihre Menstruation diskriminiert, die als unrein angesehen wird und zum Teil sogar dazu führt, Tempel nicht mehr betreten zu können. Die Folge dieses Tabus und natürlich der Armut ist eine katastrophale Menstruationshygiene, auf die 70 % aller Unterleibserkrankungen bei Frauen zurückzuführen sind. Nur ca. 18 % aller Menstruierenden haben ausreichend Zugang zu Hygieneprodukten.

Arrangierte Ehen sind bis heute die Regel in Indien. Manche Quellen gehen von bis zu 90 % aus. Arrangiert werden die Heiraten traditionell von den Familien und Angehörigen, in den letzten Jahren aber auch zunehmend von Daitingseiten (im Auftrag beider Partner:innen), um so eine standes- und statusgemäße Heirat zu erzielen. So sind Hochzeiten von Angehörigen verschiedener Kasten bis heute mit nur rund 5 % eine Rarität, Heiraten über religiöse Grenzen hinaus sind mit nur 2 % noch seltener.

Die Lage unter der BJP

Trotz gesetzlicher Verbote wird die Gabe einer Mitgift (Geld und/oder teure Geschenke, die die Familie der Braut an die Familie des Bräutigams zahlen muss) bei der Verheiratung einer Frau gesellschaftlich erwartet. Wird die Mitgift als zu niedrig angesehen, läuft die Braut Gefahr, ermordet zu werden. Ca. 25.000 Mädchen und Frauen erleiden jedes Jahr dieses Schicksal. Die Geburt vieler Mädchen kann deshalb eine Familie finanziell ruinieren. Zum Teil müssen die Frauen auch selbst jahrelang arbeiten, um die Mitgift an die Familie des Mannes selbst bezahlen zu können.

Die Folge dieses Umstandes ist, dass Mädchen häufig abgetrieben oder geborene getötet werden. 52,1 % aller Kinder zwischen 0 und 6 Jahren sind Jungen. Dieses Problem versuchte die Modi-Regierung, seit 2015 mit der Kampagne „Beti Bachao, Beti Padhao“ (Rettet die Tochter, erzieht die Tochter) zu adressieren. Dass dies jedoch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, zeigen die Daten der Regierung selber. Mehr als 56 % der Gelder wurden von 2014/15 bis 2018/19 für „medienbezogene Aktivitäten“ ausgegeben. Im Gegensatz dazu wurden weniger als 25 % der Mittel an die Bezirke und Staaten ausgezahlt und über 19 % von der Regierung gar nicht erst freigegeben.

Dies fasst die Politik der BJP recht gut zusammen. Auf den ersten Blick wirkt es so, als ob in Modis Regime Frauen einen Platz haben. So wurden in seiner Amtszeit auch teilweise Gesetze verabschiedet, die ihre Situation punktuell verbessern. 2021 wurde das Gesetz über den medizinischen Schwangerschaftsabbruch (MTP) abgeändert. Zwar sind Abtreibungen in Indien seit 1971 legal, allerdings nur unter bestimmten Vorraussetzungen. Diese wurden im Rahmen der Reform abgeändert. Beispielsweise ist es nun auch für unverheiratete Frauen möglich, legal abzutreiben. Ebenso wurden die Beratungsbedingungen angepasst, sodass es nun möglich wäre, dass Frauen statt nur bis zur 20. bis zur 24. Schwangerschaftswoche abtreiben können. 2017 hat das Parlament ein Gesetz verabschiedet, das den bezahlten Mutterschaftsurlaub von 12 auf 26 Wochen für Beschäftigte aller Unternehmen, die mehr als 10 Mitarbeiter:innen beschäftigen, verlängert. Dies gilt jedoch nur für die ersten beiden Kinder, danach verkürzt sich die Elternzeit wieder auf 12 Wochen.

Doch fundamental verbessern diese Gesetze die Situation von Frauen nicht. Anrecht auf Kinderbetreuung haben beispielsweise nur Frauen, die in Betrieben mit 50 oder mehr Beschäftigten arbeiten. In einem Land, in dem ein großer Teil der weiblichen Erwerbstätigen entweder selbstständig ist oder im informellen Sektor arbeitet, führen diese Bedingungen zwangsläufig dazu, dass viele Frauen von den Leistungen (wie auch bei MBAA, der Reform zum Mutterschaftsurlaub) ausgeschlossen werden.

In der Praxis führt das jedoch dazu, dass laut einer Umfrage von India Today-Axis My India (das Meinungsforschungsinstitut, das die Ergebnisse der nationalen Wahlen im Mai 2019 am genauesten vorhersagte) 46 % der Frauen für die BJP und ihre Verbündeten stimmten, 27 % für den Kongress und seine Verbündeten und 27 % für andere Parteien. Im Vergleich dazu stimmten 44 % der Männer für die BJP und ihre Verbündeten. Bei der letzten Wahl stimmten also mehr Frauen als Männer für die BJP, auch wenn es nur 2 % waren.

Die BJP inszeniert sich also bewusst als „frauenfreundliche“ Kraft, macht Zugeständnisse, wo sie kann, und schafft es so, Wählerinnen zu mobilisieren. Gleichzeitig macht sie aber nicht Politik im Interesse „aller“ Frauen, sondern konzentriert sich überwiegend (nicht ausschließlich) auf wachsende Mittelschichten und agiert im Interesse der herrschenden Klasse.

Vor allem aber wendet sich das Modi-Regime an die Frau als Hindu. Ideologisch bezieht sie sich auf das tradierte Bild der Hindufrau als Mutter, Fürsorgerin und Göttin. So forderte beispielsweise der BJP-Abgeordnete Sakshi Maharaj im Jahr 2015 alle Hindufrauen auf, mindestens vier Kinder zu gebären, um die hinduistische Religion zu schützen (India Today, 2015). Mehrere Bundesstaaten haben auch Antikonversionsgesetze verabschiedet, die auf den so genannten „Liebesdschihad“ abzielen und die Angst schüren, dass muslimische Männer die Ehe nutzen, um Hindufrauen zum Islam zu bekehren, wodurch interreligiöse Ehen kriminalisiert werden. Darüber hinaus sind Parteiführer häufig wegen frauenfeindlicher Äußerungen in den Schlagzeilen und einige ihrer Landesregierungen haben wegen der schlechten Behandlung von Vergewaltigungsfällen weltweit Schlagzeilen gemacht.

Veränderung ist möglich

Trotz aller Hindernisse sind Frauen in Indien eine wesentliche Kraft bei Protesten. 2019 wurde bei einem symbolischen Protest eine 620 km lange Menschenkette gebildet, an der mehrere Millionen Frauen teilnahmen oder beispielsweise beim Kampf um sauberes Trinkwasser oder bei den Protesten gegen das CAA (neues Staatsbürgerschaftsgesetz), bei dem vor allem muslimische Frauen präsent waren.

Dabei muss klar sein: Gesetze und Urteile von Gerichten können Aufmerksamkeit schaffen, ändern werden sie die Situation von Frauen aber nur marginal, wenn der bürgerliche Staat sich weigert, die Gesetze umzusetzen oder schlichtweg nicht das Interesse hat, die Wurzel der Frauenunterdrückung anzugreifen. Frauen schützen, patriarchale Strukturen vernichten und eine reale Verbesserung erzwingen können wir nur, wenn wir uns gemeinsam organisieren: auf der Straße, in den Betrieben, an den Schulen, Unis und auch im Haushalt! Gegen die massive Gewalt gegen Frauen bedarf es des Aufbaus einer Bewegung, die beispielsweise auch für demokratisch-organisierte Selbstverteidigungskomitees eintritt. Sie muss in den Betrieben und Stadtteilen verankert sein und auch die Gewerkschaften zur Organisierung und Unterstützung auffordern.

Eine erfolgreiche Bewegung muss auf den Interessen der Arbeiter:innenklasse basieren und darf sich nicht der herrschende Klasse und deren Parteien unterordnen – natürlich nicht der BJP, aber auch nicht der Kongresspartei.

Das bedeutet auch, offen für die Rechte von Unterdrückten wie Muslim:innen, Dalits, Kaschmiris oder LGBTIA-Personen einzustehen und gemeinsame Kämpfe zu organisieren. Besonders braucht es aber auch einen gewerkschaftlichen Kampf gegen die miserablen Arbeitsbedingungen im informellen Sektor. Frauen können hier eine wichtige Rolle spielen und so ihre Situation verbessern und außerdem Mut und Motivation für weitere Kämpfe erlangen.

All dies erfordert nicht nur den Aufbau einer proletarischen Frauenbewegung, sondern auch eine politischen Alternative zum Reformismus der Communist Party of India (CPI): eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei.




Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Pakistan: Rechte versucht, minimalen Schutz für Transpersonen rückgängig zu machen

Revolutionary Socialist Movement (Pakistan), Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Während im Iran die Arbeiter:innenklasse gegen das diktatorische, patriarchale Regime auf die Straße geht, wird über die Attacke der fundamentalistischen Rechten auf Transpersonen in Pakistan, die ohnehin schon massiv unterdrückt werden, geschwiegen.

Ebenso wie die Mullahs im Iran versuchen, Frauen daran zu hindern, selbst zu entscheiden, was sie tragen, will das pakistanische Äquivalent mit seiner protofaschistischen Basis die kleinen Erfolge des Gesetzes zum Schutz von Transpersonen aus dem Jahr 2018 zurücknehmen. Es war zwar kein großer Wurf, kann jedoch als kleiner Fortschritt angesehen werden. Es gewährt Transpersonen zum Beispiel nicht das Recht, sich entgegen ihrem eingetragenen Geschlecht als Mann oder Frau zu identifizieren. Dennoch erlaubt es ihnen, sich selbst dem dritten Geschlecht im Unterschied zu ihrem bei Geburt zugeschriebenen zuzuordnen. Dies gilt auch für Ausweisdokumente.

Die religiöse Rechte begehrt, wie zu erwarten war, bewaffnet gegen dieses Gesetz auf und verbreitet eine Deutung, die wie gewöhnlich in Betrug und Verderbtheit wurzelt, die typisch für ihresgleichen ist. Als Begründung gibt sie an, dass die amtliche Änderung des Geschlechts als Möglichkeit genutzt werden könne, das Verbot von Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare zu umgehen, indem sie vorgeben, ein anderes Geschlecht zu repräsentieren. Doch das ist unwahr.

Die Kräfte, die gegen dieses Gesetz mobilisieren, welches im Jahr 2018 verabschiedet wurde, sind dafür bekannt, seit langem protofaschistische Tendenzen zu umfassen. Sie sind ebenfalls dafür bekannt, ein extrem patriarchales und rückschrittliches Frauenbild zu vertreten. Die Partei Jamaat-e-Islami (Islamische Gemeinschaft; JI) spielte eine zentrale Rolle für die drakonischen Gesetze, die der Diktator Zia-ul-Haq (1978 – 1988) während der Militärdiktatur eingeführt hat. Die Jamiat Ulema-e-Islam (Fazl) (JUI-F; Versammlung Islamischer Kleriker), deren Führer Maulana Fazal-ur-Rehman ist, wurde vor kurzem, als die PDM (Pakistan Democratic Movement; Pakistanische Demokratische Bewegung; Parteienkoalition gegen Expremierminister Imran Khan, 2020 gegründet) in Opposition zu Imran Khan gegründet wurde, als  Held:in der reformorientierten und liberalen Linken Pakistans gefeiert. Doch sie pflegt die hässliche Tradition, die Gesichter von Frauen, die in öffentlichen Anzeigen zu sehen sind, mit schwarzer Farbe zu beschmieren. In der Zwischenzeit hat sich noch eine weitere Partei, die Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI; Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit) der widerwärtigen Hasskampagne angeschlossen. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Vorsitzende und ehemalige Premierminister Imran Khan ein Frauenhasser vom selben Schlag ist.

Senator Mushtaq Ahmad Khan von der Partei Jamaat-e-Islami steht an der Spitze der derzeitigen Hasskampagne gegen die Rechte von Transmenschen, die zumindest auf dem Papier bestehen. Er hat vorgeschlagen die Gesetzeslage dahingehend zu ändern, dass Gremien von Ärzt:innen geschaffen werden sollen, die dann wiederum die Entscheidungsmacht darüber hätten, ob eine Person „komplett“ männlich oder weiblich sei. Dies solle mit einer invasiven körperlichen Untersuchung einhergehen. In seiner Vorstellung sollten nur die, bei denen das Geschlecht auf Basis der Fortpflanzungsanatomie bei Geburt „unklar“ sei, das Recht dazu haben, über ihr Geschlecht zu entscheiden. Kurz gesagt sollten lediglich Menschen mit mehrdeutigen Genitalien (Anm.: in der Regel sog. Intersexuelle) wählen dürfen und auch nur, wenn sie sich vorher der Tortur einer Leibesuntersuchung durch eine ärztliche Instanz unterzögen. In einem Land, wo die meisten Ärzt:innen (Anm: in der Regel Männer) bereits massiv in die Privatsphäre ihrer Patient:innen durch wertende Kommentare eingreifen, bspw. wenn es um Themen rund um Sex geht, kann man sich ausdenken, was das für Leben und Gesundheit von Transpersonen an Belastung mit sich bringt.

Die Begründung Mushtaq Ahmad Khans hat gezeigt, dass sowohl Frauenunterdrückung als auch die Geschlechterungleichheit und die Diskriminierung von sexuellen Minderheiten eine Klassenfrage darstellen. So gab er bei Voice of America zu, dass die eigenständige Wahl des Geschlechtes „eine Gefahr für die Familie und das Erbschaftssystem darstellt“ und es „die Tür dafür öffnet, dass 220 Millionen Menschen auswählen zu können, irgendwas zu sein“. Die Familie ist in der bürgerlichen Gesellschaft der Garant für das Überleben des kapitalistischen Systems, denn sie dient in erster Linie dazu, das Privateigentum dort zu halten. Für Pakistan ist wichtig anzumerken, dass insbesondere in islamischen Gesellschaften Frauen den halben Anteil des Mannes am Erbe erhalten. Die mickrige Hälfte, die ihnen zusteht, wird dennoch als Teil angesehen, der der Familie des Mannes zustünde. Die Ängste, dass Privatbesitz anders verteilt würde, und die Bedrohung, die das Gesetz offensichtlich für das „Familiensystem“ darstellt, zeigen, wie die Institutionen der Familie, des Klerus und des Gesetzes zusammenwirken, um die Existenz und den Fortbestand des Systems des Privateigentums zu sichern. Dieses System sorgt dafür, dass die Reichen reich und die Armen arm bleiben. Es sorgt dafür, dass der Sohn eines Kapitalisten auch nach dem Tod des Vaters Eigentümer des Familienunternehmens bleibt und der Sohn eines Arbeiters auch nach dem Tod seines Vaters zu einem Hungerlohn arbeiten muss. Die regressive Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen kann ohne Familiensystem nicht fortbestehen. Das derzeitige Gesetz zum Schutz von Transgendern sieht vor, dass eine Person, die sich als Transmann identifiziert, auch doppelt so viel Erbe erhält wie eine Transfrau. In einem Land, in dem es üblich ist, dass Brüder ihre Schwestern emotional so manipulieren, dass sie auf ihren ohnehin schon geringen Anteil am Erbe verzichten, oder es sich einfach ohne ihre Zustimmung aneignen, kann man sich vorstellen, welche Ängste das Gesetz bei reaktionären Männern auslöst, die nun mit der Bedrohung konfrontiert sind, dass ihre leiblichen Schwestern sich möglicherweise in Männer „verwandeln“. Auch wenn es keine Zahlen gibt, die solche lächerlichen Befürchtungen untermauern, ist die Klassenbasis dieser Ängste mehr als deutlich.

Obwohl sie unbegründet sind, bedeuten sie in der Realität eine Bedrohung für das Leben und die Sicherheit von Transpersonen. Im Jahr 2021 wurden nachweislich mindestens 20 Transpersonen in Pakistan umgebracht. Das pakistanische Religionsgericht sowie der ständige Ausschuss für die Überprüfung im Senat prüfen die Argumente zum Gesetz. Der Rat für Islamische Ideologie (ein weiteres Verfassungsorgan Pakistans), dessen Aufgabe es ist, die pakistanischen Gesetze im Lichte des Islam zu überprüfen, hat das Gesetz aus dem Jahr 2018 für unislamisch erklärt. Wenn das Gesetz geändert wird, um die religiöse Rechte und ihre frauenfeindlichen Verbündeten in fast allen etablierten Parteien Pakistans zu besänftigen, käme das einer großen Niederlage für die Arbeiter:innenklasse und die unterdrückten Menschen in Pakistan gleich. Heute haben sie es auf die Transgender abgesehen. Morgen könnten sie versuchen, den Hidschab (Verschleierung oder Kopfbedeckung nach islamischem Gesetz) im Namen des Islam durchzusetzen wie ihre benachbarten Kleriker im Iran. Es ist ein Teufelskreis, in dem die imperialistischen Mächte diese Beispiele nutzen werden, um zu Hause weiter mit der Islamophobie hausieren zu gehen, während die arbeitenden Massen sowohl in den imperialistischen Kernländern als auch in den Halbkolonien weiter leiden.

Daher rufen wir Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen, Gewerkschaften und alle fortschrittlichen Kräfte in Pakistan auf, sich gegen diese dogmatischen Kräfte zu stellen. Wir können nur selbst etwas bewirken, denn die Bourgeoisie wird keinen Finger rühren. Mushtaq Khan hatte bereits 2021 versucht, seine unsägliche Agenda durchzusetzen. Doch es schlug damals dank des Einsatzes von Shireen Mazari (pakistanische Politikerin und Menschenrechtsaktivistin, Vorsitzende der Parlamentskommission für die Ernennung der/s Chef:in der Wahlkommission und ihrer Mitglieder) fehl. Gegenwärtig braucht die pakistanische Bourgeoisie eine Angst, die sie über ihre Medien und Kleriker in den Köpfen der Massen hervorrufen kann, um von den wirklichen Problemen der Wirtschaftskrise, den verheerenden Überschwemmungen und der ständig wachsenden Auslandsverschuldung abzulenken. Jamaat-e-Islami spielt langjährig die Rolle der Schutzmacht eines sich auflösenden kapitalistischen Systems. Ohne selbst je an die Macht kommen zu können, besteht darin ihr einziger Job, um sich ihren Anteil an den Pfründen zu sichern. Denn die Gruppe, auf die sie sich in der Gesellschaft stützt, ist überschaubar. Es sind vor allem kleine Geschäftsleute und Händler:innen, also Kleinbürger:innen. Historisch gesehen sind das genau diejenigen, die dazu mobilisiert werden können, auch mit Gewalt gegen die Arbeiter:innenklasse und ihre Organisationen vorzugehen. Genau deswegen ist es unsere Aufgabe, sie nicht gewähren zu lassen und uns mit all unserer Kraft gegen diese Attacken (auf Transsexuellenrechte) als Ausdruck patriarchaler Gewalt durch reaktionäre Kräfte zu stellen. Unsere Brüder und Schwestern im Iran weisen uns den Weg!




Wie weiter im Kampf für mehr Personal im Krankenhaus- und Gesundheitsbereich?

Helga Müller, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Nachdem innerhalb eines Jahres – 2021 in Berlin bei Charité und Vivantes und 2022 bei den 6 Unikliniken in NRW – Tarifverträge für Entlastung durch wochenlange Durchsetzungsstreiks erreicht werden konnten, ist es an der Zeit, Bilanz zu ziehen und sich Gedanken zu machen, wie der Kampf für mehr Personal bundesweit erfolgreich weitergeführt werden kann. Auch wenn beide Kämpfe zu einem erfolgreichen Abschluss kamen mit der Durchsetzung von Tarifverträgen für Entlastung – in NRW ein gemeinsamer Tarifvertrag für alle 6 Unikliniken –, sind weder an diesen Krankenhäusern bereits die Stellen besetzt noch die fehlenden bundesweit im Pflegebereich und den übrigen Abteilungen durchgesetzt.

Die Errungenschaften der beiden Krankenhausbewegungen

1. Erfolgreiche Mobilisierungen der Belegschaften und Einbeziehung dieser in die Entscheidungen über ihre Forderungen:

Die Kolleg:innen der verschiedenen Abteilungen wurden aktiv in die Aufstellung der Forderungen pro Abteilung und Schicht einbezogen, sie haben selbst darüber diskutiert und entschieden, mit Hilfe von Teamdelegierten.

Damit verbunden war eine aktive und erfolgreiche Mitgliederwerbung, was zu einen höheren Organisationsgrad führte. Dadurch wurden wochenlange Durchsetzungsstreik möglich.

2. Einbeziehung aller Kolleg:innen aller Abteilungen in den Kampf und die Aufstellung der Forderungen:

Vor allem in NRW wurden auch die Bereiche außerhalb der Pflege – wie Krankentransport, IT, Rettungssanitäter:innen etc. – in die Aufstellung der Forderungen und den Kampf dafür einbezogen.

3. Ansätze einer demokratischen Streikführung:

Vor allem in der Krankenhausbewegung Berlin haben die Aktivist:innen dafür gesorgt, dass aktive Kolleg:innen aus den Abteilungen in die Tarifkommission entsandt wurden und jeder Schritt mit den Teamdelegierten besprochen wurde.

In NRW wurde das Ergebnis auf Streikversammlungen in den 6 Unikliniken zur Diskussion gestellt und abgestimmt. Es wurde, außer in Düsseldorf, mehrheitlich angenommen. Zum anderen hatte sich die Tarifkommission – freiwillig – dazu bereit erklärt, erst zuzustimmen, wenn bei der Urabstimmung über das Ergebnis auch die Mehrheit einwilligt. Die magere Zustimmung von 73,58 % in NRW im Vergleich zu über 96 % in Berlin zeigt, dass die Kolleg:innen sich selbst Gedanken über das Ergebnis gemacht haben und sich nicht allein auf die Zustimmung der Tarifkommission verließen.

Dies alles wurde von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt. Weder von den Organizer:innen noch von den ver.di-Verantwortlichen war vorgesehen, die Teamdelegierten oder den Delegiertenrat der 200 der 6 Unikliniken in NRW als Kontroll- und Entscheidungsorgane über den Streikverlauf und die Tarifkommission einzusetzen. Letzten Endes lag die Entscheidung über die Fortführung des Kampfes und über die Annahme des Abschlusses  – zumindest in Berlin – bei der Tarifkommission und den ver.di-Verantwortlichen.

4. Solidaritätsaktionen durch die arbeitende Bevölkerung und öffentliche Kundgebungen der Streikenden:

In beiden Krankenhausbewegungen wurden Treffen mit Initiativen und Kolleg:innen aus Betrieben or-ganisiert. Am weitestgehenden waren die gemeinsamen Solidaritätsaktionen in Berlin: Dort wurden vor allem gemeinsame Aktionen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen“ organisiert, aber auch mit den im Streik befindlichen Kurier:innen von Gorillas. Teilweise kam es auch zu gemeinsamen Soliaktionen mit Kolleg:innen aus einzelnen Betrieben. Aber weder vom DGB noch von anderen DGB-Gewerkschaften gab es den Willen, gemeinsame Soliaktionen zu organisieren.

In Berlin und NRW organisierten die Kolleg:innen große und machtvolle Kundgebungen und Demos.

5. Nachhaltigkeit: von den Teamdelegierten zum Aufbau fester Strukturen und Organe:

Zumindest in Berlin gab es die Aussage, von Aktivist:innen aus den Teamdelegiertenstrukturen auch systematische und kontinuierliche Gremien wie ver.di-Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper aufzubauen. Das wäre ein Fortschritt, da damit nicht immer wieder zu Beginn eines Arbeitskampfes neue Strukturen zur Mobilisierungen geschaffen werden müssten.

Was hat gefehlt?

1. Fehlende Kontrolle über den Kampfverlauf und über die Abstimmung des Ergebnisses:

Es gab zwar Fortschritte bzgl. der Transparenz über die Verhandlungen (s. Punkt 3 oben), aber letzten Endes hatten immer noch die ver.di-Verantwortlichen die Kontrolle über Streikverlauf und das Ergebnis.

Deswegen braucht es klare Strukturen/Organe, die den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwählbar sein müssen.

Dafür würde sich ein Streikkomitee, wie es an der Uniklinik Essen im Kampf um den TVE aufgebaut wurde, anbieten. Dieses wurde aus von den Kolleg:innen gewählten Delegierten aus den verschiedenen Abteilungen gebildet. Die Delegierten waren direkt den Kolleg:innen gegenüber rechenschaftspflichtig und konnten jederzeit neu gewählt werden. Dieses Komitee hatte sich zur Aufgabe gestellt, den Diskussionsprozess unter den Kolleg:innen über die Zwischenverhandlungsergebnisse und den Fortgang des Kampfes zu organisieren. Dafür wurden Streikversammlungen einberufen, auf denen die Kolleg:innen über den Zwischenstand der Verhandlungen der Tarifkommission (TK) informiert wurden und sie auch darüber entschieden, ob diese zu akzeptieren sind oder der Streik weitergeführt werden muss. In dieser Phase hatten sie tatsächlich die Entscheidung über ihren Kampf um mehr Personal unter ihrer Kontrolle. Und im Voraus wurde mit der TK vereinbart – wohlgemerkt, eine freiwillige Vereinbarung der TK mit dem Streikkomitee (!) –, keine Entscheidung ohne Diskussion unter den Kolleg:innen zu fällen. Auch die gewählten Teamdelegierten würden sich dafür anbieten, ein solches Streikkomitee zu bilden, aber die oben aufgeführten Bedingungen müssten auch hier konsequent angewendet werden. Aber von Seiten des ver.di-Apparates waren die Teamdelegierten nie als Organ oder Struktur vorgesehen gewesen, damit die Kolleg:innen wirklich über ihren Kampf selber entscheiden können, sondern eher als Element, sie überhaupt mobilisieren zu können, durchaus, indem sie über ihre Forderungen selber diskutieren und entscheiden konnten. Auch die Organizer:innen haben dem politisch nichts entgegengesetzt. Diese Teamdelegierten sind sicherlich ein demokratisches Element, was auch gezeigt hat, dass die Kolleg:innen selbst am besten wissen, welcher Personalschlüssel und welche anderen Bedingungen nötig sind, um eine gute Gesundheitsversorgung zu realisieren. Das war durchaus ein demokratisches Element, mit dessen Hilfe sie auch tatsächlich für mehrwöchige Durchsetzungsstreiks mobilisiert werden konnten. Diese Errungenschaften wären auch Vorbild für permanente Vertrauensleutestrukturen, die auch nach dem Streik weiter existieren und sich die Aufgabe stellen, mit den Kolleg:innen in Diskussion zu bleiben und im Falle eines Streiks wieder dafür zu sorgen, dass sie nicht nur über die Forderungen, sondern auch über den Kampf diskutieren und entscheiden können.

2. Kontrolle über die Sanktionen bei Nichteinhaltung der Regelungen aus dem TVE:

Beide TVE enthalten die Regelung, Punkte zu sammeln, wenn Schichten unterbesetzt arbeiten. Ab einer bestimmten Punktezahl (gestaffelt) soll ein Freizeitausgleich erfolgen. Die Hoffnung dabei: dadurch würde ökonomischer Druck auf die Klinikleitungen ausgeübt, um neue Kolleg:innen einzustellen.

Doch zum einen zögern diese – wie bei Vivantes in Berlin, in NRW erhalten sie 1 ½ Jahre Zeit, um eine entsprechende Software einzuführen – die Umsetzung dieses Punktesystems hinaus. Zum anderen kann diese Verfahrensweise auch dazu führen, dass es zum Aufbau von Langzeitarbeitszeitkonten missbraucht wird, ohne dass es zu einem sofortigen Freizeitausgleich kommt. Damit verpufft die Wirkung.

Die Kolleg:innen selbst – dafür würden sich die Teamdelegierten bzw. der Delegiertenrat anbieten – müssen über die Sanktionen entscheiden können, wenn die Regelungen nicht eingehalten werden: wie Bettensperrungen, Nichteinbestellung von Patient:innen, Verschiebung von nicht sofort notwendigen OPs etc. Diese hatten schon während der Streikphase – sofern keine Notdienstvereinbarungen zustande kamen – selbst entschieden, wann wie viele Betten gesperrt oder Patient:innen einbestellt werden.

Vor Einführung der Punkteregelung in den TVE waren u. a. solche Maßregeln vorgesehen. Die Entscheidung darüber lag aber bei den Pflegedienstleitungen, die letzten Endes der Klinikleitung gegenüber rechenschaftspflichtig sind und nicht den Kolleg:innen. Aber es sind Letztere selbst, die ein ernsthaftes Interesse daran haben, dass sich die Arbeitsbedingungen ändern müssen. Deswegen müssen sie die Entscheidungen über Sanktionen in den Händen halten.

3. Bundesweiter Kampf aller Kliniken für mehr Personal statt Häuserkampf:

Der TVE in NRW wurde in einem 79-tägigen Durchsetzungsstreik aller 6 Unikliniken durchgesetzt. Das ist der richtige Weg, um mehr Schlagkraft gegenüber den Klinikleitungen zu entwickeln. Alle Kliniken – egal ob privatwirtschaftlich organisiert oder noch unter kommunaler oder Landesverwaltung stehend – müssen von ver.di gemeinsam in den Kampf für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen geführt werden.

Dafür würde sich die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen anbieten: Alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern sind zu Streiks aufgerufen zusammen mit denen aus dem Erziehungsbereich, die auch seit Jahren unter Personalmangel leiden.

Die Aktivist:innen aus den beiden Krankenhausbewegungen, die Veranstaltungen organisieren und ein persönliches Netzwerk aufbauen, könnten zu einer bundesweiten Konferenz aller Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich aufrufen und dort über weitere Schritte für einen erfolgreichen Kampf für mehr Personal bundesweit diskutieren und entscheiden.

4. Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Kampfes gegen Privatisierung und DRGs – bis hin zum politischen Streik:

Alle Erfahrungen aus den bisherigen Kämpfen für Entlastung zeigen: Das Hauptproblem liegt in der Finanzierung des Gesundheitssystems. Solange die DRGs, die nicht die Gesamtkosten einer Behandlung refinanzieren, existieren, solange im Gesundheitssektor – durch die Privatisierungen – das oberste Gebot die Profitlogik ist, wird sich an der Pflegemisere und Stellensituation in den Krankenhäusern nichts ändern! Deswegen:

  • Abschaffung der Fallpauschalen!

  • Für eine Refinanzierung, die die gesamten Behandlungskosten umfasst.

  • Rekommunalisierung und Verstaatlichung aller privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und Patient:innen, die ein Interesse an guten Arbeitsbedingungen und guten Gesundheitsversorgung haben.

Dafür braucht es eine gesellschaftliche Kraft: das Personal aus den Krankenhäusern zusammen mit dem in den Betrieben, die ein Interesses an einer guten, flächendeckenden Gesundheitsversorgung haben, gemeinsam für die Abschaffung der DRGs, Wiederverstaatlichung privatisierter Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und der Patient:innen kämpfen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die sich die DGB-Gewerkschaften gemeinsam auf die Fahne schreiben und dafür mobilisieren müssen bis hin zum politischen Streik!

  • Tarifrunde öffentlicher Dienst – Bund/Kommunen nutzen, um Strukturen aufzubauen, mit denen für ausreichend Personal und gute Arbeitsbedingungen gekämpft werden kann!

Leider hat ver.di davor zurückgeschreckt, diese Tarifrunde auch für den Kampf für mehr Personal zu nutzen. Dabei hätte man eine Verbindung über den Gesundheitsbereich hinaus organisieren können, denn die GEW-Kolleg:innen aus Berlin streiken bereits seit mehreren Wochen für einen Gesundheits-Tarifvertrag mit der Hauptforderung nach kleineren Klassen, weil auch hier der Personalnotstand eklatant ist. Die Bedingungen dafür wären gut: zum einen hatten die Beschäftigten aus den Unikliniken in NRW es allen praktisch vor Augen geführt, dass ein konsequenter gemeinsamer Kampf für mehr Personal erfolgreich in einem Tarifvertrag enden kann. Zum anderen sind gerade in dieser Tarifrunde alle Kolleg:innen aus den kommunalen Krankenhäusern zu Arbeitskampfmaßnahmen aufgerufen. Diese könnten zusammen mit Erzieher:innen und Lehrer:innen für insgesamt mehr Personal streiken verbunden mit einer Bezahlung, die auch tatsächlich die Preissteigerungen auffängt! Das erweitert die Durchsetzungskraft und wäre sicherlich für viele Kolleg:innen noch ein zusätzlicher Motivationsfaktor gewesen, sich in dieser Tarifrunde an Arbeitskampfmaßnahmen zu beteiligen. Es ist jetzt nötig, dass die Kolleg:innen in den verschiedenen gewerkschaftlichen Strukturen, seien es Vertrauensleute, Betriebsgruppen oder neu aufzubauende gewerkschaftliche Organe oder auch in lokalen Gremien, von den ver.di-Verantwortlichen verlangen, auch die Frage des Personalnotstandes bundesweit anzugehen! Dafür sind bundesweite Streiks für einen Flächentarifvertrag Entlastung und eine Kampagne gegen Privatisierung, Abschaffung der Profitlogik in der öffentlichen Daseinsvorsorge, wozu ja der ganze Gesundheitsbereich gehört, und für ein Ende des gesamten Fallpauschalensystems und für die Refinanzierung der realen Behandlungskosten nötig. Dies brauchen wir mehr denn je, da  durch die Pandemie und der dadurch angefallenen Versorgung vieler Schwerkranker auf Intensivstationen viele kommunale Krankenhäuser in eine finanzielle Schieflache gebracht wurden. Doch ändert auch die Lauterbach’sche „Revolution“ nichts am Fallpauschalensystem. Im Gegenteil! Die angestrebte verstärkte Ambulantisierung der Gesundheitsversorgung wird unwillkürlich zu einem weiteren Krankenhaussterben beitragen. Das Mindeste, was in dieser Tarifrunde passieren muss, und das ist nicht allein die Verantwortung der gewerkschaftlich Aktiven im Betrieb oder auf lokaler Ebene, sondern eben auch aller Gewerkschaftssekretär:innen, ist, dafür zu sorgen, dass funktionierende gewerkschaftliche Basisorgane in den Betrieben entstehen, die die Kolleg:innen nicht als Manövriermasse verstehen, sondern als aktive Kämpfer:innen für bessere Arbeitsbedingungen und die tatsächlich Änderungen durchsetzen können.

Damit dies wirklich umgesetzt wird, ist es nötig, eine politische Kraft in ver.di, aber auch allen anderen Gewerkschaften zu organisieren. Diese muss sich bewusst gegen den Anpassungskurs der Gewerkschaftsführungen an die Interessen des Kapitals und der Regierenden stellen und sich zum Ziel setzen, die Gewerkschaften wieder zu handelnden Verteidigungsinstrumenten der gesamten Klasse umzukrempeln. Unserer Meinung nach sind die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) und ihre lokalen Strukturen im Moment das beste Mittel dazu, um darüber zu diskutieren und Konsequenzen fürs Handeln daraus zu ziehen (siehe auch unter: www.vernetzung.org).




Britannien: Klassenkampf gegen die Krise des Gesundheitswesens

Andy Yorke, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2023

Der Winter ist da und mit ihm die bisher schwerste Krise des Gesundheitssystems. Trotz der Atempause nach der Covidpandemie im Jahr 2022 erreichten die Wartelisten im Dezember einen neuen Rekord von 7,2 Millionen, mit bis zu 500 zusätzlichen Todesfällen pro Woche als Folge von Verzögerungen.

Eine Rekordzahl von Patient:innen wartete über 12 Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme. Daher herrschte weithin Ungläubigkeit, als der Sprecher der konservativen Sunak-Regierung bestritt, dass es sich bei dieser „beispiellosen Herausforderung“ um eine Krise handele, und behauptete: „Wir sind zuversichtlich, dass wir den Nationalen Gesundheitsdienst (NHS) mit den erforderlichen Mitteln ausstatten“. So versuchte er, die Krise auf die Pandemie zu schieben.

Doch diese begann lange davor. Das jährliche Wachstum der Ausgaben von 6 % im Gesundheitswesen unter der letzten Labour-Regierung wurde durch die Sparmaßnahmen auf weniger als 1,8 % gesenkt. Das Vereinigte Königreich liegt bei der Bettenzahl pro Kopf weit unter dem internationalen Durchschnitt, selbst im Vergleich zu ärmeren Ländern, und weist seit 2010 eine dauerhaft zu niedrige Zahl freier Betten auf. Das Ziel, die durchschnittliche Belegung auf 18 Patient:innen pro Woche und Bett zu erhöhen, wurde seit 2016 nicht mehr erreicht.

In der Winterkrise 2017 war der NHS gezwungen, Zehntausende von Operationen abzusagen. Im Jahr 2022 lag die Zahl bei 350.000, also fast tausend pro Tag! Schon vor der Pandemie warteten 8.270 Patient:innen in der Notaufnahme im Jahr 2019 mehr als 12 Stunden auf eine Behandlung (ein Sechsfaches gegenüber 2015). Die Krise des Gesundheitssystems wird durch die des unterfinanzierten, überwiegend privaten Sozialfürsorgesektors noch verschärft.

Das Scheitern des NHS

Der Schlüssel zum Verständnis der Krise sind unzureichende Finanzierung und Personalmangel. Die Zahl der unbesetzten Stellen für medizinisches Personal und die Wartelisten sind parallel angestiegen. Jede Regierung der britischen Konservativen (Tories) führt eine weitere schmerzhafte Umstrukturierung durch, doch trotz der Forderungen der Gewerkschaften und der Britischen Medizinischen Vereinigung nach transparenten Personalbewertungen hat keine Regierung seit 2003 eine nationale Personalstrategie für den Gesundheitssektor vorgelegt. Stattdessen verlassen sich die Tories auf „Lückenbüßer:innen“, d. h. den privaten Sektor, Leiharbeitsagenturen mit Aushilfskräften für die Krankenhäuser.

46.000 unbesetzte Stellen für Krankenschwestern und -pfleger (11,7 % der Belegschaft) zeigen den Zusammenhang zwischen der Unterfinanzierung von Seiten der Tories und Privatisierung. In einem Teufelskreis verlassen nun tausende Pflegekräfte den NHS aufgrund von Überlastung, Stress und sinkender Bezahlung. Ihr Streik setzt einen ersten Schritt, um diese von den Konservativen verursachte Katastrophe rückgängig zu machen.

Die Regierung Sunak nutzt die Krise wie alle ihre Tory-Vorgänger:innen, um die Privatisierung weiter voranzutreiben. Sie umgeht Gespräche mit den Gewerkschaften und setzt die Covidpolitik fort, private Krankenhäuser und Pflegeheime für Betten zu bezahlen, was den öffentlichen Gesundheitsdienst bis zu eine Milliarde Pfund kostet.

Für die Tories blockieren Krankenhäuser weitere Privatisierungen. Deshalb sind die Pläne, 150 psychiatrische Behandlungszentren zu bauen und Patient:innen von den Notaufnahmen fernzuhalten, Teil des Vorhabens, die Gesundheitsversorgung in die Wohnviertel zu verlegen und den NHS zu zerschlagen.

Die Tories wollen nicht mehr Krankenpfleger:innen finanzieren, sind aber sehr darum besorgt, den NHS immer wieder umzustrukturieren, um mehr Profit herauszuholen. Bei der jüngsten Umstrukturierung wurden 42 integrierte Pflegegremien für den NHS England eingerichtet. Diese sind Teil des Ansatzes der Tories, den NHS zu fragmentieren und den Zugang für private Unternehmen auf jeder Ebene, einschließlich der Auftragsvergabe und Planung, zu verbessern.

In der Zwischenzeit schloss eine halbe Million Menschen im Jahr 2022 eine private Krankenversicherung ab, und viele weitere bezahlten für eine private Behandlung, mit der sie die Warteschlange des staatlichen Gesundheitsdienstes praktisch überspringen konnten und eine Untersuchung oder Operation beim selben Arzt/bei derselben Ärztin im gleichen Krankenhaus erhielten, von der ihnen gesagt worden war, dass sie erst in einigen Monaten verfügbar wäre!

Wird Labour das Gesundheitswesen retten?

Viele setzten ihre Hoffnungen auf Labour. Doch die New-Labour-Regierung verband die Aufstockung der Mittel mit Kürzungen bei Betten und Personal und einer weiteren Öffnung des staatlichen Gesundheitsdienstes für die Privatisierung. Labour-Vorsitzender Keir Starmer verspricht, dass seine Regierung die Mittel aufstocken wird, aber „Investitionen allein nicht ausreichen“. Das bedeutet noch mehr Umstrukturierungen und eine größere Rolle für den privaten Sektor.

In Wirklichkeit wird die Wiedereinführung des Spitzensteuersatzes von 45 Prozent nicht annähernd ausreichen, um das schwarze Loch in der Finanzierung des staatlichen Gesundheitsdiensts zu stopfen, und es gibt keinen Plan, um die Schäden von vier Jahrzehnten Marktwirtschaft und Privatisierung rückgängig zu machen. Schlimmer noch, die Lösung des Schattengesundheitsministers besteht darin, den privaten Sektor zu nutzen, um die Wartelisten zu verkürzen.

Ein siegreicher Streik der Krankenschwestern und -pfleger erfordert nicht nur das Festhalten an einer voll finanzierten realen Gehaltserhöhung, sondern hängt von der Gründung einer Massenbewegung zur Verteidigung des staatlichen Gesundheitswesens und dem Kampf für den Ausbau des öffentlichen Dienstes ab, der durch die Besteuerung der Reichen finanziert wird. Dies ist der erfolgversprechendste Weg, um sicherzustellen, dass die Beschäftigten und Nutzer:innen des NHS in der Lage sind, Labour dazu zu bringen, ihn wirklich zu verteidigen.

Streikwelle geht weiter

In einer historischen Premiere haben sich die Krankenschwestern und -pfleger der Gewerkschaft RCN (Royal College of Nursing; Britanniens größte Gewerkschaft und Berufskörperschaft für Pflegende), die bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getrieben wurden, der Streikwelle gegen die Lebenshaltungskostenkrise angeschlossen. Und trotz der Versuche der Medien, die öffentliche Missbilligung auszutesten, erhalten sie massive Unterstützung. Eine Million Mal werden Patient:innen alle 36 Stunden im öffentlichen Gesundheitsdienst behandelt, und sie sind dem hart arbeitenden Personal in überwältigender Weise dankbar und unterstützen es.

Jahrelang sinkende Reallöhne (um mehr als 20 % seit 2010), unterbesetzte und chaotische Stationen, die nur mit Überstunden arbeiten, und der unerbittliche Druck der Covid- und Grippewinterepidemien haben viele Krankenpflegekräfte veranlasst, trotz der Ängste um ihre Patient:innen zu streiken. Weit davon entfernt, den Patient:innen zu schaden, wie in den Medien behauptet wird, scheint ein Arbeitskampf für viele die einzige Möglichkeit zu sein, nicht nur die Löhne zu erhöhen, sondern auch mehr Personal anzuwerben und das staatliche Gesundheitssystem zu retten. Es gibt über 132.000 unbesetzte Stellen.

Erstmals schließen sich auch die Krankenwagenfahrer:innen der Gewerkschaften GMB (National Union of General and Municipal Workers) sowie Unison und Unite (zwei weitere Gewerkschaften im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor) und außerdem Physiotherapeut:innen, Hebammen und Röntgenassistent:innen dem Kampf gegen die sinkenden Löhne an. Bei der Urabstimmung der gewerkschaftlichen medizinischen Vereinigung BMA von 45.000 Ärzt:innen in der Ausbildung über eine beleidigende Gehaltserhöhung von 2 % in diesem Jahr wird wahrscheinlich mit „Ja“ für eine Aktion gestimmt werden. Mit einer für März geplanten 72-stündigen Arbeitsniederlegung werden sich noch mehr Ärzt:innen dem Kampf für Gehalt und Finanzierung anschließen. Am 6. Februar fand der bisher größte Streik im Gesundheitswesen statt, bei dem Krankenschwestern und -pfleger, Sanitäter:innen und andere Beschäftigte die Arbeit niederlegten.

Organisiert die Basis!

Die Beschäftigten müssen Einigkeit, Koordinierung und eskalierende Maßnahmen fordern. GMB- und Unison-Ambulanzbeschäftigte streiken bisher zumeist getrennt. Das RCN lässt verschiedene Sektionen von Krankenpersonal an unterschiedlichen Tagen streiken. In Schottland und Wales haben die Gewerkschaften ihre Streiks für Gespräche mit den (dezentralen) Regionalregierungen ausgesetzt.

Belegschaftsversammlungen zur Bildung von Delegiertenausschüssen in und zwischen Krankenhäusern und weiteren Einrichtungen (z. B. ausgelagerten, privatisierten Abteilungen) sind der Schlüssel zum Erfolg der Streiks. Diese können die Entschlossenheit stärken, diejenigen unterstützen, die noch an der Urabstimmung teilnehmen, und auf weitere Maßnahmen drängen, um den Konflikt zu kontrollieren.




Internationaler Frauenkampftag: Vereint die Kämpfe der Frauen mit denen der Arbeiter:innenklasse und der Unterdrückten!

Liga für die Fünfte Internationale, Infomail 1216, 8. März 2023

Frauen standen im letzten Jahr an der Spitze der Kämpfe der Arbeiter:innenklasse und für Demokratie.

  • Im Iran bildeten sie die erste Reihe eines Massenaufstandes gegen Unterdrückung und die Herrschaft der klerikalen Diktatur.

  • In den USA und vielen anderen Ländern wehrten sie sich gegen Angriffe auf Abtreibungsrechte.

  • In der Ukraine und in Russland stehen sie an vorderster Front im Kampf gegen die imperialistische Invasion Putins.

  • In Großbritannien, Deutschland und Frankreich stehen sie im Mittelpunkt von Streiks für Lohnerhöhungen zur Bekämpfung der steigenden Inflation und von Massenmobilisierungen zur Verteidigung des Gesundheitswesens und der Rentenansprüche.

  • Frauen formieren sie sich im Zentrum des Kampfes gegen rechtsextreme und reaktionäre populistisch-bonapartistische Regime wie die von Bolsonaro in Brasilien und Modi in Indien.

  • In der halbkolonialen Welt haben sie sich gegen Armut, Hunger, Klimakatastrophen, reaktionäre Kriege und die Verweigerung ihrer Grundrechte mobilisiert.

Oft sind es junge Frauen, Studentinnen, Frauen aus der Arbeiter:innenklasse und der armen Bevölkerung, die in Massen auf die Straße gehen und den Kern dieser Bewegungen bilden. Es ist nicht verwunderlich, dass Frauen bei solchen Kämpfen an vorderster Front stehen. Oft sind sie am stärksten von den zahlreichen Krisen betroffen, die unser Leben in den letzten Jahren heimgesucht haben.

In vielerlei Hinsicht scheint sich die Situation im Vergleich zu vor einem Jahr kaum verändert zu haben: Der Krieg in der Ukraine hat den Konflikt zwischen den Weltmächten verschärft und eine neue Phase im Kampf um die Neuaufteilung der Welt eingeleitet. Der Krieg und die von beiden Seiten verhängten Sanktionen haben weltweit eine neue wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst mit einer Inflation, wie sie in den imperialistischen Zentren seit 50 Jahren nicht mehr aufgetreten ist, und einer Hyperinflation, die den globalen Süden wie ein Tsunami trifft.

Die sich entwickelnde Katastrophe

Die Pandemie beherrscht nach wie vor alle Aspekte der Herausforderungen für Frauen. Ihre Auswirkungen haben zu einem Anstieg der Krankheits- und Sterblichkeitsraten der Menschen weltweit geführt. Für die Frauen bedeutet dies im besten Fall eine mehrfache Belastung durch Haus- und Sorgearbeit, im schlimmsten Fall den Verlust ihrer Existenz. Sie haben oft ihren Arbeitsplatz und die damit verbundene elementare Sicherheit verloren. Schließungen ohne funktionierendes soziales Sicherheitsnetz führten dazu, dass Frauen gezwungen waren, sich um ihre Familien zu kümmern und von ihren Arbeitsplätzen verdrängt wurden. Die häusliche Gewalt gegen Frauen hat deutlich zugenommen und vor allem ärmere Teile der Arbeiter:innenklasse mussten ihre mageren Ersparnisse aufbrauchen, um zu überleben.

In halbkolonialen Ländern führt dies zu noch schlimmeren Folgen. Da das Gesundheitswesen für die Menschen nicht leicht zugänglich ist und die imperialistischen Länder Impfstoffe und Medikamente horten, war die Zahl der Todesopfer viel höher als in den imperialistischen Zentren.

Abgesehen von den direkten Auswirkungen von Krankheiten und Kriegen werden die Rechte der Frauen in einer Vielzahl von Ländern ständig angegriffen. Der Eingriff in die reproduktiven Rechte in den USA und der Rückzug der Türkei aus der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen sind offensichtliche Beispiele dafür. Das Gleiche gilt für die Aufdeckung von Morden, Vergewaltigungen und Frauenfeindlichkeit, begangen durch Polizeibeamte in Großbritannien.

Dies alles wurde 2022 durch den massiven Anstieg der Inflation und den Beginn eines weiteren wirtschaftlichen Abschwungs noch verstärkt. Dies ergab sich nicht nur aus den Problemen, die dem Produktionsanstieg nach der Pandemie folgten. Lieferketten- und Ressourcenprobleme bleiben weiterhin ungelöst. Auch die Energiekrise infolge des russischen Kriegs gegen die Ukraine und der westlichen Sanktionen trug ihren Teil zur Erschwerung der Lage bei. All dies trifft die Frauen am härtesten, zeigt aber auch, dass Fortschritte bei den Frauenrechten weder unvermeidlich noch unumkehrbar sind. Wir müssen unermüdlich und kontinuierlich kämpfen, um unsere Errungenschaften zu verteidigen, nicht nur gegen die unverhohlenen Attacken von rechts, sondern gegen die dem kapitalistischen System insgesamt innewohnenden Tendenzen.

Kämpfe rund um die Welt

Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini durch die sog. Sittenpolizei im September 2022 befindet sich der Iran in Aufruhr. Millionen von Menschen sind auf die Straße gegangen, um für die Emanzipation der Frauen von den grausamen Einschränkungen und damit gegen das Regime der Mullahs selbst zu protestieren. Die Regierung hat mit verschiedenen Formen der Unterdrückung hart reagiert. Es wurden nicht nur mehr als 20.000 Personen verhaftet, sondern auch über 500 Menschen getötet. Das Regime hat damit begonnen, Menschen hinzurichten, um eine Ausbreitung der Proteste zu verhindern und die Bewegung insgesamt zu unterdrücken. Doch trotz dieser massiven Repression hat der Kampf im Iran einen gewaltigen Schritt nach vorn gemacht, um das Regime zu schwächen und den Kämpfen der Frauen in der ganzen Welt neue Impulse zu geben.

Auch im Widerstand gegen den russischen Krieg in der Ukraine spielen Frauen eine besondere Rolle. In Russland versucht der feministische Antikriegswiderstand, unter äußerst repressiven Bedingungen Unterstützung gegen Putins Invasion zu mobilisieren. In der Ukraine hingegen stellen Frauen rund 20 % der Streitkräfte, sorgen für die Unterstützung der Flüchtlinge und die Aufrechterhaltung der notwendigen Infrastruktur.

Auch in Afghanistan kommt es nach der Machtübernahme durch die Taliban zu einer zunehmenden Unterdrückung der Frauen. Junge Frauen protestieren dort gegen das Verbot ihrer Ausbildung, und ihre Proteste müssen illegal organisiert werden. Dies könnte der Beginn eines ernsthaften Widerstands gegen das Regime sein, auch wenn die Medienberichterstattung im Westen „weitergezogen“ ist und die Aufmerksamkeit vernachlässigt hat.

In Ländern auf der ganzen Welt kommt es immer wieder zu Streiks im Gesundheitssektor. Die Krise war schon seit einiger Zeit bekannt, trat aber mit der Pandemie in den Vordergrund. In Großbritannien und Deutschland gibt es erhebliche Streiks des Gesundheitspersonals – ein Sektor, der überwiegend von Frauen getragen wird.

Internationaler Frauenkampftag

Am 8. März dieses Jahres ist es umso wichtiger, den weltweiten Kampf für die demokratischen Grundrechte der Frauen zu unterstützen und die unterschiedlichen Auseinandersetzungen miteinander zu verbinden. Ob mit Protesten, Flashmobs oder Frauenstreiks, wir müssen uns einig sein in unserem Ziel, den Kapitalismus zu beenden. Das heißt, wir müssen an der Seite der internationalen Arbeiter:innenklasse kämpfen, gleich welchen Geschlechts, um erfolgreich zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, den Kampf mit national oder rassistisch unterdrückten Menschen zu verbinden.

Am Internationalen Frauenkampftag ist es wichtig, die Menschen nicht zu vergessen, die unter Sexismus, Homophobie und der Auferlegung patriarchalischer und binärer Geschlechterrollen leiden. Nicht-binäre Menschen, Transmenschen im Allgemeinen sowie andere Menschen aus der LGBTQIA+-Gemeinschaft leiden vielleicht nicht genau unter der gleichen Unterdrückung, aber es ist sonnenklar, dass ihr Einsatz für ihre Rechte Teil desselben Kampfes ist. Wenn wir den Sexismus überwinden und eine Gesellschaft haben wollen, in der jeder in Frieden und als der Mensch leben kann, der er/sie ist, müssen wir den Kapitalismus stürzen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen. Es ist kein Zufall, dass die extreme Rechte in vielen Ländern Themen wie die Ablehnung der Homoehe und der Transrechte aufgreift.

Doch während wir die Notwendigkeit der kämpferischen Einheit, des gemeinsamen koordinierten Handelns betonen müssen, müssen wir uns auch der Tatsache stellen, dass die internationalen Frauenmobilisierungen seit einigen Jahren in einer Strategie- und Richtungskrise stecken. Die Massenstreiks der Frauen, inspiriert durch die Bewegungen in Lateinamerika gegen häusliche und institutionelle Gewalt, die Frauenbewegung in den USA und die Streiks von Millionen von Arbeiterinnen in Ländern wie Spanien waren eine Inspiration und der Beginn einer neuen internationalen Bewegung. Den bisherigen Höhepunkt stellt der revolutionäre Kampf im Iran dar.

Programm und Strategie

Jeder Kampf, der an den Grundlagen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus rüttelt, steht auch vor der Frage, wie der Kampf weitergeführt werden kann. Dies zeigt, dass der Kampf gegen Frauenunterdrückung, gegen patriarchale Strukturen und Sexismus kein vom Klassenkampf getrennter Prozess sein kann. Er muss ein integraler Bestandteil davon sein.

Im Fall des Iran hat der Kampf der Frauen gezeigt, dass das islamistische Regime nur durch eine Massenbeteiligung der Arbeiter:innenklasse erfolgreich gestürzt werden kann – kurz gesagt, durch einen Generalstreik, der auch für die Masse der arbeitenden Frauen ein fortschrittliches Ergebnis bringt. So ist der Kampf gegen die Unterdrückung und die Mullahs mit dem entschlossenen Eintreten für eine sozialistische Revolution und deren Ausbreitung auf die gesamte Region verbunden.

Das Gleiche gilt nicht nur für die wirtschaftlichen und sozialen Auseinandersetzungen, sondern auch für die Kämpfe gegen nationale Unterdrückung, Imperialismus, Umweltzerstörung, Krieg und wachsenden Militarismus, Rassismus, Faschismus und Diktaturen.

Daher stehen wir vor zwei miteinander verknüpften Aufgaben. Erstens müssen wir uns für eine internationale Bewegung einsetzen, für eine koordinierte Aktion rund um eine Reihe von brennenden Forderungen und Themen, die die große Mehrheit der Frauen betreffen. Wir müssen alle Frauenorganisationen sowie die Gewerkschaften und die Parteien der Arbeiter:innenklasse auffordern, sich an einer solchen gemeinsamen Aktion zu beteiligen. Und wir müssen diese Notwendigkeit am Internationalen Frauenkampftag zur Sprache bringen.

  • Gleiche Rechte für Frauen! Abschaffung aller frauenfeindlichen und diskriminierenden Gesetze! Volles Recht auf Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben!

  • Beendigung der Gewalt gegen Frauen und die LGBTQIA+-Gemeinschaft! Wir müssen freie Frauenhäuser, Hilfs- und Selbstverteidigungskomitees gegen Femizid, Genitalverstümmelung, häusliche und andere Formen von Gewalt organisieren.

  • Volle reproduktive Rechte und körperliche Selbstbestimmung für alle, überall! Alle Frauen sollten Zugang zu kostenlosen Verhütungsmitteln und Abtreibung auf Verlangen haben.

  • Gleicher Lohn für Frauen! Für einen Mindestlohn und Renten, die Frauen ein unabhängiges Leben ohne Armut ermöglichen! Kampf gegen Preissteigerungen bei Wohnen, Energie und Waren des täglichen Bedarfs – für eine gleitende Skala bei Löhnen, Renten und Arbeitslosengeld, um die steigenden Lebenshaltungskosten zu decken!

  • Massive Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Dienste von angemessener Qualität und kostenlos für alle als Schritt zur Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit!

  • Lasst die Kapitalist:innen und die Reichen zahlen, um gleiche Rechte und gleichen Lohn zu gewährleisten!

Dies sind nur einige der Forderungen, die die Bedürfnisse der Frauen weltweit ansprechen. Sie sind wichtig, um Frauen aus der Arbeiter:innenklasse, der Bäuer:innenschaft, der Armen, junge und alte Menschen weltweit zu vereinen. Um den Kampf zu gewinnen, müssen die Frauen der Arbeiter:innenklasse an vorderster Front stehen, aber sie müssen von allen Lohnabhängigen aufgegriffen werden.

Wir müssen uns auch mit der Frage der Richtung, der Strategie und dem Ziel der Frauenbewegung auseinandersetzen, die wir aufbauen müssen. Soll es einfach nur ein Netzwerk und ein loses Bündnis sein – oder eine Einheitsfront, die auf Einigkeit und Engagement für die Verwirklichung vereinbarter gemeinsamer Ziele beruht? Soll es eine klassenübergreifende Bewegung sein, die effektiv von Frauen aus der Mittelschicht, der Intelligenz und einigen wohlwollenden bürgerlichen Frauen geführt wird – oder eine Frauenbewegung der Arbeiter:innenklasse?

Um einer globalen Frauenbewegung eine Führungsrolle zu geben, brauchen die Frauen der Arbeiter:innenklasse ihr eigenes Programm, ihre eigene Strategie – ein Aktionsprogramm, das die Kämpfe für die Befreiung von der Unterdrückung der Frauen mit dem  für eine globale sozialistische Revolution verbindet. Dafür benötigen wir eine internationale proletarische Frauenbewegung und eine neue, revolutionäre Fünfte Internationale, die für diese Rechte kämpft, nicht nur für heute, sondern als Schritt in eine Zukunft, in der sie nicht länger der scheinbar unveränderlichen Profitlogik des kapitalistischen Systems ausgeliefert sind.




TVöD: der 8. März als Streiktag?

Anne Moll/Resa Ludivien, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Abgesehen von Berlin ist in keinem anderen Bundesland der Frauenkampftag ein Feiertag. Und zu feiern gibt’s auch nicht viel, schaut man sich die derzeitige TVöD-Runde an. Ein prädestinierter Streiktag also?

Was aus Clara Zetkins Frauentag wurde

Historisch gesehen ging es beim Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen zuerst um das Wahlrecht, um das gleiche Recht, sich zu organisieren und Gewerkschafts- wie Parteimitglied zu werden, um Zugang zur Universität, Gesundheitsschutz der arbeitenden Frauen und um das Recht, über den eigenen Körper zu bestimmen. Doch der Versuch seiner Vereinnahmung und Entpolitisierung ist auch nichts Neues. Immer wieder wird deutlich, dass die bürgerlichen Frauen, aber auch die Gewerkschaftsführung andere Forderungen im Sinn haben als Frauen aus der Arbeiter:innenklasse.

So versuchten 1994 Frauen in Stuttgart, den DGB von einem Frauenstreiktag zu überzeugen, bei dem auf die ungleiche Bezahlung und Doppelbelastung aufmerksam gemacht werden sollte. Trotz der Versuche des Vorstandes, die Aktionen als „Streittag“ zu verharmlosen, kam es zur Besetzung einer Kreuzung sowie zum Teil einer Teilnahme während der Arbeitszeit, sprich zu einem Streik. Anhand dieses Beispiels wird deutlich, wie viel Mitverantwortung die Entschlossenheit der Basis trägt. Auch 29 Jahre später hat sich an der Situation von Frauen nur wenig geändert.

TVöD-Runde Bund und Kommunen: Wer streikt und was ist bis jetzt passiert?

Der 8. März 2023 fällt in Deutschland in eine spannende Zeit: Tarifauseinandersetzungen bei öffentlichen Betrieben, der Post, kommunalen Busunternehmen, im öffentlichen Dienst (TVöD-Runde), Streiks bei den Lehrer:innen in Berlin sind einige Beispiele dafür. Wir leben in Zeiten der Inflation. Sollten die geforderten 10,5 % durchgesetzt werden können, dann würden sie die aktuelle Preissteigerung wenigstens ausgleichen. Mindestens 500 Euro würden, vor allem für die Niedriglohngruppen, tatsächlich eine große Änderung bewirken und eine wichtige Signalwirkung ausstrahlen.

Das betrifft 1,6 Millionen Menschen, die nach TVöD bezahlt werden, d. h. diejenigen, die im öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden tätig sind. Das sind beispielsweise Arbeiter:innen in kommunalen Kitas, in Altenpflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern. Es gab viel Applaus, dass sie während der Pandemie weitergearbeitet haben, viele schöne Worte von Politiker:innen, dass sich die Arbeitssituation für Pflege- und Erziehungsberufe verbessern muss. Passiert ist bisher wenig. Gleichzeitig existiert ein Vorbild, wie erfolgreiche Streiks aussehen können: 2021 und 2022 erkämpfte die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung in wochenlangen Streiks den Tarifvertrag Entlastung.

Federführend für die derzeitige Verhandlungsrunde innerhalb des DGB ist ver.di. Die Mobilisierung läuft bereits seit letztem Jahr in Form von Mitgliederversammlungen und Vorbereitungen in den Betrieben. In Gewerkschaftskreisen hatte man zeitweise den 8. März ins Auge gefasst, um zu streiken. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass es sich um Bereiche handelt, in denen sehr viele Frauen arbeiten. Neben einer dauerhaften Überlastung und Unterfinanzierung dieser Sektoren sind Frauen und Migrant:innen strukturell schlechter bezahlt oder gar ohne Tarifverträge outgesourct – in Zeiten der Inflation ein tägliches Spiel mit dem Feuer.

Schaut man sich die Bereiche, zu denen auch Reinigung oder Behörden zählen, nochmal genauer an, so verwundert es nicht, dass zu den ursprünglichen Forderungen der Beschäftigten auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen gehörte. Dazu zählen „utopische“ Wünsche wie Arbeitszeitverkürzung oder mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst. Doch das war den Gewerkschaften zu heiß. Der 8. März als Streiktag ist auch weg vom Fenster und man konnte sich im Oktober lediglich auf einen versöhnlichen Forderungskatalog einigen, welcher sich lediglich auf die Löhne bezieht. Ebenso offensichtlich ist die gezielte Schwächung des Streikes durch eine Teilmobilisierung. Warum alle zusammen mobilisieren, wenn man auch nur einzelne Sektoren wie die BSR (Stadtreinigung) in Berlin aufrufen kann? Und das mit dem Wissen, dass die Kolleg:innen am Limit sind, alles immer teurer wird, sodass sogar Butter, geschweige denn Gas- oder Mietpreise ein Luxusprodukt darstellen. Und das, nachdem nach Corona vor allem im Krankenhaus viele mit dem Gedanken spielen, ganz auszusteigen, und die Arbeit„geber“:innenseite auch diese niedlichen Forderungen noch herunterhandeln wird. Das ist Politik gegen die Arbeiter:innenklasse!

Frage dich mal, was deine Gewerkschaft für dich tun kann

Am 24.01.2023 fand die erste Verhandlungsrunde zum TVöD statt. Eine der Teilnehmer:innen aufseiten der Arbeit„geber“:innen war Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Diese hat wieder einmal gezeigt, dass diese sich zwar auf ihre „guten alten Zeiten“ als Arbeiter:innenpartei stützt, aber keineswegs Politik für die Arbeiter:innenklasse betreibt. Ergebnis: nächste Runde, denn es gab nichts zu „verhandeln“. Dafür hätten die Gemeinden und Kommunen ein Angebot unterbreiten müssen. Besonders interessant ist, dass die minimalen Forderungen der Gewerkschaften zu hoch und unrealistisch angesichts leerer Kassen ausfallen sollen. Doch wo bleiben dann Forderungen nach einem höheren Spitzensteuersatz, sodass endlich mal die Reichen für die Krise bezahlen?

Diese Argumentation hat nicht nur etwas mit der aktuellen Situation zu tun: Sie hat System. Es gibt nur eine Möglichkeit, diesem zu entrinnen, nämlich, indem die Warn- in unbefristete Erzwingungsstreiks überführt werden. Daneben müssen Demonstrationen organisiert und Solidaritätsbündnisse geschlossen werden. Unsere Aufgabe als klassenkämpferische Gewerkschafter:innen und Revolutionär:innen liegt darin, dies voranzutreiben, Druck auf die Gewerkschaftsführung auszuüben, die Kämpfe zusammenzuführen und unter Kontrolle demokratisch gewählter, den Mitgliedern verantwortlicher Streikkomitees zu stellen.

Frauenkampftag, Streiktag – gemeinsam auf die Straße!

Es wird knapp in der Kasse. Schon allein, wenn wir nach dem Einkauf in unser Portemonnaie sehen. Die nächste Gasrechnung bereitet uns schlaflose Nächte. Wir sind es leid, dass alle die Krisen von Corona über Klima- und Energiekrise auf unseren Rücken ausgetragen werden! Lasst uns unseren Anteil zur Tilgung der Kosten und Ermöglichung eines anständigen Lebens erstreiken! Der Internationale Frauentag ist dafür wie geschaffen und ursprünglich als Kampftag gedacht. Diese Bedeutung müssen wir ihm zurückgeben. Bremen geht hier mit gutem Beispiel voran: Hier ist der Streik durch die ver.di-Mitglieder beschlossene Sache.

Dass er in Berlin zu einem Feiertag geriet, kann nur unter Berücksichtigung der wenigen Feiertage dort allgemein positiv bewertet werden. Es trägt parallel zur Entpolitisierung des Tages bei und das ist gewollt. Man mag es als Form der Transformation sehen, wenn sich die Regierenden eine zunächst kämpferische Thematik zu eigen machen und nach ihrem Gusto interpretieren. Dass es gerade von einer rot-rot-grünen Politik befürwortet wird, zeigt die tief verwurzelte Sozialpartnerschaft, die kein Interesse aufkommen lässt, tatsächlich an diesem Tag die Belange von Frauen wie schlechte Bezahlung, Sexismus am Arbeitsplatz oder geringere Aufstiegschancen zu thematisieren. Der Frauenkampftag ist kein Feiertag, kein Streittag, sondern Streiktag!

Es ist daher Aufgabe der Basis, die Gewerkschaftsführungen daran zu erinnern, wessen Interessen sie ursprünglich vertreten sollten, und dies zu erzwingen. Doch ein Streiktag reicht nicht. Die nordrhein-westfälische Krankenhausbewegung hat es vorgemacht. Es darf nicht nur um Geld, sondern muss auch um Entlastung und bessere Arbeitsbedingungen gehen. Dafür brauchen wir Streikkomitees in allen Betrieben.

  • Hinaus zum Frauenkampftag! Frauenkampftag ist Frauenstreiktag!

  • Regelmäßige Vollversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit der Streikkomitees!

  • Volle Kampfkraft für 10,5 % jetzt und mindestens 500 Euro für alle!

  • Früheren Renteneintritt ermöglichen, Altersteilzeitregelung verlängern! Mehr Urlaub bei Dauerschichtdienst!

  • Für eine Arbeitszeitverkürzung mit paralleler Einstellungsoffensive unter Kontrolle der Beschäftigten!

  • Finanzierung der Maßnahmen durch massive Besteuerung der Unternehmensgewinne und Vermögen!



Grundlagen: Schafft Reproduktionsarbeit Mehrwert?

Clay Ikarus, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2023

Zur Reproduktionsarbeit gehört alle Arbeit, die dazu da ist, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei geht es nicht nur um die tägliche Erneuerung der gegenwärtigen Arbeitskraft, für die man einkaufen, kochen, putzen sowie sich um bedürftige Angehörige kümmern muss. Es geht dabei auch um die Arbeitskraft der nächsten Generation. Also gehören auch Bildung, Kindererziehung und der Gesundheitssektor im Allgemeinen dazu.

Ein großer Teil der Reproduktionsarbeit findet im Haushalt statt und wird, zumindest in Europa, auch heute noch zum großen Teil von Frauen übernommen. Eine beispielhafte Zahl: Laut Eurostat liegt der Anteil der Frauen, die täglich Hausarbeit verrichten, bei 79 %, bei Männern bei 34 %. Die Reproduktionsarbeit im Privaten ist dabei unbezahlt und taucht dementsprechend auch in keiner kapitalistischen Buchführung auf. Sie wird deshalb als „unsichtbare Arbeit“ bezeichnet: Mehrwert wird innerhalb der Reproduktionssphäre nicht produziert. Es gibt keinen Gewinn, auch wenn die Arbeit existenziell für alle Menschen ist. Der Lohn wird verwendet, die Mittel zur Befriedung der Bedürfnisse der Lohnabhängigen zu kaufen, sodass man essen und sich kleiden kann sowie weitere Bedürfnisse erfüllt werden können, um die Arbeitskraft zu reproduzieren, zu leben. Doch am Ende wird der Wert der Arbeitskraft nur wiederhergestellt.

Es gibt jedoch auch öffentliche Sektoren, in denen Reproduktionsarbeit stattfindet: Kindererziehung in Schulen und Kindergärten, um neue Arbeiter:innen auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Pflegekräfte versorgen im größeren Umfang bedürftige Menschen in Krankenhäusern, Altersheimen oder Jugendeinrichtungen. Doch nicht umsonst sind diese öffentlichen Sektoren meist staatlich finanziert, denn auch wenn die Kapitalist:innen auf gesunde und ausgebildete Arbeitskräfte angewiesen sind, wollen sie ungern selber dafür aufkommen. Meist arbeiten in diesen Careberufen Frauen in Positionen, die schlecht bezahlt sind. Doch was ist mit privaten Kliniken und Schulen? Hier wird Kapital investiert und keine Steuergelder und das, um Mehrwert zu erzielen. Doch das ist trotz der hohen Gelder, die verlangt werden, und der zusätzlichen staatlichen Unterstützung nicht so einfach, da die Möglichkeiten, den Mehrwert zu steigern, schnell an ihre Grenzen kommen.

Nicht umsonst zerbrechen Gesundheits- und Bildungssektor an der Privatisierung, denn die Gewinne gehen aus und es wurde sich verzockt auf Kosten der Kranken und Kinder. Es handelt sich also gleichzeitig um Produktion (Kapitalvermehrung) und Reproduktion (der Arbeitskraft). An diesem Beispiel sieht man gut, dass es nicht um die Arbeitstätigkeiten selbst geht, sondern ob sie dem Ziel dienen, Kapital zu vermehren oder nicht, wenn man der Frage auf die Spur kommen will, ob etwas Mehrwert produziert.

Was ist überhaupt Mehrwert und wieso spielt dieser eine Rolle?

Man spricht von Mehrwert, wenn das Kapital durch die Produktion wächst, vermehrt wird, wenn es also „mehr wert“ ist, als es vorher war. Ein Verständnis dessen ist unerlässlich, denn das Kapital strebt einzig und allein danach, den eigenen Wert zu vergrößern. Alles andere ist zweitrangig.

Nach Marx bilden die menschliche Arbeit und die Natur die beiden Quellen jeden Reichtums. Aber nicht jede Arbeit schafft Wert oder Mehrwert. Mehrwertproduktion findet nur unter bestimmten, genauer unter kapitalistischen Verhältnissen statt.

Die Arbeitskraft wird durch die Einführung der Lohnarbeit im Kapitalismus zu einer Ware gemacht. Der Wert einer Ware entspricht dem Arbeitsaufwand, der zu ihrer Produktion notwendig ist. Auf dem Markt kauft das Kapital jedoch nicht die Arbeit, sondern die Arbeitskraft, das Arbeitsvermögen der Lohnabhängigen. Der Wert diese Ware wird, wie der Wert jeder anderen, durch ihre Reproduktionskosten bestimmt – also die Summe aller Waren, die zu ihrer Bildung, ihrem Erhalt und ihrer Reproduktion nötig sind.

Wurde die Arbeitskraft einmal gekauft, so gehört sie für die Zeit der Produktion dem Kapital, gerät zu seinem Bestandteil. Das Produkt gehört dem/r Kapitalist:in.

Im Produktionsprozess sind die Lohnabhängigen jedoch dazu in der Lage, mehr durch ihre Arbeit zu schaffen, als dem Wert der Ware Arbeitskraft entspricht. Der Wert, der zusätzlich geschaffen wird, ist der Mehrwert. Seine Aneignung durch das Kapital bezeichnet man im marxistischen Sinne als Ausbeutung.

Wenn jetzt in der gleichen Arbeitszeit noch mehr produziert werden soll oder der Lohn gekürzt wird, kann der Mehrwert sogar noch gesteigert werden. Als Marxist:innen ist es wichtig, uns die Verhältnisse der Menschen in der Produktion der Klassengesellschaft anzuschauen, um die materielle Grundlage von Ausbeutung und Unterdrückung zu erkennen und bekämpfen. Viele feministische Strömungen lassen dies außen vor und sehen den Kampf für die Befreiung der Frau unabhängig vom Klassenkampf.

Doch wozu sind diese Erkenntnisse und Einteilungen nun wichtig?

Die Reproduktions- ist mit der Produktionssphäre untrennbar verbunden, da sie die nötige Arbeitskraft aufrechterhält. Doch die Reproduktion schafft unmittelbar keinen Mehrwert. Das kapitalistische System baut aber auf der Mehrwertproduktion auf. Die Mehrwertproduktion ist das Ziel jeder Produktion und die Quelle des Reichtums für die Kapitalist:innen sowie der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter:innenklasse.

Ein Streik bei der Hausarbeit hat daher nicht den gleichen Effekt wie einer in der Produktionssphäre. Es wird dabei nicht zuerst das System, sondern werden die Arbeiter:innen selbst getroffen. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die Kapitalist:innen. Für die Befreiung der Frau benötigt es eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit und eine Produktion, die nicht länger auf eine Mehrwertsteigerung ausgerichtet ist, sondern auf die Bedürfnisse von Mensch und Natur.