Tradwive Trend: Was Hausfrauenromantik mit Rechten zu tun hat

Isma Johnson, REVOLUTION, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Habt ihr schon mal auf TikTok oder Instagram ein Video von jungen Frauen gesehen, die ganz ästhetisch Haushaltstätigkeiten wie Kochen, Putzen oder Kinderbetreuung nachgehen? So kommen viele Menschen, vor allem junge Frauen, das erste Mal mit „Tradwives“ in Kontakt. „Tradwives“ ist die Kurzform für „traditional wives“ und diese „traditionellen Frauen“ wollen den überholten Rollenbildern für Hausfrauen der 1950er Jahre nacheifern. Manche von ihnen tragen auch gleich die Mode dieser Zeit mit Petticoatkleidern und Lockenwicklerfrisuren. Andere orientieren sich eher am Landleben (oder daran, was sie sich darunter vorstellen, Stichwort: die Internetästhetik Cottagecore). Viele von ihnen behaupten, es ginge ihnen nur darum, zu Hause zu bleiben und nicht arbeiten gehen zu müssen, für ihren Mann und ihre Kinder zu sorgen und ihren Lebensstil nach außen zu tragen. Aber neben Kochvideos, Babyinhalten und ästhetischen Bildern tauchen etwa bei Estee Williams, einer Tradwife mit über 140 Tausend Follower:innen auf TikTok, Videos mit ganz anderen Inhalten auf. So erzählt sie ihren Follower:innen z. B.: „Gott erschuf zwei Geschlechter zu unterschiedlichen Zwecken“ und „Die Frau, die Ehefrau ist eine Hausfrau“, erklärt, wie sie den richtigen maskulinen Mann anziehen können, und fordert sie auf, sich ihm nach den Prinzipien der Bibel zu unterwerfen.

Warum sind Tradwives so gefährlich?

Tradwives definieren sich aber nicht nur über die Rolle als Hausfrau. Auch wenn sie diese Tätigkeit ausüben, macht eines sie viel mehr aus: warum sie das tut. Denn hinter der harmlos erscheinenden, ultrafemininen Ästhetik steckt meist, wie bei Williams, die Vorstellung, dass Frauen sich selbst hintanstellen und ihrem Mann unterwerfen sollten. Manche Tradwives distanzieren sich zwar ausdrücklich vom ultrarechten Teil der Bewegung und hängen verschiedenen (konservativen) Ideologien an, aber immer beruhen diese darauf, Geschlechterrollen zu festigen. Das zeigt sich schon darin, dass eine „traditionelle Frau“ ganz andere Aufgaben übernehmen soll als ein „traditioneller Mann“. Wie sie sich verhalten soll, ist festgeschrieben und etwas dazwischen soll es erst recht nicht geben.

Das Spektrum von Tradwifethemen beginnt bei eher konservativen Frauen, deren Fokus vor allem auf „traditionellen“ Rollen, konservativen Werten und Hausarbeit liegt, welche subtil in Vergleich zur abgelehnten modernen Welt gesetzt werden. Von da aus besteht ein fließender Übergang zu solchen mit größerem Fokus auf Tradition und Nationalismus, die offen Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und antiwissenschaftliche Standpunkte (insbesondere gegen Impfungen) vertreten und via Social Media bewerben. Also alles, was die extreme Rechte und Verschwörungstheorien zu bieten haben, aber eben unter dem Deckmantel einer harmlosen „Stay-at-Home-Mom“. Die Hyperfeminität dient also dazu, die dahinterstehende autoritäre Ideologie zu verschleiern und so massentauglicher zu werden. Der religiöse Teil der Bewegung versucht auch, durch Bibelverse Frauen von ihrer aufgezwungenen Geschlechterrolle zu überzeugen, zum Beispiel durch Epheser 5.22: „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn.“

Auch haben die unterschiedlichen Regulationen von Plattformen eindeutig einen Einfluss auf den Inhalt der Posts. Das etwas weniger regulierte und moderierte TikTok wird beispielsweise eher genutzt, um ideologische Inhalte zu posten, wohingegen auf Instagram eher ästhetische Inhalte verbreitet werden sollen und somit auch oftmals als Startpunkt für eine Radikalisierung dienen können. Auch die sind aber keineswegs harmlos, da neben #traditionalwomen auch rechte Dogwhistles (Nutzung einer Sprache, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden kann) wie #redpillwomen unter den Posts genutzt werden – ein Hashtag der auf radikalen Antifeminismus und Incels verweist und den Abstieg in die Alt-Right-Bubble bedeuten kann. Nicht zufällig ist die Tradwife-Bewegung in den USA nach den Wahlen 2016, aber auch aus der europäischen Identitären Bewegung entstanden, um das sogenannte „Frauenproblem“ zu lösen, also bewusst mehr Frauen für die männerdominierten Bewegungen anzuwerben. Dabei ist die Beteiligung von Frauen an der extremen Rechten nichts Neues. Schon der Ku-Klux-Klan der 1960er Kahre hatte eine Frauenorganisation, die Männer bei rassistischen Angriffen bis zu Vergewaltigungen und Morden unterstützte, indem die Frauen aktiv ihre Ideologie verbreiteten, neue Mitglieder anwarben und Proteste organisierten. Sie halfen auch an der Schule, beispielsweise durch Bibelkunde, ihre Ideologie bereits in der Jugend zu verbreiten, und traten im Wahlkampf für ihre Kandidat:innen ein, indem sie negative Propaganda über die Gegner:innen verbreiteten, um sie auszustechen.

Auch manche Radikalfeministinnen oder TERF’s (trans exkludierende Radikalfeminist:innen) entwickeln sich in die Richtung von „Tradwifery“, obwohl sie zunächst entgegengesetzt erscheinen. Denn Tradwives wollen sich ja eigentlich von den „Ketten“ des modernen Feminismus befreien und ihren Follower:innen erzählen, die Ablehnung von Femininität, Häuslichkeit und Familie würde sie erst so derart depressiv machen und dafür sorgen, dass sie nicht als heiratsfähig angesehen werden würden. Trotzdem sind sich die beiden Gruppen in einer Hinsicht einig: dem biologischen Essentialismus. Beide behaupten, Frauen und Männer hätten tiefer liegende Eigenschaften durch ihre Biologie oder Genitalien, feiern die Rolle der Mutter (die für sie nur Frauen einnehmen können) und lehnen Geschlechtsidentitäten ganz ab.

Warum liegen Tradwives auf einmal so im Trend?

Aber warum bekommen Tradwives überhaupt so viel Aufmerksamkeit und Zuwachs? Sie stellen eine vermeintliche Flucht aus den Tiefen des Kapitalismus dar. Wer möchte nicht dem ständigen Stress des Alltags mit Leistungsdruck am Arbeitsplatz und der gleichzeitig ständig anfallenden Haus- und  Carearbeit entfliehen? Es ist ein Fakt, dass Frauen am Arbeitsmarkt und zuhause in der Reproduktionsarbeit mehr ausgebeutet werden als Männer, da sie einerseits nach wie vor weniger verdienen und andererseits aufgrund der Geschlechterrollen den Großteil der anfallenden Reproduktionsarbeit planen und durchführen. Sie müssen also arbeiten gehen und sich und ihre Familie in der „Freizeit“ wieder arbeitstauglich machen, indem sie die Ware Arbeitskraft reproduzieren. Das schließt das Kochen, Putzen etc. mit ein, aber auch emotionale Sorgearbeit und die Reproduktion der Klasse an sich, indem neue Kinder, später dann Arbeiter:innen, herangezogen werden. Tradwives wissen, dass das schwer möglich ist und für viele eine extrem Anstrengung darstellt, die sie bis zum Burnout bringen kann. Und so behaupten sie ganz nach dem Motto „Früher war alles besser“, Frauen sollten ihre Ausbeutung verringern, indem sie die Arbeitswelt einfach wieder verlassen. Hinzu kommen die Unsicherheiten des modernen Kapitalismus, dass man vielleicht auch erstmal gar nicht weiß, wer man sein will und was man mit sich und seiner Arbeitskraft anfangen soll, also z. B. welchen Job man ausführen soll. Das ist das Dilemma der doppelt freien Lohnarbeit, welches sich mit der Ausdifferenzierung des Kapitalismus immer weiter zugespitzt hat: frei von eigenen Produktionsmitteln, aber auch in der Entscheidung, wem eigentlich die Arbeitskraft verkauft werden soll. Tradwives bieten dagegen eine feste Rolle statt dieser Unsicherheiten und stellen die traditionelle Familie als Lösung für das ganze Dilemma dar. Damit soll ein Halt in dem ganzen Chaos geboten werden.

Außerdem sollen Kinder und Jugendliche durch die mütterliche Betreuung vor „schlechtem“ Einfluss geschützt werden. Müttern, besonders in den USA, wird Angst gemacht, dass ihre Kinder in der staatlichen Schule nur etwas über „woke Ideologie“, Genderwahn und letztendlich Kommunismus lernen würden, was natürlich weit von der Wahrheit entfernt ist. Aber auch sehr reale Probleme bewegen (werdende) Mütter dazu, sich nach anderen Modellen als der staatlichen Schule und der Kita zu sehnen. In Deutschland etwa Angst vor schlechter Betreuung durch überlastete Kitas und schlechte Betreuungsschlüssel.

Hausfrau werden ist nicht die Lösung!

Aber kann das Leben als Tradwife diese Probleme wirklich lösen? Bietet die Alt-Right wirklich eine Alternative zur modernen kapitalistischen Ausbeutung an? Natürlich nicht, denn sie will den Kapitalismus nicht überwinden. Vielmehr ist die Reproduktionsarbeit, die größtenteils die Frauen der Arbeiter:innenklasse verrichten, notwendig, damit der Kapitalismus funktioniert, denn ohne sie würde sich niemand mehr regenerieren und dann arbeiten gehen können. Die traditionelle, bürgerliche Familie, die Tradwives mit aller Kraft als das ideale Leben bewerben, ist entscheidend für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus und auch in rechten Ideologien spielt sie eine Schlüsselrolle. Dort soll nämlich das „Volk“ durch Fortpflanzung in der Kleinfamilie erhalten werden, ohne dass wiederum laut Rechten die Nation untergeht. Die Alt-Right sieht Tradwives als Lösung an, da sie genau ihr essentialistisches Weltbild, ihre Vorstellung davon, was eine Frau „natürlicherweise“ ist, ausleben.

Dass das ganze Konzept einen augenscheinlichen Klassencharakter beinhaltet, dürfte klar sein. Denn welche Familie der Arbeiter:innenklasse kann sich bitte eine Frau, die gar nicht arbeiten geht, leisten? Gerade in Zeiten von Krise, Inflation und massivem Reallohnverlust ist das vor allem ein Lebensentwurf des Kleinbürger:innentums und der lohnabhängigen Mittelschichten, was sich auch in der Verbindung zu rechten Bewegungen zeigt, für die, wie im Fall des Faschsimus, das Kleinbürger:innentum die Klassenbasis darstellt. Für die unteren Klassen – vor allem in Halbkolonien – ist es eher eine Utopie, die sich im Kapitalismus nicht erfüllen lässt. Für die herrschende Klasse stellt das Ganze sowieso nichts Erstrebenswertes dar, denn die lässt die Reproduktionsarbeit sowieso von Angestellten erledigen, da für sie kein Arbeitszwang besteht und die ganze Familie von der Ausbeutung anderer lebt. Früher war das etwas anders. Da konnten auch besserverdienende Schichten der Arbeiter:innenklasse, zum Beispiel die Arbeiter:innenaristokratie, in den imperialistischen Kernzentren und in einigen Halbkolonien ihre Familie mit ernähren, ohne dass die Frau selber einer Lohnarbeit nachgehen musste. Aber das ist spätestens seit Beginn der Phase des Neoliberalismus in den 1980er Jahren immer weniger möglich, da das Profitstreben des Kapitals danach verlangte, auch Frauen immer mehr in den Arbeitsmarkt zu integrieren, während gleichzeitig die Löhne immer weiter sanken. Daher ist klar, dass dass das Ideal der bürgerlichen Familie für die Arbeiter:innenklasse noch nie vollumfänglich erreichbar war, heutzutage allerdings weniger denn je. Dennoch wurde die bürgerliche Familie zur prägenden ideellen und materiellen Form und damit auch zu einem Kern reaktionärer Geschlechterrollen. Diese Verallgemeinerung basiert auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Und durch die Tradwive-Bewegung kann es auch hier die Auswirkung haben, dass Geschlechterrollen wieder weiter gefestigt werden, indem die Arbeiterinnen weiterhin bzw. wieder vermehrt der Reproduktionsarbeit nachgehen, während sich ihre Lohnarbeit im vermeintlich flexiblen Niedriglohnsektor ansiedelt, da sie so eben auch in der Lage sind, neben ihr auch der Reproduktionsarbeit nachgehen zu können, da sie nicht Vollzeit arbeiten.

Obwohl argumentiert wird, dass das Hausfrau-Sein an sich unproblematisch ist und erst die Ideologie von Tradwives das Problem darstellt, muss ganz klar unterstrichen werden: Eine Hausfrau ist materiell abhängig. Frauen, welche Hausfrauen werden („wollen“), indem sie gar nicht arbeiten gehen oder auf Teilzeit- bzw. Minijobbasis angestellt werden, werden nach wie vor ausgebeutet, bekommen kein oder nur viel weniger Geld und werden so um einiges abhängiger von ihren Männern. Und das geben Tradwives auch offen zu und finden das sogar super: „Er überwacht die wichtigsten Finanzen. Wenn ich Geld und Kleingeld für ein Sofa ausgeben will, sagt er ,Nein’, denn er weiß, was rein- und rausgeht“, schreibt die britische Tradwife Alena Pettitt. Aber das ist wirklich gefährlich: Aus finanziellen Gründen schon können Frauen sich hier zum Beispiel nicht mehr trennen, und ihre Männer können mehr Kontrolle über sie ausüben – ihre „frei gewählte“ Ideologie wird also durch ihre materiellen Umstände zum Zwang. Es ist auch so, dass manchen Männern das sehr deutlich bewusst ist und sie dann teilweise (körperliche) Gewalt anwenden, um zu bekommen, was sie wollen, ohne sich darüber Sorgen zu machen, dass ihre Frau sich trennen wollen könnte. Auch das Thema Altersarmut darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland beispielsweise bekommt man erst eine gesetzliche Rente, wenn man mindestens 5 Jahre gearbeitet und Beitrag gezahlt hat. Das kann zwar durch einen Anspruch auf Mütterrente oder diverse staatliche Zuzahlungen auch erreicht werden, jedoch fällt die Altersrente dann trotzdem deutlich geringer aus als bei Männern, die Vollzeittätigkeiten nachgegangen sind. Da Frauen häufiger im Niedriglohnsektor tätig sind und oftmals nicht Vollzeit arbeiten, bekommen sie in Deutschland durchschnittlich monatlich 314 Euro weniger Rente (Stand für das Rentenjahr 2022). Doch das ist natürlich nur ein Durchschnitt, wo es auch mitunter deutliche Schwankungen gibt.

Für eine echte Perspektive gegen Frauenunterdrückung!

Der bürgerliche Feminismus kann die aufstrebende Tradwife-Bewegung jedoch nur bedingt bekämpfen und gibt ihr sogar einen gewissen Aufschwung. Er bietet nämlich keine (langfristige) Lösung gegen Ausbeutung und Reproduktionsarbeit, sondern kann diese höchstens auf mehr Menschen verteilen. Doch hier zeigen sich bereits die Grenzen der kapitalistischen Wirtschaftsweise: So leisten Frauen täglich immer noch durchschnittlich 74 Minuten mehr Hausarbeit in Deutschland als ihre Männer. Diese Messung bezieht sich jedoch nur auf ausgeführte Tätigkeiten und klammert das äußerst anstrengende Planen und Delegieren von Aufgaben aus, was auch zumeist Frauen übernehmen müssen. Hinzu kommen Reiche, die sich Angestellte holen und keinen Finger im Haushalt krümmen. Eine gerechte Aufteilung sieht wirklich anders aus. Denn selbst zu einer besseren Umschichtung von Reproduktionsarbeit ist insbesondere der liberale Feminismus überhaupt nicht in der Lage. Die Märchen des Girlboss-Feminismus und des Choice-Feminismus individualisieren die Frauenunterdrückung und zeigen als vermeintliche Lösung nur auf, dass jede sich ihren eigenen Platz im System erkämpfen solle und ihr freistünde, ob sie sich für Kinder, Küche oder Karriere (oder am besten alles zusammen) entscheidet. Auch die anderen Feminismen haben keinen Lösungsentwurf parat, da sie die Klassengesellschaft, auf der die Frauenunterdrückung basiert, nicht mit einbeziehen und das Patriarchat als etwas vom Kapitalismus bzw. der Klassengesellschaft Losgelöstes betrachten. So kommt es aber dazu, dass Arbeiterinnen und auch schon ihre Töchter sich eine Zukunft im Kapitalismus mitsamt Lohn- und Reproduktionsarbeit nicht vorstellen können und verzweifelt nach Alternativen suchen. Es ist unsere Aufgabe, ihnen eine echte Perspektive aufzuzeigen.

Dafür müssen wir das traditionelle Rollendenken hinter uns lassen, zusammen mit dem kapitalistischen System an sich. Auch einfach Lohn für Hausarbeit zu zahlen, würde das Problem nicht auflösen: Die ökonomische Abhängigkeit würde bedingt besser werden, aber die geschlechtliche Arbeitsteilung, sowie die Isolation von Frauen als Hausfrauen würden weiter bestehen bleiben. Deswegen muss unsere Lösung eine andere sein: Wir müssen die Reproduktionsarbeit auf alle Schultern der Gesellschaft aufteilen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass statt individuellem Essen Mensen eingerichtet werden, wo jede/r lecker und gesund essen kann, aber auch jede/r mal für die Zubereitung und das Aufräumen zuständig ist. Ähnliche Konzepte muss es dann auch für das Putzen und die Kinderbetreuung geben.

Denn nur, wenn wir das kapitalistische System überwinden und Wohnraum sowie Hausarbeit vergesellschaften, die Betriebe unter Arbeiter:innnekontrolle stellen und massiv in Bildung, Soziales und Gesundheit investieren, können wir Frauen (und letztendlich auch alle anderen Menschen) entlasten und so auch die Gesamtarbeitszeit reduzieren. Nur indem wir als Arbeiter:innenklasse und Jugend gemeinsam und demokratisch die Arbeit aufteilen und die Produktion planen und verwalten, können wir der doppelten Ausbeutung von Frauen nachhaltig entgegenwirken und strukturelle Überlastung bekämpfen. Dafür müssen wir uns an Schulen, Unis und in Betrieben organisieren und Aktionskomitees aufbauen. Auch braucht es die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber Frauen innerhalb der Arbeiter:innenbewegung sowie einen internationalen Zusammenschluss, der die Kämpfe koordiniert. Nur so können wir eine internationale multiethnische antikapitalistische Frauenbewegung aufbauen, die eng mit der Arbeiter:innneklasse zusammenarbeitet, welche dann gemeinsam mit allen Unterdrückten und Ausgebeuteten in der Lage ist, den Kapitalismus zu überwinden. Gleichzeitig besteht auch die Notwendigkeit des Aufbaus einer neuen kommunistischen Partei und einer neuen Internationale, die die Kämpfe anführen und zuspitzen kann.

Auch Social Media – ein beispiellos falscher Begriff für die Datenkraken und Geldmaschinen im kapitalistischen Internet – müssen wir den Multimilliardär:innen und ihrem für uns schädlichen Profitinteresse entreißen und stattdessen demokratisch als Arbeiter:innen und Jugendliche überwachen und kontrollieren, damit niemand von uns mehr in eine Alt-Right-Falle tappt, nur weil wir ein Kochrezept geliket haben. Für ein sicheres Social Media für alle, statt maximalen Profiten für einige, müssen wir Konzepte entwickeln, die unseren Bedürfnissen als Gesellschaft entsprechen und ihre Rolle im Kapitalismus hinterfragen.




Heteronormativität als Ursache queerer Unterdrückung – eine marxistische Kritik.

Sani Meier, REVOLUTION/Deutschland, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 12, März 2024

Gesellschaftliche Konventionen

Egal ob in Kinderbüchern, Märchen, Videospielen, der Werbung oder unseren Lieblingsfilmen: Seit jeher strahlen uns dort glücklich verliebte Pärchen entgegen und präsentieren uns die traumhafte Partner:innenschaft, nach der viele dann ihr ganzes Leben lang suchen. In unserer Gesellschaft scheinen erst die Beziehung, dann die Ehe, Kind(er) und ein gemeinsam geführtes Leben, am besten im Eigenheim, besondere Ziele zu sein. Wer kennt nicht die ewigen Fragereien der Familie danach, wann man denn endlich mal den/die Partner:in mitbringe und für Frauen ab Mitte Zwanzig gibt es die übergriffige Frage nach der Kinderplanung gleich gratis dazu. Dabei ist es jedoch alles andere als egal, wie besagte Partner:innenschaft oder Familie konkret aussiehen, sondern streng vorgegeben: Das „ideale“ Paar besteht auch heute noch aus einem Mann und einer Frau: Adam und Eva, Romeo und Julia, Dornröschen und der Prinz, Bonnie und Clyde … etc. Dabei ist sowohl das gegenteilige Geschlecht beider Partner:innen wichtig, setzt also eine klar abgrenzbare Vorstellung von zwei Geschlechtern voraus, aber auch die Tatsache, dass die Beziehung aus genau zwei Personen besteht. Offene Beziehungen oder Polygamie werden nach wie vor kritisch beäugt und in der Ehe schonmal gar nicht berücksichtigt (bis auf bestimmte religiöse und kulturelle Ausnahmen, bei denen aber meistens nur männliche Polygamie erlaubt ist). Unsere Kultur und Bildung, aber auch juristische und institutionelle Strukturen sind also durchzogen von dieser spezifischen Liebes- und Sexualitätsvorstellung und prägen uns von klein auf, ohne dass wir uns dessen überhaupt bewusst sind. Es ist irgendwie einfach „normal“. Der Fachbegriff für dieses Phänomen heißt Heteronormativität.

Unsere Entwicklung und unser Selbstverständnis werden also darauf gelenkt, heterosexuelle Partner:innenschaften als normal, natürlich und erstrebenswert anzusehen – sie sind die Norm. Homo- und Bisexualität sowie transgender und Intergeschlechtlichkeit werden als Abweichungen davon je nach gesellschaftlichem Kontext diskriminiert bis gewaltsam unterdrückt. Gleichgeschlechtliche Liebe wird in vielen Staaten kriminalisiert und intergeschlechtliche Säuglinge werden chirugisch an „eindeutig“ binäre Standards angepasst, obwohl keinerlei medizinische Notwendigkeit besteht. Dabei herrscht sowohl in Bezug auf Geschlechter als auch sexuelle/romantische Orientierungen die Annahme, beides sei von Geburt an festgeschrieben und könne sich nicht immer wieder wandeln. Heteronormative Identitäten und Beziehungen stehen in der Hierarchie ganz oben und werden durch verschiedene Privilegien gefördert (z. B. Steuererleichterungen wie Ehegattensplitting oder umfassende und vergleichsweise unkomplizierte Adoptionsrechte). Viele Frauen haben diese Vorstellungen so sehr internalisiert, dass es sich für sie oft so anfühlt, als könnten sie nur in einer Beziehung mit einem Mann wirklich glücklich sein, und suchen deshalb konstant nach männlicher Anerkennung und Bestätigung. Der Begriff Heteronormativität wird dabei oft dem Aufkommen der Queer Studies zugeschrieben, existiert aber bereits seit mehreren Jahrzehnten und wird von unterschiedlichen politischen und philosophischen Theorien mit variierenden Schwerpunkten benutzt. Spätestens seit die Beliebtheit postmoderner Theorien zugenommen hat und das Interesse an Philosophen wie Michel Foucault und der Queer Theory gestiegen ist, kam es zu einer stärkeren Hinwendung zu diskursbezogenen Konzepten von Heteronormativität. Der Diskurs bezeichnet hierbei die gesellschaftliche Produktion von Bedeutungen und „Wahrheiten“, aus denen sich konkrete Machtverhältnisse ergeben wie unter anderem die Heteronormativität. Bis heute liefern die postmoderne oder auch poststrukturalistische Theorie die dominante Erklärung für den Druck, in heteronormativen Verhältnissen zu leben. Während diese Verwendung von Heteronormativität viele Symptome des Phänomens durchaus treffend darstellt, liegen ihr einige problematische Annahmen zugrunde, welche im Folgenden erklärt werden.

Schwächen postmoderner Erklärungsansätze

Grundsätzlich liegt das Problem dieser Ansätze darin, dass der Diskurs Machtverhältnisse erzeuge und in diesem, also in Strukturen des Wissens, die Ursache von Unterdrückung ausgemacht wird. Während wir durchaus zustimmen, dass sich heteronormative Standards und Kriterien durch (unter anderem) unser Bildungs- und Gesundheitssystem ziehen und diese immer weiter verankert werden, so fehlt dieser Feststellung die Erklärung, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Gesellschaftliche Institutionen wurden von Menschen erschaffen und werden von diesen fortgeführt. Welche Überzeugungen und Ziele sie dabei mit einfließen lassen, ist nicht willkürlich, sondern abhängig von ihren Umständen und dem Kontext, unter denen sie leben. In den Worten von Marx: „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Wie wir leben, welche Probleme wir haben und wie wir glauben, diese lösen zu können, spielt also eine Rolle in unseren Interessen und Entscheidungen. Betrachtet man die Gesellschaft aus einer materialistischen Perspektive, fokussiert man sich zuerst auf die Produktionsverhältnisse, da die Art und Weise, wie wir arbeiten, in jeder Phase der menschlichen Entwicklung von entscheidender Bedeutung war und das Zusammenleben bis heute maßgeblich strukturiert. Der Kapitalismus zeichnet sich durch die Tatsache aus, dass wenige Menschen Produktionsmittel besitzen und die Mehrheit ihre Arbeitskraft an diese verkaufen muss, um zu überleben. Kapitalist:innen kaufen diese, bezahlen den Arbeiter:innen aber nicht das volle Äquivalent ihrer geleisteten Arbeit und eignen sich die Differenz selbst an, was die Quelle ihres Profits darstellt. Der Lohn, den sie zahlen, muss allerdings ausreichen, damit die Arbeiter:innen all das kaufen können, was nötig ist, um weiterhin arbeiten zu können: Miete, Essen, Strom, Fahrkarten etc. Wofür sie allerdings nicht zahlen, ist die Arbeit, die privat in den Haushalten geleistet wird: sogenannte Hausarbeit. Kochen, Putzen, Kinder erziehen und versorgen, Sorgearbeit, Kranken- und Altenpflege, Wäsche waschen und vieles mehr zählt zu diesen unbezahlten Arbeiten und ist für die Kapitalist:innen weitestgehend gratis. Den Grund dafür bildet die geschlechtliche Arbeitsteilung, durch welche Frauen über Jahrhunderte hinweg rechtlich und ideologisch in die private häusliche Sphäre verdrängt und zu unentlohnten Hausarbeiterinnen erzogen wurden. Sie sorgen dafür, dass sich die Arbeitskraft ihrer Partner reproduziert und ihre Kinder sichern den Nachschub an Arbeitskräften. All das, was hierfür nicht gezahlt werden muss, vergrößert den Profit der Kapitalist:nnen und macht sie zu Profiteur:innen dieses Systems.

So wie es hier beschrieben wurde, würden sich wohl die wenigsten Frauen freiwillig in diese Rolle fügen wollen. Finanzielle Abhängigkeit und die moderne Doppelbelastung aus Haus- und Lohnarbeit sind nur einige der gravierenden Konsequenzen dieser Form der Arbeitsteilung. Es gab also die Notwendigkeit, diese ideologisch aufzuwerten und somit wurde das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie mit klarer geschlechtlicher Rollenverteilung idealisiert, romantisiert und als natürlich verkauft. Gleiches gilt für die Ehe: Was ursprünglich zur Sicherstellung von Monogamie und Vererbung durch eindeutige Abstammungslinien eingeführt wurde, gilt heute als romantischster Tag im Leben eines Paares. Die Kapitalist:innen haben es also erfolgreich geschafft, durch Gesetze, Kultur und Religion, ihre Profitinteressen als „natürliche“ Tatsachen zu etablieren.

Es lässt sich nun also auch erklären, warum die Unterdrückung von allen nicht-heterosexuellen, nicht-cis und -monogam lebenden Menschen eine notwendige Konsequenz der kapitalistischen Produktionsweise und ihr vorausgehender Klassengesellschaften ist: All diese Lebensformen und Identitäten passen nicht ins Schema der bürgerlichen Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kind) und stellen deren vermeintlich natürlichen Charakter in Frage. Um ihre Profite weiterhin maximieren zu können, werden sich Kapitalist:innen niemals ernsthaft für die Interessen queerer Menschen einsetzen können. Heteronormativität ist also ein Symptom der Klassenverhältnisse und beschreibt die Gesamtheit der Rollenzuschreibungen, die benötigt werden, um den Kapitalismus am Laufen zu halten. Diskurse, Wissensstrukturen, Gesetze und kulturelle Erzeugnisse machen Mittel zum Zweck der Durchsetzung patriarchaler Verhältnisse aus und bilden nicht deren Ursache. Eine Politik, die sich lediglich auf diese Mittel fokussiert, wird nicht in der Lage sein, die Wurzeln des Problems zu lösen, und ewige Symptombekämpfung betreiben. Der Kampf gegen Heteronormativität muss also ein antikapitalistischer sein und das Patriarchat in seinen Grundfesten, also dem Privateigentum an Produktionsmitteln, angreifen. Die private Kontrolle der Produktion muss gemeinschaftlich und demokratisch von den Arbeiter:innen übernommen werden. Nur dann wird es möglich sein, Hausarbeit kollektiv und gemeinschaftlich zu bewältigen und geschlechtliche Arbeitsteilung und damit zusammenhängende Geschlechterrollen zu überwinden.




Barbie: Dauerwerbesendung für pinken Kapitalismus? Eine marxistische Filmkritik

Leonie Schmidt, ursprünglich veröffentlicht auf onesolutionrevolution.de Infomail 1228, 26. Juli 2023

Nachdem der neue Barbiefilm (Greta Gerwig, 2023 USA) in den Kinos anlief und dabei einen unglaublich erfolgreichen Raketenstart hinlegte, gab es direkt die ersten Kritiken von Konservativen, die sich beschwerten, der Film würde sich gegen Männer richten, sei zu woke und würde unchristliche Werte vermitteln. Die positiven Kritiken hingegen versprachen stattdessen ein feministisches Spektakel voller Kritik am Patriarchat, radikalisierend oder gar revolutionär. Nach diesen zwiegespaltenen Rezensionen wollte sich unsere Autorin Leonie Schmidt selbst überzeugen. Hier könnt ihr die vollständige Kritik lesen.

Worum geht es?

In einem Land namens Barbieland lebt die stereotypische Barbie (Margot Robbie) zusammen mit verschiedenen anderen Versionen von Plastikpuppen und ihren Begleitern, den Kens (und Allan (Michael Cera)). Obwohl ihr Leben unter den vielen anderen Barbies und Kens perfekt erscheint, hegt sie eines Tages Selbstzweifel und wird von Angstgefühlen geplagt, da sie auf einmal Makel bekommt, die sie vorher nicht hatte. Dies führt dazu, dass sie Barbieland verlassen muss, um wieder perfekt zu werden und zusammen mit ihrem Begleiter Ken (Ryan Gosling) in die reale Welt reisen muss. Während dieser Reise verwandeln sie sich auf magische Weise in echte Menschen und landen in Los Angeles. Das sexistische Verhalten der Menschen und die Unterschiede zur Welt in Barbieland irritieren Barbie. Gleichzeitig begibt sie sich auf die Suche nach ihrer langjährigen Besitzerin, von der sie glaubt, sie in der frechen Teenagerin Sasha (Ariana Greenblatt) gefunden zu haben. Währenddessen entdeckt Ken während eines Spaziergangs durch die Stadt, dass die reale Welt im Gegensatz zu Barbieland von einem Patriarchat dominiert wird. Durch diese Reise verändert sich so einiges in Barbieland: Ken will dieses Paradies ebenfalls in ein Patriarchat mit Pferden und Mango-Bier verwandeln. Nun geht es darum, Barbieland vor dem Aufstand der Kens zu retten. Die Incel- und Macho-Revolution kann am Schluss durch den Zusammenhalt der Barbies abgewendet werden und die stereotypische Barbie erkennt, dass sie keine Barbie mehr sein möchte und darf nun in der echten Welt leben.

Zu hohe Erwartungen

Eine feministische Revolution in Hollywood, mit Barbie, dem Symbol der weiblichen Geschlechtsrolle? Zugegebenermaßen, das schien mir eigentlich die ganze Zeit für viel zu hoch gegriffen. Aber nachdem ich gesehen hatte, wie alle Menschen, denen ich online so folge, die irgendwie progressiv und teilweise auch antikapitalistisch bis revolutionär sind, den Film in den Himmel lobten, waren meine Erwartungen sehr hoch. Auch von Greta Gerwig als Filmemacherin hörte man bisher nur Gutes, ich hatte zwar bislang nur Lady Bird (Greta Gerwig, 2017 USA) gesehen, aber fand die antisexistischen Untertöne und das Portrait der Mutter-Tochter-Beziehung darin sehr gelungen. Die Besetzung des Barbiefilms ist außerdem hochkarätig und die Pressetour vor dem Filmstart, gab einem das Gefühl, dass Margot Robbie und Ryan Gosling sich genau mit ihren Rollen und deren tieferen Bedeutungen auseinandergesetzt haben. Auch hatte ich gehört, dass Gerwig und Robbie sich mit einigen Szenen gegen Mattel und Warner Bros durchsetzen, weil sie diese für absolut relevant für die Aussage des Films hielten (zum Beispiel die Szenen mit der alten Frau an der Bushaltestelle, mit der Barbie kurz nach ihrer Ankunft in der echten Welt spricht). Nachdem ich den Film gesehen hatte, dachte ich mir allerdings nur: das war alles?!

Positive Elemente

Bevor wir zu den Kritikpunkten kommen, soll es aber erst einmal um die positiven Elemente des Filmes gehen. Rein von der Ästhetik her sind Barbieland und die Barbies und Kens hervorragend umgesetzt. Mit viel Liebe zum Detail wurden Set und Outfits dem ikonischen Spielzeug angepasst und die Bewegungen der Schauspieler:innen haben immer etwas subtil puppenhaftes, ohne vollständig unnatürlich zu wirken.

Der ganze Film ist gespickt mit Humor, um seine Inhalte zu übermitteln und die Gags haben Realitätsbezug, wirken zwar manchmal etwas überspitzt, aber seien wir ehrlich: viele von uns mussten sich schon mal im Detail anhören, was einen staubtrockenen Film so hochinteressant macht, wie die Barbie, welcher Der Pate (Francis Ford Coppola, 1972 USA) gemansplaint wird. Diese geteilte Erfahrung macht das Ganze erst so komisch. Im Allgemeinen ist es tatsächlich sehr erfrischend, wenn Männer einmal so eindimensional, plump und unselbstständig dargestellt werden, wie es in unzählige Filme mit Frauen immer noch getan wird. Die Reaktion von vielen (konservativen) Männern zeigt, dass sie es scheinbar nicht so toll finden, wie ihnen hier der Spiegel vorgehalten wird.

Auch der Plot hat zumindest eine noble Idee und Grundaussage: Perfektion ist absolut unmenschlich und in der Realität nicht erstrebenswert, was auch für Frauen gilt, die vermeintlich dem Stereotyp entsprechen, und jede Frau jeden Alters ist auf ihre eigene Art und Weise wunderschön. Auch die individuelle Erfahrung von Frauen im Patriarchat wird an mehreren Stellen gut gezeigt. Als Barbie und Ken beispielsweise in Los Angeles ankommen und Roller skaten und Barbie sich auf einmal, das erste Mal in ihrem Leben, unwohl fühlt, weil sie von Männern angegafft wird und Ken, der daneben steht, davon gar nichts mitbekommt und sich pudelwohl fühlt. Diese Szene führt letztendlich dazu, dass ein Mann Barbie auf den Po schlägt, woraufhin sie sich umdreht und ihm einen Faustschlag verpasst. Barbie lässt sich also schon einmal nichts gefallen.

Ebenso findet sich eine subtile Polizeikritik, als die Polizisten Barbie nach der Verhaftung mit anzüglichen Kommentaren überhäufen, was eigentlich erst der Grund war, weswegen sie zurecht ausgerastet ist und verhaftet wurde. Die Polizei kann also im Kampf gegen das Patriarchat auch nicht helfen. Die Wutrede von Gloria (America Ferrera) zum Thema kognitive Dissonanz für Frauen im Patriarchat, die gleichzeitig alles sein sollen, aber immer zu wenig sind, bringt die alltäglichen Anforderungen an Frauen auf den Punkt.

Herausgearbeitet wird außerdem, was bei Männern zumindest auf einer psychologischen Ebene zu Frauenhass führen kann: zu wenig Anerkennung und ein fragiles Ego. Wie erschütternd das ist, wenn ein eigentlich guter Freund sich auf einmal zu einem Männerrechtsaktivisten und Chauvinist entwickelt, muss Barbie am eigenen Leib erfahren.

Der Film scheut auch nicht vor plakativer Systemkritik zurück. Als Ken sich in der realen Welt über das Patriarchat und seine Jobmöglichkeiten informiert, wird ihm gesagt, ganz so einfach, wie er sich das vorstellt, dass er einfach nur ein Job bekommt, weil er ein Mann ist, ist es dann doch wieder nicht. Allerdings wissen die Männer es heutzutage einfach nur besser zu verschleiern, dass sie sehr wohl Vorteile haben. Wer schon einmal über Gleichberechtigung diskutiert hat, kennt sie, die Männer die sagen: „Ne, ne wir sind doch alle gleichberechtigt, das Patriarchat gibt es schon lange nicht mehr.“ Somit ist es mal ganz erfrischend zu hören, was der CEO zu Ken sagt.

Ebenfalls eine Kritik am Choice Feminismus (alles ist feministisch, solange sich eine Frau bewusst dafür entscheidet) findet sich mehrfach. Bereits zu Beginn wird die Grundidee der Barbie-Puppe „Du kannst alles sein was du willst“ hinsichtlich der Karriere zwar gelobt, aber es wird von der Erzählerstimme dennoch darauf hingewiesen, dass das Patriarchat selbst mit diesen Karrieremöglichkeiten für Frauen eben nicht einfach abgeschafft wurde. Auch zeigt der Film auf, dass es nicht im Interesse von Frauen ist, sich den Männern zu unterwerfen, auch wenn sie das selber in dem Moment vielleicht anders sehen.

Positiv herauszustellen ist außerdem, dass Barbies Lebensinhalt nicht Männer sind, an Ken hat sie schon einmal gar kein Interesse und auch an niemand anderem. Wie sollte sie auch, ist sie doch eine Puppe so ganz ohne Genitalien. Daher kommen ihr die Anmachversuche in der echten Welt auch einfach sehr seltsam vor. Das zeigt aber vor allem, dass Filme die für eine weibliche Zuschauerinnenschaft gemacht wurden, eben nicht immer nur romantische (Sub)Plots haben müssen, um zu funktionieren. Es wirft auch die Frage auf, ob Barbie überhaupt hetero ist. Klar wird sie von Mattel eigentlich so dargestellt, aber wenn wir uns mal scharf dran erinnern, wie wir mit Barbies gespielt haben …

Barbie – der Film zum Rebranding von Mattel

Der Sinn dieses Films wird uns eigentlich auf dem Silbertablett serviert: Barbie soll weiterhin ein relevantes Spielzeug sein, auch in einer Zeit, in welcher, zumindest oberflächlich, feministische Diskurse Einzug in die gesamte Gesellschaft erhalten haben. Das kann man sehen an der Teenagerin Sasha, die keinen Bock auf Barbie hat, natürlich einerseits, weil sie schon zu alt ist, aber andererseits auch, weil es komplett uncool ist, zuzugeben, dass man Barbies mag, wenn man sich gleichzeitig für Feminismus interessiert. Am Ende kann sie aber doch noch überzeugt werden. Deswegen wird im Film auch die ursprüngliche Vision von Barbie-Erfinderin Ruth Handler so betont: Barbie sollte eine Alternative zu den Puppen darstellen, mit denen die Mutterrolle normalerweise eingeübt wurde und durch die anfänglichen Editionen, wo es vor allem um Berufe ging, und dass Frauen eben alles sein können, was sie möchten, mit der weiblichen Geschlechterrolle brechen. Allerdings verschweigt der Film, dass diese Vision nicht lange anhielt und mit dem Abschied von Ruth Handler von Mattel Lifestyle, Mode, Sport und Tiere in den Interessenfokus von Barbie gerieten. Außerdem war ein kompletter Bruch mit der weiblichen Geschlechtsrolle sowieso für Barbie niemals vorgesehen: das fängt mit ihrem Aussehen an, welches immer als Schönheitsideal galt. Barbies frühere Idealmaße hätten bei einem echten Menschen dazu geführt, dass dieser nicht lebensfähig ist. Diese wurden zwar mittlerweile überarbeitet, um realistischer zu werden, dennoch haben unzählige viele kleine Mädchen mit Barbie gelernt, dass es total wichtig ist, immer gut gestylt zu sein und regelmäßig die neuste Mode zu kaufen. Barbie bereitet sie also auf ein Leben im Patriarchat als Frau und im Kapitalismus als Konsumentin vor. Das mag nicht so offensichtlich auf die Mutterrolle abzielen, aber wenn man sich einmal anschaut, welche Berufe Barbie so ausübt, wird auch hier schnell klar, dass Care-Arbeit gerne gesehen wird: eine der ersten Berufe, die Barbie hatte, war Krankenschwester.

Im Film wird immer wieder klar, hier soll etwas verkauft werden: die Barbies und ihre Outfits, die gezeigt werden, existieren größtenteils alle wirklich. Auch die Szene, in der Ken Barbies Outfits aus dem Dreamhouse wirft, betont das noch einmal über deutlich, indem die Namen der Outfits explizit eingeblendet werden. Noch dazu gibt es sehr offensichtliche Product-Placements von Chanel, Birkenstock und Chevrolet.

Mattel will also ein bisschen mit dem Klischee brechen, Barbie sei nur ein anti-feministisches Püppchen und stattdessen zeigen, dass Barbie immer auch daran gebunden ist, wer mit ihr spielt. So können sie sich einerseits aus der Verantwortung ziehen und andererseits den individualistischen Charakter ihrer Produkte betonen. Deswegen ist die feministische Grundhaltung des Films auch alles andere als subtil, was für Greta Gerwig eigentlich sehr ungewöhnlich ist.

Misslungene Kritik am Patriarchat

Das Wort Patriarchat kommt mehrmals im Film vor und mit ihm auch eine völlig falsche Kritik daran. So wird an einer Stelle gesagt, dass die Menschen sich das Patriarchat bewusst ausgedacht hätten. Als hätten sich die Männer eines Tages mal an einen Tisch gesetzt und bestimmt, dass es ab heute Patriarchat geben soll, genauso wie die Kens versuchen, das umzusetzen (nur dass sie sich Mango-Bier trinkend an einen Pool statt an einen Tisch setzen). Das ist jedoch nicht korrekt. Das Patriarchat hat sich über Jahrtausende entwickelt, zu dem was es heute ist und war keine bewusste Entscheidung, sondern rührt aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Entwicklung der Produktionsmittel her. In den Urgesellschaften lebten Männer und Frauen gleichgestellt, die Arbeitsteilung erfolgte aufgrund von körperlichen Fähigkeiten, das heißt auch Frauen gingen jagen, außer sie waren schwanger, Entscheidungen wurden kollektiv getroffen. Erst eine Produktionsweise, die es erlaubte, mehr zu produzieren als direkt verzerrt werden konnte, sorgte dafür, dass es Vorräte und somit auch Verwalter der Vorräte gab, die von der Arbeit freigestellt werden konnten, was in den meisten Fällen Männer waren. Diese bekamen auch Vorrechte bezüglich des Zugriffs auf die Vorräte, welche sich in manchen Fällen weitervererben ließen. Dadurch wurden die Frauen immer mehr in die Reproduktionsarbeit (Ernährung, Haushalt, Erziehung, Pflege) gedrängt und um die Erblinie der Vorteile und des Eigentums zu sichern, entwickelte sich das ganze patrilinear und monogam (zumindest für Frauen). Die Frauenunterdrückung entwickelte sich über die Klassengesellschaften immer weiter, somit darf die Frauenunterdrückung von den Klassengesellschaften auch nicht abgetrennt gesehen werden. Das passiert aber in diesem Film. Klar, wie soll es auch in einem Werbefilm für pinken Kapitalismus auf einmal antikapitalistisch werden? Mehr als Aufregung über die Symptome des Patriarchats und Kritik an Unternehmensvorständen, weil sie keine Frauen haben, gibt es also hier nicht. Schon gar keinen Ansatz dafür, wie das Patriarchat überwunden werden kann. Wie auch, wenn es sich angeblich nur um eine abstrakte Idee handelt. Noch dazu wird das Patriarchat als für alle Frauen gleich dargestellt. Aber in Wirklichkeit gibt es gravierende Unterschiede. Gerade Frauen der herrschenden Klasse haben es sehr einfach, sich aus ihrer Rolle der Reproduktionsarbeit frei zu kaufen durch Kindermädchen und Leihmütter, in Unternehmen beuten sie als CEOs selber andere Frauen aus, zur Not können sie für eine Abtreibung mal eben in ein anderes Land jetten, während die Frauen der Arbeiter:innenklasse doppelt ausgebeutet werden, einmal in der Produktion und einmal in der Reproduktion und ihre reproduktiven Rechte massiv eingeschränkt werden. Des Weiteren können auch andere Unterdrückungsmechanismen wie Rassismus oder Ableismus die sexistische Unterdrückung begleiten und auf diese einwirken, was natürlich mit der stereotypischen Barbie in der Hauptrolle unmöglich aufzuzeigen ist. Natürlich gibt es Repräsentation von diesen Frauen im Film und das ist auch positiv herauszustellen, da Repräsentation für gesellschaftlich Unterdrückte einen positiven Einfluss hat, aber der Dreh- und Angelpunkt bleibt die weiße Blondhaarige. Die trans Frau Hari Nef spielt Dr. Barbie, aber Dr. Barbie bleibt genauso eine Nebenrolle wie viele WOC im Film, wenngleich diese ebenso beeindruckende Jobs haben (wie zum Beispiel Präsidentin-Barbie (Issa Rae)).

Im Film wird uns außerdem vermittelt, dass das Problem die Männer an sich sind und nicht die Klassengesellschaft, was auch daran zu sehen ist, dass in Barbieland das Matriarchat für Frieden und florierenden Wohlstand sorgt, während das beim Versuch des Patriarchats nicht der Fall ist.

Die Lösung: Selbstakzeptanz?

Würde man das Ende wohlwollend interpretieren, könnte man sagen: „Super, Barbie hat es geschafft sich aus ihrer Rolle zu befreien, indem sie anerkannt hat, dass sie ihr nicht mehr entsprechen kann und will und kann jetzt selber herausfinden, wer sie wirklich ist, in dem sie als Mensch in der realen Welt leben darf.“ Und auch Ken braucht einfach nur Selbstfindung und Selbstakzeptanz um kein Chauvi mehr zu sein.

Aber die Geschlechterrollen können innerhalb des Patriarchats und des Kapitalismus gar nicht abgeschüttelt werden, denn sie prägen uns Tag ein, Tag aus, auch wenn sie ab und zu im neuen Gewand daherkommen. Das Sein beeinflusst das Bewusstsein, wie Karl Marx schon sagte. Somit ist die einzige Möglichkeit sich den Geschlechterrollen dauerhaft zu entziehen, die Klassengesellschaft zu zerschlagen, da die Produktionsverhältnisse die materielle Grundlage für diese sind. Sicherlich kann die Akzeptanz, dass man diesen Rollen niemals entsprechen wird, es einem zeitweise etwas angenehmer machen. Und Männer können ihre toxische Männlichkeit reflektieren und sich bemühen, Frauen besser zu behandeln. Aber es ist doch eine zutiefst individualistische Lösung, die die Zuschauer:innen eher hilflos zurücklässt. Das widerspricht noch dazu der ursprünglichen Kritik am Choice Feminismus, mit welcher der Film eigentlich überzogen war.

Fazit

Der Film macht zwar Spaß, aber das Gefühl, dass es sich hierbei um einen Werbefilm für einen pinken Kapitalismus und eine Umdeutung von Barbie handelt, bleibt leider bestehen. Es muss zwar nicht jeder Film eine Lösung präsentieren, aber wenn er es schon tut, dann sollte diese nicht so unglaublich uneffektiv sein. Auch die letzte Szene wirft noch einmal Fragezeichen auf. Barbie, als Mensch in der realen Welt, hat einen Termin. Was wird es sein, vielleicht ein Vorstellungsgespräch oder ein Date? Nein, sie geht zum Gynäkologen. Dass sie sich so sehr darüber freut, ist vielleicht nachvollziehbar, in Anbetracht der Tatsache, dass sie vorher keine Genitalien hatte und die Reproduktion der Art sicherlich ein relevanter Teil des Menschseins ist. Aber für mich hat es sich so angefühlt, als ob Barbies Erfahrung als Frau jetzt wieder nur auf ihre Reproduktionsfähigkeit reduziert würde und sie somit auch wieder in eine Mutterrolle gepresst werden könnte.

Der Film hat vielversprechende Ansätze, aber mit Mattel und Warner Bros im Boot ist es wohl unmöglich, einen antisexistischen und antikapitalistischen Film zu drehen, der Barbie zu einer Revolutionärin macht (auch wenn die komische Barbie (Kate McKinnon) in ihrem komischen Haus zumindest schon mal das richtige Outfit für diesen Plot gehabt hätte).




Ukraine: Nationale Frage und die Frauen

Susanne Kühn / Oda Lux, Fight!, Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist allgegenwärtig: in den Medien und im Alltag. Man sieht vor allem Bilder von kämpfenden Männern, geflüchteten Frauen oder von Daheimgebliebenen in zerstörten Häusern. Das erfasst die Lebensrealität und die Lage der Frauen in der Ukraine nur zum Teil. Denn obwohl unter anderem aufgrund des Kriegsrechtes, welches ukrainischen Männern zwischen 18 und 60 die Ausreise verbietet, ein sehr großer Teil der Menschen, die Westeuropa erreichen, Frauen sind, wird die Frage, wie es eigentlich um ihre Situation in diesem Konflikt und der Ukraine generell steht, verhältnismäßig wenig gestellt.

Um deren Lage – wie die Situation in der Ukraine – selbst zu verstehen, ist es jedoch auch erforderlich, kurz auf die nationale Unterdrückung seit dem Zarismus einzugehen.

Wir halten dies allerdings für dringend notwendig, weil bei aller berechtigten und notwendigen Kritik am ukrainischen Nationalismus Ingoranz gegenüber der nationalen Frage in der Ukraine vorherrscht – nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit oder bei unverbesserlichen Putinist:innen, sondern auch in weiten Teilen der „radikalen“ Linken.

Dies ist umso wichtiger, weil der reaktionäre und barbarisch geführte Krieg Russlands nicht nur abertausenden ukrainischen Zivilist:innen das Leben gekostet, hunderttausende obdachlos gemacht und verarmt, sondern Millionen – vor allem Frauen – zur Flucht gezwungen hat. Er hat auch einem reaktionären und historisch eher schwachbrüstigen bürgerlichen Nationalismus massiven Zulauf verschafft. Und es ist klar, dass dieser ohne Lösung der ukrainischen nationalen Frage nicht entkräftet werden kann.

Genau darin, in der Anerkennung der Bedeutung der nationalen Unterdrückung als einer Schlüsselfrage in der Ukraine bestand die historische Errungenschaft Lenins – eine Errungenschaft, die allerdings auch schon zu seinen Lebzeiten in der Bolschewistischen Partei umstritten war. Unter dem Stalinismus wurde letztlich die nationale Unterdrückung nur in anderer Form reproduziert.

Ukraine und ihre nationale Unterdrückung

Im 19. Jahrhundert, in der Phase der Herausbildung der Nation, waren die Ukrainer:innen in ihrer großen Mehrheit Bewohner:innen des zaristischen Russland, Gefangene eines Völkergefängnisses (ein bedeutender Teil der Westukraine gehörte zur Habsburger Monarchie).

Die Existenz der ukrainischen Nation wurde vom Zarismus bestritten, ja bekämpft. Sie wurden ganz im Sinne des großrussischen Chauvinismus als „Kleinruss:innen“ bezeichnet. Im Zuge der Russifizierungspolitik wurden ukrainische Literatur und Zeitungen ab 1870 verboten, um so diese Kultur zwangsweise zu assimilieren. Die Revolution von 1905 erzwang zwar die Aufhebung dieser Gesetze bis 1914, aber im Ersten Weltkrieg wurde das Verbot der ukrainischen Sprache wieder eingeführt. Erst die Revolution 1917 hob diese wieder auf.

Die entstehende ukrainische Nation setzte sich in ihrer übergroßen Mehrheit aus Bauern/Bäuerinnen zusammen, die eine gemeinsame Sprache und auch ein Nationalbewusstsein pflegten. Die herrschenden Klasse und die kleinbürgerlichen städtischen Schichten setzten sich aber vorwiegend aus Nichtukrainer:innen zusammen – westlich des Dnepr waren es vor allem polnische Grundbesitzer:innen, östlich des Dnepr russische. Die städtischen Händler:innen waren vor allem Juden/Jüdinnen.

Die Industrialisierung der Ukraine setzte Ende des 19. Jahrhunderts mit der Erschließung des Donbass (Donezbeckens) ein. Die Arbeiter:innen in den Bergwerken wie auch die Kapitalist:innen waren zum größten Teil großrussische Migrant:innen.

Ende des 19. Jahrhunderts sah die nationale Zusammensetzung der ukrainischen Gouvernements im zaristischen Reich wie folgt aus: 76,4 % Ukrainer:innen, 10,5 % Großruss:innen, 7,5 % Juden/Jüdinnen, 2,2 % Deutsche, 1,3 % Pol:innen und 2,1 % andere. Auf dem Land bildeten die Ukrainer:innen mit 82,9 % die überwältigende Mehrheit, in den Städten machten sie aber lediglich 32,2 % der Bevölkerung aus.

Die nationale Frage in der Ukraine war also eng mit der Agrarfrage verbunden und nahm auch die Form eines Stadt-Land-Gegensatzes an. Zweitens war und wurde die Ukraine im Krieg auch Kampfplatz zwischen Großmächten, die ihre wirtschaftliche und geostrategische Konkurrenz auf ihrem Gebiet austrugen.

Ukrainischer Nationalismus

Der ukrainische bürgerliche Nationalismus entwickelte sich erst spät, in der zweiten Hälfte in den Städten des zaristischen Russland oder im Habsburger Reich, wo die ukrainische Kultur und Sprache weniger extrem unterdrückt wurden. Von Beginn an stützte er sich auf eine relativ schwache ukrainische Bourgeoisie und Intelligenz. Im zaristischen Russland war er außerdem von Beginn an – auch aufgrund der Rolle der orthodoxen Kirche und einer Teile-und-herrsche-Politik des Zarismus – stark antipolnisch und auch antisemitisch geprägt. Zugleich offenbarte er schon früh eine Bereitschaft, sich politisch verschiedenen Mächten unterordnen, was sich im Ersten Weltkrieg, im Bürger:innenkrieg und in extremster Form in der Kollaboration ukrainischer Nationalist:innen (insb. von Banderas OUN; Organisation Ukrainischer Nationalist:innen) mit den Nazis ausdrückte.

Es wäre aber falsch, ihn als rein reaktionäre Strömung zu betrachten. Neben einem von Beginn an überaus zweifelhaften bürgerlichen Nationalismus bildeten sich auch linkere, oft sozialrevolutionäre, populistische Strömungen heraus, die eine reale Basis unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft besaßen (darunter auch Sozialrevolutionär:innen, später auch halbanarchistische Strömungen, deren bekannteste die Machnobewegung war). Die fortschrittlichste Kraft stellten sicher die Borot’bist:innen dar (linke Nationalist:innen, die sich dem Kommunismus zuwandten und schließlich mit der KP der Ukraine verschmolzen; Borot’ba = dt.: Kampf).

Arbeiter:innenbewegung und Bolschewismus

Die Arbeiter:innenbewegung konnte vor der Oktoberrevolution in der ukrainischen Bevölkerung – das heißt unter der Bauern-/Bäuerinnenschaft – faktisch keinen Fuß fassen (und sie hat das auch kaum versucht). Nach der Revolution trat Lenin – auch gegen massive Widerstände unter den Bolschewiki – entschieden für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine ein (einschließlich des Rechts auf Eigenstaatlichkeit). Zweifellos stellte dies einen Schlüssel für die Normalisierung des Verhältnisses zur Bauern-/Bäuerinnenschaft zu Beginn der 1920er Jahre dar. Die bolschewistische Politik in der Ukraine und im Bürgerkrieg war jedoch schon in dieser Periode keineswegs frei von großrussisch-chauvinistischen Zügen, die jedoch innerparteilich vor allem von Lenin bekämpft wurden.

Dass die Bolschewiki schließlich die Ukraine gegen verschiedene konterrevolutionäre und imperialistische Kräfte gewinnen konnten, lag, wie E. H. Carr in „The Bolshevik Revolution“ treffend zusammenfasst, daran, dass sie den Bauern/Bäuerinnen als das „kleinste Übel“ verglichen mit den Regimen aller anderen Kräfte erschienen, die ihr Land ausgeblutet hatten.

In jedem Fall versuchten die Bolschewiki teilweise schon während, vor allem aber nach dem Bürger:innenkrieg, das Verhältnis zur ukrainischen Bevölkerung zu verbessern und sie so praktisch  davon zu überzeugen, dass sie deren nationale Selbstbestimmung anerkannten und den großrussischen Chauvinismus nicht in einer „roten“ Spielart reproduzieren wollten.

Dazu sollten vor allem zwei Mittel dienen:

a) Die Korenisazija (dt.: Einwurzelung), eine Politik, die darauf abzielte, die Kultur und Sprache der unterdrückten Nationen, ihren Zusammenschluss in eigenen Republiken oder autonomen Gebieten zu fördern und Angehörige der unterdrückten Nationen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in den Staatsapparat und die Partei zu integrieren. Außerdem sollte so auch die Herausbildung oder Vergrößerung des Proletariats unter den unterdrückten Nationen gefördert werden.

b) Die Neue Ökonomische Politik (NEP). Dieser zeitweilige Rückzug auf dem Gebiet der ökonomischen Transformation auf dem Land sollte einerseits die Versorgung der Städte bessern und die Produktivität der Landwirtschaft steigern, andererseits aber auch das Bündnis der Arbeiter:innenklasse mit der Bauern-/Bäuerinnenschaft stabilisieren, das im Bürger:innenkrieg durch das System der Zwangsrequirierung landwirtschaftlicher Produkte und Not im Dorf extrem angespannt war.

Zwangskollektivierung und großrussischer Nationalismus der Bürokratie

Der entstehenden und schließlich siegreichen Bürokratie Stalins waren jede reale Autonomie und Selbstbestimmung der Nationen in der Sowjetunion ein Dorn im Auge. Die Politik der Zwangskollektivierung, selbst eine bürokratisch-administrative Reaktion auf ihre vorhergegangenen Fehler, kostete Millionen Bauern/Bäuerinnen in der Sowjetunion das Leben. In der Ukraine nahm diese Politik besonders brutale Formen an. Hilfslieferungen an die hungernden und verhungernden Landbewohner:innen wurden verweigert, Flüchtenden wurde das Verlassen der Ukraine verwehrt.

Damit sollten auch die Reste ukrainischen Widerstandes gebrochen werden. Die Politik der Zwangskollektivierung wird von einer im Kern großrussisch-chauvinistischen Kampagne gegen den „ukrainischen Nationalismus“ und mit der Abschaffung der Korenisazija verbunden.

Der barbarische Hungertod von Millionen Ukrainer:innen erklärt auch die Entfremdung der Massen vom Sowjetregime und warum ein extrem reaktionärer Nationalismus unter diesen in den 1930er Jahren Fuß fassen konnte. Ohne eine schonungslose revolutionären Kritik, ohne einen klaren politischen und programmatischen Bruch mit dem Stalinismus und ohne ein Anknüpfen am revolutionären Erbe der Lenin’schen Politik wird es unmöglich sein, die ukrainischen Massen vom ukrainischen Nationalismus zu brechen.

Frauenpolitik und Stalinismus

Der reaktionäre Charakter der Politik des Stalinismus zeigte sich in den 1930er Jahren auf allen Ebenen, insbesondere auch bei der Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts. Mit dem Sieg der Bürokratie wird die „sozialistische Familie“ zum Leitbild ihrer Frauenpolitik. In der Sowjetunion (und auch in der Ukraine) wird eine Hausfrauenbewegung gefördert. Auch die werktätige Frau ist zugleich und vor allem glückliche Hausfrau und Mutter.

Mit der Industrialisierung, aber auch im Zweiten Weltkrieg werden Frauen zu Millionen in die Produktion eingezogen, zu Arbeiterinnen. Zugleich werden während des Krieges reaktionäre Geschlechterrollen zementiert und verstärkt. So wird die Koedukation von Jungen und Mädchen in der Sowjetunion 1943 abgeschafft, Scheidungen werden fast unmöglich und unehelich Geborene werden rechtlich schlechter gestellt.

Obwohl Frauen einen relativ hohen Anteil in einzelnen Abteilungen der Roten Armee stellten, tauchen sie in der offiziellen Darstellung kaum auf. Der Faschismus wird, offiziellen Darstellungen zufolge, von den männlichen Helden vertrieben und geschlagen, denen die Frauen in der Heimat, im Betrieb und in der Hausarbeit den Rücken frei halten.

Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg wird das reaktionäre Frauenbild weiter ideologisch aufrechterhalten. Trotz einer weitgehenden Einbeziehung der Frauen in die Arbeitswelt wurde die Mutterschaft als Hauptaufgabe der Frau betont, gesellschaftlich gefördert und belohnt. So wurden Prämien und Orden für Mütter, die 5 oder mehr Kinder zur Welt brachten, eingeführt. Alleinlebende oder auch kleinere Familien wurden zur Zahlung eine Spezialsteuer verdonnert.

Nach Stalins Tod tritt unter Chruschtschow eine gewisse Liberalisierung ein. So wird die Abtreibung wieder legalisiert. Darüber hinaus gibt es einige Verbesserungen für die Frauen.

Diese zeigen sich vor allem auf dem Gebiet der Bildung. So steigt der Anteil der Absolventinnen von Fachhochschulen bis in die 1970er Jahre auf rund 50 % – ein Anteil, der zu diesem Zeitpunkt von keinem westlichen Staat erreicht wurde. Außerdem wurden eine Reihe von staatlichen Einrichtungen auf dem Gebiet der Kinderbetreuung oder auch ein flächendeckendes System leicht zugänglicher (wenn auch oft nicht besonders guter) Kantinen oder Speisehallen geschaffen.

Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Unterdrückung der Frau bleiben jedoch bestehen. Frauen leisten weiter den größten Teil der privaten Hausarbeit. Im Berufsleben waren sie bis auf weniger Ausnahmen weiter auf typische „Frauenberufe“ oder schlechter bezahlte Tätigkeiten (Bildungswesen, Gesundheit, Ärzt:innen, Putz- und Hilfspersonal, Handel, Nahrungsmittelindustrie, Textil, auch generell Fließbandarbeiter:innen) konzentriert. Der Zutritt zu vielen von insgesamt über 450 „Männerberufen“ wurde ihnen verwehrt (darunter z. B. Lokführerin oder Fahrerin von großen LKWs). Der Durchschnittslohn lag in den 1970er und 1980er Jahren immer noch bei nur 65 – 75 % der Männer.

Restauration des Kapitalismus

Die Krise der Sowjetwirtschaft in den 1980er Jahren und die schockartige Restauration des Kapitalismus trafen die Arbeiter:innenklasse, vor allem aber die proletarischen Frauen mit extremer Härte auf mehreren Ebenen:

a) Massive Entlassungen und Schließungen treffen vor allem Frauen in den schlechter bezahlten Tätigkeiten, insbesondere wenn ganze Industrien bankrott gehen.

b) Die Verschuldung und Währungskrisen führen zu massiven Kürzungen im öffentlichen Sektor (Privatisierungen und Schließungen) und daher auch Massenentlassungen in Bereichen wie Gesundheit oder Bildung.

c) Zugleich werden soziale Leistungen massiv gekürzt, Kitas und Kantinen geschlossen (insbes. die betrieblichen). Die Preise steigen massiv für Wohnungen und Lebensmittel.

d) Zugleich werden ein reaktionäres Frauenbild und reaktionäre Geschlechterrollen ideologisch verfestigt und „neu“ eingekleidet. Sexismus, reaktionäre Familienideologie und Homophobie müssen nicht erfunden werden, sondern greifen Elemente des Stalinismus auf und kombinieren sie mit tradierten bürgerlichen Vorstellungen.

e) Der Anteil an Frauen unter den Beschäftigten sinkt in der Ukraine (wie überhaupt die Beschäftigung sinkt). Zugleich werden mehr Frauen in die Prostitution gezwungen oder verschleppt – sei es aus ökonomischer Not, sei es direkt gewaltsam in illegalen Frauenhandel.

Mit dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetstaaten und der Entstehung der Ukraine als unabhängiger Staat veränderte sich also auch das gesellschaftliche Gefüge. Eine Spaltung der Gesellschaft verlief zwischen der prorussischer und proeuropäischer Seite. Die alten KP-Strukturen wurden durch neue ersetzt. Ebenso wie in anderen ehemaligen sowjetischen Staaten setzten sich Oligarch:innen, vor allem Männer, an die Macht und blieben an ihr kleben. Bezeichnend ist, dass es bis heute keine Präsidentin gab und auch nur eine weibliche Premierministerin, Julija Tymoschenko (2005; 2007 – 2010). Die sog. orangene Revolution von 2004 – 2005, die auch mit Generalstreiks einherging, verhalf ihr an die Macht. Allerdings kann sie nicht als eine progressive Führungsfigur eingeschätzt werden, die sich an die Spitze einer Bewegung für mehr weibliche Partizipation hätte setzen können. Auch die Maidanbewegung 2013/14 vermochte es nicht, den Einfluss von Frauen großartig zu steigern.

Was sie allerdings geschafft hat, ist, die Annäherung an den Westen weiter voranzutreiben. Dies umfasst Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Einerseits wäre da die Annäherung an die EU, welche zwar Privatisierungen, massive Militärausgaben, Sozialkürzungen und viele weitere Angriffe, welche auch Frauen treffen, zur Folge hatte, aber eben als Nebeneffekt auch politische Reformen voranbrachte, welche aufgrund ihrer Stoßrichtung zur „liberalen“ bürgerlichen Demokratie bessere Bedingungen für einen Kampf zur Frauenbefreiung schaffen. So wurde beispielsweise eine Frauenquote von 30 % bei lokalen Wahlen beschlossen, welche nicht umgesetzt wird, aber trotzdem eine Verbesserung darstellt. Auch die Reformen im Bereich von Justiz und Strafverfolgung sowie Korruptionsbekämpfung kommen vor allem Frauen zugute, da diese am wenigsten von den „Vorteilen“ profitieren und am meisten unter den Nachteilen leiden. Parallel dazu begann 2014 auch ein faktischer Bürger:innenkrieg in der Ukraine, der zur Gründung der Donbassrepubliken und zur Annexion der Krim durch Russland führte.

In der Zwischenzeit ist die starke Abhängigkeit des ukrainischen Staatshaushaltes vom Westen noch gestiegen. Zusammen mit den bereits vorher stattgefundenen Maßnahmen an Sozialkürzungen und Privatisierungen führte dies dazu, dass noch mehr Menschen in Armut stürzen (rund 50 % der Bevölkerung). Die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei knapp einem Drittel und es ist über den weiteren Winter mit vielen Stromausfällen und Heizungsengpässen zu rechnen, da knapp zwei Drittel der Energieinfrastruktur zerstört sind. All das trifft Frauen, die in der Ukraine knapp 10 % weniger Beschäftigungsanteil haben als Männer, stärker. Die Abhängigkeit von der bürgerlichen Familie fällt besonders schwer ins Gewicht, wenn der Alleinverdiener stirbt und die nun Alleinerziehende weniger Aussichten hat, einen Job zu bekommen, in dem sie dann auch noch geringer bezahlt wird.

Die Ukraine: nicht nur blau und gelb, sondern auch „rein weiß“?

Die heutige Ukraine ist auch ein Vielvölkerstaat mit diversen Ethnien, Sprachen und Religionen. Neben Ukrainer:innen und Russ:innen umfasst sie mehr als 130 ethnische Gruppen und viele Minderheitensprachgruppen, von denen die größte Gruppe Roma/Romnja sind. Etwa 400.000 leben im Land. Dies ist wichtig zu wissen, da sie nur selten erwähnt werden und historisch überall, wo sie sich aufhielten, diskriminiert und schlimmstenfalls systematisch verfolgt wurden. In den letzten 10 Jahren gab es in der Ukraine mehrere Pogrome gegen Sinti/Sintizze und Roma/Romnja bei denen Menschen getötet und vertrieben wurden. Besonders rechtsextreme Gruppen hatten es auf sie abgesehen, aber vom Staat gestützt wurden sie dennoch nicht. Auch auf der Flucht sind sie dem Antiziganismus in Osteuropa sowie in Ländern wie Deutschland ausgesetzt. Zum Teil wurden sie an der Ausreise gehindert und es gab sogar Bilder von massakrierten sowie zur Schau gestellten Personen. Schafften sie es doch bis nach Deutschland, so war es für sie schwierig, staatliche Hilfe zu erlangen. Einerseits weil es ein generelles rassistisch motiviertes Misstrauen gegenüber Sinti/Sintizze und Roma/Romnja gibt, andererseits besitzen viele keine Pässe und konnten daher ihre Ansprüche nicht beweisen.

Eine weitere Gruppe, die zeigt, dass die Ukraine nicht so weiß ist, wie auch in den deutschen Medien gerne suggeriert, ist die Gruppe der Migrant:innen aus aller Herren Länder, die zum Arbeiten oder Studieren ins Land gekommen waren. Auch die Ukraine ist und war eine heterogene Gesellschaft. Dies wirkt sich auch auf die Lage der Frau sehr unterschiedlich aus – ein starkes Stadt-Land- wie auch Ost-Westgefälle sind hier zu sehen. Zu oft vergessen wird allerdings, dass auch die Gesellschaft ethnisch und sprachlich vielfältiger ist, als es häufig dargestellt wird, weswegen neben sexistischer Diskriminierung und auf Geschlecht basierender Vulnerabilität noch rassistische Diskriminierung hinzukommt. Egal ob noch im Land selbst oder auf der Flucht, befinden sich diese Personen noch mal in einer besonders prekären Situation.

Der Einmarsch des russischen Imperialismus hat die Lage der Frauen und der Minderheiten noch einmal dramatisch verschlechtert. In der Ukraine überzieht der russische Imperialismus das Land mit einem reaktionären Eroberungskrieg. Zugleich findet der Kampf zwischen dem russischen Imperialismus und den westlichen Mächten statt, nimmt der Krieg wichtige Aspekte eines Stellervertreter:innenkrieges an.

Nichtsdestotrotz haben die Ukrainer:innen natürlich das Recht, sich gegen die Invasion zur Wehr zu setzen, sich selbst zu verteidigen. Die historische Entwicklung und der Krieg zeigen jedoch auch, wie untrennbar der Kampf um Selbstbestimmung, gegen die Unterdrückung der Frauen und Minderheiten mit dem gegen westliches Großkapital, russische Oligarchie und die „eigene“ herrschende Klasse verbunden ist.




Situation von trans Personen an Schulen

Theo Morello & Ella Mertens (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10

Die Schule ist ein Ort, an dem wir uns alle täglich aufhalten müssen. Für manche trans Personen ist das jedoch Tag für Tag eine Qual. Stell dir vor, du stehst vor den beiden Schultoiletten und blickst von der einen zur anderen! Auf welche sollst du gehen? Was, wenn irgendwer kommt und Fragen stellt, warum du jetzt genau diese Toilette benutzt? Ist es nicht einfacher zu warten, bis du zu Hause bist? Tausende Gedanken, dabei geht’s nur darum, wo mensch auf Toilette geht. Doch das ist nicht alles: Sportunterricht, Klassenfahrten, der Biounterricht, selbst in Musik – überall kommt die starre Einteilung in Mädchen und Jungen vor. Überall wirst du daran erinnert, dass du anders bist als die anderen. Hinzu kommen veraltetes Lehrmaterial und eben Mitschüler_Innen und Lehrpersonal. Klar gibt es viele, die einen unterstützen, sobald man sich geoutet hat. Es gibt Lehrer_Innen, die die Namen nicht verwechseln und Mitschüler_Innen, die das tun. Aber es gibt eben auch die anderen, die Witze über einen machen, mobben und einem/r nicht glauben wollen.

Ein paar Zahlen

Generell sind trans Personen häufiger von Arbeitslosigkeit, Armut, Gewalt und Ausgrenzung betroffen. Im Alter sind z. B. bi- und homosexuelle Menschen häufiger von Armut bedroht als Heterosexuelle. So liegt bei Männern im Alter von 60 bis 90 Jahren die Armutsquote bei Bi -und Homosexuellen um sechs Prozentpunkte höher als bei heterosexuellen Männern (12 Prozent zu 6 Prozent). Als „Armutsgrenze“ gilt dabei 60 Prozent des Nettoeinkommens. Bei Frauen in dieser Altersgruppe ist ebenfalls ein Gefälle zu verzeichnen. Frauen, die sich als homo- oder bisexuell identifizieren, haben mit rund 1750 Euro durchschnittlich 10 Prozent weniger Einkommen zur Verfügung als Frauen mit heterosexueller Orientierung (rund 1950 Euro).

Die Zahlen stammen aus dem Deutschen Alterssurvey und sind nun in einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen zur sozialen Lage von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland veröffentlicht worden. (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/queerspiegel/gruene-kritisieren-tatenlosigkeit-des-bundes-altersarmut-unter-queeren-menschen-deutlich-groesser/27089984.html)

Und in der Schule? Positiv ist es, dass für die Änderung des Namens im Klassenbuch oder in Schulausweisen keine rechtlich verbindliche Vornamensänderung erforderlich ist. Die Berliner Senatsverwaltung empfiehlt sogar, dass man trans Personen mit dem selbstgewählten Namen ansprechen sowie die gewünschten Personalpronomen verwenden sollte. Und sonst? 2014 beteiligten sich über 5.000 Jugendliche an einer Umfrage des Deutschen Jugendinstitutes, die sich an LGBTIA+-Jugendliche zwischen 14 und 27 Jahren richtete. Knapp die Hälfte der befragten jungen Trans gab an, an Bildungs- und Arbeitsorten beschimpft, beleidigt oder lächerlich gemacht worden zu sein. Etwa 10 % wurden körperlich angegriffen oder verprügelt. Die Befragten gaben ferner an, dass nur etwa die Hälfte der Lehrer_Innen offen gezeigt habe, dass Schimpfwörter nicht geduldet werden. Die Befragten erzählten weiter, dass etwa die Hälfte der Lehrkräfte gelacht hat, als Witze über LGBTIA+ gemacht wurden, oder sich direkt über Jugendliche, die sich nicht „typisch weiblich/männlich“ verhielten, lustig machte. (https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_Broschuere_ComingOut.pdf)

Was dagegen tun?

Uns aufs Leben vorzubereiten – im Kapitalismus. Deswegen werden in der Schulstruktur und im Schulalltag auch Rassismus und Sexismus mehr oder weniger bewusst reproduziert. Das macht den Kampf gegen Transphobie an der Schule nicht leicht, aber auch nicht unmöglich. Konfrontiert man Lehrer_Innen oder Mitschüler_Innen mit ihren Äußerungen, wird man selten ernst genommen. Außerdem ist es mehr als anstrengend, jeden Tag mit Menschen zu verbringen, die die eigene Identität in Frage stellen. Je mehr Ablehnung man erlebt, umso mehr stellt man auch sich selbst in Frage. Deswegen ist’s leichter, sich der Diskriminierung zu stellen, wenn man nicht alleine ist. Eine gute Möglichkeit dazu bietet die Gründung eines Schulkomitees. Im Gegensatz zur institutionellen Schüler_Innenvertretung können dort alle mitmachen, die möchten. Zudem sind wir in diesem Rahmen nicht vom autoritären Schulgesetz abhängig und können uns deswegen politisch positionieren. Im Rahmen eines solchen Komitees ist es dann auch leichter, Aktionen zu starten: zum Beispiel Plakataktionen, wo Kommentare, die man in der Schule abbekommen hat, nochmal aufgeschrieben oder Informationen über trans Identitäten sowie Unterdrückung aufgezeigt werden. Auch ist es sinnvoll, Veranstaltungen zu organisieren, bei denen man gemeinsam mit Mitschüler_Innen über aktuelle Themen diskutieren kann. Beispielsweise über die Wurzeln des Christopher Street Day oder LGBTIA+-Diskriminierung in anderen Ländern, da diese im Unterricht oftmals zu kurz kommen oder erst gar nicht thematisiert werden. Ebenso kann man in so einem Rahmen auch für konkrete Verbesserungen wie geschlechtsneutrale Toiletten und Umkleiden, eine Antidiskriminierungsmeldestelle oder die Mitbestimmung über die Rahmenlehrpläne eintreten. Gibt’s Stress oder geht es darum, sich gegen diskriminierende Lehrer_Innen oder Schulstrukturen zu wehren, ist es auch besser, gemeinsam aktiv zu sein: Ob offene Briefe an Schüler_Innenvertretung oder Öffentlichkeit, gemeinsame Protestkundgebungen oder gar Vollversammlungen zu dem Thema – zusammen organisiert’s sich leichter.

Das Problem an der Wurzel packen

Trotzdem muss uns klar sein, dass Transphobie keine Frage der Bildung ist. Man kann sie nicht wegerziehen. Es gibt nämlich auch Teile der Gesellschaft, die aktiv von dieser Spaltung profitieren. Um Transphobie also in die Geschichtsbücher zu verbannen, müssen wir sie an der Wurzel packen: dem Kapitalismus. Der Ursprung der Diskriminierung von LGBTIA+ liegt nämlich in der geschlechtlichen Arbeitsteilung der bürgerlichen Familie. Diese Familienkonstellation besteht aus einem Mann, der arbeiten geht und die Familie ernährt, und eben aus einer Frau, die den Haushalt schmeißt und die Kinder erzieht. Bestenfalls kann diese dann Teilzeit arbeiten und etwas dazu verdienen. Klar, das erscheint jetzt erstmal nur als Klischee, es wird jedoch durch konservative Politiker_Innen, religiöse Institutionen, Medien oder Werbung tagtäglich reproduziert.

Dies geschieht nicht rein zufällig, sondern ist einfach eine Ideologie und Praxis, die für den Kapitalismus besonders profitabel ist. So werden durch das Idealbild der Familie die Erbschaftsverhältnisse der Herrschenden geregelt, während die überwältigende Reproduktionsarbeit der Arbeiter_Innenklasse unentgeltlich im Privaten stattfindet. Menschen, die nun nicht in dieses cis- und heteronormative Gesellschaftsbild hineinpassen, sind der bürgerlichen Gesellschaft natürlich ein Dorn im Auge, denn mit ihrer bloßen Existenz stellen sie eine Gesellschaftsordnung in Frage, in der es „natürlich“ scheint, dass Männer In Fabrik oder Büro arbeiten und Frauen die Hausarbeit verrichten.

Also warten wir auf das Ende der Diskriminierung?

Natürlich nicht. Wir müssen im Hier und Jetzt für konkrete Verbesserungen kämpfen und diese mit dem Kampf gegen das ausbeuterische System verbinden. In den letzten Jahren konnten schon einige Errungenschaften erkämpft werden, auch ist die gesellschaftliche Akzeptanz von trans und inter Personen in den letzten Jahren leicht gestiegen. Allerdings ist diese Entwicklung mit Vorsicht zu genießen. Zum einen sind noch längst nicht alle Rechte erstritten worden, zum anderen ist auch ein Rollback in Bezug auf Geschlechterrollen zu beobachten. Der politische Rechtsruck, der international verbreitet ist und in Deutschland seinen Ausdruck im Erstarken der AfD findet, stellt eine große Gefahr für die Errungenschaften der LGBTIA+-Bewegung dar. Wir wollen gemeinsam für eine Gesellschaft eintreten, in der alle Menschen ungeachtet ihres biologischen oder gesellschaftlichen Geschlechts gleichberechtigt und gefahrenfrei leben können.

Daher fordern wir:

  • Kampf der Diskriminierung an Schule, Uni und im Betrieb! Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen trans Personen und LGBTIA+: Für breite Aufklärungskampagnen und Selbstverteidigungskomitees der Unterdrückten in Verbindung mit der Arbeiter_Innenbewegung!
  • Für das Recht auf gesonderte Treffen in den Organisationen der Arbeiter_Innenbewegung, um den Kampf für Gleichberechtigung voranzutreiben und gegen diskriminierendes und chauvinistisches Verhalten vorzugehen!
  • Das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft (auf Rechtsdokumenten, bei Zugang zu Gesundheitsversorgung und Versicherungsleistungen usw.)!
  • Recht auf Nutzung der sanitären Einrichtungen, die dem angegebenen Geschlecht der Trans Persone entsprechen, sowie der Einrichtung von geschlechtsneutralen sanitären Einrichtungen und Umkleiden!
  • Kostenlose gesundheitliche Beratung und operative, geschlechtsangleichende Behandlung, wenn dies von der betroffenen Person gewünscht wird, auch für Jugendliche! Für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper!



EMMA auf die Müllhalde der Geschichte: Solidarität mit trans Frauen!

Jaqueline Katharina Singh, Infomail 1176, 24. Januar 2022

Auf dem Ticket der Grünen sind Nyke Slawik aus Nordrhein-Westfalen und Tessa Ganserer aus Bayern in den neuen Bundestag eingezogen. Somit sind das erste Mal in seiner Geschichte zwei (bekannte) trans Frauen Abgeordnete des deutschen Bundestages. Für viele aus der queeren Community war das ein Grund zur Freude und insgesamt sollte es kein Grund zur Aufregung sein, sollte man meinen. Gäbe es da nicht die bürgerlichen Feministinnen der EMMA.

Hetze gegen trans Frauen

In ihrem Artikel „Ganserer: Die Quotenfrau“ vom 19. Januar macht die EMMA mehr als deutlich, was sie davon hält. Ihrer Ansicht nach ist die Abgeordnete Tessa Ganserer ein Mann, der sich als Frau fühlt. Im Privaten wäre das vielleicht noch möglich, aber so die EMMA:

„Eine politische Dimension bekam diese private Angelegenheit, als Ganserer, zuvor acht Jahre für die Grünen im bayrischen Landtag, im Herbst 2021 für den Bundestag kandidierte: und zwar auf einem Frauenquotenplatz der grünen Liste. Statt einer Frau sitzt also jetzt ein Mensch auf diesem Platz, der körperlich und rechtlich ein Mann ist, sich jedoch als Frau ‚fühlt.’“

Von mehr Zitaten sehen wir an dieser Stelle ab. Es wird allerdings klar ersichtlich, dass für EMMA eine Frau nur Frau sein kann, wenn sie die entsprechenden Organe dazu hat. Zwischendurch wird auch noch Werbung für das neue Buch von Alice Schwarzer gemacht, welches im März rauskommt und sich ganz zufälligerweise mit „Transsexualität“ beschäftigt. Man könnte meinen, dass so eine Öffentlichkeitskampagne gestartet wurde, damit das Buch auch bloß Beachtung bekommt. Danach wird  die Initiative „Geschlecht zählt“ (https://geschlecht-zaehlt.de/) vorgestellt. Diese hat 14 Initiatorinnen, deren Namen und politische Zughörigkeit nach Recherche nicht herauszufinden waren, und laut EMMA zahlreiche UnterstützerInnen. Die Initiatorinnen haben  im November 2021 beim Wahlprüfungsausschuss des Bundestages Widerspruch gegen die offizielle Anerkennung von Ganserers Mandat eingelegt. Ihr Problem ist, dass die Grünen „innerhalb ihrer Partei einem Mann erlauben, als ‚Frau’ geführt zu werden“. (https://geschlecht-zaehlt.de/wahl-2021-frauen-erheben-einspruch/) Und das, obwohl nach deutschem Recht eine Selbstdefinition des Geschlechts nicht möglich ist. „Bei der Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für eine Bundestagswahl widersprechen diese Regel und deren Folgen jedoch dem Demokratieprinzip und dies verstößt gegen die Wahlgrundsätze laut Artikel 38 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz.“ (Ebenda) Kurzum: Die Grünen machen das Selbstbestimmungsgesetz zum Fakt, obwohl doch das alte, erzreaktionäre Transsexuellengesetz (noch) gilt. Letzteres basiert übrigens auf einer medizinisch-diagnostischen Vorstellung von Transsexualität als psychischer Erkrankung.

Am liebsten würde man sagen, dass Alice Schwarzer und die EMMA ihr Verständnis von Geschlecht aus der Steinzeit herüber gerettet haben. Leider stimmt das nicht. Je nachdem, welche Periode der Steinzeit wir betrachten, wurde das sogar dort fortschrittlicher gehandhabt. Aber was steckt hinter der eindimensionalen Auffassung, dass alleinig Geschlechtsorgane bestimmen, was Geschlecht ist? Bevor wir dazu kommen, wollen wir jedoch zuerst einmal klären, aus welchen Faktoren sich Geschlecht zusammensetzt.

Geschlecht ist mehr als die Summe von Körperteilen

Tradierte Geschlechterrollen und geschlechtliche Binarität sind selbst gesellschaftliche, historische Produkte. Es ist keineswegs „natürlich“, dass Frauen oder Männer dieses oder jenes tun oder wir nur in diesen zwei Kategorien denken. Geschlecht ist vielmehr eine multifaktorielle Kategorie, die weder rein biologisch, psychisch oder allein Ausdruck eines sozialen Konstrukts ist, sondern vielmehr ein Verhältnis aus biologischem Geschlecht (sex), Geschlechterrollen (gender) und der eigenen Identität (Geschlechtsidentität) zum Ausdruck bringt, geprägt und bestimmt von der jeweiligen Produktionsweise und Gesellschaftsformation.

Schon allein biologisch gesehen ist die geschlechtliche Binarität ein unzureichendes Konzept. Natürlich gibt es ein männliches und ein weibliches Geschlecht, doch finden wir zwischen diesen Polen, diesen „Reinformen“ viele Variationen, so dass es angemessener ist, von einer Bipolarität zu sprechen.

Das ist übrigens nicht die neuste historische Entdeckung. Bereits in den 1920er Jahren wurde von dem Biologen Richard Benedikt Goldschmidt das Thema angeschnitten. In den 1980er und 1990er Jahren forschten und veröffentlichen die beiden Naturwissenschafterinnen Anne Fausto-Sterling und Evelyn Fox wichtige Arbeiten zu dem Thema, darunter den Artikel „Die fünf Geschlechter: Warum männlich und weiblich nicht genug sind“ (1993 in der Zeitschrift Science publiziert). Gleichzeitig ist es aber auch wichtig herauszuarbeiten, dass es sich dabei um Facetten zwischen den zwei Polen von XX- und XY-Chromosomen handelt. Ein drittes Geschlecht wie etwa ein Z-Chromosom gibt es nicht.

Geschlechterrollen (gender) sind die Stereotype, in die man uns reinzupressen versucht. Wer kennt’s nicht? Männer sollen stark sein und arbeiten. Frauen sind emotional, schwach und können sich sooo gut kümmern. Diese Rollenbilder haben sich im Laufe der Geschichte verändert. Sie sind weder spontaner Ausdruck des inneren Wesens eines Individuums noch eine unvermittelte Darstellung der Biologie, sondern werden von der patriarchalen Rechtfertigung der Frauenunterdrückung geprägt. Im Kapitalismus haben sie bestimmte Grundlagen: die geschlechtliche Arbeitsteilung und die bürgerliche Familie. Sexismus und Transphobie dienen dazu, diese Verhältnisse zu rechtfertigen. Dass Hausarbeit vor allem „privat“ verrichtet wird, erscheint so als quasi natürlich, verbilligt die Ware Arbeitskraft, zwängt Frauen in die doppelte Ausbeutung und Unterdrückung im Reproduktionsbereich und vertieft zugleich die Spaltung unter den Lohnabhängigen.

Die geschlechtliche Arbeitsteilung und die bürgerliche Familie bilden nicht nur die Grundlage der Frauenunterdrückung, sondern auch von anderen Formen geschlechtlicher Unterdrückung wie beispielsweise jener von Schwulen und Lesben, sondern auch der Unterdrückung von Transpersonen.

Ein Kennzeichen dieser Form der Unterdrückung besteht darin, dass negiert wird, dass die Geschlechtsidentität einer Person und ihr biologisches Geschlecht nicht übereinstimmen müssen. Du kannst geboren werden und dein biologisches Geschlecht passt mit der Geschlechterrolle zusammen, die damit einhergeht. Du kannst aber auch teilweise oder komplett im Widerspruch dazu stehen oder diesen entwickeln. Welches ihre „richtige“ Geschlechtsidentität ist müssen die Menschen ganz wie ihre sexuelle Orientierung selbst bestimmen können. Die Unterdrückung von Transpersonen kennzeichnet aber gerade, dass ihnen dieses Selbstbestimmungsrecht über ihre eigene (Geschlechts-)Identität verwehrt wird. Das noch bestehende Transsexuellengesetz basiert auf dieser Verweigerung und ist daher transphob und reaktionär – ganz wie die Kampagne, die die EMMA und „Geschlecht zählt“ führen.

EMMAs Feminismus

So wie die bürgerliche Geschichtsschreibung auch gerne versucht zu vermitteln, dass Nationen, Volk und Vaterland immer existiert haben, wird durch die reine Fixierung auf Geschlechtsorgane das Geschlecht als eine rein biologische Kategorie naturalisiert, als eine unveränderliche Essenz festgeschrieben, die schon immer so gewesen wäre und bleiben müsste. Klar, durch die reine Existenz von Körpern wird es Kategorisierungen geben – aber sie sind nicht unveränderlich und werden wie bereits geschrieben von den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen mit geprägt.

Dass die EMMA sich eines starren biologischen Bildes bedient, ist kein Zufall. Vielmehr ist sie sogar darauf angewiesen. Eine materialistische Erklärung, woher Frauenunterdrückung eigentlich kommt, ist sie uns nämlich bis heute schuldig geblieben. Von deren Verbindung mit der Klassengesellschaft will sie erst gar nichts wissen. Statt dem nachzugehen und einen Ausweg zu bieten, werden unkritisch Ursula von der Leyens Brief über Sexismus im Beruf veröffentlicht, schön die antimuslimische Organisation Femen unterstützt, Islamophobie, wo es möglich ist, und Zweifel an der Existenz von Transmenschen geschürt. Oder in anderen Worten: Die Wurzel von Frauenunterdrückung und LGBTIAQ-Diskriminerung anzugreifen, spielt für die EMMA keine Rolle. Vielmehr geht es ihr darum, im kapitalistischen System mehr mitsprechen zu dürfen. Ein paar Quoten mehr hier, ein paar feministische Projekte da. Die EMMA ist das Sinnbild der verstaubten, weißen, bürgerlichen Frauenpolitik, die sich am biologischen Geschlecht festkrallt, weil sie gar nicht das Interesse hat, die Verhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen.

So sind Frauen halt Frauen, weil sie einen Uterus haben, mit dem sie Kinder gebären können, und werden unterdrückt, weil es eben so ist. trans Personen hingegen greifen dieses biologistische, essentialistische Bild an und erscheinen ihr als männliche Attacke auf die hart erkämpften Rechte der Frau.

Welche Lösung?

Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass der Queerfeminismus richtig liegt. Ja, die reaktionären Geschlechterrollen gehören (genau wie die EMMA) auf den Müllhaufen der Geschichte. Das Problem ist jedoch, dass das nicht so einfach geht, nur weil man es erkannt hat. Performative Akte, parodistische Übersteigerungen und Karikatur bestehender Normen können zwar reaktionäre Denk- und Handlungsmuster kenntlich machen, streifen das Problem aber letztlich nur an der Oberfläche.

Die Queer Theory erklärt das biologische Geschlecht als solches zu einer Konstruktion. Sexismus und Heteronormativität erscheinen nicht als ideologischer Ausdruck und Ergebnis gesellschaftlicher Unterdrückung, die auf einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung beruht, sondern Einstellung und Haltung werden zur Ursache der Unterdrückung erklärt. Die „heteronormative Matrix“, das „binäre“ Bild der Geschlechter, produzierte der Ideologie des Dekonstruktivismus zufolge tatsächlich erst „die Geschlechter“, so wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als Ergebnis des Geschlechterdiskurses erscheint und nicht umgekehrt. Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung wird somit nicht als Ursache und Reproduktionsmechanismus der Frauenunterdrückung angesehen. Folgerichtig wird im Hier und Jetzt versucht, die vorhandene Kategorisierung abzuschaffen, statt die Verhältnisse zu bekämpfen und zu überwinden, deren Ausdruck sie sind. Dies ist letztlich eine Sisyphusarbeit, gerade so als würde man sich einbilden, kapitalistische Ausbeutung oder Unterdrückung dadurch abzuschaffen, dass die AusbeuterInnen über die Ausgebeuteten nicht mehr schlecht sprechen. Gerade hier wird deutlich, wie sehr der abstrakte Appell an „Respekt“ nicht nur ins Leere geht, sondern eigentlich in eine verkehrte Richtung. Schließlich besteht unser Hauptproblem nicht darin, dass die AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen zu wenig Respekt zeigen, sondern dass die Ausgebeuteten und Unterdrückten ihren FeindInnen viel zu viel Achtung entgegenbringen.

RevolutionärInnen sollten dafür kämpfen, dass trans Frauen wie alle anderen Frauen behandelt werden – unabhängig davon, ob sie Operationen in Anspruch genommen haben oder Hormone nehmen.

Deswegen kämpfen wir für die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze gegen trans Personen, den Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Leben. Wir stehen für das Recht auf Selbstidentifizierung der Geschlechtsidentität, soweit es den Staat betrifft, und auch beispielsweise auf kostenlose medizinische Beratung sowie, wenn gewünscht, Geschlechtsangleichung.

Gleichzeitig muss festgehalten werden: Im Kapitalismus kann zwar eine formale, rechtliche Gleichstellung erkämpft werden – wobei nicht zuletzt die hartnäckige Verteidigung des Transsexuellengesetzes zeigt, wie schwer selbst das ist. Aber eine Überwindung der gesellschaftlichen Wurzeln der Unterdrückung von Transpersonen erfordert letztlich die Überwindung des Kapitalismus selbst. Der Kapitalismus bringt die starre binäre Einteilung in Mann und Frau auf Basis biologischer Merkmale immer wieder hervor, um die geschlechtliche Arbeitsteilung zu rechtfertigen und aufrechtzuerhalten. Das muss klar benannt werden, um gegen die Auslagerung der Reproduktionsarbeit ins Private und für die Vergesellschaftung der Hausarbeit zu kämpfen. Gerade weil sie schon durch ihre bloße Existenz die heteronormativen Rollenbilder und Geschlechtsidentitäten – und somit indirekt auch die ihnen zu Grunde liegende Arbeitsteilung in Frage stellen – erfahren Transmenschen, insbesondere -frauen im Schnitt mehr Gewalt, Arbeitslosigkeit und schlechtere Arbeitsbedingungen als die Masse der Frauen und Ausgebeuteten. Das heißt: Wir kämpfen für die Gleichbehandlung von trans- und cis Frauen. Gleichzeitig macht es Sinn, Unterschiede wo sie vorhanden sind, zu benennen.

Anstatt Unterdrückte gegeneinander auszuspielen und zu spalten, sollte man die Kämpfe miteinander verbinden. Wenn Menschen meinen, dass sich trans Menschen zum Spaß zu ihrer unterdrückten Identität bekennen, gesellschaftliche Stigmatisierung, Diskriminierung oder gar Gewalt aussetzen, um so eine „feministische Bewegung“ zu unterwandern, dann will man am liebsten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Stattdessen gilt es, den gemeinsamen Kampf auszuweiten und demokratische Forderungen mit sozialen zu verbinden, z. B. für ein Programm gesellschaftlich nützlicher Arbeiten und für eine Arbeitszeitverkürzung. Konkurrenz kann nur durch einen sozialen und politischen Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung überwunden werden, durch die Schaffung einer ArbeiterInnenbewegung, die alle Formen der Ausbeutung und Unterdrückung bekämpft.




Queer-Unterdrückung in Pakistan

Huma Khan & Falak Ali, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Auf dem Aurat-Marsch (1) 2020 hissten queere (2) Genossinnen und Genossen die Regenbogenflagge. Während wir als SozialistInnen stolz auf diesen Akt des Widerstands gegen sexuelle und Gender-Unterdrückung sind, waren einige feministische FührerInnen anderer Meinung. In der Folge mussten sich queere AktivistInnen mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass es „unfair und dominierend von queeren Menschen sei, die Aurat Marsch-Bewegung auf diese Weise zu kapern“. In diesem Artikel werden wir argumentieren, warum Pakistans Queers ein integraler Bestandteil der sozialen Bewegungen des Landes sein müssen. Insbesondere die Queer- und die Frauenbewegung teilen gemeinsame Interessen. Indem wir sie hervorheben, wollen wir zeigen, wie queere Forderungen zu einem dynamischen Hebel bei der Entwicklung einer sozialistischen und ArbeiterInnenklasse-Politik werden können.

Queer-AktivistInnen sehen seit langem, wie sich das Schweigen, das sie in der Gesellschaft erfahren, in Pakistans linken und feministischen Kreisen reproduziert. Während die meisten linken Parteien und Organisationen sich einfach nicht darum scheren, ist die Stimmung, insbesondere in den etablierteren und damit einflussreichen feministischen Kreisen: „Frauenrechte zuerst“. In der Zwischenzeit sind viele der OrganisatorInnen des Aurat-Marsches, so werden wir argumentieren, nur gegenüber Teilen der queeren Gemeinde einladend. Nur eine kleinere und weniger einflussreiche Gruppe von radikalen FeministInnen und SozialistInnen wie wir will, dass alle queeren Menschen ein integraler Bestandteil des Kampfes gegen das Patriarchat sind. Solche ausgrenzenden Praktiken der derzeitigen Mehrheit der pakistanischen feministischen Bewegung beginnen, unseren Bewegungen zu schaden. Dieses Jahr haben sich queere Kollektive wie das Non-Binary Collective (Nicht-Binäres Kollektiv) aus den Organisationsgremien des Aurat-Marsches zurückgezogen.

Nach unserem Verständnis sind obengenannte politischen Konzepte mehr als ausgrenzend. Sie folgen einer Logik, die von den klassenbezogenen Strategien der Bewegung geprägt ist. Obwohl der Aurat-Marsch bisweilen eine radikale Terminologie verwendet, würden wir seine vorherrschende Politik zum jetzigen Zeitpunkt jedoch als bürgerlichen Feminismus charakterisieren. Es ist richtig, dass die pakistanische Frauenbewegung mit dem neuen Jahrhundert eine neue Wendung genommen hat. Im Mittelpunkt der heutigen Proteste stehen die individuellen Erfahrungen und Rechte der Frauen. Auch wenn der Aurat-Marsch jedes Jahr einen Forderungskatalog herausgibt, ist der klassische Kampf für eine bestimmte Gesetzgebung nicht mehr so präsent wie früher.

Eine Bewegung mit einem Mittelklassen-Standpunkt

Ohne die wohlwollende Aufmerksamkeit schmälern zu wollen, die der Aurat-Marsch auf die verabscheuungswürdige Frauenunterdrückung in Pakistan gelenkt hat, sei gesagt, dass es sich dabei in der Regel um die spezifischen Erfahrungen von Frauen aus den Mittelschichten und der Bourgeoisie handelt. Als Reaktion auf radikalere Stimmen innerhalb der Bewegung haben einige FührerInnen für eine „klassenübergreifende Bewegung“ plädiert, die „alle Frauen“ repräsentiert. Das praktische Ergebnis bliebe jedoch dasselbe, da eine solche Konzeption notwendigerweise die Zurückstellung der spezifischen Interessen der Bäuerinnen, der Unterschicht und der Arbeiterinnen und damit der Interessen der Mehrheit der sozial Unterdrückten bedeuten würde. Dies hat wichtige Implikationen für die Perspektive sowohl der Frauen- als auch der Queer-Bewegung.

Wenn sich unsere Bewegungen nicht mit der ausbeuterischen Arbeitsteilung des Kapitalismus befassen und sie tatsächlich in den Mittelpunkt stellen, die sowohl in der Industrie und der Landwirtschaft (produktive Sphäre) als auch in unseren Familien (reproduktive Sphäre) zum Ausdruck kommt, werden sie die pakistanische Gesellschaft nicht radikal verändern können. Die Befreiung bleibt also auf den Bereich der formalen Rechte beschränkt, sei es durch eine Änderung des gesunden Menschenverstands oder der Gesetze.

Dies wiederum erklärt den Alibicharakter des Aurat-Marsches in Karatschi gegenüber Khwaja Sira (Trans-Frauen). Diejenigen, denen eine Bühne gegeben wird, wären oft Trans-Frauen, die sich mit Hilfe von Nichtregierungsorganisationen in glamouröse, liberale Berühmtheiten verwandelt haben. Dieser Ansatz stellt die Frage jedoch vom Kopf auf die Füße. Natürlich sollten queere Menschen das gleiche Recht haben, Prominente und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu werden, aber das Problem der queeren Gemeinschaften Pakistans, insbesondere der Khwaja Sira, besteht darin, dass sie gezwungen sind, unter den prekärsten Bedingungen zu leben und zu arbeiten. Die Lösung ihrer Probleme liegt nicht darin, dass einige wenige von ihnen Teil der Elite werden, sondern darin, ein patriarchalisches Klassensystem herauszufordern, das sie in die Prostitution, die Aufführung von Tänzen oder zum Betteln zwingt.

Außerdem zählte diese Inklusion nur für einige queere Menschen. Wie die Cis-Het-OrganisatorInnen des Aurat-Marschs 2019 sagten: „Unsere Mitgliedschaft ist nur für Trans-Frauen offen“. Interne Widerstände radikaler AktivistInnen führten dazu, dass sie ihre Haltung aufweichten, aber nur geringfügig. Während man sich darauf einigte, dass der Marsch die Unterdrückung von „sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten“ thematisieren würde, hieß es, dass nur binäre Trans-Frauen und geschlechtsinkonforme Menschen OrganisatorInnen des Aurat-Marsches werden könnten. Schwule und Trans-Männer wurden ausgeschlossen, da behauptet wurde, dass „schwule Männer auch Frauenfeindlichkeit verinnerlicht haben“.

Bevor wir erörtern, was unserer Meinung nach ein sinnvoller Kampf sein könnte, der sich in die Kämpfe und Forderungen der queeren Menschen integriert, lasst uns einen Blick auf die bestehende Situation der queeren Gemeinschaft in Pakistan werfen.

Vielschichtige Natur der Unterdrückung: Familie, Gesetz und staatliche Strukturen

Die Frauenbewegung in einem halbkolonialen Land wie Pakistan wird eindeutig von globalen Entwicklungen wie den weltweiten Frauenstreiks beeinflusst. Gleichzeitig hat sie aber auch ihre eigenen spezifischen Merkmale und Herausforderungen zu bewältigen, die sich aus den besonderen objektiven Bedingungen der pakistanischen Gesellschaft ergeben. Die Existenz der Khwaja Sirai als soziales und kulturelles Phänomen in der südasiatischen Gesellschaft – aus Gründen, auf die wir in diesem Artikel nicht näher eingehen können – ermöglicht ihre Sichtbarkeit und eine gewisse Akzeptanz für ihre wahrnehmbare Existenz in Pakistan. Für bestimmte TheoretikerInnen mit postkolonialen Neigungen führt dies zu einer Romantisierung der scheinbar fortschrittlichen südasiatischen Gesellschaft im Vergleich zu den oft offen transphoben „westlichen“ Gesellschaften. Die objektiven Bedingungen in Ländern wie Pakistan zeigen jedoch ein anderes Bild. Für die meisten queeren und Transgender-Menschen ist finanzielle Unabhängigkeit nach wie vor das größte soziale Problem für das Funktionieren ihres Lebens. Aber die Schwere dieses Problems ist im Fall von binären Trans-Menschen noch viel gravierender. Ihre Geschlechtsidentität entspricht nicht dem biologischen Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, was bedeutet, dass sie durch ihr Geschlechtsverhalten und sexuellen Ausdruck sehr sichtbar sind. Der Preis für diese Sichtbarkeit wird zuerst im Elternhaus bezahlt. Familien von Trans-Personen werfen sie aus dem Haus und entziehen ihnen ihren Anteil am Erbe. Dies ist eine weit verbreitete soziale Realität für die große Mehrheit der Trans-Menschen. In diesem Sinne wird die spezifische Natur der Sexualität von Trans-Menschen von der Institution Familie gegen sie verwendet. Diese spezifische Natur nimmt ihnen auch die Möglichkeit, ein geheimes Doppelleben zu führen wie binäre Schwule oder Lesben. Infolgedessen bleiben den Khwaja Sira drei Berufe zur Auswahl: Sexarbeit, Tanzen auf Partys und Betteln.

Während das weithin gefeierte Transgender-Schutzgesetz eine dritte Geschlechtskategorie in allen offiziellen Dokumenten vorsieht, zeigt die Frage der Erbschaft, wie Transgender-Frauen gezwungen werden, sich als Männer eintragen zu lassen. Das liegt daran, dass nach dem Scharia-Gesetz Männer zwei Anteile am Erbe bekommen, Frauen nur einen. Aufgrund dieser patriarchalen Diskriminierung würden sich die meisten Transgender-Frauen in ihren Ausweisdokumenten als Männer eintragen lassen, in der Hoffnung, dass sie in der grausamen Anarchie des Kapitalismus einen größeren Anteil am Erbe erhalten würden.

Transgender-Schutzgesetz: eine progressive bürgerliche Reform?

Das 2018 von der pakistanischen Nationalversammlung verabschiedete Transgender-Schutzgesetz (3) bietet auf dem Papier eine Reihe von Schutzmaßnahmen für Transgender-Menschen, darunter das Recht auf Selbstidentifikation. Es wird sowohl von Liberalen und Nichtregierungsorganisationen (4) (5) als auch von bürgerlichen Medien (6) (7) als fortschrittliche Maßnahme angepriesen. Während wir die Verabschiedung eines Gesetzes begrüßen, das Menschen das Recht auf Selbstidentifikation zugesteht, bleibt das Gesetz weitgehend ein Fortschritt nur auf dem Papier. Erst letztes Jahr wurde eine Transgender-Überlebende einer Vergewaltigung, Julie, acht Tage lang mit männlichen Insassen im Gefängnis eingesperrt. (8)

Außerdem wird die Verabschiedung dieses Gesetzes als eine bürgerliche Reform dargestellt, die von einem Teil der herrschenden Klasse Pakistans aus der Güte ihres „fortschrittlichen“ Herzens gewährt wird. Doch wie jeder anderen Reform geht auch dieser Gesetzgebung eine Geschichte des Widerstands voraus. Sie folgt auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs aus dem Jahr 2012, das pakistanischen Transgender-Personen zwar die Anerkennung als BürgerInnen eines dritten Geschlechts gewährte, aber auch empfahl, Tests durchzuführen, um festzustellen, ob „Eunuchen“ – wie das Urteil sie gerne nannte – tatsächlich „Eunuchen“ waren. Diese Empfehlung führte zu Protesten von Trans-Menschen, die argumentierten, dass Männern und Frauen die Identität auf der Grundlage ihres Wortes zugestanden wird. Warum also müssen sich Trans-Menschen entsetzlichen Prozeduren solch invasiver Tests unterziehen? (9)

Darüber hinaus gewährt das Transgender-Personen-Gesetz 2018 Trans-Männern und -Frauen aller Religionen die gleichen Erbrechte, die cis-geschlechtlichen Männern und Frauen nach islamischem Recht zustehen (der Anteil der Frau beträgt die Hälfte des Anteils ihrer männlichen Geschwister am Erbe). (10)

In ähnlicher Weise darf es laut dem Gesetz keine Diskriminierung von Transgender-Personen bei der Zulassung zu öffentlichen oder privaten Bildungseinrichtungen geben, „vorbehaltlich der Erfüllung der vorgeschriebenen Anforderungen“. Wie Semra Islam jedoch veranschaulicht, berücksichtigen die vorgeschriebenen Anforderungen nicht, dass die gelebten Erfahrungen von Trans-Personen diese Anforderungen nicht erfüllen können, da sie oft aus ihren Familienhäusern geflohen sind, unter anderem aufgrund der Auferlegung von normativen männlichen Rollen. (11) Dies wird auch durch Shahnaz Khans Forschung unterstützt:

Viele brechen die Schule ab und laufen von zu Hause weg, um eine einladendere Umgebung unter der Leitung eines Gurus zu finden, der sie ermutigt, zu singen, zu tanzen und Formen der Lust auszudrücken, die zu Hause und in der Schule verboten sind. (12)

Islam weist auch auf die transphobe gelegentliche Verwendung des männlichen Pronomens „er“ für alle Transgender-Personen als eine „eklatante ,Inkonsistenz’ im Gesetz“ (13) hin. Die Verwendung des Begriffs „Eunuchen“ zeigt auch, wie sich die juristischen Eliten an die diskriminierende koloniale Ausdrucksweise angepasst haben. Kurzum, entgegen der Darstellung in den bürgerlichen Medien ist das Gesetz in einem begrenzten Sinne fortschrittlich, und das auch nur auf dem Papier. Das Fehlen von Strafmaßnahmen (14), die für alles, was das Gesetz kriminalisiert, skizziert werden, reduziert es auf einen progressiven Alibicharakter, dessen Anwendungsbereich nur in der Theorie besteht.

Der Fluch von Abschnitt 377 und Hudood-Gesetzen für die sexuell Unterdrückten

Eine weitere wichtige Überlegung, die berücksichtigt werden muss, ist das Vorhandensein von Gesetzen wie Section 377 und der Hudood Verordnungen (4 Verordnungen zur Islamisierung des Strafrechts in Pakistan, die der Diktator Zia ul-Haq 1979 erließ), die Teil des komplexen Rechtssystems in Pakistan sind, in dem zwei parallele Systeme gleichzeitig gelten. Es gibt Gesetze, die auf der Verfassung beruhen, und solche, die sich aus einer bestimmten (hanafitischen; eine der 4 Rechtsschulen des sunnitischen Islams) Lesart der Scharia, also der islamischen Rechtsprechung, ableiten. Wie Khan darlegt, gewähren diese Gesetze Männern und Frauen unterschiedliche Rechte in Bezug auf Heirat und Erbschaft. (15) Auf diese Weise lassen andere diskriminierende Gesetze und soziale Strukturen trotz scheinbar antidiskriminierender und trans-anerkennender Gesetze oft wenig Raum für Trans-Frauen, sich in Personaldokumenten tatsächlich als Frauen auszuweisen. Denn wenn sie das täten, würde dies bedeuten, dass sie auf die Hälfte des Anteils am Erbe verzichten müssten, den sie erhalten würden, wenn sie sich als Männer auswiesen.

Dies verdeutlicht das objektive Interesse von Trans-Frauen und Cis-het-Frauen, einen kollektiven Kampf gegen eine solche Gesetzgebung unter der Führung eines Programms der ArbeiterInnenklasse zu führen. Warum bestehen wir auf der Notwendigkeit eines Programms der ArbeiterInnenklasse?

Wir erkennen zwar an, dass Trans-Menschen aus allen Klassen unter schwerer und systematischer Unterdrückung leiden, aber ihre unterschiedlichen Klasseninteressen verleihen ihr auch einen anderen Ausdruck und prägen das politische Programm und die Forderungen, die sie vertreten und priorisieren. Für Trans-Frauen (und -Männer) aus der ArbeiterInnenklasse, binäre lesbische Frauen oder schwule Männer und nicht-binäre Menschen ist die Unterdrückung selbst an ihre Klassenposition gebunden. Das bedeutet nicht nur, dass sie dieselben objektiven Interessen mit allen Teilen der ArbeiterInnenklasse teilen, sondern auch, dass ihre Befreiung eng mit der Bewältigung der sozialen Benachteiligung, der Armut und des Elends verbunden ist, mit denen sie als Trans-Menschen mit einem ArbeiterInnenhintergrund konfrontiert sind.

Die Situation für unterdrückte Menschen aus einem kleinbürgerlichen oder Mittelschichts-Hintergrund (um nicht von der herrschenden Klasse zu sprechen) stellt insofern anders dar, als sie auch an die sozialen Privilegien gebunden sind, die mit ihrer Klassenposition einhergehen. Daher neigen sie dazu, sich auf den Kampf um gleiche Rechte zu konzentrieren oder ihn sogar zu begrenzen, und vernachlässigen dabei die große Masse der Trans-Menschen. Während wir möglichst viele Unterdrückte aus der ArbeiterInnenklasse, der Bauern-/Bäuerinnenschaft, aber auch aus dem städtischen KleinbürgerInnentum und den Mittelschichten vereinen wollen, bleibt die Frage, welche soziale Klasse eine solche Bewegung anführt.

Aus unserer Sicht ist ein Programm der ArbeiterInnenklasse der Schlüssel, wenn wir konsequent für die Befreiung aller Unterdrückten kämpfen wollen, denn nur ein solches Programm kann den Kampf mit seinen gesellschaftlichen Wurzeln, der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung im Kapitalismus und der damit einhergehenden patriarchalischen Familieninstitution und -gesetze, verbinden.

Wie wir in den folgenden Abschnitten zeigen werden, weist die diskriminierende Gesetzgebung auf die Notwendigkeit eines kollektiven Kampfes zusammen mit allen queeren Menschen hin, einschließlich der binären schwulen und lesbischen sowie der nicht-binären Menschen.

Während es für Transgender-Personen einen gewissen Schutz gibt, wenn auch nur auf dem Papier, gibt es in Pakistan keine BürgerInnenrechtsgesetze zum Schutz von Schwulen und Lesben vor Diskriminierung. (16) Homosexuelle Handlungen sind nach Gesetzen aus der Kolonialzeit wie Abschnitt 377 illegal. Ebenso können eine heterosexuelle Frau und ein heterosexueller Mann, die nicht miteinander verheiratet sind, nach Abschnitt 496B des pakistanischen Strafgesetzbuchs ins Gefängnis gehen und mit einer Geldstrafe belegt werden, wenn sie einvernehmlichen Sex miteinander haben. (17) Wie RechtsexpertInnen wie Rafia Zakaria betonten:

„Die Unterlagen über Frauen, die unter dem Vorwurf der Unzucht oder des Ehebruchs nach den Hudood-Verordnungen inhaftiert wurden, zeigen, dass es die armen Frauen Pakistans sind, die am häufigsten Opfer der unkontrollierten Macht des Staates bei der Gesetzgebung zur Moral im Namen des Islam werden. Daher mögen die versprochenen Änderungen der Rechtsprechung im Rahmen des [Frauenschutz-]Gesetzes zwar ein linderndes Pflaster auf eine eiternde Wunde legen, aber sie gehen an der Realität vorbei, dass eine arme Frau, die sich dazu entschließt, eine Vergewaltigungsklage einzureichen, immer noch mit unglaublichen Herausforderungen konfrontiert ist, die von diesem politisch inspirierten Stück Gesetzgebung grob ignoriert werden.“ (18)

In ähnlicher Weise haben schwule Männer und Khwaja Sira aus der ArbeiterInnenklasse nur zwei Möglichkeiten, wenn sie Angst vor einer HIV/AIDS-Exposition haben: in ein öffentliches Krankenhaus zu gehen, um innerhalb von 72 Stunden nach der Exposition Zugang zu PEP (Postexpositionsprophylaxe) zu erhalten oder zu riskieren, HIV/AIDS zu bekommen, indem sie nichts dagegen unternehmen. An dieser Stelle kommen Abschnitt 377 und die Heuchelei des pakistanischen Staates ins Spiel. Einerseits wird PEP aufgrund internationaler Abkommen und der finanziellen Unterstützung des pakistanischen Staates von der Regierung in öffentlichen Krankenhäusern angeboten, in denen es Abteilungen gibt – separate Räume für Khwaja Sira, Schwule und Lesben. Auf der anderen Seite wird Abschnitt 377 gegen diese Menschen eingesetzt, weil sie „unnatürlichen Sex“ haben, und es gab sogar schon Fälle, in denen ÄrztInnen diese Menschen wegen dieses „Verbrechens“ bei der Polizei angezeigt haben. Die ÄrztInnen in solchen Einrichtungen verfügen über immense Macht über diese verletzlichen PatientInnen, weil PEP nur nach dem Sammeln nicht nur persönlich identifizierbarer Informationen, sondern auch übermäßig eindringlicher Details wie dem Geschlecht der Person, mit der man Sex hatte, bereitgestellt wird.

Währenddessen müssen Schwule aus reichen, gehobenen und bürgerlichen Verhältnissen nicht mit all diesen Hürden kämpfen, wenn sie die „richtigen Kontakte“ haben. Natürlich gibt es auch in der queeren Gemeinschaft verschiedene Klassen, deren objektive Interessen im Kapitalismus unvereinbar sind. Kleinbürgerliche queere Menschen hatten ebenso wie die entsprechenden Cis-het-Menschen ein Problem damit, die Erkennungsfahne beim Aurat-Marsch zu hissen. Ihrer Meinung nach ist eine solche Sichtbarkeit „nicht“ das, was wir brauchen, weil sie uns angreifbarer macht. Auf der anderen Seite sind kleinbürgerliche Queers, die Nichtregierungsorganisationen leiten, ins Ausland reisen und Zuschüsse von der EU bekommen, bereits sichtbar und als schwul geoutet. Ihre sexuelle Identität ist bereits offengelegt, weil sie nicht denselben Gefahren ausgesetzt sind wie ein schwuler Mann aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund des Privilegs ihrer sozialen Klasse. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse fragen ihre kleinbürgerlichen KollegInnen, warum sie ihre privilegierte Position in der Gesellschaft nicht nutzen, um die Frage der Offenlegung der eigenen sexuellen Identität zu politisieren. „Warum kämpfen sie nicht dafür, dass die große Mehrheit von uns sich outen kann?“, fragen sie. „Queerness ist ein politisches Problem, das im Mainstream verankert werden muss. Unsere Sichtbarkeit ist nicht irgendein liberales Narrativ, es ist eine politische Frage. Indem sie sich weigern, die Frage zu politisieren, drängen privilegierte queere Menschen die größere queere Gemeinschaft dazu, im Verborgenen zu bleiben.“

All dies verdeutlicht, dass Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische sowie nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse aufgrund ihrer Klassenlage einer spezifischen sozialen Unterdrückung ausgesetzt sind und daher ein objektives Interesse hegen, gemeinsam zu kämpfen. Es ist wahr, dass Machtkämpfe, Konkurrenz und Gleichgültigkeit die Gemeinschaft derjenigen plagen, die aufgrund ihres Geschlechts unterdrückt werden. Wir sehen das an der mangelnden Bereitschaft von Arbeiterinnen, für die bürgerlichen Freiheiten lesbischer Kolleginnen zu kämpfen. Wir sehen dies auch in der Gleichgültigkeit, die gegenüber der Unterdrückung von Schwulen und Lesben von Trans-Frauen an den Tag gelegt wird, nachdem das Transgender-Schutzgesetz verabschiedet wurde. Der Terfismus (Transphobie) in der Frauen- oder binären Schwulen- und Lesbenbewegung ist ein weiteres Beispiel dafür.

Dies verdeutlicht, was die Liga bereits in ihren Thesen zur Trans-Unterdrückung festgestellt hat: „ … Konflikte zwischen sozial Unterdrückten, das Aufeinanderprallen von gegenseitigen Forderungen und Ansprüchen sind in der bürgerlichen Gesellschaft keine Seltenheit, sie kommen immer wieder vor.“ (19)

Kampf gegen die Institutionen bürgerliche Familie und Kapitalismus

Der entscheidende Punkt hier ist, dass, ob die geschlechtlich und sexuell Unterdrückten sich dessen bewusst sind oder nicht, ihre Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie im Kapitalismus verwurzelt ist. Diese Unterdrückung ist entscheidend für die Funktionsweise des Kapitalismus. Ob man sich dessen nun in der gegenwärtigen Lage bewusst ist oder nicht, unser objektives Interesse als Cis-het-Frauen, binäre Trans-, schwule und lesbische und nicht-binäre Menschen aus der ArbeiterInnenklasse liegt daher darin, gemeinsam gegen repressive und diskriminierende Gesetze und für bürgerliche Freiheiten wie das Recht zu heiraten, das Recht zu adoptieren usw. zu kämpfen.

Unsere cis-het und schwulen männlichen GenossInnen aus der ArbeiterInnenklasse sollten auch Teil dieses Kampfes werden. Warum? Ihr objektives Interesse liegt in einem antisexistischen Kampf. Es sind immer diejenigen aus dem ArbeiterInnenmilieu, die für etwas so Menschliches und Natürliches wie Sex zum Opfer werden. Unser Recht auf körperliche Autonomie als Menschen sollte nicht von diesem oder jenem religiösen oder kulturellen Dogma abhängig gemacht werden.

Es stimmt, dass es angesichts der extrem rückständigen Natur des pakistanischen Patriarchats gefährlich sein kann, seine Stimme gegen ein solches Dogma zu erheben. Aber jede politische Arbeit in Pakistan birgt die Gefahr staatlicher Unterdrückung. Wenn wir schon in Bezug auf unsere grundlegenden bürgerlichen Freiheiten unterdrückt  werden, können wir genauso gut mit staatlicher Repression rechnen, wenn wir für das kämpfen, was unser kollektives Recht ist, nämlich das Recht, unser Leben in Würde und mit den Freiheiten zu leben, die jeder Mensch verdient.

Aber kann dieser Kampf nur über die Gesetzgebung gewonnen werden? Nein. Es muss ein Kampf geführt werden. Es muss ein Ringen sein, das von Anfang an sehr klar ist über die unversöhnlichen Interessen der queeren Menschen aus der ArbeiterInn- und der herrschenden Klasse sowie auch jener queeren Menschen, die sich sozialer Privilegien erfreuen und diese gegen die Interessen der ArbeiterInnenklasse verteidigen. Queere Menschen aus der ArbeiterInnenklasse haben ihre Verbündeten in den cis-het Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse. Gleichzeitig versuchen sie, queere kleinbürgerliche und Mittelschichts-Menschen und cis-het Männer und Frauen für ihre Sache zu gewinnen, ohne Zugeständnisse an kleinbürgerliche politische Programme zu machen. Während die ArbeiterInnenklasse in der Lage sein kann, die Mittelschichten der Gesellschaft hinter sich zu versammeln, ist es klar, dass diejenigen, die aus einem bürgerlichen Hintergrund kommen, die die Produktionsmittel besitzen und verwalten, immer im Widerspruch zu denen stehen werden, die mit diesen Produktionsmitteln arbeiten. Daher werden letztere mit ihrer Klasse brechen müssen. Beider Interessen sind unversöhnlich, und das ist das Wesen der Produktionsverhältnisse und die Grundlage der politischen Ökonomie.

Als wissenschaftliche MarxistInnen erkennen wir auch die grassierende Trans- und Queerphobie in der ArbeiterInnenklasse, und wir wollen eine Strategie entwickeln, mit der wir auch gegen solche Übel in der ArbeiterInnenbewegung aufstehen, weil unser wirkliches materielles Interesse darin liegt, gemeinsam zu kämpfen. Aber wir sind uns darüber im Klaren, dass dies – genau wie im Fall des Kampfes gegen die Unterdrückung der Frauen in der ArbeiterInnenklasse – eine scharfe und dauerhafte Auseinandersetzung mit männlichem Chauvinismus und Transphobie innerhalb der Klasse erfordert, einschließlich des Rechts auf Caucus für Trans-Personen und der offenen Herausforderung aller Formen von Transphobie innerhalb unserer Bewegung.

Letztendlich liegt es im objektiven Interesse der gesamten ArbeiterInnenbewegung, einschließlich der cis-het Männer und Frauen sowie aller queeren Menschen der ArbeiterInnenklasse, zu verstehen, dass die Wurzel der geschlechtsspezifischen sozialen Unterdrückung in der Institution der bürgerlichen Familie liegt.  Um gegen diese Wurzel zu kämpfen, müssen wir kollektiv uns für die Abschaffung des Privateigentums engagieren. Damit meinen wir keineswegs, dass wir den Kampf für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen der ArbeiterInnenklasse und queeren Menschen am Erbe aufgeben. Es gibt einen klaren Unterschied zwischen persönlichem Eigentum und Privateigentum. Letzteres ist das Eigentum an den Produktionsmitteln, das die Essenz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

Was wir meinen, ist, dass unsere Kämpfe darauf ausgerichtet sein müssen, die Wurzel unserer kollektiven Unterdrückung und Ausbeutung abzuschaffen, das heißt, die ungleichen Eigentumsverhältnisse unter der Anarchie des Kapitals. Nur unter der Führung einer wirklich revolutionären Strategie können wir die gemeinsame Ursache unserer Unterdrückung mit Stumpf und Stiel ausreißen. Eine solche Strategie muss auf unnachgiebiger Klassenunabhängigkeit und der kollektiven Notwendigkeit beruhen, das ausbeuterische und unterdrückerische System des Kapitalismus abzuschaffen und es durch eine demokratische Regierung der ArbeiterInnen zu ersetzen, die alle umfasst, also auch cis-het und queere ArbeiterInnen.

In der gegenwärtigen Situation müssen wir unmittelbare demokratische und soziale Forderungen für Trans-Personen mit den breiteren Fragen der ArbeiterInnenklasse verknüpfen.

Wir können unseren Kampf in diese Richtung beginnen, indem wir eine Kampagne für die Abschaffung von Abschnitt 377 und aller anderen diskriminierenden Gesetze aufbauen. Frauen und Trans-Personen müssen auf allen Ebenen, vor den Gerichten und im privaten und öffentlichen Leben die gleichen Rechte erhalten.

Wir müssen ein Recht auf Bildung, Ausbildung und Arbeit für alle Trans-Menschen bei voller Bezahlung sicherstellen, damit sie nicht zur Prostitution und zum Betteln gezwungen werden.

Trans-Menschen müssen, genau wie Frauen, das Recht auf Schutz vor Gewalt und Entbehrung zu Hause sowie durch reaktionäre Kräfte haben. Wir fordern den Bau von sicheren Häusern für Opfer solcher Gewalt – öffentlich finanziert, aber von Trans-Menschen selbst betrieben.

Solche unmittelbaren Forderungen sollten beim Aurat-Marsch in diesem Jahr und von der gesamten Frauenbewegung sowie von den Gewerkschaften und allen linken Organisationen als Teil des Kampfes gegen soziale Diskriminierung im ganzen Land aufgegriffen werden.

Endnoten

(1) Aurat ist das Urdu-Wort für Frauen. Der Aurat-Marsch wird seit 2018 am achten März organisiert. Für weitere Informationen lesen Sie den Artikel von Minerwa Tahir in Fight 8/2020

(2) Wir verwenden queer als allumfassenden Begriff, um alle Menschen zu bezeichnen, deren sexuelle oder geschlechtliche Identitäten nicht dem heteronormativen binären Geschlecht entsprechen.

(3) Nadir Guramani, “National Assembly passes bill seeking protection of transgender rights”, Dawn, May 8, 2018 https://www.dawn.com/news/1406400

(4) Rimmel Mohydin, “With Transgender Rights, Pakistan has an Opportunity to be a Pathbreaker”, Amnesty International, January 22, 2019 https://www.amnesty.org/en/latest/news/2019/01/with-transgender-rights-pakistan-has-an-opportunity-to-be-a-path-breaker/

(5) “Kami Sid expresses joy as the Transgender Persons (Protection of Rights) Bill 2017 passes”, Images, May 8, 2018 https://images.dawn.com/news/1180033/kami-sid-expresses-joy-as-the-transgender-persons-protection-of-rights-bill-2017-passes

(6) “Education for trans people”, Dawn, April 18, 2018 https://www.dawn.com/news/1402275

(7) “Affirming trans identity”, Dawn, May 11, 2018 https://www.dawn.com/news/14

(8) Saniyah Eman, “The not-so-curious case of trans oppression in Pakistan”, The News, September 11, 2020 https://www.thenews.com.pk/magazine/us/712330-the-not-so-curious-case-of-trans-oppression-in-pakistan

(9) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(10) Ebenda

(11) Ebenda

(12) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(13) Semra Islam, “The Transgender Community and the Right to Equality in Pakistan: Review of the Transgender Persons Act 2018”, 2020, LUMS Law Journal 2020, 7:1 https://sahsol.lums.edu.pk/law-journal/transgender-community-and-right-equality-pakistan-review-transgender-persons-act-2018

(14) Ebenda

(15) Shahnaz Khan, “What is in a Name? Khwaja Sara, Hijra and Eunuchs in Pakistan”, Indian Journal of Gender Studies, 23(2):218-242, May 18, 2016 https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/0971521516635327

(16) Meghan Davidson Ladly, “Gay Pakistanis, Still in Shadows, Seek Acceptance”, The New York Times, November 3, 2012 https://www.nytimes.com/2012/11/04/world/asia/gays-in-pakistan-move-cautiously-to-gain-acceptance.html?pagewanted=all&_r=0

(17) Rafia Zakaria, “Sex and the state”, The Hindu, December 29, 2006 https://frontline.thehindu.com/world-affairs/article30211901.ece

(18) Ebenda

(19) International Executive Committee, “The Oppression of Transgender People”, League for the Fifth International, March 17, 2019 https://fifthinternational.org/content/oppression-transgender-people




Social Reproduction Theory: moderner Marxismus oder feministische Sackgasse?

Aventina Holzer, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

Frauenstreiks, Proteste gegen Gewalt an Frauen und Aktionen für gleiche Bezahlung finden überall auf der Welt statt. Es ist kein Geheimnis, dass die Gründe für diese Proteste weiterhin existieren und sich teilweise verschärfen, und es ist essenziell, dass sich Gruppierungen mit diesen Themen beschäftigen und Bewegungen aufzubauen versuchen. Die Analysen, woher diese Probleme kommen, unterscheiden sich aber stark. Radikal-feministische Zugänge, die oft von einem losgelösten Patriarchat sprechen (ähnlich wie Vorstellungen im bürgerlichen Feminismus, obwohl dort viele nicht mal soweit gehen würden), haben in der Analyse zum Beispiel wenig mit sozialistisch-feministischen oder marxistischen Zugängen zu tun. Es ist wichtig, den Ursprung der Frauenunterdrückung zu analysieren, um ableiten zu können, welche Forderungen und Kämpfe nötig sind, um die jetzige Situation von sexistisch unterdrückten Menschen zu verbessern, aber andererseits auch dieses System als Ganzes zu überwinden. Denn es gilt: Kein Sozialismus ohne Frauenbefreiung, keine Frauenbefreiung ohne Sozialismus!

Social Reproduction Theory (Theorie sozialer Reproduktion; SRT) erhebt den Anspruch, die Unterdrückung der Frau auf einer materialistischen Ebene zu erklären. Es handelt sich um keine eigene Strömung, sondern eher eine theoretische und auch oft akademische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion im Kapitalismus und, wie diese von „orthodoxer“ marxistischer Theorie abweicht oder sie weiterentwickelt. Sie versucht dabei auch, den Ursprung der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft aufzudecken, der laut vielen TheoretikerInnen, die sich mit Social Reproduction Theory beschäftigen, auch von außerhalb dieser Sphäre herkommt und mit der Fähigkeit zu gebären zusammenhängt bzw. Frauen historisch in eine untergeordnete Rolle drängt.

Die Entwicklung der SRT hängt stark mit der des sozialistischen Feminismus zusammen, der in den 1970er Jahren als Antwort auf den Radikalfeminismus entstand. Beide Strömungen teilen die Kritik, dass die ArbeiterInnenbewegung zu diesem Zeitpunkt männlich dominiert ist und wenig Platz für „feministische“ bzw. Frauenkämpfe ließe. Auch wird oft (nicht immer, wie wir später sehen werden) die Auffassung vertreten, dass der Marxismus alleine Frauenunterdrückung nicht ausreichend erklären könne – viele RadikalfeministInnen würden ihn sogar ganz ablehnen. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es aber natürlich politische Abgrenzungen und unterschiedliche Vorgehensweisen. So sehen RadikalfeministInnen das Hauptproblem im Patriarchat und die Unterdrücker in den Männern, während der sozialistische Feminismus sich immer auch auf Klassengesellschaft und -unterdrückung bezieht und eine Art Hybrid zwischen Marxismus und Feminismus darstellt.

Auch wenn beide Zugänge sehr problematische Züge aufweisen, gibt es einen Grund, warum sie phasenweise einen starken Anhang genießen. Genauso wie Teile von Identitätspolitik und Queertheorie greifen sie auch reales Versagen der Führung der ArbeiterInnenbewegung, unterdrückten Menschen eine Stimme zu geben und ihre Kämpfe als gerechtfertigt zu sehen. Es ist klar, dass die Sozialdemokratie und der Stalinismus keinen guten Eindruck hinterlassen haben, wenn es um die Fragestellungen geht, wie man unterdrückte Personen, in diesem Fall Frauen, gewinnen und sie in die Organisationen einbeziehen kann.

Trotz berechtigter Kritik war der Versuch der sozialistischen FeministInnen, eine marxistische Synthese mit feministischen Positionen zu finden, nicht erfolgreich. Oft wurde neben der ökonomischen Unterdrückung noch ein davon losgetrenntes, tiefer liegendes oder in jedem Fall parallel zum Klassenwiderspruch existierendes soziales Verhältnis als eigentliche Ursache der Frauenunterdrückung verortet. Oft wird das unter dem abstrakten Begriff Patriarchat zusammengefasst und im schlimmsten Fall suggeriert, man könne dieses überwinden, ohne die ökonomische Ebene zu verändern und den Klassengegensatz zu überwinden. Patriarchale Strukturen gibt es auf jeden Fall, sie sind allerdings untrennbar mit dem jeweiligen System der Klassenausbeutung verwoben und ihre jeweiligen Ausformungen werden letztlich von der Struktur der Klassengesellschaft bestimmt, nicht umgekehrt. Beides baut aufeinander auf.

Wird das Verhältnis von Ausbeutung und Unterdrückung nicht korrekt bestimmt, kann das im schlimmsten Fall die Kämpfe der Unterdrückten spalten (Wie sollen Männer gegen eine systematische Unterdrückungsform kämpfen, zu der sie per Definition keinen Zugang haben oder in der sie ohne Unterschied ihrer Klassenposition sogar die Unterdrücker sind?). Sonst ist es aber auch eine Argumentation, die sehr schnell in Widersprüchen endet (Warum gibt es diese spezielle Ebene nur bei Frauenunterdrückung? Heißt das, andere Unterdrückungsformen haben auch andere Ursachen? Wie wird das dann argumentiert und was ist die materielle Basis dafür?). Schließlich ist der Behauptung eines neben dem kapitalistischen Ausbeutungsverhältnis parallel existierenden grundlegenden Unterdrückungs- oder Ausbeutungsverhältnisses in der realen Gesellschaft eine Tendenz zur Bildung klassenübergreifender Bündnisse aller Frauen immanent. Jede feministische Strömung – auch der sozialistische Feminismus – muss daher notwendigerweise den grundlegenden Charakter des Lohnarbeit/Kapitalverhältnisses relativieren.

Auch wenn der sozialistische Feminismus keinen qualitativen Bruch mit dem Radikalfeminismus vollzogen hat, war und ist seine Praxis in Bezug auf Frauenkämpfe etwas, worauf sich MarxistInnen beziehen und aus ihren Erfolgen, aber auch ihren Fehlschlägen lernen müssen. Ähnlich verhält es sich mit der SRT, die als Produkt der sozialistisch feministischen Bewegung entstanden ist. Lise Vogel, eine ihrer BegründerInnen, beschreibt diesen Prozess in ihrem 1983 erschienenen Buch „Marxism and the Oppression of Women – Toward a Unitary Theory“1 so:

„Dieses Projekt begann vor mehr als 10 Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960er Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viel von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Zugang viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung der Frauen bedurfte einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der sozialistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ,sozialistisch-feministische Synthese’ zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur sogenannten ,Frauenfrage’ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. … Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern eine[r] Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden Kämpfen für eine Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.“2

Vogel versucht also, in ihrer Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion den Marxismus weiterzuentwickeln und ihn nicht, wie viele andere, aufzugeben. Das ist auch der Ausgangspunkt ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema.

Bevor wir uns allerdings weiter Lise Vogel widmen können, müssen wir einige Begriffe klären, da sie teilweise sehr unterschiedlich verwendet werden.

Soziale Reproduktion beschreibt in der marxistischen Terminologie zwei essenzielle Abläufe im Kapitalismus. Einerseits die Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Menschen brauchen bestimmte Dinge (Schlaf, Essen etc.), um „sich selbst“ bzw. in diesem Fall eher ihre „Fähigkeit zu arbeiten“ reproduzieren zu können. Hierzu zählt natürlich auch die intergenerationale Reproduktion, also Kinder zu bekommen, die im weiteren Verlauf, ihre Arbeitskraft anbieten können. Andererseits beschreibt soziale Reproduktion auch die des Systems als Ganzem, also die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft (unter anderem auch durch Ideologie). Die zwei Bedeutungen sind logischerweise nicht voneinander trennbar. Schließlich kann sich ein System, das auf Ausbeutung der Arbeitskraft basiert, auch nur selbst reproduzieren, wenn diese im Laufe der Zeit erneuert und seine Legitimität immer von Neuem bestärkt wird. In der SRT liegt aber der Hauptfokus auf der ersteren.

Gesellschaftlich notwendige Arbeit ist also gleichzeitig unter den zwei vorangehenden Bedeutungen zu sehen. Im Grunde ergibt sich der Unterschied im Rahmen des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital daraus, dass die soziale Reproduktion zum einen vom Standpunkt des/der individuellen LohnarbeiterIn aus betrachtet wird, zum anderen vom Standpunkt der Gesamtklasse.

Notwendige Arbeit muss im kapitalistischen Produktionsprozess geleistet werden, um sich selbst zu reproduzieren (also der Teil des Arbeitstags, für den tatsächlich Lohn gezahlt wird). Alles was darüber hinausgeht, ist Mehrarbeit. Dies betrifft die Verhältnisse in der kapitalistisch vergesellschafteten Produktion. Nur in dieser Sphäre werden sowohl der (Tausch-)Wert der Arbeitskraft wie der Mehrwert, den sich das Kapital aneignet, erzeugt. Die Arbeit des/r Lohnabhängigen bei sich zuhause (Haus-, Erziehungs- und Sorgearbeit) ist ebenso notwendig wie nützlich, fügt der Arbeitskraft allerdings „nur“ Gebrauchswerte hinzu.

Im Folgenden wird für Reproduktionsarbeit auch häufig der Begriff Hausarbeit verwendet werden. Darunter fallen die unterschiedlichsten „Aufgaben“, die der Reproduktion der Ware Arbeitskraft dienen, wie Putzen, Kochen, aber auch Kindererziehung oder Sorgearbeit. Der Grund für die Zusammenfassung unter den Begriff Hausarbeit liegt darin, dass die besondere Stellung von Reproduktionsarbeit sehr stark damit zusammenhängt, dass sie einen Prozess darstellt außerhalb des unmittelbaren kapitalistischen Verwertungskreislaufs (in diesem Fall im häuslichen Rahmen). Reproduktionsarbeit, die kommerzialisiert, also in letzteren integriert wird, unterliegt ähnlichen bis gleichen Gesetzmäßigkeiten wie die in der kapitalistischen Produktion. Die Auseinandersetzung mit dem Thema sozialer Reproduktion versucht, den Ist-Zustand und das Entstehen von Frauenunterdrückung zu erklären. Deshalb wird der Fokus auf der Beschreibung der häuslichen Sphäre, biologischen Charakteristika der Frauenunterdrückung und Frauenkämpfen speziell liegen.

Die Arbeit von Lise Vogel umfasst zwei bedeutende Stärken, die ihren Ansatz positiv vom sozialistischen Feminismus oder jedenfalls von dessen Mainstream abheben. Erstens erkennt sie die zentrale Bedeutung der gegensätzlichen Stellung von Frauen aus der herrschenden und beherrschten Klasse an. Auch wenn es für die klassenübergreifende Solidarität eine „gewisse Basis“ in den Erscheinungsformen der Unterdrückung gibt (Gewalt gegen Frauen, rechtliche Diskriminierung, sexistische Ideologie), so gibt es einen fundamentalen Unterschied, der aus ihrer Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zwischen den Klassen folgt: „Nur Frauen der untergeordneten Klasse beteiligen sich an der Aufrechterhaltung und Erneuerung der unersetzlichen Kraft, die die Klassengesellschaft am Laufen hält – der ausbeutbaren Arbeitskraft.“3 Die Frage der Reproduktionsarbeit bildet daher wesentlich eine für die proletarischen Frauen. Die Frauen aus den Mittelschichten und dem KleinbürgerInnentum nehmen eine Zwischenstellung ein. Für die Frauen aus der herrschenden Klasse existiert das Problem faktisch nicht, sie lassen auch in der Sphäre der Reproduktion andere (zumeist Frauen) für sich arbeiten.

Zweitens geht sie zurecht davon aus, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Kapitalakkumulation die Reproduktionsarbeit bestimmt. Deren Form, Zusammensetzung und innere Struktur „sind de facto direkt von der Entwicklung der kapitalistischen Akkumulation betroffen.“4 Damit kann sie erklären, warum unter bestimmten Bedingungen Frauen zurück an den Herd gedrängt, unter anderen wiederum deren Lohnarbeit im Gegenteil massiv ausgeweitet wird, warum also damit zusammenhängend die Hausarbeit auch im Kapitalismus partiell vergesellschaftet wird und warum also andererseits diese Prozesse unter veränderten Akkumulationsbedingungen tendenziell rückläufig sind.

Lise Vogel

In ihrem Buch versucht Lise Vogel, einen Grundstein für eine marxistische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion zu legen. Bezeichnend ist, dass sie eine gängige Argumentation vom sozialistischen Feminismus dezidiert nicht mitträgt. Den Vorwurf, dass Marx geschlechtsblind sei und seine Kategorien deshalb nicht für die Erklärung von Frauenunterdrückung herbeigezogen werden können, lehnt sie ab. Sie versucht stattdessen, einerseits zusammenzutragen, welche Auseinandersetzung mit Frauenunterdrückung es in der marxistischen Theorie gab, andererseits daraus eine einheitliche marxistische Analyse abzuleiten.

Diese Herangehensweise verfolgen zwar nicht alle TheoretikerInnen der SRT gemeinsam, aber die Notwendigkeit, bei der Untersuchung der ökonomischen Umstände anzufangen, die ökonomische Basis zu durchleuchten, um Frauenunterdrückung wirklich zu verstehen, ist eine der größten Stärken dieses Ansatzes. Es wird versucht, die Produktionsverhältnisse als menschliche zu verstehen und dementsprechend auch Frauenunterdrückung auf diese Ebene zu heben und nicht eine „externe“ ökonomische, durch die Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft verursachte, neben einer gesonderten, eigentlich („intrinsisch“) über der jeweiligen ausbeuterischen Produktionsweise stehende zu argumentieren.

Für Lise Vogel präsentieren sich die Schlussfolgerungen ungefähr so: Menschen haben die Fähigkeit, mehr Gebrauchswert zu produzieren, als sie für ihre Erhaltung brauchen – jedenfalls ab einer bestimmten Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. In einer Klassengesellschaft wird diese Fähigkeit zugunsten der herrschenden Klasse genutzt. Sie eignet sich das daraus resultierende Überschussprodukt, Surplus, an, das im Kapitalismus die Gestalt des Mehrwerts annimmt. Es braucht eine ausgebeutete Klasse, die ständig zur Verfügung steht, um ein System, das auf diesem Kreislauf aufbaut, zu erhalten. Diese muss sich aber natürlich erneuern (ArbeiterInnen leben nicht für immer), durch neue Arbeitskräfte ersetzt werden. Hier wird der Unterschied zwischen Mann und Frau ausschlaggebend. Frauen, die während sie schwanger sind, eine eingeschränkte Fähigkeit zum Arbeiten haben, schaffen einen Widerspruch für die herrschende Klasse. Einerseits möchte diese ihre Mehrwertaneignung maximieren, andererseits braucht sie auch diese Art Reproduktion, um langfristig ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Über die Klassenkämpfe, die diese Widersprüche aufzulösen versuchen, entstanden im Lauf der Geschichte viele unterschiedliche Formen der Reproduktionssphäre.

Lise Vogel analysiert einige historische Gemeinsamkeiten, die fast jede Klassengesellschaft teilt. Fast immer hängt es mit der Verantwortung des Mannes zusammen, für den materiellen Erhalt der Familie zu sorgen, und Frauen kommt die Aufgabe zu, einen größeren Teil der notwendigen Reproduktionsarbeit zu leisten. Diese Aufteilung resultiert in einer institutionalisierten Form von männlicher Dominanz über Frauen.

Sie weist auch darauf hin, dass der Ort der sozialen Reproduktion auch stark mit den gesellschaftlichen Bedingungen selbst unterm Kapitalismus schwankt. In einer Kriegssituation war es historisch gesehen öfter wichtig, Frauen in den Produktionsprozess zu ziehen und die Familie als Ort der familiären Reproduktion hintanzustellen, was sich aber je nach Situation auch wieder ändern kann. So ist die Familie sehr häufig Fixpunkt von sozialer Reproduktion, da damit auch eine starke ideologische Festigung (also Reproduktion des Gesellschaftssystems) einhergeht.

Die Familie als speziellen Ort der Hausarbeit leitet Lise Vogel aus ihrem Verständnis von notwendiger Arbeit her. Notwendige Arbeit ist, wie bereits erklärt, die Arbeit, die zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft – im Kapitalismus – notwendig ist. Soweit, so gut. Die auf einer gesellschaftlichen Ebene notwendige, damit wertschaffende Arbeit, die ja Teile der Reproduktion umfasst, setzt sie aber auch in dieselbe Kategorie wie die individuell notwendige Arbeit im häuslichen Produktionsprozess. Der große Unterschied ist aber, dass für den einen Teil der notwendigen Arbeit ein Lohn gezahlt wird und für den anderen nicht. Diese Situation (Zahlen von Lohn und Separieren von Lohn- und Hausarbeit) läuft nun laut ihr auf das Wirken in speziellen Orten der Reproduktion und Hausarbeit abseits der eigentlichen Produktionssphäre hinaus – hier meistens der Familie.

Es handelt sich nicht um ein unabsichtliches Vermischen von individuellen Komponenten mit gesellschaftlichen, sondern um ein Verständnis, welches die sozialen Konsequenzen aus der notwendigen Trennung der Reproduktion von Lohnarbeit zwischen Produktions- und Heimsphäre aufzuzeigen versucht. Das sind die Ansätze von dem, was unter Social Reproduction Theory zu verstehen ist.

Lise Vogel speziell ist es ein großes Anliegen, mit ihren Ideen einen Anstoß für eine einheitliche Theorie der sozialen Reproduktion zu liefern. Sie versucht, diese Theorie, die Produktion und Reproduktion auf einer Ebene analysiert, gegen die „Zwei-System-Theorie“ durchzusetzen, die laut ihr von vielen sozialistischen FeministInnen vertreten wird. „Zwei-System-Theorie“ kann verstanden werden als Zugang, der vorher beschrieben wurde und sich durch eine gesonderte Ebene der Frauenunterdrückung auszeichnet, die losgelöst von der ökonomischen existiert.

Diese zwei Kernelemente machen die SRT auch für MarxistInnen so spannend. Auch wenn wir den Vorwurf nicht teilen würden, dass Marx „geschlechtsblind“ gewesen wäre, ist es kein Geheimnis, dass sich die marxistische Beschäftigung mit dem Thema soziale Reproduktion in Grenzen hält. Hier liegt es an uns, die Theorie weiterzuentwickeln und ein einheitliches Verständnis von Reproduktion und Produktion zu schaffen. Das geht aber auch nur mit den Methoden und Werkzeugen, die wir durch den Marxismus gelernt haben. Die Ausgangsanalyse von der ökonomischen Basis abhängig zu machen, ist also unerlässlich und nur darüber können wir die unterschiedlichen Facetten und Ausdrücke von Unterdrückung erkennen.

Es gibt allerdings auch genug Beiträge zur Social Reproduction Theory die die Fragestellung etwas anders beantworten, als Lise Vogel es tut.

Ein gutes Beispiel für die Fehlschlüsse einer Analyse der Social Reproduction Theory ist die Debatte rund um Bezahlung für Hausarbeit.

Mariarosa Dalla Costa/Selma James

Wenn Arbeitskraft die einzige Ware ist, die auch außerhalb der Produktionssphäre produziert wird, wirft das laut TheoretikerInnen der Social Reproduction Theory mehr Fragen auf, als beantwortet werden. Sie setzen den Punkt, dass es ja keine klare Grenze gibt zwischen der Sphäre der Produktion und Reproduktion, in der Arbeitskraft regeneriert, reproduziert wird, da dies ja auch nicht ausschließlich in der familiären Sphäre passiert.

Maria Rosa Dalla Costa und Selma James spitzen diese Fragestellung in ihrem gemeinsamen Werk „Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft“5 zu. Dies ist auf jeden Fall ein früher Beitrag zur SRT, wenn auch nicht so fundiert argumentiert wie bei Lise Vogel und in theoretischer Hinsicht dieser in vielen Bereichen direkt entgegengesetzt. Sie beschäftigen sich darin vor allem mit der Produktivität von Hausarbeit und der Rolle der Frau als Hausfrau („Alle Frauen sind Hausfrauen“). Was heißt das? Schafft Hausarbeit Wert bzw. Mehrwert?

Sie sagen: ja! Frauen reproduzieren die Ware Arbeitskraft, sind also an einer Steigerung des Mehrwerts beteiligt. Laut ihnen sind Produktion und Dienstleistungen zuhause Teile der produktiven Konsumtion des Kapitals. Frauen sind demnach ein eigenes revolutionäres Subjekt, schließlich sind ja auch alle Frauen Hausfrauen. Die Verschleierung der Hausarbeit als nichtproduktive Arbeit ist eines der Hauptprobleme für die Überwindung des Kapitalismus und die politische Organisierung dagegen ist notwendig. Dafür stellen sie die Forderung nach einer Bezahlung (Lohn) für Hausarbeit auf. Das soll Frauen in den ökonomischen Kampf ziehen und hierbei seien ja durch den produktiven Charakter der Hausarbeit auch dieselben Kampfmethoden möglich wie bei Kämpfen im Betrieb. Ganz im Sinne von: Die Welt steht still, wenn keine häusliche Reproduktionsarbeit mehr geleistet wird und ohne diesen politischen Kampf steht sie eben nicht still.

Wir widersprechen dieser Analyse. Hausarbeit schafft weder Mehrwert noch Tauschwert der Ware Arbeitskraft und verfügt dementsprechend nicht über dieselben Kampfmethoden und Taktiken, um das System in die Knie zu zwingen. Hierbei ist die Frage von privater Konsumtion essenziell. Marx schreibt:

„Die Konsumtion des Arbeiters ist doppelter Art. In der Produktion selbst konsumiert er durch seine Arbeit Produktionsmittel und verwandelt sie in Produkte von höherem Wert als dem des vorgeschoßnen Kapitals. Dies ist seine produktive Konsumtion. Sie ist gleichzeitig Konsumtion seiner Arbeitskraft durch den Kapitalisten, der sie gekauft hat. Andrerseits verwendet der Arbeiter das für den Kauf der Arbeitskraft gezahlte Geld in Lebensmittel: dies ist seine individuelle Konsumtion. Die produktive und die individuelle Konsumtion des Arbeiters sind also total verschieden. In der ersten handelt er als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses.“6

Die Frage, ob und wie Mehrwert geschaffen wird, entscheidet sich also einzig und allein im unmittelbaren kapitalistischen Produktionsprozess. Da die Reproduktion in der häuslichen Sphäre außerhalb dessen steht, braucht man eine besondere Analyse, um diese zu verstehen. Wie bereits erwähnt, besteht der Versuch der SRT darin, die Analyse von Produktion und Reproduktion auf dieselbe Ebene zu holen. Dalla Costa und James tun dies, indem sie beide einfach gleichsetzen. Das ist eine heftige Verkürzung der Problematik und spiegelt in keiner Form die Realität wider.

Oft wird die Bezeichnung „produktive“ bzw. mehrwertschaffende Arbeit in einem moralischen Kontext verwendet. Das ist aber natürlich nicht richtig. Wie kann es sonst sein, dass die exakt selbe Arbeit in privaten Krankenhäusern zum Beispiel Mehrwert schafft, die Carearbeit zuhause allerdings nicht? Es ist klar, dass die Arbeit in beiden Fällen Gebrauchswerte erzeugt. Ihr Unterschied liegt aber nicht in der bezahlten bzw. unbezahlten Form, sondern im unterschiedlichen Verhältnis zum Kapital. Arbeit für eine/n KapitalistIn z. B. als HaushälterIn ist zwar bezahlt, aber vermehrt nicht sein/ihr Kapital, sondern dient ihren/seinen persönlichen Genüssen und wird nicht aus Bestandteilen des fungierenden Kapitals alimentiert, sondern aus der davon abgezwackten Revenue. Sie ist wie die unbezahlte der Hausfrau Dalla Costas’/James’ kein Moment des Kapitalkreislaufs. Beide sind auch nicht unproduktiv im Marx’schen Sinn, denn diese schafft zwar ebenfalls keinen Mehrwert, dient aber im Kapitalkreislauf dem Formenwechsel Geld – Ware – Geld und speist sich in Form des Profits aus dem Mehrwert (kommerzielle Handels- und Geldgeschäfte). Sie sind nichtproduktiv statt unproduktiv, stehen außerhalb der kapitalistischen Produktionsweise im engeren Sinn.

Ein Streik bei der Hausarbeit schadet zuallererst den ArbeiterInnen selbst und erst viel später dem System. Ein Streik in der Produktionssphäre hält die Mehrwertproduktion dagegen sofort an und trifft unmittelbar, sofort die KapitalistInnen. Die Unterschiede liegen auf der Hand.

Die Debatte über Lohn für Hausarbeit wird auch positiv von reaktionärer Seite aufgegriffen. Ein Problem, das auch von Dalla Costa/James anerkannt wird, ist, dass eine Entlohnung der Hausarbeit Frauen weiter von der Lohnarbeit in den Unternehmen isolieren könnte und auch mehr ökonomische Anreize zum Rückzug daraus bieten würde (da Frauen dort meist schlechter bezahlt werden als Männer), Vollzeitlohnarbeit zu leisten, während Männer „arbeiten“ gehen. Frauen aus dem gemeinsamen ökonomischen Kampf herauszuhalten und weiter an die häusliche Sphäre zu ketten, ist etwas, was sich mit konservativen Zielen einfach kombinieren lässt.

Die Aussage „alle Frauen sind Hausfrauen“ hat eine gewisse Berechtigung in dem Sinne, dass allen diese Aufgabe im Kontext von „Geschlechterrollen zugeschrieben“ wird – in Wirklichkeit wird diese Arbeitsteilung durch das Wertgesetz beständig produziert und drückt sich in geschlechtlich unterschiedlichen Löhnen und Erwerbsbiographien aus. Damit soll die Doppel- bzw. Mehrfachbelastung von (haus-)arbeitenden) Frauen im Kapitalismus angesprochen werden. Andererseits suggeriert sie ein gemeinsames revolutionäres Subjekt, das auch über Klassengrenzen hinausgeht. Diese Doppelbelastung gilt aber nur für lohnabhängige Hausfrauen. Eine Kapitalistin unterliegt keiner solchen, wenn sie sich Leute aus dem Proletariat anstellt, um diese Arbeiten für sich verrichten zu lassen. Zeitgleich verneint diese Betonung auf Hausfrauen den Fakt (was auch sicher an den Unterschieden in der Zeitperiode liegt, in der das Buch geschrieben wurde), wie viele Frauen in Arbeitskämpfe involviert sind und als Hauptort ihrer Organisierung den Arbeitsplatz und eben nicht die häusliche Sphäre sehen. Die Forderung nach einem Lohn für Hausarbeit könnte für viele von diesen auch eine (aus ökonomischer Perspektive heraus argumentierte) Rückkehr in die häusliche Sphäre bedeuten, wo sie viel schlechter zu erreichen und langfristiger und schwerer zu organisieren sind. Außerdem handelte es sich bei einer solchen Bezahlung nicht um Lohn im Marx’schen Sinn, sondern um eine Transferleistung, die wie alles im Kapitalismus vorwiegend aus dem Lohnfonds aufgebracht werden muss (wie Sozialversicherungs-, Rentenleistungen und Steuern). Von daher ist die Losung doppelt falsch.

Demgegenüber stehen Forderungen nach Vergesellschaftung der Hausarbeit, also darauf hinzuarbeiten, dass nicht Einzelpersonen, Familien und vor allem Frauen zuständig für „häusliche, individuelle“ Subsistenz- und Reproduktionsarbeit sind, sondern Strukturen zu schaffen und zu fördern, die eine Aufteilung auf mehrere Hände und Köpfe ermöglichen. Gemeinsame Waschküchen, Gemeinschaftsräume, in denen es Kochmöglichkeiten gibt, Ablösung und Unterstützung bei der Kinder- und Angehörigenbetreuung mit dem langfristigen Ziel unterschiedsloser gesamtgesellschaftlicher, sozialisierter „Eltern- und Verwandtschaft“, sind dabei konkrete Ansatzpunkte.

Aber nur weil der Lohn für Hausarbeit keine sinnvolle Forderung ist, heißt das nicht, dass es nicht auch spezielle Methoden braucht, um Frauen (speziell, die in der individuellen Reproduktionssphäre gebundenen) in den politischen und ökonomischen Kampf hineinzuziehen. Hierbei kommen wir zu den aktuellsten Ausprägungen der SRT, zu den TheoretikerInnen der Frauenstreikdebatte.

Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya und Nancy Fraser

Die prominenteste Protestform der internationalen Frauenbewegungen sind Frauenstreiks. Sie haben häufig unterschiedliche Ziele und setzen sich aus verschiedensten politischen Strömungen zusammen. Ihr Zweck ist es aber immer, auf bestimmte Missstände bezüglich der Gleichbehandlung von Frauen aufmerksam zu machen. In Lateinamerika ist die Bewegung vor allem auf den Stopp von Femiziden (Morden an Frauen „nur“ wegen ihres Geschlechtes) und Machismo („toxische Männlichkeit“) ausgelegt. In vielen europäischen Ländern sind die Proteste auf ungleiche Bezahlung von weiblicher Arbeit zugespitzt.

Die Autorinnen von „Feminismus für die 99 % – Ein Manifest“7 versuchen, eine antikapitalistische Perspektive in diese Frauenstreiks hineinzutragen, die eine Brücke zwischen Arbeitskämpfen und Identitätspolitik schaffen soll.

Dabei fokussieren sie sich auch stark auf soziale Reproduktionstheorie in ihrer Erklärung, warum es die unterschiedlichsten Unterdrückungsformen gibt, und versuchen, innerhalb ihrer Thesen einen Vorschlag für die Bewegung aufzustellen. Durch den manifestartigen Charakter wird auch hier wesentlich weniger in die Tiefe gegangen und viele der aufgestellten Theorien der AutorInnen werden nicht ausreichend erklärt.

Sie argumentieren, dass es zu einer neuen feministischen Welle kommt, die auch eine neue Art des Streikens einführt. Das kann unter anderem Entzug von Sex, Lohnarbeit und Lächeln inkludieren. Sie stellen also in ihrer Argumentation den Streik von LohnarbeiterInnen auf eine Ebene mit dem Frauenstreik, der sowohl lohnabhängige als auch nichtlohnabhängige Frauen umfasst. Sie meinen, durch diese Gleichsetzung wird die Diskrepanz aufgezeigt, wieviel Arbeit eigentlich zur Reproduktion momentan geleistet und wieviel davon eben nicht entlohnt wird. Für sie ist das der erste wichtige Schritt, um eine Brücke zwischen Klassen- und Identitätspolitik zu schlagen.

Dieser Zugang steht sehr stark in der Argumentationslinie von Dalla Costa/James, auch wenn die TheoretikerInnen von „Feminismus für die 99 %“ andere Forderungen aufstellen. Sie versuchen, die neue Kampfform des Frauenstreiks in einen Kontext mit den heftigsten Problemen des Kapitalismus zu bringen und dadurch eine Gesellschaftsanalyse aufzustellen.

Dafür entwickeln sie elf Kernthesen. Die wichtigsten (zusammengefasst) sind, 1) dass wir eine gesamtgesellschaftliche Krise durchleben, 2) Geschlechterunterdrückung in ihren Wurzeln durch die Unterordnung von sozialer Reproduktion unter (un)produktive Arbeit fürs Kapital verursacht wird, 3) der liberale Feminismus bankrott ist und es einen antikapitalistischen und 4) internationalen Zusammenschluss braucht. In ihrem Buch stellen sie auch viele der Thesen in einen Gegensatz zur bisher existierenden feministischen, aber auch zur ArbeiterInnenbewegung, die für sie vor allem eine männliche darstellt.

Der erste Punkt der gesamtgesellschaftlichen Krise versucht, Kapitalismus nicht nur als Wirtschafts-, sondern als Gesellschaftssystem zu enttarnen. Der Neoliberalismus spielt hierbei eine Rolle, genauso aber die unterschiedlichen Auswirkungen der Krise unter anderem bezüglich Reproduktionssphäre, aber auch Klima. Dass der Kapitalismus nicht nur eine rein ökonomische Kategorie ist, ist auch in der marxistischen Theorie eine wichtige Erkenntnis, allerdings ist die ökonomische Basis eine der relevantesten Triebfedern. Die zugrundeliegenden ökonomischen Mechanismen des Gesellschaftssystems führen zu vielen unterschiedlichen Problemen wie Umweltzerstörung oder Sexismus.

Die These, dass Geschlechterunterdrückung aus einer systematischen Unterordnung von sozialer Reproduktion unter (kapitalistische) Produktion resultiert, wird nicht genau erklärt. Die starke Aufspaltung in eine Produktions- und Reproduktionssphäre geht laut den AutoInnen mit deren ungleicher Bewertung einher (speziell durch den Akt der Nichtbezahlung letzterer). Diese spezielle Situation habe sich im Kapitalismus soweit verschärft, dass es eigentlich notwendig sei, den Klassenbegriff neu zu definieren und Klassenkampf immer mit Kampf um soziale Reproduktion zu verknüpfen. Eine (Moralische? Ökonomische? Die AutorInnen erklären das nicht wirklich) Gleichbewertung von Reproduktionsarbeit würde gleiche Beteiligung an den politischen Kämpfen und die Verbindung der Bewegungen ermöglichen. Was ist Klasse dann aber für sie? Sie sagen zwar, sie beziehen sich nicht auf einen „altmodischen“ Klassenbegriff, tun aber auch so, als wären Frauenbewegung und Klassenkampf zwei unterschiedliche tätige Subjekte – wobei in Wirklichkeit keines ohne das andere existieren kann. Hierbei betonen sie auch, dass der neue Feminismus ein klar intersektionalistischer sein muss, haben aber keine Vorschläge bzw. Programmatik anzubieten. „Gewiss, unser Manifest bietet keinen präzisen Entwurf einer Alternative, da diese nur aus den Kämpfen um ihre Verwirklichung hervorgehen kann.”8

Ihre Abwendung vom liberalen Feminismus hin zu einem antikapitalistischen ist ein enormer Fortschritt. Allerdings muss kritisch bilanziert werden, dass hierbei aufgrund der schwammigen Analyse nicht ausgeschlossen ist, dass es sich dabei um mehr als ein Lippenbekenntnis handelt. Das Manifest für die neue Welle der Frauenbewegung spricht nicht über eine nachkapitalistische Gesellschaft und lehnt „veraltete“ marxistische Ideen zu dem Thema ab. Es bleibt also unklar, was eigentlich die Perspektive ist und wie man dorthin kommen soll (abgesehen von Frauenstreiks). Dabei ist es natürlich essenziell, dass sie eine internationalistische Sichtweise einzunehmen versuchen, aber ohne Vorschläge, wie Internationalismus umzusetzen ist bzw. welche Strukturen es dafür braucht, bleiben diese Ideen ohne praktische Handlungsanweisung – sind also nicht umsetzbar.

Was für einen Feminismus vertreten die AutorInnen also genau? Eine Mischung aus sozialistischem Feminismus, moderneren queertheoretischen Ideen und Intersektionalitätsansatz mit ein bisschen – subjektivem – Antikapitalismus und SRT! Das Buch ist trotzdem ein interessanter Beitrag zu letzterer, da der Fokus auf Frauenstreiks, die momentan elementarste Kampfform in der Sphäre der Reproduktion, wichtig ist und bei vielen anderen vergessen wird.

Frauenstreiks sind ein fortschrittliches Element des Klassenkampfes. Werktätige Frauen, die versuchen, auch ihre nichtwerktätigen Geschlechtsgenossinnen in den Klassenkampf hineinziehen über ihre Forderungen und konkreten Handlungen, sind eine Bereicherung für den Klassenkampf. Obwohl natürlich gemeinsame Streiks von Lohnarbeitern und Lohnarbeiterinnen mehr Wirkung ausüben, kann der politische Kampf nicht mit rein ökonomischen Zielen gewonnen werden. Frauen in der häuslichen Sphäre können durch diese Protestform erreicht und die bestimmte frauenspezifische Unterdrückung insbesondere der Hausfrauen in proletarischen Familien kann thematisiert werden. Allerdings ist der Frauenstreik kein Selbstzweck, wie häufig argumentiert wird: Entzug von Zuneigung und emotionaler Arbeit kann sicherlich als Kampfform in ungleichen Beziehungen oder zum Selbstschutz dienen, ist aber in den seltensten Fällen eine gesellschaftspolitische.

Wer ist Subjekt der Frauenbefreiung?

Die Arbeiten von Lise Vogel und erst recht das Manifest „Feminismus für die 99 %“ enthalten jedoch beide eine zentrale Schwäche, wenn es darum geht, das Subjekt der Frauenbefreiung sowie der Verbindung dieses Kampfes mit dem gegen den Kapitalismus zu bestimmen. Korrekterweise stellt Vogel fest, dass die Frauenunterdrückung auf ihrer „besonderen Stellung … innerhalb der kapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktion“9 fußt. Wie wir gesehen haben, weist sie auch jede Theorie zurück, die die Reproduktionssphäre als eine gesonderte, nicht von der Kapitalakkumulation bestimmte, begreift. Sie kommt an dieser Stelle der marxistischen Auffassung sehr nahe, die daraus herleitet, dass die arbeitenden Frauen eine Vorreiterinnenrolle im Kampf gegen Frauenunterdrückung spielen müssen, dass die Bildung einer proletarischen Frauenbewegung ein notwendiges Mittel im Befreiungskampf darstellt, sowohl um die Klassenunabhängigkeit der arbeitenden Frauen von allen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Kräften herzustellen wie auch um gegen Sexismus, Chauvinismus und männliche Privilegien innerhalb der ArbeiterInnenklasse vorzugehen.

Dies schließt Bündnisse mit Frauen anderer Klassen keineswegs aus. Insbesondere mit den Bäuerinnen und den radikalen, progressiven Frauen der Mittelschichten und aus dem KleinbürgerInnentum wird eine proletarische Frauenbewegung gemeinsame Kämpfe um demokratische und soziale Rechte führen müssen, was auch Aktionsbündnisse mit bürgerlichen Frauen (z. B. um gleiche politische Rechte, um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch) einschließt. Eine solche Taktik unterscheidet sich aber grundlegend von der Vorstellung einer klassenübergreifenden Frauenbewegung.

Die Analyse der Reproduktionsarbeit von Lise Vogel legt, auf den ersten Blick, eine solche Schlussfolgerung nahe. Sie zieht diese jedoch noch nicht. Vielmehr erfahren wir: „Der Mangel an Gleichheit ist die Grundlage der Frauenbewegungen, die Frauen aus unterschiedlichen Klassen und Schichten zusammenbringen.“10

Für sie existieren zwei Quellen der Frauenunterdrückung im Kapitalismus, nämlich eine auf ökonomischer Ebene, eine andere auf politischer. Mangelnde Gleichheit gilt ihr, im Gegensatz zu anderen Klassengesellschaften (!), als „ein Merkmal der Frauenunterdrückung in der kapitalistischen Gesellschaft.“11

Entscheidend für eine marxistische Analyse wäre hier jedoch zu bestimmen, wie sich die ökonomische und gesellschaftliche Basis der Frauenunterdrückung zur Ungleichheit verhält. Es bedarf eigentlich keiner großen Kunst zu erkennen, dass die politische, rechtliche Ungleichheit, die Diskriminierung, reaktionären Geschlechterrollen usw. den Überbau einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung darstellen und eine wirkliche Befreiung der Frau nur möglich ist, wenn der Kampf über den um gleiche bürgerlich-demokratische Rechte hinausgeht.

Vogel betrachtet die Kettung der Frau an die private Hausarbeit und die Ungleichheit in der politischen Sphäre als gleiche Strukturen oder gesellschaftliche Subsysteme, die die Frauenunterdrückung hervorbringen. Der Einfluss der falschen, strukturalistischen Lesart des Marxismus, von Althusser und Poulantzas ist hier unverkennbar, eine grundlegende methodische Schwäche ihres Buches, die sie mit den frühen Schriften der TheoretikerInnen des Linkspopulismus teilt.12 Sie wie die gesamte SRT fallen hier weit hinter die politischen Errungenschaften marxistischer TheoretikerInnen und der sozialistischen Frauenbewegung, einer Zetkin, Luxemburg oder Kollontai zurück, die alle auf einer Trennung von proletarischer und bürgerlicher Frauenbewegung beharrten. Vogel lässt uns hingegen mit einer klassenübergreifenden Bewegung zurück, die wie durch ein Wunder über den Kapitalismus hinausgehen soll.

„Diese Bewegungen (die Frauenbewegungen; Anm. d. Red.) unterscheiden sich durch ihre explizite oder implizite Interpretation von Gleichheit. Einige betrachten die Gleichheit zwischen Frauen und Männern als ein im Grunde zufriedenstellendes Ziel. Solche Bewegungen darf man zu Recht bürgerliche Frauenbewegungen nennen. Doch die Widersprüche des Spätkapitalismus werden wahrscheinlich auch diesen Frauenbewegungen zumindest zu einer gewissen Einsicht in den Unterschied zwischen bürgerlicher Gleichheit und tatsächlicher gesellschaftlicher Gleichheit verhelfen. Dies könnte für die Entwicklung einer Frauenbewegung, die sich zum Sozialismus hin orientiert, förderlich sein.“13

Warum die bürgerlichen Frauen im Spätkapitalismus den proletarischen näherstehen und zu kritischeren Positionen gedrängt werden sollen als die bürgerlichen Frauenbewegungen in vorgehenden Perioden, bleibt eine reine Wunschvorstellung, die im Buch nicht weiter begründet wird. Vogel unterstellt, dass die bürgerlichen Frauen ihr Klasseninteresse einfach hinter sich lassen könnten. Die Frauen der herrschenden Klasse werden ihre Privilegien, ihre herrschende Stellung, die auf der Ausbeutung der proletarischen Frauen (und Männer) gründet, niemals aufgrund einer „Einsicht“ aufgeben. Allenfalls werden einzelne mit den Männern und Frauen ihrer Klasse brechen.

Damit eine sozialistische Frauenbewegung entstehen kann, braucht es den Bruch mit allen Illusionen in bürgerliche und kleinbürgerliche Kräfte. Nur so können die Arbeiterinnen, die proletarischen Frauen eine eigene, führende Rolle im Kampf spielen. Während Vogel in ihrer Analyse der Reproduktion wichtige Schritte zu deren Verständnis liefert und die Notwendigkeit einer proletarischen Frauenbewegung eigentlich nahelegt, bricht sie mit dieser Analyse aufgrund ihres strukturalistischen Verständnisses von Kapitalismus. Politisch führt ihre Verteidigung klassenübergreifender Frauenbewegungen in keine sozialistische Richtung, sondern zur Unterordnung unter den bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus. In der Subjektfrage treten die Schwächen der SRT nicht nur bei Vogel, sondern erst recht im „Feminismus der 99 %“14 deutlich zutage. Wenn die neue Frauenbewegung zu einer wirklich sozialistischen, internationalistischen und revolutionären Kraft werden soll, muss sie diese Schwächen hinter sich lassen.

Fazit und Ausblick

Ein Großteil unseres Textes beschäftigt sich mit fehlerhaften Schlussfolgerungen der SRT aus dem einfachen Grund, dass klar herausgefiltert werden muss, auf welchem Fundament man weiterbauen kann. Die Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion muss eine kontinuierliche sein. Es ist notwendig, mit theoretisch falschen Schlussfolgerungen so früh wie möglich zu brechen.

Es ist in der Tat so, dass SRT der Einstiegspunkt für die fortschrittlichsten feministischen Kräfte darstellt. Auch wenn „Feminismus für die 99 %“ sicher keine marxistische Perspektive aufzeigt, ist die Intention, eine antikapitalistische Losung in die Frauenstreikbewegung hineinzutragen, etwas, worauf wir aufbauen müssen und können.

Die Abgleitflächen sind auch wichtig zu beachten. Bei oberflächlicher Auseinandersetzung liegt die Schlussfolgerung sicher nahe, eine eigene Ebene der Frauenunterdrückung heraufzubeschwören, die eines gesonderten Kampfes von Frauen bedarf und nicht mit der historisch-dialektischen Methode des Marxismus erklärt werden zu können scheint. Auch ist, wie anfangs erwähnt, der Zugang, über feministischen Sozialismus den Marxismus weiterentwickeln zu wollen, unzureichend und endet in der gleichen methodischen Weggabelung. Dafür ist jedoch v. a. die Entstellung der klassischen marxistischen Lehren durch Sozialdemokratie, Stalinismus und etliche zentristische Strömungen verantwortlich, die sie im wahrsten Sinne des Wortes wie einen toten Hund behandelt und vollständig verdreht haben.

Das Verstehen von sozialer Reproduktion ist klarer Weise theoretische Voraussetzung für die Überwindung der Unterdrückung der Frau. Die kritische Auseinandersetzung mit Autorinnen wie Lise Vogel und deren Analyse stellt dabei einen wichtigen Anknüpfungspunkt dar, diesen Bereich besser auszuleuchten, zu verstehen und weiterzuentwickeln, aber die Frage der Befreiung der Frau lässt sich nicht allein darüber beantworten.

Kapitalistische Tendenzen, die Einbeziehung der Frau in die Lohnarbeit, der spezielle Charakter der Doppel- oder Mehrfachbelastung, sexistische Unterdrückung von Inter-, Trans- und nichtbinären Personen sind alles Erscheinungen, die Antworten brauchen, die über das reine Verstehen von sozialer Reproduktion hinausgehen. Wie Vogel auch argumentiert, gibt es einen Widerspruch zwischen der Steigerung des Mehrwerts, der Ausdehnung der Lohnarbeit u. a. durch Einbezug von Frauen in die Produktion und der Zeit, die in notwendige Reproduktionsarbeit gesteckt werden muss. Die Lösung davon ist natürlich (meistens) kein bewusster, sondern ein ideologisch verschleierter Prozess im Kapitalismus, der viele zusätzliche Probleme schafft. Nicht alle Frauen sind in derselben Form in Reproduktionsarbeit involviert. Es ist also vor allem eine Untersuchung notwendig, die die ökonomischen Ursprünge der Frauenunterdrückung in der Geschichte aufdecken soll und unser Verständnis von der kapitalistischen Wirtschaft und der aller vorhergehenden Gesellschaftsformationen stärkt.

Endnoten

1 Pluto Press, London u. a. 1983

2 Vogel, Lise: a. a. O., ; S. ix; auf Deutsch: Marxismus und Frauenunterdrückung – Auf dem Weg zu einer umfassenden Theorie, Unrast-Verlag, Münster/Westf. Oktober 2019, 1. Auflage, S. 23. Hiernach auch im Folgenden zitiert

3 Ebenda, S. 214

4 Ebenda, S. 220 (Fußnote 3)

5 Dalla Costa, Mariarosa; James, Selma, Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft, Merve Verlag, Internationale Marxistische Diskussion 36, Berlin/West 1973

6 Marx, Karl: Das Kapital Bd.1, 21. Kapitel, MEW 23, Dietz Verlag, Berlin/Ost 1971, S. 596f.

7 Arruzza, Cinzia; Bhattacharya, Tithi; Fraser, Nancy, Feminismus für die 99 % – Ein Manifest, Matthes & Seitz, Berlin 2019

8 Ebenda, S. 102

9 Vogel, Lise, a. a. O., S. 238

10 Ebenda, S. 241

11 Ebenda, S. 239

12 Vergleiche dazu unsere Kritik an Laclau/Mouffe: Suchanek, Martin, Sackgasse Linkspopulismus. Eine Kritik der Theorien von Laclau und Mouffe, in: Revolutionärer Marxismus 50, Verlag Global Red, Berlin 2018, S. 172 – 235

13 Vogel, Lise, a. a. O., S. 241

14 Siehe dazu: March, Urte (Red Flag Britain), Feminism for the 99 %, in: Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, Berlin 2020




Frauenunterdrückung: Die doppelte Last der Corona-Heldinnen

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 247, Mai 2020

International stellen Frauen 70 % des Personals in sozialen und Pflegeberufen. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung liegt hierzulande der Frauenanteil in den sog. systemrelevanten Berufsgruppen bei knapp 75 %. Im Folgenden wollen wir einen Überblick darüber geben, wie die Belastung für Frauen aus der ArbeiterInnenklasse seit Ausbruch der Pandemie zugenommen hat, welchen Problemen sie sich verschärft gegenübersehen, um dann auf die Ursachen der Unterdrückung und die Frage des Kampfes dagegen einzugehen.

Gesundheit

Aufgrund der Pandemie liegt der Fokus des Gesundheitssystems auf der Bekämpfung der Krankheit. Dies ist an sich sinnvoll, aber da es ohnedies schon einen Mangel an medizinischem Personal und Einrichtungen gibt, bedeutet das auch, dass diese anderswo fehlen. So können wir aktuell in vielen Ländern einen Anstieg der Mütter- und Kindersterblichkeit beobachten.

Der Zugang zu hygienischen Produkten und Verhütungsmitteln wird durch Verdienstausfälle erschwert, die Produktion teilweise ausgesetzt. So wurden in Indien während der ersten Wochen des Lockdowns Binden nicht als essentiell betrachtet. Mädchen hatten aufgrund der Schließung von Schulen keinen Zugang. NGOs und Hilfsorganisationen schätzen, dass allein in Indien mindestens  121 Millionen Frauen keinen Zugriff auf Güter zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse haben, wobei ländliche Regionen und Kleinstädte besonders betroffen sind.

Der ohnedies schon eingeschränkte Zugang zu Abtreibungen wird weiter erschwert. UN-Schätzungen zufolge könnte die Corona-Krise zu 7 Millionen ungewollten Schwangerschaften führen. In Deutschland bieten nur 1.149 Kliniken Abtreibungen an, das sind 900 weniger als 2003. Da vielerorts für Kostenübernahme persönlich vorgesprochen werden und eine Pflichtberatung stattfinden muss, gleichzeitig aber viele Familienplanungszentren und Praxen ihr Angebot reduzieren, werden sie zusätzlich erschwert, wenn nicht verunmöglicht. Auch herrscht dort oft ein Mangel an Verhütungsmitteln. Spirale, Dreimonatsspritzen können mitunter nicht verabreicht werden, Rezepte für die Antibabypille sind nur begrenzt erhältlich.

In 8 US-Bundesstaaten laufen Verfahren, da Abtreibungen auf die Liste der „nicht dringenden“ medizinischen Behandlungen gesetzt worden sind.

Kurzarbeit und Entlassungen

Doch Frauen sind nicht nur durch Veränderungen im Gesundheitswesen massiv betroffen. Die ersten großen Entlassungswellen betrafen vor allem Sektoren, in denen Frauen überrepräsentiert sind wie Einzelhandel, Gastgewerbe und Tourismus.

Eine statistische Erhebung aus den USA zeigt, dass Frauen in verschiedenen Branchen stärker vom Arbeitsplatzverlust betroffen sind als Männer. Im Freizeit- und Gastgewerbe waren vor der Pandemie 52 % der Beschäftigten Frauen, aber 54 % der Entlassenen sind weiblich. Im Bildungs- und Gesundheitswesen stellten Frauen 77 % der Arbeitskräfte, aber 83 % der Entlassenen; im Einzelhandel 48 % der Beschäftigten, 61 % der Arbeitsplatzverluste; in den Kommunal- und Landesverwaltungen schließlich 58 % der Belegschaften, aber 63 % der Freigesetzten.

Laut Zahlen der ILO (2018) verdienen 61 % der globalen Erwerbsbevölkerung (2 Milliarden Menschen) ihren Lebensunterhalt in der informellen Wirtschaft, davon sind rund 50 % Frauen. Für diese Menschen bedeutet das, keinen einklagbaren Arbeitsvertrag, keine Arbeitslosenversicherung oder damit vergleichbare Absicherung zu haben.

Frauen stellen zwar die Hälfte der Menschen im informellen Sektor, sie sind aber dort im globalen Süden überrepräsentiert. So arbeiten in Südasien über 80 % aller Frauen außerhalb der Landwirtschaft im informellen Sektor, in den Ländern südlich der Sahara 74 %, in Lateinamerika und der Karibik 54 %.

Besonders betroffen von der Krise sind oft WanderarbeiterInnen. So haben in Indien mindestens 40 Millionen ArbeitsmigrantInnen von heute auf morgen ihren Job und ihre Unterkunft verloren. Sie müssen 100 – 1.000 Kilometer zurück zu ihren Familien, denen sie meistens selbst Geld schicken, also die sie eigentlich finanzieren. Schätzungen gehen davon aus, dass 660.000 bis 1,5 Millionen MigrantInnen in Lagern untergebracht sind, wo sie minimale Essensrationen erhalten. 

Wie viele auf dem Weg selbst umgekommen sind, darüber gibt es keine Zahlen.

Frauen sind jedoch nicht nur als überausgebeutete Lohnarbeiterinnen betroffen. In vielen Ländern der halb-kolonialen Welt waren sie im Zuge von „Entwicklungshilfe“ oft auch Empfängerinnen sog. Mikrokredite. In Jordanien beispielsweise erhielten rund 70 % der Frauen solche Kredite. Unter den Bedingungen von Corona und der Krise können viele ihre Raten nicht mehr tilgen, sind nicht zahlungsfähig, was in manchen Ländern mit Gefängnisstrafe geahndet werden kann.

Wir sehen anhand dieser Beispiele, dass arbeitende Frauen auch ökonomisch besonders stark von der Krise betroffen sind – und diese wird so schnell nicht nachlassen.

Gewalt gegen Frauen

Zugleich verschärft sich die Lage der Frauen in Familie und Beziehungen. Der Bevölkerungsfonds der UN rechnet mit 31 Millionen zusätzlichen Fällen von häuslicher Gewalt, wenn der Lockdown sechs Monate anhält. Wir haben es hier mit einem globalen, keinesfalls mit einem regionalen Problem zu tun.

In Frankreich nahmen mit der Ausgangssperre die Fälle häuslicher Gewalt um 30 Prozent zu. Die französische Regierung kündigte zudem an, bis zu 20.000 Zimmer in Hotels für Betroffene zu reservieren, in französischen Einkaufszentren wurden 20 Beratungsstellen eingerichtet.

Allein in den ersten beiden Aprilwochen gab es im Vergleich zum Vorjahreszeitraum einen 47 %-igen Anstieg der Anrufe bei der spanischen Hotline für häusliche Gewalt. Die Zahl der Frauen, die sich per E-Mail oder über soziale Medien an die von der Regierung als wesentlich eingestuften Unterstützungsdienste wandten, soll um bis zu 700 % gestiegen sein.

Diese Entwicklung gibt es natürlich auch in Deutschland. Breit thematisiert wird das Problem freilich nicht. Dabei mangelt es seit Jahren an Plätzen in Frauenhäusern. Bis heute stehen rund 6.800 Plätze zur Verfügung, obwohl sich Deutschland schon 2017 verpflichtet hat, mindestens 21.400 zu schaffen. Kurzfristig hätte hier durch Nutzung leerstehenden Wohnraums, wegen der Pandemie ungenutzter Hotels und Ferienwohnungen etwas Abhilfe geschaffen werden können – doch Fehlanzeige. Hinzu erschweren die soziale Isolierung und Quarantäne die Lage der Frauen. Mit Tätern eingeschlossen, kannst du nicht einfach so verschwinden und dich um Kinder kümmern, die ebenfalls krasser Gewalt ausgesetzt sind.

Kurzarbeit, Homeoffice und unbezahlte Hausarbeit

Grundsätzlich leisten Frauen nach wie vor weit mehr unbezahlte Hausarbeit als Männer. Im Zuge von Corona wurden Schulen und Kindergärten geschlossen, ist Pflegeunterstützung im Haus oft weggefallen oder reduziert.

Hinzu kommt, dass Homeoffice und Kinderbetreuung nur schwer vereinbar sind. Das zeigt sich auch darin, dass 40 % der Personen mit Kindern unter 14 Jahren die Tätigkeit im Homeoffice als äußerst oder stark belastend einschätzen gegenüber 28 Prozent der Befragten ohne Kinder.

1,5 Millionen Alleinerziehende – davon sind 90 % Frauen – sind nochmal stärker betroffen.

Anspruch auf KurzarbeiterInnengeld kann zudem nur erheben, wer in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Auf die Beschäftigungsformen von Frauen trifft das aber oftmals nicht zu.

Frauen und Männer sind zwar ungefähr im gleichen Maße von Kurzarbeit betroffen, doch bei Frauen wird das KurzarbeiterInnengeld etwas seltener aufgestockt. „Ein Teil dieser Unterschiede dürfte sich ebenfalls auf unterschiedliche Tarifabdeckung zurückführen lassen“, erklärt Bettina Kohlrausch (DGB), „es ist ja bekannt dass in tarifgebundenen Unternehmen generell besser bezahlt wird und dass Frauen häufiger in kleineren Dienstleistungsbetrieben ohne Tarifvertrag arbeiten.“

In den letzten Monaten haben spürbar mehr Frauen (24 Prozent) als Männer (16 Prozent) die Arbeitszeit auf anderem Wege reduziert.

Was bedeutet das alles zusammengefasst? Viele Frauen arbeiten im Care-Sektor und in sog. systemrelevanten Berufen. Sie sind oft einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt, gleichzeitig aber auch von Entlassungen am stärksten betroffen.

Das bindet sie ökonomisch stärker an die Familie, macht sie schutzloser gegenüber häuslicher Gewalt. Zusätzlich steigt die reproduktive Arbeit, die im Haushalt getätigt werden muss, was die Doppelbelastung der Frauen erhöht. Sie werden also unter Bedingungen einer kapitalistischen Krise, die durch die Pandemie verstärkt wird, mehr in die klassische, reaktionäre Geschlechterrolle gedrängt. Auch wenn jetzt die Kontaktverbote gelockert werden, wird es keine Rückkehr zur ohnedies zweifelhaften „Normalität“ geben. Vielmehr drohen im Zuge der Wirtschaftskrise mehr Entlassungen und massive Sozialkürzungen.

Warum ist das so?

Um die aktuelle Situation zu verändern, ist es essentiell zu verstehen, warum Corona und die kommende Wirtschaftskrise Frauenunterdrückung verstärken.

Schauen wir uns zuerst Antworten an, die bisher gegeben wurden. Dazu vorweg: Viele von Euch wissen das schon, aber es gibt nicht „den“ Feminismus oder „die“ Frauenbewegung, sondern unterschiedliche Strömungen, die verschiedene theoretische Ansätze vertreten und diverse Lösungen vorschlagen. Wir können hier nicht genauer darauf eingehen.

Zu Recht verweisen viele Gruppierungen des bürgerlichen und radikalen Feminismus sowie der reformistischen Frauenbewegung auf den gerade in Deutschland mit 20 % (2019; Statistisches Bundesamt) besonders hohen Gender Pay Gap hin, also das geschlechtsspezifische Lohngefälle. Dies ist ein Ausdruck und zugleich eine Ursache der systematischen Benachteiligung von Frauen, also der Unterschiede zwischen Mann und Frau bei den Löhnen. Die Frage ist aber: was hat das mit Frauenunterdrückung und Kapitalismus zu tun?

Frauenunterdrückung existierte schon lange vor dem Kapitalismus und nahm in allen Klassengesellschaften eine systematische Form an.

Für den Kapitalismus ist freilich typisch, dass sich die Funktion von Haushalt und Familie für die unterdrückte Klasse gegenüber früheren Klassengesellschaften ändert. So war z. B. die bäuerliche Familie im Feudalismus Produktions- und Reproduktionseinheit. Im Kapitalismus werden Produktion und Reproduktion getrennt und natürlich hat die Familie/PartnerInnenschaft für die ArbeiterInnenklasse und für die besitzenden Klassen auch eine andere Funktion. Für die erstere dient sie in erster Linie zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft, während sie für KapitalistInnen essentiell für die Vererbung der Produktionsmittel ist.

Natürlich, auch wenn dieses „Ideal“ der ArbeiterInnenfamilie global betrachtet oft gar nicht der Realität entspricht, so übernimmt der Kapitalismus eine schon vorher existierende geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die dadurch, dass der Lohn des Mannes als „Familienlohn“ gesetzt wird, während die Frau nur „dazuverdient“, selbst befestigt und reproduziert wird. Die bürgerliche Familie, die auch zur Norm für die ArbeiterInnenklasse, ideologisch und auch repressiv durchgesetzt wird gegenüber anderen Formen, reproduziert die geschlechtliche Arbeitsteilung und diese verfestigt wiederum die Familie als scheinbar „natürliche“ Form des Zusammenlebens.

Warum sind Frauen stärker betroffen?

Diese Form der Arbeitsteilung bedeutet auch, dass Frauen oft von Krisen besonders stark betroffen sind. Gerade in solchen Perioden wird die Reproduktionsarbeit im Kapitalismus systematisch ins Private gedrängt. Kosten für v. a. öffentliche Kindererziehung, Kranken- und Altenpflege erscheinen als unnütze, als unproduktive Arbeit, da sie oft keinen Mehrwert für ein Kapital schaffen. Das heißt nicht, dass es nicht nützliche Arbeiten sind. Aber da sie sich nicht im gleichen Maßstab wie andere, z. B. industrielle, verwerten lassen,  z. B. Care-Arbeit im öffentlichen Krankenhaus oder die Arbeit der Erzieherin in einer Kita keinen Profit für KapitalistInnen erzeugen, erscheinen sie diesen als Kosten, die gefälligst reduziert oder ganz eingespart werden sollen.

Daher auch die individuelle Kindererziehung, Pflege von Alten in der Familie – und es erziehen und pflegen dabei in erste Linie Frauen. Dabei kann diese Operation durchaus widersprüchlich sein, weil eigentlich auch das gesellschaftliche Gesamtkapital unter bestimmten Bedingungen mehr weibliche Arbeitskraft und damit auch eine teilweise Vergesellschaftung  der Hausarbeit (z. B. durch mehr Kindergärten, bessere Kantinen, …) braucht.

In Krisenzeiten müssen aber Kosten gespart werden durch Absenkung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Kurzarbeit, Entlassungen, aber auch und vor allem durch Kürzungen im sozialen Bereich insgesamt. Frauen fungieren so als „flexible“ Aufstockerinnen, besonders leicht verschiebbarer Teil der industriellen Reservearmee, die zuerst ins Private gedrängt werden und sich eher um Familie kümmern, aber bei besserer Konjunktur auch wieder leicht und schlechter bezahlt einsetzbar sind.

Wir sehen hier also auch, woher der Gender Pay Gap kommt. Der Lohn des Mannes wird historisch als Familienlohn gesetzt (der auch die Reproduktionskosten zur Reproduktion der Familie einschließt). Die Arbeit der Frau erscheint dabei nur als „Zuschuss“, als „Aufstocken“. Das Ganze bildet einen Elendskreislauf, der sich in einem gewissen Maß selbst reproduziert: Basierend auf der geschlechtlichen Arbeitsteilung geht der Mann arbeiten, weil er mehr verdient – und weil der Mann mehr verdient, bleibt die Frau zu Hause. Somit reproduziert sich die geschlechtliche Arbeitsteilung gleich mit.

Kämpfe der ArbeiterInnenbewegung und der Frauenbewegung haben zwar wichtige Verbesserungen errungen, aber eine wirkliche Angleichung konnte nie erreicht werden, weil die unterschiedlichen Löhne in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und im privaten Charakter der Hausarbeit wurzeln. Gerade in Krisen stehen wir immer wieder vor der Gefahr eines Rollbacks.

Was tun?

Widerstand aufzubauen, wird dringend notwendig, denn die Situation wird sich in der Krise weiter verschlechtern. In vielen Ländern treffen Angriffe auf die ArbeiterInnenklasse vor allem auch deren Frauen.

In den indischen Bundesstaaten Uttar Pradesh und Madhya Pradesh sollen keine Überstanden mehr bezahlt werden, wurden alle Arbeitszeitbeschränkungen und Pausen abgeschafft, Gewerkschaften und Streiks verboten.

Auch in Deutschland schlagen CDU-PolitikerInnen und UnternehmerInnenverbände vor, den Mindestlohn zu senken und Arbeitszeiten weiter zu flexibilisieren. Frauen wird dies mit besonderer Härte treffen, da sie oftmals prekär beschäftigt und in gewerkschaftlich schlecht organisierten Berufen tätig sind.

Umso wichtiger ist es daher auch in Deutschland, mit SozialpartnerInnenschaft und Burgfriedenspolitik zu brechen, Streiks wie bei Voith oder Aktionen im Pflegebereich zu unterstützen und Verbindungen aufzubauen.

Forderungen

Auch wenn sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen in den verschiedenen Ländern und Regionen sehr unterschiedlich darstellen, so gibt es doch einige gemeinsame Punkte, die für eine internationale Bewegung von großer Bedeutung sind:

Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!

Dies beinhaltet auch Forderungen wie jene nach einem Mindestlohn oder nach Abschaffung aller Formen informeller, prekärer Arbeit durch tarifliche Löhne und Gehälter, verknüpft mit der nach Kontrolle dieser Maßnahmen durch Komitees der ArbeiterInnenklasse, insbesondere der Lohnarbeiterinnen.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Diese muss das Recht auf Empfängnisverhütung, die kostenlose, sichere und frei zugängliche Abtreibung einhalten. Sie inkludiert auch den Schutz vor häuslicher Gewalt, Scheidungsrecht, rechtliche Gleichheit, den massiven Ausbau von Schutzräumen wie Frauenhäusern sowie den Aufbau von Selbstverteidigungskomitees gegen Gewalt und Übergriffe, die von der ArbeiterInnenbewegung unterstützt werden.

Kampf gegen Entlassungen, Einbeziehung in das Berufsleben!

Der Kampf gegen Entlassungen muss sich auch gegen die von Frauen richten. Alle rechtlichen Benachteiligungen, alle Formen von Sexismus und Diskriminierung im Berufsleben müssen offensiv bekämpft werden. Der Kampf gegen Entlassungen muss mit dem für eine massive Verkürzung der Arbeitszeit verbunden werden, so dass die Arbeit unter alle, Männer wie Frauen, aufgeteilt werden kann.

Nein zu Sozialabbau und Privatisierung – Vergesellschaftung der Hausarbeit!

Statt weiterer Kürzungen müssen wir für den Ausbau von Schulen, Bildungseinrichtungen, öffentlichen Krankenhäusern, Kultureinrichtungen usw. unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse eintreten. Dieser ist absolut notwendig, um dem weiteren Rollback und der Zunahme privater Hausarbeit entgegenzutreten. Letztlich besteht die Aufgabe darin, die gesamte Hausarbeit zu vergesellschaften, so dass lebenswichtige Aufgaben wie Kindererziehung und Sorge um Alte und Kranke nicht mehr individuelle Last von Frauen bleiben, sondern kollektiv angepackt werden.

Gegen Sexismus und Chauvinismus!

Beim Aufbau einer Anti-Krisenbewegung müssen Frauen und ihre Forderungen eine Schlüsselrolle einnehmen. Doch ihre Unterdrückung in der Gesellschaft findet nur allzu oft ihre Fortsetzung in der reformistischen und bürokratisierten ArbeiterInnenbewegung. Daher ist es notwendig, dass sie sich gegen alle Formen des Sexismus und Chauvinismus in unserer Klasse auch organisiert zur Wehr setzen können und sie wie alle anderen sozial Unterdrückten in Parteien oder Gewerkschaften das Recht auf eigene Treffen (Caususes) haben. Dieses stellt für den gemeinsamen Kampf von Männern und Frauen der ArbeiterInnenklasse kein Hindernis, sondern vielmehr eine Voraussetzung zu einem wirklichen, gemeinsamen Kampf gegen Frauenunterdrückung und Kapitalismus dar.




Pro Choice: Für die Selbstbestimmung über den eigenen Körper!

Leila Chang, Revolution Deutschland, Fight, Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 8, März 2020

In den letzten Jahren gab es immer wieder massive Angriffe
auf Abtreibungsrechte von Frauen. Hinzu kommen die Verabschiedungen harter
Abtreibungsgesetze, die jahrelang erkämpfte Reformen rückgängig machten. Ein
Beispiel dafür ist der am 15. Mai 2019 beschlossene „Human Life Protection Act“
des US-amerikanischen Bundesstaates Alabama. Auch wenn diese
Einzelstaatenregelung durch Bundesgesetz gebrochen werden kann, verkörpert sie
doch Druck auf jene. Bei diesem Antiabtreibungsgesetz handelt es sich um eines
der härtesten weltweit. So soll eine Frau nur noch bei eigener Lebensgefahr
abtreiben dürfen. „Strafbar wären demnach auch Abtreibungen nach Vergewaltigung
oder Inzest.“ (siehe Tagesschau, 29.10.2019) Ein Arzt oder eine Ärztin, die
solch einen Eingriff durchführt, könnte demnach bis zu 99 Jahre Gefängnisstrafe
bekommen. Nach internationalem Protest wurde dieses Gesetz zwar Ende Oktober
vom obersten US-Gerichtshof gestoppt. Dennoch zeigt es, in welchem Ausmaß die
Angriffe auf körperliche Selbstbestimmung und Frauenrechte in unserer
kapitalistischen Weltordnung stattfinden. Doch warum ist das so?

Ursachen

Hier spielen mehrere Faktoren zusammen. Der Kapitalismus
profitiert von sozialen Unterdrückungen. Zum einen spaltet er die
Arbeiter_Innenklasse beispielsweise nach Geschlechtern, Nationen, Sexualität
oder Alter. Das verringert den Zusammenhalt innerhalb der Klasse. Zum anderen
gewinnen die Kapitalist_Innen dadurch Profite. Zudem festigen sie
beispielsweise die bürgerliche Familie.

Diese ist für die herrschende Klasse wichtig, weil sie die
Vererbung ideologisch stützt. Große Mengen an Geld, Besitz an Produktionsmitteln
und zusätzliches Kapital (z. B. in Form von Aktien) werden stets an die
Kinder vererbt, um das Geld „in der Familie“ zu behalten, so ähnlich wie
Adelstitel in der Zeit der Feudalherrschaft vererbt wurden. Der Fortbestand
dieser ist also in ihrem Interesse, auch wenn Frauen in privilegierten
Positionen oftmals die Möglichkeit haben, sich „freizukaufen“.

Das hat aber auch Auswirkungen auf die Arbeiter_Innenklasse.
In der Regel hat diese wenig zu vererben. Hier greift aber das Interesse der
Kapitalist_Innen an immer mehr Nachwuchsarbeitskräften, die für sie arbeiten.
Gleichzeitig festigen solche rückschrittlichen Verbote auch die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in der Familie. Denn mit ihr gehen auch
repressive Sexualmoral, Geschlechternormen, Einschränkungen der Kontrolle über
den eigenen Körper, Zwangsgeburten von Kindern usw. einher. Kurz gesagt: Die
repressiven frauenfeindlichen Strukturen werden so auch in der
ArbeiterInnenklasse reproduziert.

Privatisierung der Reproduktion

Ebenso entscheidend ist die Verlagerung der Reproduktion in
die individuelle Familie. So konnten in imperialistischen Kernländern einige
Liberalisierungen durchgeführt werden. Mit der Notwendigkeit, höher
qualifizierte Arbeitskräfte auszubilden und in den Produktionsprozess
einzubinden, sowie Durchsetzung von Sozialversicherungsrentensystemen stützt
sich das Überleben im Alter in der Arbeiter_Innenschaft immer weniger auf
eigene Kinder. Bildungsreformen und Integration von Frauen in Fabrik und Büro
gingen damit Hand in Hand. Deswegen konnten hier Lockerungen erzielt werden,
auch wenn es aufgrund der sinkenden Geburtenrate wie in Deutschland in Ordnung
ist, ein Abtreibungsgesetz aus dem Dritten Reich zu behalten- wenn auch ein
modifiziertes.

Im Kontrast dazu stehen die Verhältnisse in Halbkolonien und
Schwellenländern. Dort sind die eigenen Kinder meist „die“ Rentenversicherung
schlechthin. Kein Wunder, dass Abtreibungsverbote hier viel schärfer ausfallen.

Es geht also beim Antiabtreibungsmythos nicht um das Wohl
ungeborener Kinder. Sondern vielmehr um den Erhalt einer patriarchalischen,
Jahrtausende alten Gesellschaftsordnung mit dem Ziel, viele billige
Arbeitskräfte für die Zukunft zu schaffen, Kapital innerhalb der
kapitalistischen Familie zu vererben und Kosten bei der Reproduktion insgesamt
zu sparen. So ist es kein Zufall dass in Zeiten der Krise, wo versucht wird,
viele der Kosten auf die Arbeiter_Innenklasse auszulagern, sich die Angriffe
auf Abtreibungsrechte verstärken. Vor allem Rechtspopulist_Innen und religiöse
Fundamentalist_Innen nutzen diese auch, um die Rolle der bürgerlichen Familie,
die wichtig für sie ist, zu stärken.

Protestbewegungen gegen diese Angriffe

Auf der ganzen Welt gibt es heutzutage feministische
Organisationen und Demonstrationen. Die Bewegung der jährlichen „Marches of
Choice“ ist dafür nur ein Beispiel. Diese bekämpfte das rückschrittliche
Abtreibungsgesetz in Irland, welches das strengste Europas war. Selbst nach
Vergewaltigungen, Inzest oder bei einem kranken Fötus waren
Schwangerschaftsabbrüche strafbar. Als Folge mussten jedes Jahr tausende Frauen
nach Großbritannien reisen, um Abtreibungen durchführen zu lassen. 2012
verstarb dann die 31-jährige Savita Halappanavar an den Folgen einer zu spät
vorgenommenen Abtreibung, die eine Blutvergiftung zur Folge hatte. Ihr war die
Abtreibung trotz ärztlicher Empfehlung verweigert worden. So wurde 2014
eingeführt, dass Schwangerschaftsabbrüche bei der Gefahr des Lebens einer Frau
durchgeführt werden durften. Weitere Proteste erzwangen ein Referendum. Nach
dessen Erfolg und einer Volksabstimmung, die mehrheitlich für ein neues
Abtreibungsgesetz stimmte, akzeptierte das irische Parlament 2018 ein Gesetz,
das legale Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche und bei bestimmten
medizinischen Gründen auch später ermöglicht.

Ein weiteres Beispiel ist die deutsche Bewegung gegen die
Paragraphen 218 und 219, die aus dem Dritten Reich stammen. Zuerst einmal
scheint es fortschrittlich, dass Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche,
unter bestimmten Umständen auch länger, erlaubt sind. Doch es ist nicht so
einfach. Schwangerschaftsabbrüche sind nur unter bestimmten Bedingungen
straffrei. Zudem gibt es nicht überall flächendeckende
Abtreibungseinrichtungen, v. a. im ländlichen Raum. Kirchliche Träger
verweigern den Eingriff und Abtreibungen sind nicht fester Bestandteil der
Arztausbildung. Auch ist es in Deutschland für Ärzte/Ärztinnen verboten,
offizielle Informationen darüber online zu stellen, weil es als „Werbung“ gilt.
Ebenso ist gesetzlich festgeschrieben, dass Frauen vorher ein ärztliches
Gespräch führen müssen mit dem Hintersinn, die Abtreibung nicht durchführen zu
lassen. Gegen diese Einschränkungen gibt es seit Jahren Demonstrationen. Im
Februar 2018 war es schließlich so weit, dass mehrere Gesetzesentwürfe zur
Aufhebung der Artikel entstanden. Jedoch wurden sie allesamt von der Großen
Koalition trotz Versprechen der SPD abgelehnt. Tausende Frauen beteiligen sich
in den letzten Jahren an den Demonstrationen, auch wenn bisher keine
Veränderung erreicht wurde.

Beide Beispiele stehen hier nur stellvertretend für hunderte
von anderen Frauenbewegungen weltweit. Ob Polen, Spanien, Argentinen: der Kampf
um die Selbstbestimmung über den eigenen Körper ist allgegenwärtig. Trotzdem wurden
bisher nur eingeschränkte, regionale Erfolge erreicht. Deswegen müssen wir uns
fragen, wie wir erfolgreich für das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen
Körper kämpfen können.

Arbeiter_Inneneinheitsfront für freie Abtreibung

Statt nur auf Angriffe zu reagieren, müssen wir selbst
Verbesserungen erkämpfen. Deswegen muss der Kampf für das Recht auf
Selbstbestimmung über den eigenen Körper damit verbunden werden, dass wir für
kostenlose Abtreibungen und Verhütungsmittel eintreten oder, dort wo nicht vorhanden,
für staatliche Krankenversicherungen. Um das zu erreichen müssen wir die
Organisationen der Arbeiter_Innenklasse klar auffordern für diese Kampagne
einzutreten und zu mobilisieren.

Gewerkschaften beispielsweise waren für die
Arbeiter_Innenklasse schon seit Beginn des Klassenkampfes eine Möglichkeit,
sich zu organisieren und für ihre Rechte einzutreten. Mit Streik als Mittel
können sie ökonomischen und politischen Druck aufbauen. Ein erster Schritt
dahin wäre beispielsweise: Die Betriebsräte könnten dazu Betriebsversammlungen
einberufen, wo diese Frage diskutiert wird. Im Rahmen von Aktionstagen und für
die Durchführung eines politischen Streiks gegen die Gesetze wäre es wichtig,
Streik- und/oder Aktionskomitees zu gründen, die vor Ort mobilisieren.

Ebenso können Gewerkschaften internationale Kooperation
gewährleisten, z. B. von zentralen, internationalen Aktionstagen zum Thema
Abtreibungsrechte. Dies ist wichtig, um die unterschiedlichen Protestbewegungen
international zu koordinieren. Schließlich existiert die Unterdrückung nicht
nur in einem Land und zusammen können wir mehr Druck aufbauen. Trotzdem bringen
Gewerkschaften auch einige Probleme mit sich. Gerade in Berufen, die
Dienstleistungen anbieten und oft verstärkt durch Frauen besetzt werden, organisieren
sich nur wenige Arbeiter_Innen darin. Ebenso existiert eine
Gewerkschaftsbürokratie, deren Interesse eher der Erhalt der eigenen Stellung
ist, als Fortschritte für die gesamte Klasse zu erkämpfen. Deswegen beschränken
sie sich eher darauf, ihren Frieden mit dem jetzigen System zu machen und sich
auf das Feilschen um Lohn und Arbeitsbedingungen zu reduzieren. Revolutionäre
Kommunist_Innen müssen sich darum für eine klassenkämpferische,
antibürokratische Basisbewegung einsetzen, die der bürokratischen Spitze die
Gewerkschaften entreißt, um sie zu einem Glied in den Reihen des Kampfes für
den Sozialismus umzugestalten.

Daher fordern wir national und international:

  • Hände weg von unseren Körpern! Raus mit der Kirche und anderen Religionen aus Gesundheitssystem und Gesetzgebung! Für Abschaffung aller Abtreibungsparagraphen sowie der Beratungspflicht!
  • Für den flächendeckenden Ausbau an Beratungs- und Behandlungsstellen! Vollständige Übernahme der Kosten für eine Abtreibung, egal in welchem Monat, und aller Kosten für Verhütungsmittel durch den Staat!
  • Für die Abschaffung von Fristen, bis zu denen abgetrieben werden darf! Für die ärztliche Entscheidungsfreiheit, lebensfähige Kinder zu entbinden!
  • Gegen leibliche Zwangselternschaft für so geborene Kinder! Der Staat soll für sie aufkommen und sich um sie kümmern bzw. zur Adoption freigeben! Adoptionsvorrang für leibliche/n Vater und/oder Mutter, falls sie das Kind später großziehen wollen und dieses zustimmt!
  • Für den Ausbau von Schutzräumen für Opfer sexueller Gewalt, Schwangere und junge Mütter!