Care-Arbeit und ihre TheoretikerInnen

Jürgen Roth, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Im Folgenden setzen wir uns mit dem Begriff der Care-Arbeit auseinander. Wir untersuchen ihren Wandel seit den 1970er Jahren, seine Ursachen und Auswirkungen auf ihre bezahlten Formen wie auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familien. Wir versuchen zu erklären, worin die Lohndifferenz zwischen Frau und Mann begründet liegt, und untersuchen das Programm der sog. Care Revolution.

Die Kritik sozialistischer Feministinnen am Care-Begriff führt uns zur Frage, ob sie das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Hausarbeit richtig einordnen und was sie mit anderen Strömungen des Feminismus verbindet. Wir versuchen nachzuweisen, dass die gesamte feministische Richtung im Unterschied zum Marxismus ein falsches, dualistisches Verständnis eint: Frauenunterdrückung und Klassengesellschaft werden als zwei verschiedene Verhältnisse betrachtet, die sich zwar gegenseitig durchkreuzen, letztlich jedoch eigene Ursachen haben und sich als voneinander geschiedene Widersprüche entwickeln. Schließlich werden wir auf die zentrale Bedeutung der Sozialisierung der Haus- und Reproduktionsarbeit für jedes Programm der Frauenbefreiung zurückkommen.

Zum Begriff der Care-Arbeit

Unter den Begriff Care-Arbeit fallen alle Tätigkeiten der Pflege, Erziehung und Bildung und Hausarbeit. Wo sie Erwerbsarbeit ist, wäre sie allgemein zu unterteilen in verschiedene Formen der Lohnarbeit (ungeschützte prekäre wie tariflich abgesicherte Voll- und Teilzeitarbeit) sowie selbstständige Arbeit (wie z. B. ganz allgemein in Kleingewerbe, KleinbäuerInnenschaft). Care-Erwerbsarbeit findet in staatlichen, kirchlichen und frei-gemeinnützigen sowie privaten Einrichtungen statt. Zu ihren unbezahlten Formen zählen z. B. Haus- und Sorgearbeit wie Erziehung, Pflege, Subsistenzarbeit, ehrenamtliche Arbeit. Sie findet in Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich, in Wohlfahrtsorganisationen, Vereinen und Verbänden, sog. Alternativprojekten sowie in Familien oder Lebensgemeinschaften zuhause statt.

Betont der Begriff Reproduktionsarbeit im marxistischen Sinn die Bedeutung der Haus- und Sorgearbeit in der LohnarbeiterInnenfamilie für das kapitalistische Prinzip der Profitmaximierung, richtet der seit den 1980er Jahren aufkommende Begriff Care-Arbeit den Blick sowohl auf die Gesamtheit der familiären Sorgearbeit als auch auf Erziehung und Pflege in Institutionen wie Kindergärten, Schulen, Altersheimen und Krankenhäusern.

Teiltransformation im Geschlechterverhältnis bei LohnarbeiterInnenfamilien

Die Entwicklung des Kapitalismus ging von Anbeginn mit einer zwiespältigen Dynamik der Einbeziehung proletarischer Frauen in die Lohnarbeit und einer gleichzeitigen Fixierung auf ihre Rolle als Hausfrau einher. So war die Entstehung des Fabriksystems nicht nur durch die extreme Ausbeutung männlicher Arbeitskraft, sondern auch durch eine Ausdehnung der Frauen- und Kinderarbeit geprägt. Die materielle Basis für die Reproduktion der Familie war in der Entstehungsphase der „großen Industrie“ kaum vorhanden. Diese änderte sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts infolge des Widerstandes und der Organisierung der ArbeiterInnenklasse. Zugleich wurde damit auch die Basis für die Etablierung und Reproduktion der bürgerlichen Kleinfamilie im Proletariat selbst geschaffen – einschließlich deren Idealisierung und Ideologisierung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, im sog. „langen Boom“, wächst nicht nur die ArbeiterInnenklasse selbst massiv, sondern auch die Anzahl der lohnabhängigen Frauen. Ende der 60er Jahre/Anfang der 70 Jahre war in der BRD etwa ein Drittel aller lohnabhängig Beschäftigten weiblich (rund 10 Millionen).

Die für die erste Phase des „Wirtschaftswunders“ typische Konstellation aus männlichem Lohnarbeiter/-angestellten und proletarischer „Nur“hausfrau wich schon in den 60er Jahren zunehmend dem „DoppelverdienerInnenhaushalt“, auch wenn erstere mit aller Vehemenz zum „Normalfall“ erklärt wurde. In den 70er und 80er Jahren stieg die weibliche Beschäftigung weiter. Die lohnabhängigen Frauen wurden mit der krisenhaften Entwicklung der 70er Jahre und mit dem Neoliberalismus nicht in die Rolle der „Nur“-Hausfrau zurückgedrängt, sondern vielmehr in die Doppellast aus mehr Hausarbeit und prekärer Beschäftigung.

Die Nachkriegsperiode beschleunigter Akkumulation geriet an ihr Ende und machte Platz für eine seither chronische, mehr oder weniger latente strukturelle Überakkumulationskrise. Darin liegt auch die entscheidende Ursache für eine Veränderung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung.

Die Feministin Silke Chorus hingegen sieht den Einzug der Frauen in die Erwerbsarbeit als direkte Folge von Teil-Transformationen im Geschlechterverhältnis (Care-Seiten in der politischen Ökonomie, in: DAS ARGUMENT 292, 53. Jg., Heft 3/2011, S. 396). Umgekehrt wird jedoch ein Schuh draus: Massenarbeitslosigkeit und sinkende Reallöhne führten dazu. Der Lohn des Proletariers deckte immer weniger die „historisch-moralische“ (Marx) Familienkomponente ab.

Da der Care-Bereich einer anderen Zeitökonomie als die Industrie unterliegt und aufgrund o. a. Besonderheiten weniger mittels Ersatz lebendiger Arbeitskraft durch konstantes Kapital (Maschinen) durchrationalisiert werden kann, folgt daraus zweierlei: erstens ein immer weiteres Auseinanderklaffen der Arbeitsproduktivitäten in beiden Sektoren, zweitens Rationalisierung in der Pflege durch steigende Arbeitsintensität, vermehrte Ausbeutung der Beschäftigten unter Einsatz von Akkordsystemen (Taylorismus): Minutentakte waren die Konsequenz aus Privatisierung und Einführung marktwirtschaftlicher Rentabilitätskriterien in öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen (Fallpauschalen, DRGs).

Sozialtransfers (Pflegekassen) erleichterten das Aufblühen eines gewaltigen Pflegedienstleistungsmarkts. Öffentliche Gelder wurden in den Bereich geschaufelt, um ihn flottzumachen. Niedriglöhne, Qualitätsverlust und/oder Preissteigerung sind unter diesen Bedingungen der Produktion für Profit strukturelle Merkmale von Care-Dienstleistungen. Staatliche soziale Sparpolitik ist im „Postfordismus“ ebenso ein strukturelles Gebot, um dem Fall der Profitraten entgegenzuwirken (Reallohnsenkung in Form der indirekten Löhne, Sozialleistungskürzungen), was wiederum zur Verlagerung von Sorgearbeit auf die Familien führt, also unbezahlt von Frauen verrichtete. Das Los der modernen Proletarierin: neben Erwerbstätigkeit in prekärem Job zu Niedriglohn und mit wachsendem Stress bekommt sie zum Dank auch wieder vermehrt die Sorge für die Familienangehörigen aufs Auge gedrückt. Sie muss zu einer Arbeitszeitmanagerin werden, um die zahlreichen Termine und Pflichten unter einen Hut zu kriegen: Als „19th nervous breakdown“ besangen die Rolling Stones dieses Syndrom.

Moderne Reproduktionsmodelle

Die Auswirkungen der kapitalistischen Strukturkrise seit den 1970er Jahren auf die Lohnarbeit von Frauen und Leistungen des „Sozialstaats“ finden ihr Pendant in Veränderungen innerhalb proletarischer Kleinfamilienhaushalte, der sog. Reproduktionsmodelle.

Die Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker unterscheidet deren vier. (http://www.denknetz-online.ch/IMG/pdf/Winker_Krise_sozialer_Reproduktion.pdf) Sie erweitert damit ihr eigenes aus: „Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive“. (DAS ARGUMENT 292, S. 339 f.) Im Folgenden wollen wir die vier Modelle kurz skizzieren:

1. „Ökonomisiertes Reproduktionsmodell“

Dieses können sich nur wenige finanziell bessergestellte Erwerbstätige leisten: Meist hochqualifiziert und karriereorientiert, sind beide voll berufstätig, verzichten häufig auf Kinder und vermindern ihre Doppelbelastung durch Care-DienstbotInnen. Dies sind oft Migrantinnen, die zu Niedriglöhnen ohne Sozialversicherung arbeiten gehen. Ihre Niedriglöhne liegen noch unter denen o. a. erwerbstätiger Pflegekräfte in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten.

In deutschen Privathaushalten arbeiten 150.000 – 300.000 Frauen aus Osteuropa allein als Pflegekräfte. Die divergierenden Zahlen ergeben sich aus mehreren Quellen (Gewerbeanmeldungen, Steuererklärungen der sie anstellenden Haushalte). Laut Schätzung des polnischen Arbeitsamts sind 94 % der Betroffenen „illegal“ tätig. Sie zu organisieren, ist so gut wie unmöglich. Kontakt zu ihnen erfolgt oft nur über Beratungsstellen. Seit in Deutschland der Mindestlohn eingeführt wurde (2015), werden immer weniger Arbeit„nehmer“innen vermittelt, dafür mehr (Schein-)Selbstständige. Die Kriterien für eine Selbstständigkeit sind in Privathaushalten aber kaum zu erfüllen, angefangen bei der eigenen Zeiteinteilung. Doch die Hartz-Gesetze machen’s möglich – und die Pflegeversicherungen spielen mit. Das Pflegegeld für Angehörige liegt unter dem Existenzminimum, eine ambulante Vollversorgung bleibt auch für mittelständische Familien unbezahlbar. Diese Lücke schließt die Pflegeversicherung auf Kosten ausländischer Haushaltshilfen. Die im vorigen Abschnitt beschriebene Care-Lohnlücke wird in ihrem fall nach unten getoppt. Trifft diese „einheimische“, v. a. weibliche Arbeitskraft, schon heftig genug, richtet das rassistisch wirkende Wertgesetz auf dem Weltmarkt noch verheerenden Schaden an: ProletarierInnen aller Länder, vereinigt Euch – jetzt erst recht!

2. Paarzentriertes Reproduktionsmodell

Es umfasst ein männliches Normalarbeitsverhältnis, die 2. Person, meist eine Frau, geht einer Teilzeitbeschäftigung nach. Care-Arbeit wird nur für bestimmte Aufgaben und/oder vorübergehend an Hausangestellte vergeben, ihr Großteil aber primär von Frauen in Doppelbelastung erbracht. Dieses Modell ist verbreitet, da mit steigender Frauenerwerbstätigkeit nicht Normalarbeitsverhältnisse, sondern Teilzeit- und Minijobs zunahmen, unterscheidet es sich von der „fordistischen“ Kleinfamilie dadurch, dass die Absicherung bei Arbeitsplatzverlust, Scheidung und Krankheit schlechter ausfällt.

3. Prekäres Reproduktionsmodell

Zumindest eine Haushaltsperson ist nicht in der Lage, sich über Erwerbsarbeit eine Existenz sichernde Perspektive zu verschaffen, bleibt von einem Haupternährer abhängig, der allerdings ebenfalls keine Familie mit Kindern auf einem durchschnittlichen Lebensstandard unterhalten kann. Sorge- und Pflegearbeit kann nicht an bezahlte Dritte weitergegeben werden. Hier ist die Doppelbelastung enorm, weil meist die Frau die volle unbezahlte Reproduktionslast trägt und über prekäre Beschäftigung möglichst viel zum Familieneinkommen beizutragen versucht.

4. Subsistenz orientiertes Reproduktionsmodell

Hier finden sich jene wieder, die auf Grundsicherung angewiesen sind, weil sie wegen Reproduktionsverpflichtungen oder ihrer nicht nachgefragten Qualifikationen ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können.

Ungleicher Zugang zur Erwerbssphäre führt überwiegend zu nahezu unveränderter häuslicher Arbeitsteilung gegenüber der klassischen Lohnarbeitskleinfamilie, jedoch vermehrter Doppeltätigkeit. Das Ausmaß der häuslichen Pflichten hat zudem Auswirkungen auf die Chance, die eigene Arbeitskraft überhaupt verkaufen zu können. Dies ist die moderne doppelte Reproduktionsfalle für Frauen.

Die staatlichen Unterstützungsmaßnahmen fördern jedoch vorrangig die Frauenerwerbsquote und die Geburtenrate v. a. bei Frauen aus der 1. Gruppe. Gut verdienende Eltern können für 12-14 Monate monatlich bis zu 1800 Euro Elterngeld kassieren, Hartz IV-EmpfängerInnen gehen leer aus. Das 2005 in Kraft getretene Tagesbetreuungsausbaugesetz sah bis August 2013 für ein Drittel der Kinder bis zum Alter von 3 Jahren einen Betreuungsplatz vor. Vorrang haben jedoch berufstätige Eltern. Das Kindeswohl spielt keine Rolle. Die seit 2009 gültige Unterhaltsreform forciert die Erwerbspflicht für Mütter von Kindern unter 3 Jahren nach einer Scheidung, alle unterhaltspflichtigen Kinder erhalten Vorrang vor dem Unterhalt für den/die PartnerIn. Das Steuerrecht diskriminiert geschiedene UnterhaltszahlerInnen zusätzlich.

Die Umverteilungsmaßnahmen der neoliberalen Wirtschaftspolitik bewirkten einen wachsenden Überschuss an Anlagemöglichkeiten suchendem Kapital, die es in der Produktionssphäre immer weniger findet (Fall der Profitrate). Staatliche Interventionen zur Absicherung des Finanz- und Währungssektors, um die Entwertung des zunehmend spekulativ dort angelegten Kapitals zu vermeiden, führten zu weiterer Staatsverschuldung und größerem Druck auf staatliche Sozialleistungen. In der BRD, die einen Teil ihrer Überakkumulation durch Handelsüberschüsse auf andere Länder überträgt, schlug die Finanzkrise hohe Wellen der Aufmerksamkeit – die soziale Reproduktionskrise im Land des Exportweltmeisters erntet nur Schweigen.

Lohnunterschiede nach Geschlechtern (Gender Pay Gap, GPG)

Unser Zwischenresümee aus dem bisher Gesagten lautet: die geschlechtliche Arbeitsteilung, die sich mit Entstehung von Klassen und Staaten zu einer bis zu deren Aufhebung nicht mehr umkehrbaren Unterdrückerrolle der Männer entwickelt hat, führt unter kapitalistischer Herrschaft zur relativen Entwertung der Frauenarbeit. So kassiert der Proletarier den Familienlohn, die weibliche Hausarbeit ist unbezahlt. Vermehrte weibliche Lohnarbeit ändert nichts am Verhältnis, außer dass der Mann jetzt keinen Familienlohn mehr heimbringt. Das Wertgesetz unterm Kapitalismus führt im Care-Bereich, wo überwiegend Frauen arbeiten, zu strukturellen Niedriglöhnen. Doch der Gender Pay Gap (GPG), die Lohndifferenz zwischen Frau und Mann, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen und betrifft keinesfalls nur diesen. Der unbereinigte GPG, die geschlechtsspezifische Lohnlücke, der prozentuale Unterschied zwischen den durchschnittlichen Bruttostundenverdiensten betrug in der BRD 2015 21 % (Frauen: 16,20 Euro, Männer: 20,59 Euro). Der bereinigte GPG betrug immerhin noch 7 %. Er rechnet den Faktor heraus, dass Frauen und Männer in unterschiedlich bezahlten Branchen tätig sind und bezieht sich auf vergleichbare Qualifikationen, Tätigkeiten und Erwerbsbiographien.

Die Gender Pension Gap (Rentenunterschiede), die geschlechtsspezifische Differenz bei den Altersbezügen, liegt laut Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichem Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) bei 53 %. Sie ist in Westdeutschland größer als im Osten. Berufstätige Frauen nehmen häufiger Auszeiten für die Kindererziehung oder Pflege von Angehörigen, arbeiten öfter in Teilzeit und werden im Schnitt schlechter bezahlt. Ausgleichsmechanismen in der gesetzlichen Rentenversicherung wie Anerkennung von Kindererziehungszeiten mildern diese Kluft etwas. Leistungen aus der privaten Altersvorsorge kassieren nur 2 % der Frauen (Männer: 5 %). Bei der betrieblichen Altersversorgung in der Privatwirtschaft liegen Frauen 60 % hinter den Männern zurück. Nur 7 % der Rentnerinnen haben hier überhaupt eigene Ansprüche. (VER.DI PUBLIK 1/2018, S. 10)

Gründe für den PGP sind: unterschiedliche Berufswahl; Frauen unterbrechen ihre Erwerbstätigkeit familienbedingt häufiger und länger als Männer; der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt ist ein schwieriger Prozess; Frauen fehlen auf den höheren Stufen der Karriereleiter; geschlechtertypische Rollenbilder; individuelle, aber auch kollektive Lohnverhandlungen haben die traditionell schlechtere Bewertung typischer Frauenberufe bislang nicht nachhaltig überwinden können; Einfluss von Existenz und Höhe gesetzlicher Mindestlöhne; berufliche Bewertungs- und Klassifizierungssysteme; Unternehmensstrategien wie die immer weiter zunehmende Individualisierung von Entgeltbestandteilen. (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Fact Sheet: Der Gender Pay Gap und die Ursachen, 8.6.2016; DGB-Bundesfrauenausschussbeschluss, Positionspapier zur Entgeltdifferenz zwischen Frauen und Männern – Gender Pay Gap, 17.4.2008)

Programm der Care Revolution

Aus der Care-Debatte heraus entwickelte sich die Bewegung für eine Care Revolution. Gabriele Winker (Zur Krise sozialer Reproduktion…, a. a. O.) fordert: drastische Erwerbsarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, Ergänzung der freiwillig geleisteten individuellen Reproduktionsarbeit mit einem deutlich ausgebauten Netz staatlich bzw. genossenschaftlich angebotener Dienstleistungen, höhere Entlohnung von Care-Diensten.

Die Aktionskonferenz Care Revolution vom 14.-16. März 2014 beschloss: Her mit dem guten Leben! Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der Fürsorglichkeit absichern! Zeit gewinnen! Wohnen ist Menschenrecht! Bildung ist ein Recht für alle Menschen – Bildung demokratisieren! Das gemeinsame Öffentliche stärken!

Diese Forderungen können wir in der Stoßrichtung allesamt unterstützen – jedoch nicht in allen Formulierungen. „Wohnen ist Menschenrecht“? Die Resolution verklärt die Wirklichkeit gleich doppelt: die bürgerlichen Grundrechte stellen sich selbst gern als Menschenrechte dar, waren aber in der Geschichte mit der US-Südstaatensklaverei vereinbar. Außerdem: das Recht kann nie höher als die Gesellschaftsordnung stehen, es ist nicht un-/übergeschichtlich. Im Kapitalismus kann das „Recht auf Wohnen“ nur heißen, eine kaufen oder mieten zu dürfen, kann das „Recht auf Arbeit“ nur darin bestehen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, von dem/r TellerwäscherIn zum/r MillionärIn werden zu dürfen. Wenn Winker schreibt: „…für einen grundlegenden Perspektivenwechsel…Dabei geht es um nicht weniger als die Forderung, dass nicht Profitmaximierung, sondern die Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen im Zentrum politischen Handelns stehen sollte“, so ist das allerdings eine revolutionäre Absichtserklärung. Doch weil sie gleichzeitig darüber schweigt, ob das System der Profitmaximierung namens Kapitalismus abgeschafft gehört und erst recht, wie das geschehen kann, ist das letztlich eine Vertröstung, nicht auf das Jenseits, sondern auf die zukünftige hoffentlich offenbarte Weisheit akademischer Care-Debatten. Das Programm ist Care-Reformismus, nicht Care-Revolution.

Von Abschaffung des Kapitalismus, von revolutionärer Zerschlagung der alten Staatsmacht, von Doppelmachtorganen, Aufbau kommunistischer Parteien, Diktatur des Proletariats – kurz, von all dem, was eine wirkliche Revolution ausmacht, schweigt unsere Theoretikerin, schweigt die Konferenz. Nicht einmal das Subjekt revolutionärer Umwälzung, die ArbeiterInnenklasse in all ihren Facetten, wird beim Namen genannt. Sollen es diffuse Vernetzungen, Workshops, wortreiche Resolutionen, schlaue Gender-Forschung ersetzen? Da, wo es wirklich um elementare Elemente von Arbeitsbedingungen im Care-Sektor geht wie z. B. der Tarifkampagne Entlastung, überlässt das Netzwerk Care Revolution der ver.di-Bürokratie das Heft des Handelns – kein Wort der Kritik wie in den diesbezüglichen Artikeln dieser Frauenzeitung, wenn überhaupt eines!

Streit um den Care-Begriff

Auch verschiedene sog. sozialistische FeministInnen beteiligten sich an der Care-Debatte.

Ihre wohl bekannteste im deutschsprachigen Raum, Frigga Haug, sieht nicht ein, warum der Begriff der individuellen Reproduktion zugunsten von Care aufgegeben werden soll. Sie sieht im Einsatz dieses Wortes einen Schmelztiegel ganz unterschiedlicher Bedeutungen und in der Preisgabe formanalytischer Unterscheidungen zwischen bezahlter/unbezahlter, öffentlicher/privater Arbeit ein Untergehen der kapitalismuskritischen (Eingebundenheit der Dienstleistungen in Tauschbeziehungen) und der persönlichen Dienstbarkeit (Patriarchatskritik). (Das Care-Syndrom, in: DAS ARGUMENT 292, S. 358, 362)

Anna Hartmann wittert einen Zusammenhang zwischen aufkommender Care-Debatte, Verwischung des individuellen Reproduktionsbegriffs und neoliberalem Arbeitsmarkt: Die Gleichstellungspolitik mit ihrem spezifischen Gender-Verständnis trage dazu bei, indem sie v. a. eine formal-rechtliche Gleichstellung insbesondere eine Angleichung der weiblichen an die männliche Erwerbsquote meine. Damit werde Geschlechterungleichheit ihrer strukturellen Ursachen enthoben und erschiene als falsches, antiquiertes Rollenverständnis. (Wo bleibt die Hausarbeit?, a. a. O., S. 405)

Stephanie Heck: „Auf der einen Seite soll mit Fürsorge und der besonderen Lage von bezahlter Care-Arbeit das sichtbar gemacht werden, was mit dem frühen Reproduktionsbegriff nicht erfasst worden ist. Andererseits darf aber der Funktionszusammenhang von Care-Arbeit mit den Produktionsverhältnissen in der Analyse nicht fehlen, wenn deutlich gemacht werden soll, welche Bedeutung diese Arbeit für die gesamtgesellschaftliche Reproduktion hat und ihre unzureichenden Bedingungen kritisiert werden sollen.“ (Von „Reproduktion“ zu „Care“, a. a. O., S. 411)

Almut Bachinger zieht den Schluss, dass nach Auslaufen der Debatte um Anerkennung der Hausarbeit in den 1980er Jahren das dekonstruktivistische Gender-Konzept das differenztheoretische Paradigma ab den 1990er Jahren abgelöst, verdrängt habe und die Frauenbewegung und –forschung sich von ökonomischer Analyse ab- und eher Identitätsfragen zuwandte. (Lohn für Hausarbeit reloaded; http://grundrisse.net/grundrisse37/Lohn_fuer_Hausarbeit.htm)

Diese Kritiken an der Rechtsentwicklung innerhalb des Feminismus, für die das liberale Gender-Konzept steht, sind korrekt, aber unzureichend.

Frauen, Familie und Feminismus

Warum unzureichend? Ihre Beschränktheiten bestehen nicht nur in bestenfalls Indifferenz zur falschen Forderung nach Lohn für Hausarbeit, sondern im ungenügend vermittelten Zusammenhang zwischen Klassengesellschaften, Familie und Hausarbeit.

Gabriele Winker schreibt, dass Produktions- und Reproduktionssphäre strukturell verschränkt und geschlechtlich konnotiert sind. (Soziale Reproduktion in der Krise – Care Revolution als Perspektive, in: DAS ARGUMENT 292, S. 334) Das ist zwar eine korrekte Beschreibung, aber keine Erklärung. Wie verschränkt und wer oder was konnotiert, bleibt rätselhaft. Die Antwort auf diese Frage macht aber den eigentlichen Knackpunkt einer materialistischen Analyse der Care-Arbeit aus sowie eines revolutionären Programms zur Überwindung des Kapitalismus und der mit ihm (wie jeder Klassengesellschaft) untrennbar verbundenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung.

Diese Frage stellt sich auch die feministische Diskussion:

Geht es um die kapitalistische Produktionsweise, die sich geschlechterspezifische Zuschreibungen zur Steigerung von Profit zunutze macht? Oder bezeichnen asymmetrische Geschlechterverhältnisse ein Ausbeutungsverhältnis, das der kapitalistischen Aneignung menschlicher und natürlicher Ressourcen per se zugrunde liegt?“ (Ruth Kager, Arbeit ohne Wert: Hausarbeitsdebatte und Gesellschaftskritik, S. 1, 3; http://theoriebuero.org/2211/arbeit-ohne-wert-hausarbeitsdebatte-und-gesellschaftskritik/)

Aber sie beantwortet sie z.B. in der sog. Bielefelder Schule (von Werlhof, Bennholdt-Thomsen, Mies) anders als der Marxismus: „Sexismus und Rassismus werden also nicht der kapitalistischen Problematik untergeordnet, sondern umgekehrt die kapitalistische Produktionsweise als solche in ihrer sexistischen und rassistischen Dimension analysiert.“ (Ebenda)

In der Bielefelder Schule z. B. werden Männer und Frauen der sog. „Dritten Welt“ zusammen mit den Frauen der „ersten“ zum eigentlich ausgebeuteten Subjekt, „Mehrwert“ hat ihr zufolge seine Basis nicht in der Ausbeutung der Lohnarbeit, sondern der globalen Subsistenzproduktion (einschließlich der Hausarbeit).

Frigga Haug – eine sozialistische Feministin – spricht auch von den zwei grundlegenden Herrschaftsverhältnissen: Patriarchat als persönlicher Abhängigkeit von Frauen und Kapitalismus (ausbeuterische Tauschbeziehungen).

Sozialistische FeministInnen sind also auch nicht frei von einem Geschichtsbild, das dem des radikal-kleinbürgerlichen Feminismus ähnelt. Warum? Letztere setzen ein übergeschichtlich gleiches Patriarchat oder gar den „Machtwillen“ der Männer als Grund der Unterdrückung und diese als zentrales gesellschaftlichen Verhältnis. Der sozialistische Feminismus hingegen versucht mehr oder weniger eklektisch, zwei oder mehrere parallel laufende „zentrale“ Formen zu kombinieren, und setzt dabei letztlich ein Ausbeutungsverhältnis und seine grundlegende gesellschaftliche Dynamik mit einem Unterdrückungsverhältnis (Frauenunterdrückung, Rassismus) gleich.

In der „Deutschen Ideologie“, den „Feuerbachthesen“, dem „Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“, dem „Anti-Dühring“ und dem berühmten „Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie“, um nur die wichtigsten Werke zu nennen, legten Marx und Engels die Grundsteine für ihre Theorie des dialektisch-historischen Materialismus, eines Grundpfeilers des wissenschaftlichen Sozialismus.

Für MarxistInnen sind Familie, Patriarchat und Ökonomie historische Entwicklungen, die mit der Sesshaftigkeit ins Leben traten. Nachdem der Mann auch im Ackerbau „die Hosen anhatte“ (das war durchaus in dessen ersten Anfängen wie bei den Seneca-IrokesInnen nicht der Fall), herrschte er auch im Haus (altgriechisch: oikos). Daher stammt auch der Begriff Ökonomie. Familie bezeichnet die Gesamtheit alles dem Patriarchen, dem Hausvater; Ökonomiechef (fälschlich oft mit „Mann“ synonym gesetzt) untergebenen Hauswirtschaftspersonals, darunter seine Kinder und Fraue(en) sowie sonstige Angehörigen, das Gesinde oder die HaussklavInnen. Familie kommt von famulus (lat.: der Sklave). Diese wirtschaftlich-persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse umfassten also (Haus-)Sklaverei und damit die Keimzelle späterer „asiatisch“-despotischer Staats- wie antiker Kaufsklaverei, also der ersten Klassenbildungen in Gemeinschaft mit sozialer Unterdrückung der Frau und der Jugendlichen/Kinder.

Der Kapitalismus schafft den/die doppelt-freie/n LohnarbeiterIn: frei von persönlicher Unterwerfung und von Produktionsmittelbesitz. Erstmals seit Beginn der Klassenspaltung verliert das Haus (bei BürgerInnen wie ProletarierInnen) seine Rolle als Zentrum der Ökonomie, doch behält es die als Reproduktionszentrale der Arbeitskraft in der proletarischen Familie bei, was sich im Arbeitslohn als Haushaltslohn und der Hausarbeit ohne Tauschwert strukturell niederschlägt.

Der Kapitalismus überlässt sie getrost dem „Überlebenstrieb“ in den „eigenen“ vier Wänden. Sie ist Privatsache, kümmert die kapitalistischen UnternehmerInnen keinen Deut, Sie betrachten sie vielmehr wie eine „Naturbedingung“. Dieser auf die Spitze getriebene Gegensatz zwischen Produktion und Reproduktion kann erst aufgehoben werden mit der Abschaffung der Produktion für Profit, Produktion um der Produktion willen. Erst der Sturz des Kapitalismus, ureigenste geschichtliche Aufgabe der ausgebeuteten lohnarbeitenden Hauptklasse, die kein anderes gesellschaftliches Subjekt bewirken kann, schafft die Voraussetzung für eine kollektive Gesamtwirtschaft („Ökonomie“ im Wortsinn nicht mehr), die die Bedürfnisse des lebendigen Gesamtarbeitskörpers zum einzigen Zweck der Produktion geraten lässt. In einem wahrscheinlich über viele Generationen dauernden bewussten Prozess werden so auch die dem Kapitalismus, ja allen Klassengesellschaften vorhergehenden sozialen Unterdrückungsinstitutionen wie Familie abgeschafft.

Die dualistische Herangehensweise an Geschichte eint alle Strömungen des radikalen Feminismus, kleinbürgerlichen wie „sozialistischen“. Aus der Gegenüberstellung von Produktion und Reproduktion konstruiert er zwei oder mehr parallel laufende Unterdrückungs/Ausbeutungsverhältnisse. Daher erscheint ihm auch der Kampf um Frauenbefreiung als ein vom Klassenkampf getrennter, besonderer, ja wird im schlimmsten Fall diesem entgegengestellt.

Sozialisierung der Haus- und Reproduktionsarbeit

Unsere zusammenfassende Perspektive für die Probleme im Care-Sektor lautet: Sozialisierung! Sie hat erstens den Sturz des Kapitalismus zur Voraussetzung, ist also eine wirkliche Care Revolution, keine reformistische Verunstaltung dieses Begriffs. Zweitens umfasst sie aber auch die Abschaffung der Familie im Sinne ihrer allmählichen Ersetzung durch das Gesellschaftskollektiv, die freie Assoziation der ProduzentInnen zum Zweck der gesellschaftlichen Reproduktion und Sorge des menschlichen Individuums. Es reicht eben nicht, die auf Freiwilligkeit beruhende, individuell geleistete Reproduktionsarbeit zu ergänzen, sondern sie muss gänzlich als privates Residuum aufgehoben werden. Der in der bürgerlichen Produktionsweise auf die Spitze getriebene Zwiespalt zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit muss geschlossen werden. Die Familie schaffte nicht nur Unterdrückung, Versklavung, sondern auch die Segmentierung der Gesellschaft in unabhängig voneinander produzierende Produktionseinheiten (Ökonomie) und damit die Voraussetzungen für Privateigentum an Produktionsmitteln. Die Gesellschaft ist selbst nicht mehr als Ganzes Produktions- und Reproduktionseinheit wie in der Urhorde der Jäger- und SammlerInnen. Auch die proletarische Kleinfamilie ist segmentiert. Wie v. a. Frauen, Kinder, Jugendliche und Alte behandelt werden, ist nur in Extremfällen Sorge gesellschaftlicher Institutionen (Krankheit, Sucht, häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Lernschwierigkeiten…). Die Aufhebung der Segmentierung ist also mehr als die rationellere Hausarbeit im Großmaßstab, ihre Verwandlung in eine öffentliche Industrie. Sie ist ein Öffentlichwerden des Privaten.

Drittens ist die Ersetzung der Familie deshalb eine allmähliche, weil sie Elemente der Fürsorge umfasst, die bisher auf Blutsverwandtschaft und individueller Partnerschaft beruhen. Diese zwischenmenschliche Nähe wird die zukünftige Gesellschaft nur nach und nach der Biologie entreißen können. Soziale statt biologischer Verwandtschaft bedeutet z. B., dass Kinder und Pflegebedürftige im Kommunismus mit gleicher Liebe und Hingabe wie im alten System von leiblichen Eltern bzw. Angehörigen wie „fremden“ Personen betreut werden. Die Liebe unter den Menschen wird eine kollektive sein, der Traum von der Vergeschwisterung aller Menschen ein realer.

Viertens ist der 1. Schritt auf dem Weg zur kompletten Sozialisierung die Verstaatlichung, noch nicht die freie Assoziation. Allerdings ist diese Voraussetzung für die wirkliche Aneignung von Commons, Gemeingütern. Im Kapitalismus ist der Staat Werkzeug einer Minderheit, der Kapitalistenklasse. Also sind seine Güter (noch) keine Commons, sondern Gemeingut unter ihrer Regie. Genossenschaftliche und kommunitäre Arbeits- und Lebensformen mögen ein Fenster in eine herrschaftsfreie, wirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltige Gesellschaft sein (Gisela Notz, a. a. O., S. 94), herauszuspringen aus dem Gefängnis des Kapitalismus erlaubt diese freiwillige genossenschaftlich-kommunitäre Einrichtung deswegen noch lange nicht. Gute Adoptiveltern sind ebenso wenig ein Sprung aus der von Blutsverwandtschaft geprägten Elternschaft, noch immer nicht gesellschaftlich, sozial. Und die Hippielandkommune kann nicht die höchsten gesellschaftlichen Produktivkräfte (wie z. B. Ingenieurskunst, wissenschaftliche Forschung) verkörpern. Deren Sozialisierung kann nur auf dem Weg der Eroberung der Kommandospitzen der Wirtschaft in Gang gesetzt werden, durch die gewaltsame Ergreifung der Staatsmacht.




Halbherzige Pflegereformen allein schaffen keine Linderung!

Renate Suhrbier, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Qualitätsbericht

Die medizinischen Dienste (MD) der gesetzlichen (GKV) wie privaten  Krankenversicherungen überprüften 2016 die Situation von ca. 175.000 Pflegebedürftigen in 13.300 Heimen und bei 12.000 ambulanten Pflegediensten. Es sei erwähnt, dass 70 % von Angehörigen gepflegt werden, also in der Statistik nicht auftauchen. Die MD wiesen darauf hin, dass die zentrale Baustelle in Heimen und ambulanter Versorgung die Verbesserung der Bedingungen für die Pflegekräfte sei. Ihre Untersuchung kann daran freilich nichts ändern.

Als medizinisch bedenklich wurden aufgelistet: Gewichtsverluste (bei einem Viertel der überprüften BewohnerInnen wurde das Gewicht gar nicht kontrolliert), chronische Schmerzen, Dekubitus (Geschwüre vom Wundliegen), Behandlung von chronischen Wunden, außerklinische Intensivpflege. Verbessert hatte sich die Situation bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Auch die Zahl der PatientInnen, die über Sonde ernährt werden, ging zurück. Die Ursachen für die Verschlechterung? Neben dem Pflegepersonalmangel, der auch in der Akutpflege gang und gäbe ist (siehe Beiträge in dieser Zeitung), liegt besonders nahe der Mangel an ausgebildeten Fachkräften in der Altenpflege.

Pflegeausbildungsgesetz

Nach lange verzögertem Gesetzgebungsverfahren beschloss der Bundestag im Juni 2017 ein neues Pflegeausbildungsgesetz. Ab 2020 soll eine generalistische Ausbildung zur/m Pflegefachfrau/-mann neben die klassische treten. 2026 soll der Gesetzgeber prüfen, ob Abschlüsse in der Kinderkranken- und Altenpflege weiter notwendig sind. Einige ExpertInnen befürchten, dass eine einjährige Spezialisierung nach abgeschlossener generalistischer Ausbildung z. B. in der Kinderkrankenpflege nicht ausreiche, wenn die bisherigen 3 verschiedenen Ausbildungsgänge vereinheitlicht würden. Der Sozialverband SoVD (früher: Reichsbund) begrüßte, dass damit das Schulgeld in der Altenpflege abgeschafft werde und die Ausbildungsvergütung steige. Ein gravierender Mangel des Gesetzes liegt jedoch darin, dass Ausführungsbestimmungen und Lerninhalte der neuen Berufsausbildung noch gar nicht festgelegt sind.

2. Pflegestärkungsgesetz (PSG II)

Dieses wurde Anfang 2017 verabschiedet. Die bisherigen 3 Pflegestufen wurden durch 5 neue Pflegegrade ersetzt. 3 Millionen Menschen wurden nach PSG II neu eingestuft. Durch die niedrigeren Schwellenwerte der Grade 1 und 2 erhalten deutlich mehr Pflegebedürftige Versicherungsleistungen. Auch mit den hohen Pflegegraden 4 und 5 sind viele besser versorgt als früher mit Stufe 3 plus Härtefallregelungen. Die Reform definiert auch einen neuen Begriff von Pflegebedürftigkeit, der sich an der Einschränkung der Selbstständigkeit im Alltag und der notwendigen Hilfe zu deren Überwindung orientiert.

Auch die Pflegekassen haben erkannt, dass ihre Aufmerksamkeit viel mehr auf die Beschäftigten und Angehörigen zu richten ist. Die wenig attraktive Bezahlung führe zu Personalengpässen und Vorenthaltung eigentlich notwendiger Leistungen. Es fehlten in diesen Bereichen 30.000 Fachkräfte. Personalleasing-Unternehmen füllten diese Lücke nur unzureichend und seien als Dauerlösung zu teuer. Zu Bedenken gibt auch die schleppende Umsetzung der Ausbildung Anlass (siehe oben). SchulleiterInnen können nicht verstehen, warum das offenbar fertige Regelwerk nicht von den beteiligten Bundesministerien herausgegeben wurde. Die Länder müssen die bisher in den Ressorts Bildung (Altenpflege) und Gesundheit (Krankenpflege) angesiedelten Schulen überdies noch in einen Bereich zusammenlegen.

Finanzierung

Das PSG II regelt auch einen einheitlichen Eigenanteil unabhängig vom Pflegegrad. Finanzierungslücken gibt es z. B. bei medizinischer Behandlungspflege in Altersheimen, die seit 20 Jahren nicht rückvergütet wird, obwohl mit der Reform insgesamt mehr Geld in diesen Bereich fließt. Doch wird das bisherige Finanzierungssystem der gesetzlichen Pflegeversicherung, von manchen sarkastisch als Teilkasko bezeichnet, den steigenden Anforderungen (mehr Pflegebedürftige, dringend notwendige Lohnzuwächse) nicht mehr lange gerecht werden können. Die Anpassung darf jedoch nicht zu Lasten der Betroffenen gehen. Der DRK-Kreisverband Spree-Neiße erhöhte z. B. den Eigenanteil an den Pflegekosten um 93 Euro auf 651,88 Euro pro Monat, den für Unterkunft und Versorgung um 29,20 Euro auf 629,09 Euro. Dabei laufen die Tarifverhandlungen mit ver.di noch. Pflegekräfte üben ihren Beruf nur 8,4 Jahre im Durchschnitt aus. Die Branche leidet unter hohen Krankenständen. Ausbildungskosten und Investitionen, die die Länder nur unzureichend leisten, müssen zusätzlich aus dem Pflegeetat abgedeckt werden. Damit Pflegekräftige und -bedürftige nicht gegeneinander ausgespielt werden können, muss die Finanzierung auf „Vollkasko“ umgestellt werden:

– Einheitliche GKV!

– Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze!

– Versicherungspflicht für alle, auch für Selbstständige, BeamtInnen und Privatversicherte!

– Möglichkeit privater Versicherung nur für Zusatz-, nicht für medizinischpflegerische Regelleistungen!

– Weg mit Zuzahlungen und Eigenanteilen!

– Für einen Gesundheits- und Pflegeplan, für Investitionen unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen in einem System, das ambulant wie stationär auf staatlichen bzw. genossenschaftlichen DienstleisterInnen beruht!




Interview mit einer Hebamme

Johnathan Frühling, Revolution-Germany, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Wir veröffentlichen hier die ungekürzte Version des Interviews.

Wie sind die Arbeitsbedingungen für Hebammen in Krankenhäusern?

Scheiße. Die Hebammen sind im öffentlichen Dienst beschäftigt, aber immer mehr sind privat beschäftigt, weil die Krankenhäuser privatisiert werden. Allerdings arbeiten auch viele Hebammen freiberuflich in Krankenhäusern, vor allem in Süddeutschland. Hebammen, die in Geburtshäusern arbeiten oder notwendige Hausgeburten anbieten, werden immer weniger.

Hebammen arbeiten in Schichtarbeit. Es kommt vor, dass eine Hebamme in einer Schicht 7 Geburten machen und zusätzliche Frauen betreuen muss, die Sorgen haben, verletzt sind oder überwacht werden müssen wegen vorzeitiger Wehen. Der Druck entsteht dadurch, dass alle Frauen versorgt werden müssen. Die Stationen sind total unterbesetzt und da herrscht ein Mordstrubel. Es gibt kein gemütliches und entspanntes Umfeld.

Auch unbezahlte Überstunden müssen geleistet werden, wenn nicht alles untergehen soll.

Was ist der Grund für diese katastrophalen Zustände auf den Stationen?

Der Grund ist, dass die Krankenhäuser privatisiert werden. Eigentlich sollen sie so funktionieren, dass es kein Plus und kein Minus gibt, aber bei privaten Krankenhäusern muss da immer ein Plus stehen.

Der nächste Grund ist nicht, dass es nicht genug Hebammen gibt, sondern, dass viele einen anderen Job machen, weil sie unter diesen Umständen ihre Arbeit nicht mehr ausführen wollen.

Was sind die Probleme von Hebammen, die freiberuflich arbeiten?

Die Versicherung wird jedes Jahr teurer. Momentan liegt sie bei 7.500 Euro im Jahr. Nächsten Sommer wird sie schon wieder erhöht (auf 10.000 Euro). Man kann außerklinisch gar nicht so viele Geburten annehmen, um etwas zu verdienen oder auch nur die Versicherung zu bezahlen. Viele Frauen bekommen ihre Kinder zuhause, weil sie im Krankenhaus schlechte Erfahrungen gemacht haben. Allerdings gibt es dafür nicht mehr genug Hebammen, weshalb die Kinder im Extremfall unbetreut zu Welt kommen.

Die Krankenkassen bringen immer mehr Vorschriften raus, wie die freiberuflichen Hebammen abrechnen müssen: Z. B. dürfen sie nur 2 Frauen gleichzeitig abrechnen. D.h. für eine dritte Frau bekommen sie kein Geld mehr und müssen es im Extremfall unbezahlt machen, wenn sie die Frauen nicht wegschicken wollen. Es ist unmöglich, dass das die Krankenkassen bei einem solchen Hebammenmangel vorschreiben, vor allem, da die angestellten Hebammen zum Teil deutlich mehr Frauen gleichzeitig betreuen.

Hat sich die Situation für Hebammen in den letzten Jahren geändert?

Ja, immer mehr Geburtsstationen in kleinen Krankenhäusern schließen, weil es sich einfach nicht lohnt. Es bringt zu wenig Profit. Z. B. In einer Stadt mit 250.000 Einwohner_Innen gibt es nur 2 Krankenhäuser, in denen Geburten stattfinden. Teilweise müssen Frauen 50 km fahren, um eine Klinik zu erreichen.

Viele Hebammen aus kleinen Krankenhäusern wollen auch nicht in „Geburtsfabriken“ arbeiten“ und suchen sich einen neuen Job, weil sie sich das nicht mehr antun wollen für das Geld.

Wo siehst du die Zukunft des Hebammenberufs?

Irgendjemand muss die Geburten ja machen. Ärzt_Innen dürfen das nicht. Ganz abschaffen kann man uns auf jeden Fall nicht. Natürlich denkt man positiv, dass es irgendwie weitergeht, auch für die freiberuflichen Hebammen. Aber in letzter Zeit merkt man fast nur Rückschritte.

Viele geben ihren Job auf, weil sie unter diesen Umständen keine gute Arbeit leisten können. So was macht einen kaputt. Deshalb werden auch viele Hebammen krank. Bei dem Stress geht es nämlich anders als im Büro um Menschenleben.

Wie ist Lage der Auszubildenden?

In dem ganzen Krankenhaustrubel ist kaum Zeit dafür, etwas erklärt zu bekommen und zu lernen. Wir müssen einfach die Arbeit leisten, die sonst nicht gemacht wird. Außerdem machen wir viel Arbeit, die wir nur theoretisch gelernt haben, und wissen nicht, ob wir sie richtig machen, weil uns niemand auf die Finger schaut. Ich habe das Gefühl, ich habe im ersten Jahr nur wenig gelernt und war nur dazu da, um zu arbeiten.

Fühlen sich die entbindenden Frauen während ihres Krankenhausaufenthaltes im Stich gelassen?

Auf jeden Fall. Es kommt darauf an, wie viel los ist. Wenn nur eine Frau da ist, ist es o. k. Wenn es sehr stressig ist, dann funktioniert das nicht mehr. Deshalb finden auch manche Geburten ohne Hebamme statt. Von 12 Stunden Geburt ist vielleicht 2-3 Stunden, wenn es hoch kommt, jemand im Raum. Im Endeffekt sind sie oft alleine und es gibt wenig Zeit für Fragen und Ängste. Es werden in stressigen Situationen den Frauen auch mehr Narkosemittel (PDA) im Zusammenhang mit medikamentös beschleunigter Geburtseinleitung verabreicht, was einen negativen Einfluss auf die natürlichen Abläufe bei der Geburt hat.

Dadurch erhöht sich auch die Anzahl der Kaiserschnittrate. Wenn die Frauen sich nicht wohl fühlen, dann klappt auch die Geburt nicht mehr reibungsfrei.

Die nächste interessante Entwicklung ist, dass die Wochenbettbetreuung nicht mehr nur zuhause, sondern auch in den Krankenhäusern stattfindet, weil es nicht genug Hebammen gibt. Die Mütter müssen dann teilweise 4 Tage nach dem Kaiserschnitt und mit einem frisch geborenen Kind ins Krankenhaus kommen. Gerade bei Geburtsverletzungen oder einer Wochenbettdepression (Depression nach Geburt und Hormonumstellung) ist das besonders schlimm.

Welche Folgen haben die Bedingungen im Krankenhaus für die Babys?

Es passieren im Stress mehr Fehler, die eigentlich nicht passieren dürfen. Es führt auch dazu, dass Frauen am Anfang weniger stillen, weil sie auch dafür manchmal Unterstützung brauchen. Dann stillen die Frauen auch schneller ab. Auch Kaiserschnitte sind für die Kinder nicht so gut wie reguläre Geburten.

Was müsste der Staat deiner Meinung nach tun, um die Situation für Mütter, Kinder und Hebammen zu verbessern?

Das Versicherungsproblem in den Griff kriegen. Es gibt nämlich nur eine Versicherung für Hebammen. Dadurch, dass es keine Konkurrenz gibt, werden die Beiträge extrem hoch. Ärzt_Innen zahlen für ihre Versicherung nur einen Bruchteil!

Die Krankenhäuser sollten wieder verstaatlicht werden, damit es nicht mehr um Profit geht. Außerdem soll die Bezahlung verbessert werden, damit der Beruf wieder attraktiver wird. Dabei wollen die Hebammen vor allem mehr Personal und erst in zweiter Linie mehr Geld. Gerade wenn ab 2020 der Hebammenberuf nur noch im Studium angeboten wird, kann sich die Zahl der neu Ausgebildeten weiter verringern. Da Hebammen bis zu 30 Jahre lang haftbar gemacht werden können, ist es auch für die Hebamme ein Risiko, überhaupt zu arbeiten – gerade unter diesen unsicheren Umständen.

In welcher Weise müssten die Menschen innerhalb und außerhalb der Krankenhäuser aktiv werden, um etwas zu verändern?

Es ist halt schwierig, gerade auch mit der ganzen Streikerei. Man kann zwar viel erreichen, aber wie willst du in unserem Job streiken? Auch die Bevölkerung, die das aktuell betrifft, ist ein sehr kleiner Teil der Gesellschaft. Gerade wenn du schwanger bist oder ein neues Kind hast, hast du keine Zeit, dich politisch für Hebammen einzusetzen.

Was hältst du von Aktionen, die von der gesamten Branche ausgehen, also von PflegerInnen allgemein und auch Altenpfleger_Innen?

Man muss auf jeden Fall gemeinsam kämpfen, um etwas zu erreichen!




Totgespart – Pflege in anderen Ländern

Lucia Siebenmorgen, Arbeiter*innenstandpunkt, Fight!  Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Der Gesundheits- und Sozialbereich sind nach wie vor klassische Frauenarbeitsfelder, die schlecht bezahlt werden trotz hoher Arbeitsbelastung. Vom neoliberalen Abbau des Sozialstaates, der gerade in den meisten europäischen Ländern stattfindet, sind die Bereiche ebenfalls besonders stark betroffen. Gerade bei den Krankenhäusern wurde in den letzten Jahren vermehrt sichtbar, was Einsparungen in diesen Bereichen bedeuten und wen sie treffen. Privatisierungen und Personalabbau haben etliche Krankenhäuser in unterschiedlichen Ländern in Krisen gestürzt und teilweise auch zu Protesten bei der Belegschaft geführt wie in Wien seit 2015 durch Proteste von CARE Revolution Wien.

Trend zur Privatisierung

In einigen europäischen Ländern, vor allem jenen, die die Wirtschaftskrise von 2008 besonders hart getroffen hat, kam es zu massiven Sparmaßnahmen, um die Krise der Finanzwelt auf die Bevölkerung abzuwälzen. Diese haben auch den Gesundheitsbereich getroffen, in Griechenland wurde beispielsweise das Budget für diesen Bereich halbiert. Dadurch verloren nicht nur viele Krankenhausangestellte ihren Job, sondern auch die Versicherungszahlen gingen stark zurück: 3 von 11 Millionen Griech*innen sind zurzeit nicht krankenversichert. Es wird außerdem davon ausgegangen, dass etwa 50.000 Menschen in den letzten Jahren gestorben sind, da sie keinen ausreichenden Zugang zu öffentlich zugänglicher, ärztlicher Behandlung hatten und viele Leistungen auf Grund der Privatisierungen der letzten Jahre unerschwinglich geworden sind. Ähnliches kann man in Spanien beobachten.

Die USA, in denen das Gesundheitswesen schon lange zu großen Teilen in privater Hand ist, liefern ein gutes Beispiel dafür, was bei einer weiteren Zerschlagung öffentlicher Strukturen auch europäischen Ländern droht. So sind etwa 28 Millionen US-Amerikaner*innen überhaupt nicht krankenversichert, weshalb Ärzt*innen und Pfleger*innen in ihrer Freizeit ehrenamtliche, kostenlose Versorgung anbiete. Diese können allerdings den Bedarf lange nicht decken und werden als medizinisches Personal an ihre Grenzen getrieben. Während es unter Obama diesbezüglich zumindest einige Verbesserungen gegeben hat wie die Versicherungspflicht, die dafür sorgen sollte, dass alle Arbeiter*innen zumindest minimal versichert sind, hat Trump dies bereits wieder gestoppt. Die Menschen werden dadurch wieder vermehrt von privaten Versicherungen abhängig. Einerseits können viele sich diese gar nicht leisten, andererseits nehmen diese gerade Menschen, die bereits älter sind oder Vorerkrankungen haben, gar nicht auf, da sie höhere Kosten befürchten. Das macht deutlich, was das Hauptproblem an der Privatisierung von Gesundheitssystemen ist – private Unternehmen arbeiten immer für eigenen Profit, wollen Kosten vermeiden und möglichst viele Ausgaben einsparen. Daher sind Unternehmer*innen auch mit Trumps Abschaffung der Versicherungspflicht zufrieden. Sie sind nun nicht mehr verpflichtet, ihre Angestellten zu versichern. Für die Arbeiter*innen bedeutet das nur, dass medizinische Versorgung Luxus ist und man selbst in einem medizinischen Notfall überlegt, ob man nicht mit dem Auto statt mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme fährt.

Engagement der Berufsgruppen

In vielen Ländern ist zu beobachten, dass sich Ärzt*innen, Pfleger*innen und sonstiges medizinisches Personal zusammenschließen, um in ihrer Freizeit Krankenversorgung für Menschen, die aus der Krankenversicherung fallen, anbieten zu können. Dadurch wird zwar sichtbar, über welches Engagement diese Berufsgruppen häufig verfügen, andererseits ist dies aber keinesfalls eine zufriedenstellende Lösung. Schon jetzt sind viele Krankhausangestellte in etlichen Ländern von langen Diensten und einem viel zu geringen Personalschlüssel betroffen, wodurch nicht immer die optimale medizinische Versorgung gewährleistet werden kann. Trotz der Tatsache, dass es auch in österreichischen Krankenhäusern Gangbetten gibt und Krankenpfleger*innen immer mehr Aufgaben übernehmen müssen, gibt es für diese Berufsgruppe keine Entlastung. Im Gegenteil: Von neoliberalen Politiker*innen wird laufend über Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich nachgedacht. Der Abbau des Sozialstaates führt auch dazu, dass der Staat sich immer mehr aus der Verantwortung nimmt und Gesundheitsversorgung zu einer privaten Angelegenheit wird, während das medizinisch-pflegerische Personal, das dennoch ausreichende Versorgung gewährleisten möchte, bis zur Erschöpfung ausgebrannt wird.

Es geht auch anders

In Schweden wurde exemplarisch versucht, andere Wege zu gehen, um das Personal zu entlasten und dadurch eine umfangreichere Versorgung zu ermöglichen. In der Stadt Göteborg wurde unter der reformistischen Linkspartei bereits 2015 die 30-Stunden-Woche eingeführt – in Kombination mit Lohn- und Personalausgleich. In den Krankenhäusern gab es 6-Stunden-Schichten, die eine enorme Entlastung für das Personal darstellten. Die Resultate waren nicht nur weniger Krankenstände bei den Mitarbeiter*innen sondern auch wesentlich kürzere Wartezeiten sowie qualitativ bessere Behandlungen für Patient*innen. Die Mehrkosten für 14 neue Kräfte (10 Millionen Kronen = ca. 1 Million Euro) wurden an anderer öffentlicher Stelle zur Hälfte eingespart (Arbeitslosen- und Sozialhilfe, niedrigerer Krankenstand), gar nicht eingerechnet indirekte volkswirtschaftliche Vorteile: gesünderes Personal geht später in Rente, Fachkräfte sind einfacher zu finden, die Ausbildungsbereitschaft im bisher wenig populären Beruf steigt. Trotz dieser Vorteile für die öffentlichen Arbeit„geber“*innen wurde das Projekt aufgrund der Kosten 2017 eingestellt. Vizebürgermeister Daniel Bernmar von der Linkspartei: „Davon, dass Arbeitszeitverkürzung den Arbeitgeber mehr kostet, kommt man in den meisten Fällen nicht weg.“ (NEUES DEUTSCHLAND, 7. Februar 2018, S. 2).

Angestellte im Gesundheits- und Sozialbereich müssen sich gemeinsam gegen die weltweit stattfindenden Privatisierungen und das Sparen bei der Gesundheit von Menschen einsetzen und für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung kämpfen. Dieser Kampf betrifft vor allem Frauen, die nach wie vor in etlichen schlecht bezahlten Sektoren arbeiten und stark von Armut betroffen sind. Letztlich muss dieser mit dem für eine andere Gesellschaft verbunden sein, in der nicht die privaten Profitinteressen über die Gesundheit und somit auch über Leben und Tod von Menschen entscheiden können.




Care-Arbeit: Reproduktion und Arbeit

Elise Hufnagel, Neue Internationale 194, November 2014

Das Thema „Care-Arbeit“, auch Sorge-Arbeit oder Reproduktion genannt, entwickelt sich in der Diskussion momentan weiter zu der Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben, wie können die immer größeren Defizite in den öffentlichen und privaten Sorgebranchen und außerhalb der ‚bezahlten’ Arbeit im privaten Haushalt ausgeglichen werden?“

Nicht verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die „unsichtbaren“ Arbeitsstunden die Arbeitszeit, die in der Industrie (ohne Baugewerbe berechnet) erbracht wird, schon bei weitem übersteigen. Gestellt wird die Frage wieder vor allem von Frauen, die immer noch den größten Anteil an der Reproduktion leisten.

Produktion und Reproduktion im Kapitalismus

Mit dieser Thematik beschäftigte sich auch die Care-Revolution-Konferenz im März diesen Jahres, die einen Beitrag zur Sichtbarmachung der Reproduktionsarbeit leistete, von „Revolution“ jedoch weit entfernt „demokratisches Aushandeln“ besserer Lebens- und Arbeitsbedingungen im sozialen Bereich anstrebt, ohne jedoch den grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Lohnarbeit in der Produktion und unbezahlter (oder schlecht bezahlter) Sorgearbeit im Kapitalismus zu entschlüsseln.

Den Kapitalisten interessiert die Reproduktion der lebendigen Arbeitskraft nicht mehr als die der anderen Quelle seines Reichtums, der Natur. Der Sozialismus dagegen stellt die Reproduktion der Quellen des Reichtums in den Mittelpunkt. Ihr allein dient die Produktion statt Selbstzweck, bloßes Mittel zur Schaffung von Mehrwert zu sein. Für den Kapitalismus bleibt die unbezahlte Subsistenzarbeit im Privathaushalt deshalb ebenso überlebensnotwendig wie er Raub an der Natur betreiben muss. SozialistInnen streben die Ablösung der privaten Hausarbeit durch ihre Vergesellschaftung an.

Die Konferenz hingegen konnte sich noch nicht einmal zur Forderung nach Umwandlung dieses Sektors in eine Kapitalbranche, die auf Lohnarbeit fußt, durchringen. Ihre Forderung lautet: „Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der Fürsorglichkeit absichern“. Damit wird der Sektor der unbezahlten Subsistenzarbeit nur anerkannt, nicht transformiert. Für Anerkennung können sich Hausfrauen aber nichts kaufen!

Charakter der Care-Arbeit

Unter dem Begriff der unbezahlten „Care-Arbeit“ wird die häusliche Sorge für die Reproduktion der Arbeitskraft, also die Ernährung, Kleidung, Pflege und Erholung der ArbeiterInnen und die Versorgung und Erziehung der Nachkommen ebenso erfasst wie die Ermöglichung von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Versorgung all derer, die dem Markt keine Arbeitskraft anbieten können, also pflegebedürftige Angehörige, die entweder nicht mehr, nur eingeschränkt oder nie am Arbeitsleben teilnehmen können.

Das sogenannte „Care-Regime“ teilt sich hier in Deutschland in vier Sektoren auf: den öffentlichen Sektor, den freien Markt, Non-Profit-Organisationen und den privaten Haushalt, auf dem momentan die finanzielle und zeitliche Hauptlast liegt.

Was ist das Besondere an der Reproduktionsarbeit?

Teilt man sie auf in Haus- und Sorgearbeit, so zeigen sich deutlich die Unterschiede zur Lohnarbeit.

Die Hausarbeit besteht aus vielen stets ähnlich ablaufenden Tätigkeiten, die „nur“ einen Gebrauchswert schaffen. Essen wird schneller verspeist als gekocht, Wäsche schneller schmutzig als es dauerte, sie zu waschen, zu trocknen und zu bügeln. Die Arbeit findet im privaten Raum statt, also größtenteils unsichtbar, schafft keinen „Wert“, der sich veräußern ließe und wird daher auch nicht entlohnt.

Ähnlich sieht es bei der (unbezahlten) Sorgearbeit aus. Weder ein Kind noch ein älterer Angehöriger können die Leistung der Pflegenden entlohnen oder haben die Möglichkeit, sich die Form der Sorge oder die  beteiligten Personen auszusuchen. Die Versorgung von Menschen kann nicht ohne den Aufbau einer Beziehung geleistet werden. Das Verhalten des Einen bedingt das des Anderen. Also sind beide voneinander „abhängig“, die Versorgten von den Sorgenden sowieso; aber auch die Sorgenden können die „Arbeit“ nur befriedigend ausführen, wenn sie sich nach der Stimmung und den Bedürfnissen der zu Versorgenden richten und nicht nach einem festen Arbeitsschema. Der Zeitbedarf ist enorm, die Tätigkeiten sind teilweise monoton, aber auch jederzeit abrufbar.

Dabei kann, besonders unter Stress, ein Machtgefälle zum Nachteil der versorgten Person entstehen, die keine Handlungs- oder Wahlfreiheit hat, also diesem „Verhältnis“ nicht entfliehen kann. Aber auch der umgekehrte Fall kann eintreten – die Pflegeperson wird durch die Bedürftigkeit unter Druck gesetzt („Du wirst mich doch nicht ins Pflegeheim geben wollen…“).

Klassenspaltung und Care-Arbeit

Die Care-Arbeit spiegelt im kapitalistischen System unwillkürlich die Klassenspaltung der Gesellschaft wieder. „Die“ Frauen sind eben nicht „gleich“, sondern je nach Klassenzugehörigkeit höchst unterschiedlich davon betroffen.

Der Koalitionsvertrag setzt Geburtensteigerung und zunehmende Frauenerwerbstätigkeit als politische Ziele. Finanziell sollen diese Forderungen durch das „Elterngeld“ abgesichert werden, das bei gut Verdienenden bis zu 1.800 Euro betragen kann. Die Hartz IV-Empfängerin bekommt für die gleiche Leistung, nämlich ein Kind zu versorgen, gerade mal 300 Euro, die auch noch mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet werden.

Der Anspruch auf Kinderbetreuung in einer Einrichtung gilt zuerst für Eltern, die einen Job haben. Die, die sich erst einen suchen, müssen hintenan stehen. Und ohne gesicherte Kinderversorgung hat eine Frau auf dem Arbeitsmarkt auch keine Chance.

Eine bezahlte Freistellung von der Arbeit für pflegende Angehörige, ähnlich dem Elterngeld, hat sich gar nicht erst durchsetzen können. Vielleicht haben sie Glück und behalten etwas vom ohnehin dürftigen Pflegegeld zurück. Wohlhabende können Teile der Haus- und Pflegearbeit an HaushaltsarbeiterInnen übertragen, die dann auch wieder im privaten Raum tätig sind, wo Arbeitsbedingungen schlecht kontrolliert werden können.

Das zweite Modell ist das „paarzentrierte“: Beide gehen arbeiten, die Hausarbeit wird aufgeteilt, jedoch meist zu Lasten der Frau, die passend dazu eine Teilzeitstelle ausfüllt. Bei Krankheit, Arbeitsunfähigkeit oder Scheidung landet sie auch ganz schnell im prekären Bereich – erst recht mit der neuen Unterhaltsregelung, die ihr keinen finanziellen Ausgleich für jahrelanges Zurückstecken bietet.

„Darunter“ liegen dann alle Haushaltsmodelle, bei denen nur eine Person erwerbstätig ist oder niemand bzw. diverse Minijobs ohne Sozialleistungen angenommen werden müssen. Der Mangel wird mehr oder weniger gerecht auf alle Haushaltsmitglieder verteilt.

Was die Frauenbewegung seit Jahrzehnten schon fordert, nämlich das Recht auf Teilhabe am Arbeitsleben, ist heute unbedingt erforderlich, denn der Lohn eines Einzelnen reicht in den meisten Fällen nicht mehr für eine ganze Familie aus.

Wissenschaftliche Ergebnisse

Es gibt im Bereich der Care-Ökonomie viele wissenschaftliche Untersuchungen zur Sorgearbeit, die darauf hinarbeiten, ihre Bedeutung für den gesellschaftlichen Wohlstand herauszustellen. Es werden Zeitbudgets für Hausarbeit erstellt, die Aufteilung der Reproduktion nach Geschlecht, Klasse und Nationalität erfasst und der Anteil bezahlter und unbezahlter Arbeit in diesem Bereich am volkswirtschaftlichen Gesamtaufkommen errechnet. Es geht um die „Produktivität“ der Care-Arbeit, die Arbeitsbedingungen der entlohnt Sorgenden und nicht zuletzt um das Recht auf angemessene Versorgung für Pflegebedürftige und das Recht, sich für Pflegearbeit Zeit nehmen zu können.

Das „Öffentlichmachen“ der meist im privaten Raum stattfindenden Care-Arbeit ist wichtig.

Eine ökonomische Gleichstellung von Reproduktion und Lohnarbeit widerspricht jedoch zutiefst dem kapitalistischen System, das vom Profit aus Lohnarbeit lebt. Der Care-Sektor wird zu einem Teil aus unbezahlter Arbeit, von Wohltätigkeitsorganisationen und staatlicher Unterstützung finanziert (die wiederum aus „wertschöpfenden“ Branchen umgeleitet wird). Wo Care-Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen gewinnbringend ausgeführt wird (beispielsweise in privatisierten Kliniken), muss sie rationalisiert werden. Da sich diese spezielle Arbeit aber nur begrenzt „schneller“ erledigen lässt (aufgrund der oben erwähnten Beziehungsmäßigkeit), leiden sehr schnell Qualität und „KundInnen“ und in diesem Zusammenhang auch die ArbeiterInnen. Notstände werden dabei an die anschließenden Versorgungssysteme weitergeleitet und landen damit oft wieder im familiären Bereich.

Ohne die bürgerliche Familie als Ort der Reproduktion kann sich der Kapitalismus, erst recht in der Krise, nicht erhalten. Wenn gespart werden muss, dann immer zuerst im Sorgebereich, wie uns die Länder Südeuropas noch krasser vor Augen halten. In Griechenland werden zum Beispiel Medikamente, die für uns als lebensnotwendig gelten, gar nicht mehr ausgegeben.

Wie also diese beiden Bereiche der Reproduktionstätigkeit – Lohn- und Sorgearbeit – zusammenbringen? Solange die Arbeitskraft als Ware verkauft werden muss, steht ihr die unbezahlte Hausarbeit gegenüber. Eine gleichberechtigte Entlohnung beider Bereiche ist im kapitalistischen System nicht möglich. Ziel kann also nur die Vergesellschaftung der Reproduktion (und damit ihre öffentliche Ausführung) bei gleichzeitiger Verkürzung der Arbeitszeit (bei vollem Lohnausgleich) sein.

Nur dadurch kann die Last der Alleinverantwortung der Individuen für den gesellschaftlichen Wohlstand gerecht verteilt werden, auch zwischen Frauen und Männern. Die Kämpfe bezahlter und unbezahlter Care-ArbeiterInnen müssen verknüpft werden. Falsche Forderungen wie „Lohn für Hausarbeit“ in den 70er Jahren führten in die Leere. Die Reproduktionsarbeit muss vielmehr vergesellschaftet, nicht als isolierte Privatarbeit im patriarchalen Haushalt durch eine Art Almosen anerkannt werden. Sie würde nur dann zur Lohnarbeit, wenn sie Waren für den Markt herstellte, nicht Güter bzw. Dienstleistungen für den Eigenbedarf.

Unsere Forderungen

  • Arbeitskämpfe in der Pflege müssen immer die „PflegekundInnen“ einbeziehen!
  • Wir müssen weiter für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auf dem Arbeitsmarkt eintreten, sowohl zeitlich als auch finanziell, sowie die Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit zu bezahlbaren Preisen fordern: wie öffentliche Kantinen, Schulküchen, Wäschereien und Restaurants, Kinder- und Seniorenbetreuung .
  • Schluss mit besonders prekären Arbeitsbedingungen für MigrantInnen! Gleicher Lohn für alle bei Abschaffung des Illegalenstatus!
  • Wir fordern gute Ausbildung aller Berufsgruppen, die die soziale Basis unserer Gesellschaft sichern. ErzieherInnen, LehrerInnen und PflegerInnen müssen ihre Arbeitskämpfe verbinden und sich gewerkschaftlich organisieren.



Pakistan: Pflegerinnen erkämpfen Erfolg

Shazia Shehzad, Lahore, Neue Internationale 188, April 2014

Im März haben Krankenschwestern, die ohne festen Arbeitsvertrag nur von Tag zu Tag beschäftigt werden, gegen die Entlassung von 2.800 Schwestern protestiert und deren Wiedereinstellung gefordert – mit dauerhafter Beschäftigung statt unsicherer Arbeitsverhältnisse. Sie forderten, Schluss zu machen mit dem willkürlichen System des „Heuerns und Feuerns“ und außerdem Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung.

Viele dieser Krankenschwestern wurden erstmals 2011 eingestellt während des Ausbruchs des Dengue-Fiebers. Sie trugen entscheidend dazu bei, dass die Seuche eingedämmt wurde und  viele Erkrankte gerettet wurden. Andere waren schon seit 6 Jahren im Dienst. Alle von ihnen wurden jedoch nicht regulär angestellt, sondern auf tagtägliche Anforderung, sozusagen als Springer.

Dagegen veranstalteten sie eine Sitzblockade vor dem Büro des Generaldirektors der Gesundheitsbehörde in Lahore. Nach 4 Tagen zogen sie am 14. März auf die Hauptstraße vor das Gebäude der Regierung der Provinz Punjab. Dort griff die Polizei die Demonstration mit Schlagstöcken an und versuchte, die Krankenschwestern auseinander zu treiben. Viele von ihnen mussten anschließend mit Verletzungen im Krankenhaus behandelt werden, zwei waren sogar schwer misshandelt worden, eine von ihnen war im 7. Monat schwanger.

Hintergrund

Die Entlassung der 2.800 Krankenschwestern kam zu einer Zeit, als die Belegschaft der Krankenhäuser im Punjab ohnehin schwach besetzt war. Die staatlichen Krankenhäuser müssen mit einem Personal von 15.000 Pflegekräften auskommen. Die neue Regierung hat die Krankenschwestern entlassen als direkte Folge der Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Es zeichnet sich klar ab, dass die Regierung das Gesundheitswesen durch Personalkürzungen „sanieren“ und so gehorsam die Vorgaben der imperialistischen Finanzinstitutionen erfüllen will.

Die Entlassungen des Pflegepersonals und die Zerstörung des Krankenhauswesens werden zynisch sogar noch als „fortschrittliche Entwicklung“ dargestellt, obwohl so Gelder des öffentlichen Dienstes in die Kassen von Privatinvestoren geleitet werden. Sie haben Milliarden Rupien übrig für die Entwickler des Metrobus-Projekts, um damit das Verkehrswesen u.a. Vorhaben zu kontrollieren und vorgeblich den Fortschritt zu fördern. Nichts haben sie jedoch für die arbeitende Bevölkerung übrig, z B. Für die Hungernden in der Sind-Provinz, wo hunderte Kinder, Frauen und ältere Menschen schon gestorben sind.

Die Brutalität des Schlagstock-Einsatzes hat die gesamten Arbeiterklasse und Gewerkschaftsbewegung schockiert. Krankenschwestern im gesamten Punjab legten die Arbeit nieder und führten Demonstrationen und Sitzblockaden durch. Die Bewegung breitete sich in Windeseile in ganz Pakistan aus. Das medizinische Personal gab bekannt, dass es zum Streik bereit sei und viele von ihnen schlossen sich dem Protest zum Schutz der Krankenschwestern gegen polizeiliche Verfolgung an. Junge Ärzte, Eisenbahnarbeiter und Beschäftigte der Pakistanischen Telekommunikationsgesellschaft sowie Postangestellte – alle zeigten ihre Solidarität.

Schließlich siegten der Kampfesmut und die Entschlossenheit der Krankenschwestern. Sie ließen sich nicht entzweien – trotz der Verfolgung durch die Regierung und zwangen die Behörden zu Verhandlungen, die sie am 18. März erfolgreich beendeten. Die Regierung willigte ein, ihre Kündigung zurückzunehmen und mit ihnen Dreijahresverträge mit 4.000 Rupien Lohnerhöhung zu vereinbaren. Zudem versprach sie, die Arbeitsverträge auf Dauer zu verlängern, ohne vorherige Prüfung durch die Kommission des Öffentlichen Dienstes in Punjab.

Das ist  ein großer Erfolg, erst recht, weil in der Vorgeschichte des Konflikts die Krankenschwestern von ihrer alten Führung verraten worden waren. Während der Proteste wählten sie eine neue Führung, die verantwortlich für die Sitzblockaden war. Das ist ein bemerkenswertes Beispiel der Wirksamkeit der Kontrolle der Führung durch die Basis. Diese Erfahrung sollte der Arbeiterklasse auch in anderen Bereichen Mut machen.

Viele ArbeiteraktivistInnen fragen sich nun: Wenn die Krankenschwestern solche Siege einfahren können, weshalb nicht auch wir? Die Krankenschwestern bewiesen die wirkliche Stärke von Frauen und zeigen den Weg für die neue Arbeiterbewegung in Pakistan. Die Lehren dieses Kampfes müssen nun für die gesamte Arbeiterbewegung verallgemeinert werden.




Betreuungsgeld – Cash statt Kita

Hannes Hohn, Neue Internationale 170, Juni 2012

Momentan wird um die Einführung eines „Betreuungsgeldes“ in Medien, Parteien und in der Regierungskoalition heftig debattiert. Dieses „Betreuungsgeld“ soll Eltern ausgezahlt werden, die ihr Kind nicht in eine Kita schicken.

Hintergrund dieser Pläne ist einerseits das Fehlen von Kitaplätzen und der ab August 2013 geltende gesetzliche Anspruch auf einen Betreuungsplatz für Kinder unter 3 Jahren andererseits. Dieses Gesetz wurde unter dem Druck der schlechten Geburtenrate und der aufgrund mangelnder Betreuungsmöglichkeiten für Kinder eingeschränkten Berufstätigkeit vieler Eltern beschlossen. Bundesweit fehlen zwischen 150.000 und 300.000 Plätze. Das allein zeigt, dass in dieser Gesellschaft die Rettung der Banken allemal wichtiger ist als die Betreuung der Kinder.

Das Fehlen von Kitaplätzen – wie auch der Mangel an Hortplätzen v.a. in Westdeutschland – ist  auch der allgemeinen Finanznot der Kommunen geschuldet. Dabei sagt die Anzahl von Kitaplätzen noch nichts darüber aus, wie es um die Qualität der Betreuung steht. Vielerorts ist diese zeitlich eingeschränkt, die Gruppen sind zu groß bzw. Personal fehlt.

Zurück an den Herd?

Die Ursprungsidee war, Frauen mit dem nicht zu Unrecht als „Herdprämie“ titulierten Betreuungsgeld zu animieren, mit dem Kind zu Hause zu bleiben, anstatt arbeiten zu gehen. Doch inzwischen mehren sich sogar in den Regierungsparteien Stimmen dagegen und es werden diverse Maßnahmen angedacht, um das offensichtlich reaktionäre, gegen eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Arbeitsleben gerichtete Projekt abzumildern. So soll es z.B. ein Paket zum beschleunigten (Aus)Bau von Kitas geben. Einige Minister sind aus Kostengründen  gegen das Betreuungsgeld.

Natürlich wäre es dumm, dagegen zu sein, wenn Eltern mehr Geld für die Betreuung ihrer Kinder erhalten. Immerhin sind Kinder, besonders bei Alleinerziehenden, eines der größten Armutsrisiken – v.a. für Frauen. Gerade für Millionen Eltern, die arbeitslos sind oder im prekären Bereich arbeiten,  wäre eine deutliche Erhöhung des Kindergelds nötig, um soziale Nachteile auszugleichen und den Kindern etwa gleiche Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zu ermöglichen wie Kindern aus reicheren Schichten.

Ein Grundproblem an der „Herdprämie“ ist, dass das Geld nach dem Gießkannenprinzip verteilt wird, also auch reiche Familien, die es sicher nicht brauchen, etwas bekommen. Dafür sollen aber gerade Harz IV-Empfänger nichts erhalten, was wieder einmal zeigt, für welches Klientel die „Familienpolitik“ von Schröder oder ihrer Vorgängerin von der Leyen gemacht wird.

Gleichberechtigung?

Ein weiteres Problem ist, dass die Prämie als Anreiz dient, auf den Kitaplatz zu verzichten. Das aber bedeutet für viele Frauen fast automatisch, in dieser Zeit auch auf eine Berufstätigkeit – und auf das damit verbundene eigene Einkommen – zu verzichten. So wird die Frau weiter an das familiäre Milieu, an Kind, Heim und Herd, gebunden und ihre Teilnahme am sozialen Leben eingeschränkt.

Dass viele Eltern das Betreuungsgeld aber trotzdem nutzen würden, hat mehrere Gründe: fehlende Kita-Plätze, hohe Kita-Kosten, fehlende Arbeitsmöglichkeiten oder die schlechte Bezahlung im prekären (Teilzeit)Bereich, der für Mütter mit kleinen Kindern meist ohnehin nur als Job infrage kommt. Hier zeigt sich, dass eine grundsätzliche Verbesserung der Situation von Frauen, dass ein wirklicher Schritt vorwärts in Sachen Gleichberechtigung ohne tiefgreifende Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft unmöglich ist. Die diversen „Insellösungen“ in der „Familienpolitik“ der letzten Jahre haben ganz offensichtlich an der Gesamtlage nichts geändert – im Gegenteil: die kommunale Finanznot, die Sparpolitik der Regierung und die bewusste Ersetzung von „Normalarbeitsplätzen“ durch prekäre Jobs hat die generelle Situation noch verschlechtert.

Die CSU und andere Konservative stellen die Sache auf den Kopf, wenn sie suggerieren, Eltern würden “gezwungen”, ihre  Kinder in die Kita zu schicken, während es überhaupt erst darum geht,  die Betreuungsmöglichkeiten zu schaffen die für alle Eltern wirklich attraktiv sind. Daher fordern wir u.a.:

  • Kostenlose Kinderbetreuung gemäß den Bedürfnissen der Eltern und Kinder!
  • Kontrolle der Betreuung durch Eltern, ErzieherInnen und Gewerkschaften!
  • Bessere Bezahlung und mehr Personal!
  • Kirchen raus aus der Bildung!
  • Finanzierung der Bildung durch progressive Besteuerung von Kapital und Vermögen!

Der Besuch einer Kita ist nicht nur eine Frage des Geldes oder der besseren sozialen Chancen der Eltern. Viele Untersuchungen belegen, dass eine gute Kita-Betreuung sich auch positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirkt, z.B. bei der Sprachentwicklung.

Die „Herdprämie“ ist eben auch insofern ein falsches Signal, weil die Erziehung wieder stärker in das familiäre Milieu verwiesen wird, wo nicht nur oft wichtige pädagogische Fähigkeiten oder ein gutes soziales Milieu für die Entwicklung der Kinder fehlen. Ein Beispiel: In einer Kita könnte und sollte eine systematische frühkindliche Musikerziehung stattfinden – welche Mutter, welcher Vater könnte das individuell zum Hause leisten?!

Probleme

Ein weiterer Haken der Kita-Pläne ist auch, dass als Betreuungseinrichtung auch Tagesmütter zählen. Doch gerade die Betreuung durch Tagesmütter ist oft in jeder Hinsicht mangelhaft, was die Bedingungen oder die Qualifikation anbelangt. Völlig unakzeptabel ist auch das Wirrwar von Bildungsträgern und das föderale Bildungssystem.

MarxistInnen engagierten sich immer für die Vergesellschaftung von Bildung und Erziehung, nicht zuletzt, um die reaktionären Einflüsse von Kirche, Familie und bürgerlichem Staat zurückzudrängen und v.a. die Unterdrückung der Frau durch ihre vorrangige Bindung an Kinder, Haushalt und Familie aufzubrechen.

Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz erweist sich als hohle Geste angesichts fehlender Plätze, fehlender Fachkräfte und zu niedriger Mittel der Kommunen. Auch hier zeigt sich, dass das Recht nicht höher stehen kann, als die materiellen Bedingungen, über denen es sich erhebt. Wie auch bei der groß angekündigten „Energiewende“ zeigt sich der Staat unfähig und unwillig, selbst seine eigenen Projekte umzusetzen.