Zur politischen Ökonomie der Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer / Martin Suchanek, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung 11, März 2023

Die gegenwärtige Krise ist auch eine der sozialen Reproduktion. Die Angriffe auf das Gesundheitswesen, Erziehung, Bildung und Altersvorsorge und die damit verbundene Ausdehnung privater, nach wie vor allem von Frauen geleisteter privater Hausarbeit rücken auch ins Zentrum des Klassenkampfes. Beschäftige in den Krankenhäusern, Erzieher:innen und Lehrer:innen streiken, spielen eine größere, mitunter sogar eine Vorreiter:innenrolle im Klassenkampf. Millionen gehen gegen Angriffe auf die Renten auf die Straße. Die Frauen*streiks der letzten Jahre thematisieren die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Kein Wunder also, dass die Frage nach dem Verhältnis von Produktion und Reproduktion, von kapitalistischer Mehrwertproduktion und Reproduktionsarbeit auch wieder ins Zentrum theoretischer Diskussion und Theoriebildung gerückt ist. Im Folgenden wollen wir grundlegende Momente einer marxistischen Analyse darlegen.

Das Verhältnis von Produktion und Reproduktion wird vom radikalen wie auch sozialistischen Feminismus als wunder Punkt der Marx’schen Theorie angesehen. Marx und Engels hätten dazu allenfalls Ansätze geliefert, wären aber letztlich blind für die  Unterdrückung der Frauen sowie andere Unterdrückungsverhältnisse gewesen. Seit der zweiten Welle des Feminismus beschäftigen sich verschiedene Theoretiker:innen mit der Reproduktionssphäre und sie versuchen dabei, Alternativen aufzuzeigen, die Marx vernachlässigt hätte.

Feministische Kritiken

So bestimmen Mariarosa Dalla Costa und Selma James das Verhältnis der proletarischen Frau zum proletarischen Mann als Ausbeutungsverhältnis. Die unbezahlte Arbeit im Haushalt betrachten sie als produktive Arbeit, als Produktion von Mehrwert, womit sie auch ihre Forderung nach Lohn für Hausarbeit begründen.

An Rosa Luxemburgs Imperialismustheorie anknüpfend, betrachteten die Autorinnen der Bielefelder Schule (Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen und Claudia von Werlhof) Haus- und Subsistenzarbeit als fortdauerndes Äußeres der kapitalistischen Produktionsweise. Die Ausbeutung der Hausfrauen und Bäuerinnen wird für sie zur Voraussetzung für die Kapitalakkumulation selbst. Daher erscheinen nicht die Lohnarbeiter:innen, sondern die in diesen „Produktionsweisen“ Tätigen, die Opfer einer permanenten ursprünglichen Akkumulation, als das revolutionäre Subjekt. Bis heute fließt diese Vorstellung in die feministische Diskussion ein, z. B. bei Silvia Federici, die einen Teil ihrer theoretischen Grundlagen aus dieser Tradition, vor allem von Maria Mies, übernimmt.

Diese Konzeptionen blieben innerhalb der marxistisch orientierten Frauenforschung und selbst im sozialistischen Feminismus keineswegs unwidersprochen. So weisen z. B. Ursula Beer in „Geschlecht, Struktur, Geschichte“ oder Lise Vogel in „Marxismus und Frauenunterdrückung“ nach, dass viele der radikal- und sozialistisch feministischen Kritiken den Marx’schen Kategorien einen anderen Sinn unterschieben – und diesen dann kritisieren – oder überhaupt nicht erst versuchen, an der Kritik der politischen Ökonomie begrifflich anzuknüpfen.

Autor:innen wie Lise Vogel versuchen hingegen, eine „einheitliche Theorie“ der Produktion und Reproduktion zu entwickeln. Sie gehen dabei mit Marx davon aus, dass in der kapitalistischen Produktionsweise geschichtlich wie logisch die Produktion die Reproduktion bestimmen muss. Ihre Theorie scheitert dabei nicht am Bezug auf Marx, wohl aber an ihrer strukturalistischen Lesart des Marxismus und damit einhergehend an Zugeständnissen an die Vorstellung einer klassenübergreifenden Bewegung aller Frauen, der proletarischen, kleinbürgerlichen und auch bürgerlichen.

Die von Vogel mitbegründete Social Reproduction Theory (Theorie der sozialen Reproduktion) stellt heute einen wichtigen Begründungszusammenhang für den linken Flügel des Feminismus dar, wie z. B. die Autorinnen von „Feminismus der 99 %“ (Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser). Im Vergleich zu Vogel leisten sie auf theoretischem Gebiet allerdings Rückschrittliches. Wie frühere Autor:innen werfen sie dem Marxismus vor, die Bedeutung der Reproduktion zu unterschätzen.

Ihm wird ein angeblich verkürzter Klassenbegriff unterschoben. Zugleich wird die Sphäre der Reproduktion (im Gegensatz zu Vogel) faktisch als eigene Produktionsweise begriffen, die als gleichwertig oder sogar übergeordnet zum Verhältnis Kapital – Arbeit aufgefasst wird. Wie schon bei früheren feministischen Kritiken fällt diese begrifflich oft sehr unpräzise und moralisierend aus (z. B. wenn es um die Bestimmung von notwendiger und Mehrarbeit oder produktiver und unproduktiver Arbeit geht).

In früheren Beiträgen in der Zeitschrift Fight und im Revolutionären Marxismus haben wir uns mit oben genanten Theorien beschäftigt. Im Folgenden wollen wir, an Marx anknüpfend, das Verhältnis von Produktion und Reproduktion analysieren, seine historische Entwicklung nachzeichnen und auf die aktuellen krisenhaften Tendenzen der Reproduktion eingehen.

1. Wert- und gebrauchswertseitige Vermittlung der Reproduktionsarbeit

Insbesondere in den Kapiteln über den Akkumulationsprozess im Kapital Band I verweist Marx darauf, dass in jeder Gesellschaftsformation Produktion und Reproduktion eng verzahnt sind, sie im Gesamtzusammenhang betrachtet werden müssen.

„Die Bedingungen der Produktion sind zugleich die Bedingungen der Reproduktion. Keine Gesellschaft kann fortwährend produzieren, d. h. reproduzieren, ohne fortwährend einen Teil ihrer Produkte in Produktionsmittel oder Elemente der Neuproduktion rückzuverwandeln. Unter sonst gleichbleibenden Umständen kann sie ihren Reichtum nur auf derselben Stufenleiter reproduzieren oder erhalten, indem sie die, während des Jahres z. B., verbrauchten Produktionsmittel, d. h. Arbeitsmittel, Rohmateriale und Hilfsstoffe, in natura durch ein gleiches Quantum neuer Exemplare ersetzt, welches von der jährlichen Produktenmasse abgeschieden und von neuem dem Produktionsprozeß einverleibt wird.“ (Marx, Das Kapital, Band I, MEW 23, S. 591)

Marx bestimmt hier einerseits grundlegende Bedingungen der Reproduktion, die für alle Gesellschaftsformationen gelten, nämlich dass Arbeit verrichtet werden muss, um Produktionsmittel (PM) zu erneuern und die Arbeitskraft (AK) wiederherzustellen. Wollen wir jedoch die jeweiligen Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion verstehen, reicht es nicht, bei dieser abstrakten, allgemeinen Vorstellung zu verbleiben, sondern es muss das Verhältnis betrachtet werden, das diese beiden Sphären in unterschiedlichen Gesellschaftsformationen annehmen. Marx betrachtet Reproduktion dabei von zwei Seiten:

a) Reproduktion des Kapitals (Kapitalkreislauf)

Alle Bedingungen der Produktion (PM und AK) müssen als Waren gekauft werden.

Im Produktionsprozess P werden sie genutzt, um neue Ware (W‘) herzustellen. Dabei übertragen die PM einen Wertanteil an das Produkt, die Arbeitskraft konsumiert die PM, indem es sie in Bewegung setzt und umformt. Sie verrichtet Arbeit und überträgt dabei nicht nur Neuwert auf das Produkt, das dem Wert der Ware AK entspricht, sondern zusätzlichen Wert – Mehrwert –, den sich der/die Kapitalist:in aneignet. Die AK produziert und reproduziert also im Akkumulationsprozesses das Kapital.

In der von Marx zuerst betrachteten einfachen Reproduktion eignet sich der/die Kapitalist:in den Mehrwert zur Gänze an und verausgabt ihn für seine/ihre eigenen Bedürfnisse, also unproduktiv, weil er nicht zur Vermehrung das Kapitals verwendet wird.

Der eigentlich typische Fall für den kapitalistischen Produktionsprozess ist natürlich, dass möglichst viel Mehrwert angeeignet wird, um als zusätzliches Kapital verwertet zu werden, die sog. erweiterte Reproduktion. Dieser Prozess kann als Kreislauf des Kapitals dargestellt werden, als dessen Produktions- und Reproduktionsprozess, weil am Ende das in Geldform G in den Prozess eingetretene Kapital diesen erneut und auf erweiterter Stufenleiter, als G’, durchlaufen kann:

G – W (PM/AK) – P – W‘ – G‘

Legende: AK: Arbeitskraft; PM: Produktionsmittel; W: Ware; W´: Neue, im Produktionsprozess geschaffene Ware; C: Kapital (konstantes + variables); M: Mehrwert; P: Produktion bzw. Produktionsprozess, G: Geld

Arbeit, die in einem solchen Prozess verwertet wird, also einen Mehrwert fürs Kapital schafft, nennt Marx produktive Arbeit (im Gegensatz zur unproduktiven). Sie ist produktiv, weil sie nicht nur bestehenden Wert ersetzt, sondern Mehrwert für ein Kapital schafft, also zu einer erweiterten Reproduktion beiträgt.

b) Doppelte Art der Konsumtion der Arbeitskraft

Marx verdeutlicht, dass das Kapital im Produktionsprozess die Arbeitskraft konsumiert. Dabei wird das Kapital beständig reproduziert als Produkt der entfremdeten, vom Kapitalist angeeigneten Arbeit. Zugleich wird so beständig auch die Arbeitskraft produziert.

„Der Arbeiter selbst produziert daher beständig den objektiven Reichtum als Kapital, ihm fremde, ihn beherrschende und ausbeutende Macht, und der Kapitalist produziert ebenso beständig die Arbeitskraft als subjektive, von ihren eignen Vergegenständlichungs- und Verwirklichungsmitteln getrennte, abstrakte, in der bloßen Leiblichkeit des Arbeiters existierende Reichtumsquelle, kurz den Arbeiter als Lohnarbeiter.“ (MEW 23, S. 596)

Mit anderen Worten: Sobald sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat, müssen die Lohnarbeiter:innen ihre Arbeitskraft verkaufen, um überhaupt die Mittel für ihre Reproduktion kaufen zu können. Geschichtlich geht dem ein gewaltsamer, blutiger Prozess der ursprünglichen Akkumulation voraus, indem Verhältnisse durchgesetzt werden, die den Lohnsklav:innen jede andere Form der Sicherung ihrer Existenz verunmöglichen. Doch einmal etabliert, bringt das Kapitalverhältnis auch die spezifisch kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse hervor, während Männer wie Frauen der herrschenden Klasse von der Ausbeutung der Arbeit anderer leben. Daher unterscheidet sich auch ihre Reproduktion grundlegend von der der lohnabhängigen Klasse. Die Reproduktionsarbeit für die herrschende Klasse muss nicht von den Frauen dieser Klasse erledigt werden, sondern wird von Frauen (oder auch Männern) aus der Arbeiter:innenklasse verrichtet.

Jedenfalls ist die Konsumtion des/der Lohnarbeiter:in doppelter Art:

1. Produktive Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert im Produktionsprozess Produktionsmittel und produziert so Mehrwert, vermehrt das Kapital.

2. Individuelle Konsumtion

Der/die Arbeiter:in konsumiert Lebensmittel, die mit dem Arbeitslohn gekauft werden.

In der Analyse betont Marx zuerst die Verschiedenheit der beiden Prozesse. Betrachten wir nämlich die beiden Formen der Konsumtion als individuelle Verhältnisse zwischen Arbeiter:in und Kapitalist:in, so scheint es sich um sehr verschiedene, voneinander getrennte Bereiche zu handeln:

„In der ersten handelt er (der Arbeiter; Anm. der Redaktion) als bewegende Kraft des Kapitals und gehört dem Kapitalisten; in der zweiten gehört er sich selbst und verrichtet Lebensfunktionen außerhalb des Produktionsprozesses. Das Resultat der einen ist das Leben des Kapitalisten, das der andern ist das Leben des Arbeiters selbst.“ (MEW 23, S. 596 f.)

Marx geht aber weiter. Die Sache sieht sehr viel anders aus, wenn wir nicht einzelne Kapitalist:innen – Arbeiter:innen, sondern das Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit betrachten.

Betrachten wir die individuelle Konsumtion vom Standpunkt Einzelner, so erscheint diese als gänzlich verschieden von der produktiven Konsumtion. In der Produktion muss die Arbeitskraft für andere schuften, im privaten Bereich, der individuellen Konsumtion, kann sie frei über ihr Geld verfügen, scheinbar kaufen, was sie will. Es herrscht Freiheit. Dies wird durch die Geldform des Arbeitslohns, im Grunde durch den Geldfetisch, noch zusätzlich verstärkt, weil es so scheint, als ob’s eine beliebige, freie Entscheidung des einzelnen Arbeiter/der einzelnen Arbeiterin wäre, ob er/sie dies oder jenes für sein/ihr Entgelt kauft.

Betrachten wir jedoch den Gesamtprozesse, so erweist sich dies als Ideologie, als Fiktion, wenn auch eine sehr wirkmächtige Apologie der verallgemeinerten Warenproduktion.

In Wirklichkeit reproduziert jene Freiheit selbst noch das Kapitalverhältnis. Betrachten wir nämlich die individuelle Konsumtion in ihrer Gesamtheit, also als Klassenverhältnis von Kapital und Arbeit, so erweist sich die Reproduktion der Arbeitskraft als sich ständig reproduzierender Teil des Gesamtprozesses der Produktion und Reproduktion des Kapitals.

Dies ist unvermeidlich, weil Letztere immer über den Kauf/Verkauf von Waren vermittelt und so an den Akkumulationsprozess des Kapitals gebunden und diesem untergeordnet bleiben muss.

„Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. Die individuelle Konsumtion des Arbeiters bleibt also ein Moment der Produktion und Reproduktion des Kapitals, ob sie innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, Fabrik usw., innerhalb oder außerhalb des Arbeitsprozesses vorgeht, ganz wie die Reinigung der Maschine, ob sie während des Arbeitsprozesses oder bestimmter Pausen desselben geschieht.“ (MEW 23, S. 597)

Ferner: „Die beständige Erhaltung und Reproduktion der Arbeiterklasse bleibt beständige Bedingung für die Reproduktion des Kapitals. Der Kapitalist kann ihre Erfüllung getrost dem Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb der Arbeiter überlassen.“ (MEW 23, S. 597 f.)

An dieser Stelle setzt die feministische Kritik ein, weil Marx diesen Aspekt nicht weiter ausgeführt hätte. Das stimmt zwar zu einem gewissen Grad. Die Kritik verkennt jedoch, dass Marx hier nicht etwas abbricht, sondern vielmehr zu einer Schlussfolgerung kommt, die sich aus dem Obigen und den Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft ableitet.

Die Arbeiter:innen sind zur eigenen Reproduktion gezwungen, weil sie selbst Lohnarbeiter:innen sind, ihre Arbeitskraft aus „Selbsterhaltungstrieb“ verkaufen müssen. Das Kapital kann daher getrost die Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft externalisieren.

Die Reproduktion kann als „frei“ erscheinen, was durch die „freie“ Arbeit, Arbeitskontrakt usw. bestärkt wird. In Wirklichkeit ist diese Freiheit jedoch gesellschaftlicher Schein, Ideologie. Oder in Marx’ Worten:

„Von gesellschaftlichem Standpunkt ist also die Arbeiterklasse, auch außerhalb des unmittelbaren Arbeitsprozesses, ebenso Zubehör des Kapitals als das tote Arbeitsinstrument.“ (MEW 23, S. 598)

Es ist also ein Fehler, dabei stehen zu bleiben, die produktive und individuelle Konsumption nur aus individueller und nicht aus gesellschaftlicher Sicht zu betrachten. Das führt nämlich unweigerlich zu einer mechanischen, unvermittelten Aufspaltung zwischen produktiver und reproduktiver Sphäre, die so nicht existiert.

c) Produktions- und Reproduktionskreislauf

Die Unterordnung von Konsum/Reproduktionskreislauf der Arbeitskraft unter den des Kapitals wird auch deutlich, wenn wir diese einander gegenüberstellen. Erinnern wir uns zuerst an den Produktionskreislauf des Kapitals:

G – W (PM, AK) – P – W‘ – G‘

Dieser stellt das Wesen, weil Zweck der Produktion im Kapitalismus dar. Es findet also Anhäufung von Kapital, von kapitalistischem Reichtum statt; der Zweck der Produktion besteht in der Produktion von Mehrwert.

Die Reproduktion der Arbeitskraft lässt sich knapp so darstellen:

G (Arbeitslohn in Geldform) – W (Konsumgüter) – Reproduktion – W’ (AK) – G

Der Arbeitslohn, den die Arbeitskraft als Geld erhält, muss in Waren W (Konsumgüter, Mittel zum Lebensunterhalt ausgegeben werden). Es wird sodann konsumiert, verzehrt (inkl. stofflicher Umwandlung durch Hausarbeit wie Kochen, … ). Am Ende wird die Ware W’ (Arbeitskraft) reproduziert, die wieder zu ihrem Wert/Preis verkauft wird.

Es entsteht hier kein zusätzlicher Wert, sondern es werden nur Wertbestandteile reproduziert. Die Arbeitskraft geht durch den Reproduktionsprozess und verlässt ihn so, wie sie in ihn hineintritt, um wieder ihre Haut zu Markte tragen zu können, um also erneut die Summe G, die ihren Reproduktionskosten entspricht, erhalten zu können. Die Reproduktionsarbeit (ob nun private Hausarbeit oder öffentliche Arbeit wie an Schulen) erhält nur die Arbeitskraft, sie schafft aber unter diesen Bedingungen keinen Mehrwert.

Das trifft auch auf die Arbeiter:innenklasse insgesamt zu, denn der gesamte Lohnfonds (Gesamtsumme aller Löhne wie auch aller staatlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Lohnersatzleistungen, des „Soziallohns“, usw.) entspricht im Grunde nur den Reproduktionskosten der Gesamtklasse, also aller ihrer Mitglieder (lohnarbeitende Männer und Frauen, Teilbeschäftigte, im Haushalt Tätige, Kinder, Rentner:innen, Kranke, … ).

Bei der Bestimmung des Werts der Ware Arbeitskraft betrachtet Marx auch alle diese Personen als Teil der Gesamtklasse. Allein das zeigt, wie albern die Kritik an ihm ist, dass er nur die produktiven Arbeiter:innen in der Fabrik betrachten würde. Der gesamte Lohnfonds inkludiert wie die Preisbestimmung der Ware Arbeitskraft selbst (im Unterschied zu anderen Waren) auch eine historische, „moralische“ Komponente, die selbst vom Klassenkampf modifiziert wird.

Wichtig ist aber, dass der größte Teil der Reproduktionsarbeit/-kosten dazu da ist, die Arbeitskraft zu erhalten (gesamtes Gesundheitswesen, Kosten, Wohnung, Heizung, … ). Während diese relativ konstant bleiben, so erhöhen sich mit Entwicklung des Kapitalismus die Bildungskosten, also Kosten zur Erhöhung des Arbeitsvermögens der Arbeitskraft, so dass diese statt Träger einfacher gesellschaftlicher Arbeit zu sein, auch solche zusammengesetzter, komplizierter wird.

Arbeiten im öffentlichen Reproduktionsbereich gehen natürlich in den Durchschnittswert der Ware Arbeitskraft ein. Die Kosten für Gebäude, Arbeitsmittel usw. sowie für die Bezahlung der Arbeitskräfte in diesem Bereich führen zu einer Erhöhung oder Senkung des Durchschnittswerts der Ware Arbeitskraft (z. B. wenn die Kosten für Erziehung, Bildung, Lebensmittel usw.) steigen oder fallen. Aber im staatlich/öffentlich organisierten Reproduktionssektor wird keine Mehrarbeit verrichtet, die sich das Kapital in Form von Mehrwert aneignet. Erst recht findet das nicht in der privaten Hausarbeit statt.

Anders verhält es sich, wenn Teile des Reproduktionsprozesses privatkapitalistisch organisiert werden, beispielsweise wenn Krankenhäuser oder Schulen privatisiert und zum Zweck der Profitmaximierung, als stinknormales Geschäft betrieben werden. Lassen wir einmal die Probleme beiseite, den Wert der Waren genau zu bestimmen, festzulegen, wie verschiedene „Produkte“ im Gesundheitsbereich oder im Bildungssektor vergleichbar und bepreist werden können, so besteht nun der entscheidende Zweck der Reproduktionsarbeit für den/die Kapitalist;in darin, Profit zu erwirtschaften, was, wie wir alle aus Erfahrung wissen, bis zu einem gewissen Grad im Widerspruch zur Reproduktion der Arbeitkraft (z. B. von Patient:innen) steht.

Doch zurück zur Wertbildung der Arbeitskraft und zu deren Reproduktion.

Jede Arbeitskraft, die im privaten Haushalt oder im staatlichen Caresektor reproduktiv tätig wird, muss ihrerseits reproduziert, erhalten werden. Das heißt, diese Kosten gehen wie die zur Herstellung jeder anderen Arbeit in den Wert der Arbeitskraft ein.

D. h., auf die private Hausarbeit bezogen, geht diese im gesellschaftlichen Durchschnitt in den Wert der Ware Arbeitskraft ein (resp. auch in den Wert zukünftiger Arbeitskraft und die Reproduktion des gesamten Haushaltes).

Die Erhaltungskosten zur Reproduktion gehen ebenso in die Reproduktionskosten der Arbeitskraft ein wie die Kosten der Lebensmittel, der Haushaltsgeräte usw. Das heißt umgekehrt auch, die Reproduktionskosten für die Hausarbeit (ob nun mehr oder minder gerecht verteilt oder auf die Frau abgewälzt) müssen bestritten werden. Ebenso trifft das auch auf die (noch) nicht arbeitenden Familienmitglieder zu.

Der entscheidende Unterschied zum Kapitalkreislauf besteht darin, dass hier kein Mehrprodukt, damit auch kein Mehrwert geschaffen wird, den sich jemand außerhalb der Familie aneignen würde.

Im Grunde trifft das auch zu, wenn größer werdende Teile der Reproduktionsarbeit staatlich oder gesellschaftlich organisiert werden („Soziallohn“), also für staatliche Schulen, Kitas, Unis, Krankenhäuser, Altersheime. Solange die für diese Tätigkeiten aufgewandten Mittel nicht als Kapital fungieren, also nicht investiert werden, um Profit abzuschöpfen, sondern als staatlicher/sozialer Dienst, werden sie aus Lohnbestandteilen (z. B. Kranken-, Pflege-, Rentenversicherung) oder über Steuern (mit historisch wechselnden Anteilen verschiedener Klassen), also staatlich finanziert.

Dem Kapital erscheint daher diese gesellschaftlich notwendige Arbeit immer als faux frais, als überschüssige Kosten der Produktion, als Abzug vom Gesamtprofit. Sie können nie knapp genug bemessen sein. Genau genommen ist dies der Standpunkt des konkurrierenden Einzelkapitals.

Vom Standpunkt der Gesamtkapitals und seiner Reproduktionsbedingungen sind sie keineswegs unnütz, ja essentiell. Das wissen auch einzelne Kapitalist:innen, wenn ausnahmsweise die Arbeiter:innen in einer günstigen Position sind oder wenn Mangel an Arbeitskraft droht. Dann wird nach Maßnahmen zur Überwindung solcher Arbeitsmarktkrisen gerufen.

In jedem Fall sind die Reproduktionskosten der Gesamtklasse bei einem bestimmten Entwicklungsstadium des Kapitalismus für ein bestimmtes gesellschaftliches Gesamtkapital mehr oder weniger gegeben.

d) Erweiterte Reproduktion

Ihre Entwicklung ist grundsätzlich bestimmt von der Akkumulationsbewegung des Kapitals.

Diese beinhaltet aber nicht nur eine Bestimmung für eine Phase der Entwicklung, sondern auch ein dynamisches Element.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals bedeutet schließlich nicht einfach eine quantitative Erweiterung, sondern geht, vermittelt über die Konkurrenz, mit einer stetigen Erneuerung des Produktionsapparates, eine Revolutionierung der technischen Basis der Produktion einher. Diese führt nicht nur zu einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals und zu einem tendenziellen Fall der Profitrate.

Die erweiterte Reproduktion des Kapitals wirkt auch auf die Reproduktion der Arbeitskraft zurück, sobald und sofern der Wert der Konsumgüter der Arbeiter:innenklasse infolge von Produktivitätssteigerungen sinkt. Die Industrialisierung der Landwirtschaft, die industrielle Massenproduktion von Lebensmitteln oder Haushaltsgeräten und anderen Gegenständen des täglichen Bedarfs (Elektronik), die Verringerung von Transportkosten oder Massenverkehrsmitteln führen zur Reduktion des Werts der Ware Arbeitskraft. Infolge von Wertsenkungen der Konsumgüter ermöglichen sie in bestimmten Perioden der kapitalistischen Entwicklung (z. B. im sog. langen Boom), dass die Menge der Gebrauchswerte/Güter, die die Arbeiter:innen konsumieren können, konstant bleibt oder sogar zunimmt, obwohl der Wert der Ware Arbeitskraft sinkt.

Diese Form der Erhöhung des (relativen) Mehrwerts und ihre Verstrickung mit den Reproduktionskosten verdeutlichen, dass die Bestimmung der Reproduktion durch die Produktion nicht nur ein grundlegendes Merkmal des Kapitalismus darstellt, sondern diese im Zuge der kapitalistischen Entwicklung auch immer mehr um sich greift, immer totaler wird.

Zugleich führt diese Verbindung dazu, dass, historisch betrachtet, auch die Reproduktionsarbeit immer mehr vergesellschaftet wird, wenn auch für private, bornierte Zwecke. In Krisen gestaltet sich dieser Prozess insofern prekärer, als erreichte Stadien von Vergesellschaftung selbst in Frage gestellt werden, also sich eine Tendenz zur Regression manifestiert.

e) Reproduktion und geschlechtliche Ungleichheit

Die geschlechtlich ungleiche Verteilung der Reproduktionsarbeit kann dabei nicht nur aus biologischen Faktoren erklärt werden. Sie muss grundsätzlich aus der historischen Entwicklung begriffen werden, wo die kapitalistische Produktion ihr vorausgehende Formen der Unterdrückung der Frau aufgreift und funktional, dem Wertgesetz unterworfen, umformt.

Dabei ist die Entstehung der Frauenunterdrückung natürlich mit der Gebärfähigkeit der Frauen verbunden, also dem biologischen Fakt, dass nur sie Kinder auf die Welt bringen können. Damit entsteht auf der einen Seite eine Form der Reproduktionsarbeit, die nicht auslagerbar oder auf Männer übertragbar ist, andererseits schafft es auch einen Widerspruch. Schwanger sein ist notwendig für die Reproduktion der Menschheit, hat aber auch den Nachteil, dass die Arbeitsfähigkeit für andere Tätigkeiten phasenweise eingeschränkt wird. Speziell im Kapitalismus mit seinem Fokus auf Profitmaximierung mündet das in sehr bestimmten Arten der Organisierung von reproduktiver Arbeit und reproduziert diese.

Für die kapitalistische Produktionsweise folgt grundsätzlich die Scheidung von produktiver Konsumtion und individueller Konsumtion der Arbeiter:innenklasse aus der Scheidung von Arbeitsprodukt und Arbeitenden, der Trennung von Arbeitskraft und Produktionsmitteln (Eigentumsmonopol des Kapitals). Das Verhältnis von Produktion und (privater) Reproduktion nimmt eine neue, historisch spezifische Form an. Hier sieht man auch den Unterschied zur feudalen Ausbeutung, die Marx hervorhebt, in der Produktion und Reproduktion wesentlich weniger getrennt waren. Es gab zu dieser Zeit eine viel stärkere Einheit im bäuerlichen Haushalt, wo Produktion und Reproduktion zugleich stattfanden und die Familie genauso Produktions- wie Lebenseinheit war.

Die vorgefundene Unterdrückung der Frau führt zur Herausbildung und Durchsetzung einer geschlechtlichen Arbeitsteilung, in der der Mann als „Oberhaupt“ und Ernährer tätig, die Frau für die Hausarbeit zuständig ist (sofern sich ein proletarischer Haushalt überhaupt herausbilden kann).

Im Lohn der männlichen Arbeitskraft werden daher die Reproduktionskosten des Haushalts mit gesetzt, daher die höhere  Bezahlung der männlichen Arbeitskraft (es gibt daraus resultierend auch eine historisch-moralische Einwirkung auf den Arbeitslohn).

Im privaten Haushalt wird dadurch eine vorgefundene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung reproduziert und produziert. Die historisch moralischen Einwirkungen sind unter anderem struktureller Sexismus, der abseits von dieser besseren Entlohnung für Männer auch ideologisiert, dass die Arbeit von Frauen generell weniger wert ist als die von Männern.

Die bürgerliche Familie entspricht diesem Reproduktionszusammenhang, sie erscheint als Reich der „Freiheit“, des Rückzugs, des privaten Glücks und der Selbstbestimmung gegenüber der Fabrik, der Ausbeutung der Arbeitskraft unter der Despotie des Kapitals.

Individuell betrachtet, scheint sich der Mensch in der Privatsphäre zu verwirklichen, auch wenn diese, wie Marx zeigt, letztlich vom Kapital bestimmt ist. Aber der/die Warenbesitzer:in der AK scheint hier wirklich sich zu gehören (resp. auch seine/ihre Familie).

Die Familie, Partnerschaft (selbst in ihrer patriarchalen Form) scheint daher ein Rückzugsraum, eine sicherer Hafen vor der Unbill der Arbeit in der Fabrik, im Produktionsprozess. Aber dies ist weitgehend Fiktion, wie Marx hervorhebt:

„Hat die Produktion kapitalistische Form, so die Reproduktion. Wie in der kapitalistischen Produktionsweise der Arbeitsprozeß nur als ein Mittel für den Verwertungsprozeß erscheint, so die Reproduktion nur als ein Mittel, den vorgeschoßnen Wert als Kapital zu reproduzieren, d. h. als sich verwertenden Wert.“ (MEW 23, S. 591)

2. Historische Entwicklungsdynamik der Reproduktionsarbeit

Nachdem wir Grundzüge des Verhältnisses von Produktion und Reproduktion umrissen haben, wollen wir uns dessen historischer Entwicklung zuwenden. So wie das Lohnarbeitsverhältnis keineswegs „rein“ hervortritt, sondern geschichtliche Modifikationen durchläuft wie auch aufgrund der imperialistischen Weltordnung sehr verschieden in imperialistischen und halbkolonialen oder kolonialen Ländern in Erscheinung tritt, so durchläuft auch die kapitalistische Form der Reproduktion der Arbeitskraft Entwicklungsstufen. Diese dürfen dabei keineswegs als strenge Abfolge betrachtet werden, die für alle Länder gleichermaßen gelten würde. Vielmehr gilt auch dafür das Gesetz der ungleichzeitigen und kombinierten Entwicklung, wo im Rahmen einer reaktionären imperialistischen Ordnung relativ weit vergesellschaftete Formen der Produktion und Reproduktion gleichzeitig und verwoben mit extrem rückständigen auftreten, ja diese im Rahmen eines globalen Ausbeutungsverhältnisses sogar immer wieder hervorbringen.

Im Folgenden wollen wir grob einige Entwicklungsphasen skizzieren – und wir sehen dabei auch, dass Formen, die zuerst im Frühkapitalismus entstehen, heute noch in extrem ausgebeuteten Ökonomien weit verbreitet, ja prägend sein können.

a) Übergang, Entstehung des Kapitalismus

Die Fesselung der Frau an den Haushalt hat der Kapitalismus nicht erfunden, wohl aber die Trennung von Produktion und Reproduktion. Um kapitalistische Verhältnisse auch in der Reproduktion zu erzwingen, muss also einerseits die Fesselung an den Haushalt aufrechterhalten, andererseits dieser als Produktionseinheit (die die Güter ihrer eigenen Reproduktion ganz oder in wesentlichen Teilen herstellt) zerschlagen werden.

D. h. die Arbeiter:innenklasse muss gezwungen werden, ihre Lebensmittel als Waren bei Dritten (kapitalistischen Produzent:innen oder Händler:innen) gegen Geld (Arbeitslohn) zu kaufen.

Dies ist funktional wichtig und muss gewaltsam hergestellt werden, weil, ansonsten die Arbeitskraft selbst nicht in vollem Maß zum Verkauf als Ware gezwungen wäre.

Hier zeigt sich zugleich, dass es – trotz einiger Gemeinsamkeiten mit der Subsistenz- und der kleinen Warenproduktion – im Grunde irreführend ist, die private Hausarbeit als eine eigene Produktionsweise zu bestimmen. Dies verschleiert vielmehr den spezifisch kapitalistischen Charakter der Reproduktion der Arbeiter:innenklasse. Wir haben es bei der (privaten) Reproduktion im Haushalt nicht mit einer oder gar mehreren Produktionsweisen außerhalb des Kapitals zu tun, sondern mit einer – so unsere These – spezifisch kapitalistischen Form der Reproduktion im Kapitalismus.

Gerade in ihrer Bestimmtheit durch die Produktion liegt ihr Wesenskern. Dass dies leicht anders erscheinen mag, hängt mit verschiedenen Faktoren, die zu einer ideologischen Fetischisierung führen, zusammen.

1. Erscheint der Haushalt, die Privatsphäre als Gegenteil der betrieblichen, sachlichen Despotie (selbst die Despotie des Haustyrannen ist unterschieden, weil wesentlich persönlich, patriarchal, Herrschaft des Vaters, im engen Wortsinn).

2.  Kapitalistische Reproduktion existiert nicht rein, sondern in mehr oder weniger krassen Hybridformen.

Davon einige wichtige:

  • Die Haushaltsformen des Kleinbürgertums (z. B. der Bauern-/Bäuerinnenschaft) setzen die Einheit von Produktion und Reproduktion fort.

  • In den halbkolonialen Ländern dauert der Prozess der ursprünglichen Akkumulation an. Dies führt zur Bildung von wichtigen, prekären Formen der Reproduktion für beachtliche Teile der Bevölkerung des globalen Südens.

  • Für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse ist, global betrachtet, bis heute eine „normale“ Reproduktion in der Familie nicht oder nur bedingt möglich. Die Ausweitung der Teile der Klasse, die unter ihren Reproduktionskosten Lohnarbeit verrichten müssen, bedeutet auch, dass der proletarische Haushalt seine Reproduktionsfunktion nicht oder jedenfalls nicht voll erfüllen kann.

  • Umgekehrt wird aber der „Rückzug“ zu einer vorkapitalistisch funktionierenden Form der Reproduktion verunmöglicht.

  • Umso stärker wird die Tendenz zur Barbarisierung der Verhältnisse im Haushalt (Hunger, Armut, Aufteilung des Mangels, aber auch Gewalt gegen Frauen und Kinder).

Für die frühe kapitalistische Entwicklung wie auch für bedeutende Teile der Arbeiter:innenklasse stellt die Familie keineswegs eine historische Selbstverständlichkeit dar. Im Gegenteil! Die Überausbeutung verunmöglichte diese weitgehend für die neue entstehende Klasse (siehe auch urspr. Akkumulation, Ausdehnung des Arbeitstages, Sklaverei, … ).

Für deren unterste Schichten nimmt soziale Vorsorge – sofern vorhanden – die Form des Armenhauses, von Waisenhäusern samt despotischem Regime an. Die Kriminalisierung anderer Einkommensarten (Betteln, Verbot des Zugriffs auf vormaliges Gemeineigentum) stellen unerlässliche Mittel dar, den Zwang zur Lohnarbeit durchzusetzen. Dieses Regime muss gewährleisten, dass die „Armenversorgung“ unter dem Niveau des extrem geringen Arbeitslohns liegt. Daher auch die fast ungebrochene Tendenz zur absoluten Verelendung im Frühkapitalismus – eine Tendenz, die wir in der halbkolonialen Welt, teilweise sogar unter den marginalisierten (oftmals zugleich migrantischen und/oder rassistisch unterdrückten) Schichten der Klasse auch in den imperialistischen Zentren vorfinden.

b) Entstehung und Durchsetzung der proletarischen Familie

Die „klassische“ bürgerliche Familie (Vater als Ernährer, Frau als Hausfrau, Kinder) ist in der Arbeiter:innenklasse auch immer ein zwiespältiges historisches Produkt. Ihre Verwirklichung ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Der Arbeitslohn des Mannes muss die Reproduktionskosten der gesamten Familie real abdecken können (Frau, Kinder, Alte), damit die Frau Hausfrau sein kann, die Kinder nicht gegen Lohn arbeiten müssen und die Alten versorgt werden können. Daher müssen auch der Ausbeutung gewisse Schranken gesetzt werden, also Grenzen der absoluten Mehrwertabpressung durchgesetzt werden. Um diese Reproduktionsfähigkeit der Familien überhaupt herzustellen, müssen die Löhne dem Wert der Arbeitskraft (A) entsprechen, muss der Arbeitstag begrenzt werden, müssen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Beschränkungen der Kinder- und Frauenarbeit und staatliche Sozialleistungen durchgesetzt werden.

Dies ist nur möglich auf Basis von gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen, die reale Errungenschaften durchsetzen (z. B. den 10-Stundentag). Diese werden oft auch begünstigt dadurch, dass ein Teil der herrschenden Klasse (bzw. deren politischen Personals) erkennt, dass eine gewisse Grenze der Ausbeutung notwendig ist, um die Reproduktion des Ausbeutungsmaterials zu sichern (ob dies aus Einsicht oder Furcht vor Radikalisierung der Arbeiter:innenklasse erfolgt, ist hier zweitrangig).

Die Bildung der proletarischen Familie setzt also eine gewisse materielle Besserstellung der Klasse voraus. Wenigstens signifikante Teile müssen in der Lage sein, den Verkauf ihrer Arbeitskraft zu oder über ihren Reproduktionskosten durchzusetzen.

Dies stellt gegenüber dem Frühkapitalismus oder extremen Formen der Ausbeutung eine Errungenschaft der gesamten Klasse, von Mann und Frau dar. Aber sie geht zugleich einher mit einer Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der Arbeiter:innenklasse. Die Frau kann jetzt auch „nur“ Hausfrau, der Mann kann real alleiniger „Ernährer“ der Familie sein. Für die Frau bedeutet dies aber zugleich eine Fessel, eine Befestigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, den Zwang, die Hausarbeit zu leisten, die keinen Mehrwert generiert, die Festigung der Abhängigkeit vom Mann (als Einkommensquelle) und ihrer Vereinzelung und Unterdrückung. Damit einher geht auch die Entstehung des proletarischen Haushaltes (eigene, kleine Mietwohnung, eigener Herd, … ).

Die Festigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verstärkt darüber hinaus durch rechtliche Ungleichheit und reaktionäre Ideologien und Chauvinismus in der Arbeiter:innenklasse die soziale Unterdrückung.

Ökonomisch wird diese zusätzlich befestigt, indem der Lohn des Mannes als Familienlohn gesetzt ist. Der Wert der Arbeitskraft ist wesentlich der der männlichen. Der Wert der weiblichen Arbeitskraft wird so auf einen Bruchteil der männlichen fixiert, da ihre Reproduktionskosten in diesem System geringer sind, weil das Lohneinkommen der Familienmitglieder vom Mann, nicht der Frau bestritten werden soll/muss.

Wir haben es hier also mit einer systematischen Ungleichheit des Werts der Arbeitskraft zu tun, die das spezifisch kapitalistische System der Reproduktion schafft bzw. von diesem geschaffen wird.

Dies drückt sich einerseits in der Last der Hausarbeit aus, die den Frauen aufgebürdet wird. Zweitens aber auch in einer beruflichen Arbeitsteilung. Frauen werden aus industriellen Branchen verdrängt (oder erst gar nicht reingelassen), auf zeitweilige, schlechter bezahlte Tätigkeiten verwiesen.

Dieses „Modell“ wird zum vorherrschenden in den kapitalistischen Zentren mit Expansion des Kapitalismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und der imperialistischen Epoche bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wird auch auf Halbkolonien mit der Expansion des Kapitalverhältnisses und der Entstehung einer, wenn auch kleineren Arbeiter:innenaristokratie ausgeweitet, aber verbleibt dort bis heute eine Form, die nie die gesamte Klasse umfasst.

Nicht minder wichtig ist, dass dieses Modell bis heute, wenn auch modifiziert und, was die Frage der Lohndifferenzen betrifft, etwas gerechter die vorherrschende ideologischen Form darstellt.

Bei den erzreaktionären bürgerlichen Kräften tritt das ganz klar und unverhüllt hervor. Aber auch dem Liberalismus, dem Mainstreamfeminismus und dem Reformismus liegt dieses Modell zugrunde. Es wird jedoch seiner „unschönen“ Seiten bereinigt. Die gleiche Verteilung der Hausarbeit und gleiche Löhne/Einkommen werden propagiert. Ein mehr oder weniger großer privater, quasi familiär organisierter Teil der Reproduktionsarbeit wird aber als erstrebenswert oder unverzichtbar und eigentlich menschlich betrachtet. (Dies kann natürlich auch auf gleichgeschlechtliche oder Transpartner:innenschaften erweitert werden, gewissermaßen als flexiblere, anpassungsfähigere Formen der bürgerlichen Familie).

Die zunehmende Vergesellschaftung der Produktion gerät aber mit dieser engen Form der kapitalistischen Reproduktionsarbeit in Widerspruch bzw. Letztere stellt auch eine Schranke für die Expansion des Kapitals ab einer bestimmten Stufe dar.

c) Ausdehnung der Lohnarbeit der proletarischen Frauen

Das zeigte sich zuerst im Ersten Weltkrieg. Aber die Ausdehnung der Frauenarbeit in der Produktion für diesen Krieg war nur vorübergehend, nicht zuletzt aufgrund der ökonomischen Verwerfungen in der Zwischenkriegszeit, der Zerrüttung des Weltmarktes, der Massenarbeitslosigkeit und der ungelösten Probleme der globalen Vorherrschaft unter den imperialistischen Mächten.

Anders im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frauen kehren nicht in den Haushalt zurück. Dies hat zwar auch historisch spezifische Gründe in manchen Ländern (Mangel an männlicher Arbeitskraft wegen Kriegsgefangenschaft und toter Soldaten). Vor allem aber erfordern die veränderten, günstigen Akkumulationsbedingungen (Zerstörung und Ersetzung von Kapital, massive Ausdehnung der Produktion und hohe Profitraten, Ablösung des Kolonialsystems und Ausdehnung des Weltmarktes, USA als Demiurgin des Weltmarktes, Dollar als Weltgeld, Erhöhung des relativen Mehrwerts erlaubt hohe Profite und gleichzeitige Ausdehnung des Konsumfonds der Arbeiter:innenklasse) auch eine massive Expansion der weiblichen Lohnarbeit.

Proletarische Frauen (wie die gesamte Klasse) werden als Konsumentinnen wie als Lohnarbeiterinnen wichtiger. Die Expansion weiblicher Lohnarbeit wird außerdem am Beginn durch Lohndifferenz zwischen den Geschlechtern begünstigt. Frauen werden als billigere, oft nur „vorübergehende“ Arbeitskraft in bestimmen Sektoren massenhaft beschäftigt. Männer gelten am Beginn weiter als Vollzeitarbeiter. Dies entspricht einem geschlechtlich extrem segregierten Arbeitsmarkt, auf dem in der ersten Phase der Nachkriegsperiode Männer- und Frauenberufe klar getrennt sind.

In dieser ersten Phase der Expansion geht diese noch ohne große Erschütterung der proletarischen Familien wie des Oberhaupts der Familienform mit ihrer ideologisierten Selbstverständlichkeit einher. Diese wird am Beginn sogar eher stabilisiert, auch weil das Proletariat ab Mitte der 1950er Jahre stetige ökonomische Verbesserungen verspüren kann. Politisch-ideologisch sind die 1950er und frühen 1960er Jahre restaurativ, extrem miefig, reaktionär. Es ist daher auch kein Wunder, dass von einer rechtlichen Gleichstellung der Frauen in den meisten Ländern nicht die Rede sein kann.

Zugleich entwickeln sich jedoch die inneren und gesellschaftlichen Widersprüche.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit, die Ausdehnung des Bedarfs an qualifizierter Arbeitskraft und höhere Lebenserwartung erfordern auch eine Ausdehnung der Reproduktion, die gesellschaftlich geleistet wird und nicht privat. Das wiederum bedarf eines Ausbaus des Bildungswesens und sozialstaatlicher Leistungen (Gesundheitssystem, Altersvorsorge) sowie von Einrichtungen, die Frauen Vollzeitarbeit ermöglichen (Kitas, Ganztagsschulen, Pflegeheime).

Mit der Expansion geht außerdem auch eine Ausdehnung weiblicher Lohnarbeit im Bereich Bildung und Gesundheit einher.

Die Expansion macht aber auch die fest etablierte Ungleichheit, die patriarchalen Verhältnisse in Ehe und Familie immer fragwürdiger, ja unhaltbarer. Ihre gesellschaftliche Legitimation erodiert zusehends.

All das legt auch die Grundlage für die 2. Welle der Frauenbewegung der 1960er/1970er Jahre. Das Auftreten des radikalen und sozialistischen Feminismus führt dazu, dass Forderungen der Bewegung von der Gesellschaft insgesamt aufgegriffen oder jedenfalls zu einem Kampffeld für Millionen Menschen werden.

Es ist auch kein Zufall, dass die Frage der Hausarbeit/Reproduktion und der politischen Ökonomie mehr Beachtung findet in dieser Zeit und zu einem wichtigen Gegenstand der Diskussion in der Linken und Frauenbewegung gerät.

Die Expansion weiblicher Lohnarbeit ist in praktisch allen Ländern enorm, v. a. in imperialistischen Staaten, oft noch mehr in den degenerierten Arbeiter:innenstaaten, aber auch in vielen Halbkolonien.

Mit der Ausdehnung einer gesellschaftlich organisierter Reproduktionssphäre, die über Steuern, Sozialabgaben, also über Lohnbestandteile oder die Revenue des Kapitals finanziert wird, verringert sich tendenziell das reale Lohndifferential zwischen Männern und Frauen, zwischen besser und schlechter bezahlten Teilen der Arbeiter:innenklasse. Ein größerer Bestandteil des Lohnfonds insgesamt wird über staatliche Leistungen oder Sozialversicherungen umverteilt und kommt so als Anspruch auch weniger hohe Steuern oder Beiträge zahlenden Lohnabhängigen zugute.

Das Lohndifferential (Gender Pay Gap) sowie die geschlechtsspezifische Struktur der Arbeitswelt verlieren ihre offizielle gesellschaftliche Legimitation, werden ihres scheinbar natürlichen Charakters entkleidet.

Dennoch wirken sie massiv fort, ebenso die ungleiche Verteilung der privaten Hausarbeit und der überproportionale Anteil von Frauen an der Reproduktionsarbeit.

Die Ausdehnung des Soziallohns sowie der Druck der Frauen- und Arbeiter:innenbewegung wirken bei aller Zähigkeit auf eine Angleichung der Löhne/Entgelte von männlicher und weiblicher Lohnarbeit.

Die Ausdehnung der weiblichen Lohnarbeit, also direkte Beteiligung der Frau an wenn auch indirekter, „blinder“ vergesellschafteter Produktion drängt auch auf eine Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit.

Dieser Prozess stößt aber im Kapitalismus an innere Grenzen wegen des Warencharakter der Arbeitskraft, der inneren Anarchie der Produktionsweise und der bornierten, kapitalistischen Zwecke der Produktion. Zugleich bleibt die Familie weiter ein wichtiges bürgerliches Integrations- und Herrschaftsinstrument, so dass sie aus gutem Grund von konservativer und reaktionärer Seite auch dann besonders eifrig verteidigt wird, wenn sie eigentlich gesellschaftlich ersetzbar wäre. Hinzu kommt, dass sie gerade während und wegen ökonomischer Krisen weiter eine wichtige Rolle spielt: Denn gesellschaftliche Reproduktion ist wesentlich unproduktive Arbeit fürs Einzelkapital, daher Abzug von seinem Profit, tritt als unnötige Kosten in Erscheinung, die möglichst reduziert werden müssen.

3. Krise, Klassenkampf, Vergesellschaftung

Mit dem Ende des langen Booms und Einsetzen der chronischen Überakkumulation des Kapitals, die die Weltwirtschaft in verschiedenen Formen seit den 1970er Jahren mit prägt, wird auch diese Widersprüchlichkeit deutlicher. Die Sphäre der Reproduktion stürzt selbst in eine tiefe Krise.

Deren Hintergrund und Ursache bildet die strukturelle Überakkumulation. Das Kapital stößt zunehmend auf Schwierigkeiten, eine ausreichend hohe Profitrate aufrechtzuerhalten, weil die organische Zusammensetzung des Kapitals steigt und der Mehrwert schaffende Teil des Kapitals (also das variable Kapital im Verhältnis zum konstanten) immer kleiner wird. Es gibt also nicht nur einen Drang dazu, sich andere Anlagesphären (und -gebiete) zu suchen, sondern auch, die Ausbeutungsrate zu erhöhen (also die Kosten fürs variable Kapital zu senken). Das bedeutet auf der einen Seite, dass es zu mehr Privatisierungen des Caresektors kommt, um neue Bereiche zu erschließen. Es heißt aber auf der anderen auch, dass Menschen (vor allem Frauen), die stark in die Reproduktionsarbeit eingebunden sind, zusätzlich auch wieder stärker in die Lohnarbeit gedrängt werden, ohne sie von der Zusatzarbeit zuhause zu entlasten.

Vor allem in imperialistischen Ländern ist viel Reproduktionsarbeit staatlich geregelt. Sie stellt zwar einen essenziellen Beitrag zum Erhalt des Systems dar, wird aber aufgrund ihrer nicht Mehrwert schaffenden Rolle immer stärker eingespart. Viele der Probleme in unseren jetzigen Gesundheitssystemen ergeben sich aus Rentabilitätskalkülen. Nachdem ein System niedergespart wurde, kommt oft ein guter Moment für Privatisierungswellen. Die organische Zusammensetzung in diesen Bereichen liegt oft unter dem Durchschnitt und es gibt einen leichten Eintritt in den Markt, wenn die Leistungen des öffentlichen Sektors nicht mehr mithalten können (solange staatlich keine Regelungen dagegen getroffen werden). Damit wird also die vorher „nichtproduktive“ (nicht Mehrwert schaffende) zu profitmaximierender Arbeit oder zumindest darauf vorbereitet.

Je teurer dann aber wiederum privatisierte Institutionen werden und je mehr an Löhnen in krisenhaften Situationen gespart wird, umso mehr werden Leistungen der Reproduktionsarbeit (Kindergarten, Krankenhäuser usw.) unbezahlbar für die Arbeiter:innenklasse oder jedenfalls für die schlechter entlohnten Teile. Das wiederum drängt Leute wieder zurück in die Familie, um reproduktive Aufgaben vermehrt selbst zu übernehmen. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur bei Privatisierungen, sondern auch staatlichen Angeboten, die nicht kostenlos oder an viele Bedingungen geknüpft sind (z. B. Staatsbürger:innenschaft) oder eine bestimmte Familienkonstellation). Es nimmt aber nicht dasselbe Ausmaß an. Speziell trifft diese Dynamik auf Halbkolonien zu.

Kürzungen beim Soziallohn, also dem Anteil an Sozialabgaben und damit der Finanzierung von reproduktiven Leistungen, bedeuten auch einen Rückgang im gesamten Lohnfonds. Diese Unterfinanzierung steht für mehr soziale Ungleichheit und führt damit zu immer reaktionäreren Tendenzen. Mit zusammenbrechenden Sozialsystemen, verschärfter Ungleichheit und einem Zurückdrängen von reproduktiven Arbeiten in Familie und Haushalt erfolgt eigentlich ein gesellschaftlicher Rückschritt. Obwohl die technischen und organisatorischen Möglichkeiten da wären und auch das Kapital davon profitiert, über Arbeiter:innen zu verfügen, die voll ausbeutbar sind, führen inhärente Tendenzen des Kapitalismus zu einer barbarischen Situation. Diese zementieren auch die bürgerliche Kleinfamilie und ketten sowohl Frauen als auch Kinder und alte Menschen noch heftiger an sie als ohnehin schon.

Doch diese Entwicklungen passieren nicht ohne Widersprüche. Streiks in Bereichen, wo vor allem Frauen beschäftigt sind (Pflege, Kindergarten, etc.), handeln immer wieder neu aus, wie die Reproduktionsarbeit organisiert wird, und in vielen Ländern bilden sich dabei auch neue kämpferische Sektoren der Arbeiter:innenklasse.

Die krisenhaften Entwicklungen im Reproduktionsbereich dürfen jedoch nicht damit verwechselt werden, dass es nur eine Tendenz weg von der wenn auch naturwüchsigen Vergesellschaftung hin zur privaten Hausarbeit gebe.

Im Gegenteil, für bedeutende Sektoren der lohnabhängigen Mittelschichten wie auch der Arbeiter:innenklasse können wir ein Fortschreiten einer wenn auch privatkapitalistisch organisierten Vergesellschaftung der Hausarbeit konstatieren.

Wir wollen das am Beispiel der sog. Plattformökonomie verdeutlichen. In den letzten Jahren erleben wir eine große Ausbreitung von Dienstleistungen, die über solche Onlinedienste Teile von Reproduktionstätigkeiten anbieten. Das umfasst Lieferdienste für Essen und Nahrungsmittel, die mittlerweile von fast allen Schichten der Arbeiter:innenklasse zumindest gelegentlich genutzt werden.

Für größere Teile der Lohnabhängigen werden diese zum Standard für ihre Reproduktion. Der entscheidende Grund dafür besteht darin, dass die ständige Intensivierung der Arbeit, deren Verdichtung, die durch Homeoffice oft noch einen neuen Schub erhält, die Menschen während der Arbeit so sehr auslaugt, dass sie kaum noch die Kraft haben, für sich selbst zu kochen oder zu putzen.

Daher bietet die Plattformökonomie längst mehr als Mahlzeiten oder Fertiggerichte. Darüber werden auch Reinigungskräfte, Pfleger:innen oder Kinderbetreuung vermittelt.

Diese Inanspruchnahme von privat angebotenen und über größere Kapitale organisierten Diensten, die nun auch Teil der produktiven, Mehrwert schaffenden Arbeit werden, ist natürlich nicht für die gesamte Arbeiter:innenklasse möglich und erfordert, um unter den gegenwärtigen Konkurrenzbedingungen profitabel funktionieren zu können, dass die Beschäftigten der über die Plattformökonomie organisierten Lieferdienst oder Caresektoren selbst für geringe, unterdurchschnittliche Löhne und unter ungesicherten Arbeitsbedingungen tätig sind. Pointiert könnte man sagen, dass bei diesen Unternehmen vor allem jene Arbeiter:innen angestellt werden, die sich diese Dienste nicht oder nur gelegentlich leisten können. Hinzu kommt, dass, solange diese Dienste vergleichsweise billig angeboten werden, sie auch zu einer Erhöhung des relativen Mehrwerts führen.

Natürlich gibt es ähnliche Phänomene auch im bislang ganz oder halbstaatlich organisierten Reproduktionsbereich – bei Krankenhäusern, Schulen, Kitas, … Diese sind bereits, wenn auch zum Zweck der Reproduktion des Gesamtkapitals, vergesellschaftet. Nun werden bereits gesellschaftlich organisierte Bereiche der Reproduktion zerlegt, privatisiert oder im ersten Schritt einer privaten, profitorientierten Kostenrechnung und Kalkulation unterworfen.

Neben Tendenzen zur Privatisierung finden wir also auch in der aktuellen Krise solche zur Vergesellschaftung. Doch diese folgen keinem bewussten gesamtgesellschaftlichen Plan, sondern finden auf privater Basis oder durch den Staat statt. Das Zurückdrängen der Hausarbeit in die Familien und Abwälzen auf die Frauen bildet also nur eine Tendenz in der aktuellen Krisenperiode. Diese wird durch eine andere, nämlich die Ausdehnung privat organisierter Reproduktionstätigkeit ergänzt.

Während in der Phase der Ausdehnung des Reproduktionssektors in den 1960er und 1970er Jahren diese mit einem weitgehend allgemeinen Zugang zu Grundleistungen einherging, so geht die aktuelle Kommodifizierung der Reproduktionsarbeit damit einher, dass verschiedene Schichten der Arbeiter:innenklasse weit unterschiedlicheren Zugang zu diesen haben als bisher.

So wie die inneren Differenzen der Klasse in einem Land und erst recht international zunehmen, wie die Unterschiede in Einkommens- und Lebensverhältnissen zwischen Arbeiter:innenaristokratie, der Masse der Klasse und der wachsenden Schicht der prekär Beschäftigten größer werden – und dies noch viel mehr auf globaler Ebene – , so werden auch die Reproduktionsbedingungen unterschiedlicher, vergrößert sich die Kluft innerhalb der Arbeiter:innenklasse.

Ein zentraler Aspekt ist dabei, dass diese Tendenzen die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vertiefen, so dass Frauen von der Krise des Reproduktionssektors besonders stark betroffen sind.

Wir können aus all diesen Gründen ihre „Lösung“ nicht dem bürgerlichen Staat oder dem Markt überlassen. Der Kampf um die Verteidigung bestehender Errungenschaften um die Reorganisation der Reproduktionsarbeit bildet zugleich ein zentrales Feld des Klassenkampfes in der gegenwärtigen Periode. Die widersprüchlichen Tendenzen zur Vergesellschaftung, zur Privatisierung und zur Ausdehnung der privaten Hausarbeit sind im Kapitalismus letztlich unlösbar, zumal die Erhöhung der Mehrwertrate ein zentrales Element der Krisenbewältigungsstrategien der herrschenden Klasse bildet, ja bilden muss.

Im Sinne eines Programms von Übergangsforderungen gilt es, an bestehenden Kämpfen anzusetzen und diese mit dem für eine planmäßige Vergesellschaftung der Reproduktionsarbeit unter Arbeiter:innenkontrolle zu verbinden:

  • Ausbau und Einführung von Großkantinen und Restaurants unter Arbeiter:innenkontrolle als Alternative zu isolierter Hausarbeit. Entschädigungslose Enteignung der großen Handelsketten und Lieferdienste unter Arbeiter:innenkontrolle.

  • Kommunalisierung aller Kindergärten und Schulen. Diese müssen kostenlos und für alle zugänglich sein. Für ein massives Investitionsprogramm zur Erneuerung und zum Ausbau und zur Einstellung fehlender Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und anderer Beschäftigter zu vollen tariflichen Löhnen. Kontrolle über die Einrichtungen durch Ausschüsse von Beschäftigten, Schüler:innen und Eltern!

  • Enteignung von Wohnungskonzernen und von Grund und Boden. Kontrolle der Mieten durch Ausschüsse der Mieter:innen und Gewerkschaften.

  • Verstaatlichung und Ausbau des gesamten Caresektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient:innen, und Gewerkschaften, finanziert durch die Besteuerung des Kapitals und der Reichen!

  • Kampf für Reduzierung der Arbeitszeit für die gesamte Arbeiter:innenklasse auf 30 Stunden pro Arbeitswoche bei vollem Lohn- und Personalausgleich, damit die Reproduktionsarbeit auf beide Geschlechter verteilt werden kann und den Frauen die Teilnahme am politischen und gesellschaftlichen Leben erleichtert wird!

  • Für die Vergesellschaftung der Haus- und Reproduktionsarbeit. Gleichmäßige Aufteilung der übrig bleibenden privaten Tätigkeiten unter Männern und Frauen!

Die Vergesellschaftung der Hausarbeit kann im Kapitalismus nie vollständig erreicht werden, ganz so, wie die planmäßige und bewusste Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit nicht durchgeführt werden kann, solange das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Gesellschaft prägt. Daher ist der Kampf um sie mit dem für die Enteignung des Kapitals, mit der sozialistischen Revolution untrennbar verbunden.




Frauengesundheit: Who cares?

Resa Ludivien, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung 11, März 2023

Im Carebereich arbeiten mehrheitlich Frauen. Wir sind die Ersten in der Familie, die angerufen werden, wenn mal wieder jemand kränkelt oder emotionale Arbeit geleistet werden muss. Aber wer denkt eigentlich an uns?

Vielfältige Aspekte der Frauengesundheit

Frauengesundheit umfasst vieles. Neben dem Zugang zu Medikamenten, der körperlichen Unversehrtheit und Schutz vor Gewalt betrifft sie auch die sexuelle Gesundheit. Gemeint ist damit neben dem Zugang zu Verhütungsmitteln, der Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten auch die Sicherstellung medizinischer Versorgung bei Geburten.

In Zeiten der Krise werden diese Angebote geringer und konservative Ideologien sind auf dem Vormarsch. Hinzu kommen teilweise enorme Staatsschulden, vor allem in Halbkolonien. Schauen wir beispielsweise nach Afghanistan, so ist die Ausgangslage der Frauen auch beim Thema Gesundheit verheerend. Nicht nur, dass sie nach der Machtübernahme der Taliban aus weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Durch die unsichere Lage haben sich auch westliche Hilfsorganisationen (NGOs) weitestgehend zurückgezogen. Vor Ort ist nicht mal mehr die alltägliche Nahrungsmittelversorgung gewährleistet. Wie soll Mädchen und Frauen dann noch Schutz vor sexualisierter Gewalt oder eine sichere Geburt ermöglicht werden?

Auch die weltweite Coronapandemie hat uns relativ schnell gezeigt, dass besonders Frauen und ihre Gesundheit wenig im Fokus stehen. Neben der Mehrfachbelastung durch Lohn- und Reproduktionsarbeit barg die Zeit in Isolation und Lockdown für uns Frauen noch eine besondere Gefahr: häusliche Gewalt. Frauen, die in solch einer Situation leben, konnten diesem Umfeld kaum bzw. überhaupt nicht entfliehen oder sich entsprechende Hilfe suchen. Zusätzlich führte der gesamtgesellschaftliche Stress in der Pandemie dazu, dass häusliche Gewalt generell angestiegen ist. Doch auch ohne Pandemie bestehen viele weitere Faktoren, welche die Gesundheit von Frauen bedrohen. Denken wir allein an die vielen Betroffenen sexualisierter Gewalt und deren  Auswirkungen auf Körper und Psyche.

Auch der Zugang zu Medikamenten und allgemeiner Gesundheitsversorgung ist für Frauen generell schlechter als für Männer und nimmt in Krisenzeiten weiter ab. So konnte man beispielsweise inmitten der Coronapandemie einen deutlichen Anstieg der Müttersterblichkeit um bis zu 30 % verzeichnen. Gründe hierfür waren überlastete Krankenhäuser, Mangel an Hebammen oder schlicht ein unzureichendes und nicht flächendeckendes Gesundheitssystem. Auch Rassismus im Kreissaal ist häufig anzutreffen. So ist die Sterblichkeit schwarzer Frauen während der Geburt in den USA doppelt so hoch wie bei weißen, unabhängig von weiteren Faktoren wie etwa dem Einkommen. Hinzu kommt, dass Hilfsangebote zu Schwangerschaftsvorsorge und Familienplanung ebenso wie  Anlaufstellen zur Beratung bei Schwangerschaftsabbrüchen oder Fällen von körperlicher/sexualisierter Gewalt deutlich reduziert wurden. In vielen Ländern gibt es nach wie vor für Mädchen und Frauen keinen gesicherten Zugang zu Verhütungsmitteln oder der „Pille danach“. Zusätzlich kommt hinzu, dass geschlechtsspezifische Symptomatiken bei verschiedenen Krankheiten noch kaum beachtet werden. Beispielsweise werden bei Frauen weitaus häufiger Herzinfarkte übersehen, weil hier meist der charakteristisch ausstrahlende Schmerz fehlt.

Neben dem Geschlecht und der Klassenzugehörigkeit spielt leider auch die Hautfarbe häufig eine Rolle. Viele Mediziner:innen sind noch bis vor kurzem davon ausgegangen, dass schwarze Menschen ein geringeres Schmerzempfinden hätten. Dies führte meist zu einem ungenügenden Zugang zu ausreichend starken Schmerzmitteln während Behandlungen im Krankenhaus.

Inflation und steigende Preise

Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sind wir weltweit mit Inflation und steigenden Preisen konfrontiert. So beträgt sie im Iran derzeit rund 51 %, in der Türkei erreichte sie im November 2022 sogar mehr als 84 %. Auch hier sind wir Frauen mal wieder besonders hart betroffen. Sich bei hohen Lebensmittelpreisen im Krankheitsfall Medikamente leisten zu können, wird für Arbeiter:innen immer schwieriger. Vor allem auch deshalb, weil Frauen im Zuge der Pandemie deutlich häufiger von Entlassungen betroffen waren als Männer. Zusätzlich begegnen uns derzeit an jeder Ecke Lieferengpässe. Besonders präsent waren sie vor Weihnachten in den Medien, als Fiebermittel für Kinder, aber auch weitere Schmerzmittel knapp wurden. Etwas, das man in Deutschland bisher so nicht kannte. Ursache hierfür sind globale Logistik und die herrschende Wertschöpfungskette. Die Produktion günstiger Inhaltsstoffe, wie Ibuprofen oder verschiedener Antibiotika, wird meist nach Asien ausgelagert. Die wertschöpfenden Schritte am Ende, z. B. Abfüllung und Verpackung, finden dagegen weiterhin in den westlichen Industriestaaten statt. In manchen Ländern wie dem Iran erschweren zusätzlich Sanktionen den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten.

Gesundheit im Kapitalismus

Zunächst einmal arbeiten Pharmakonzerne im Kapitalismus natürlich profitorientiert. Das heißt, dass sich die Erprobung und Testreihen an der gesellschaftlich herrschenden Gruppe orientieren: weiße cis-Männer. Die Verträglichkeit von Medikamenten wird an ihnen erprobt, Frauen oder gar Kinder werden bei der Entwicklung von neuen Medikamenten kaum berücksichtigt. Hier benötigen wir eine geschlechtsspezifische Medikamentenentwicklung. Die Betonung von „Cis“ ist in diesem Kontext wichtig, weil queere Menschen nicht nur beim regulären Besuch von Arztpraxen und Krankenhäusern ständiger Diskriminierung ausgesetzt sind, vom Blutspenden über das Infragestellen der geschlechtlichen Identität. Ebenso sind die Behandlungskosten häufig sehr hoch und muss deren Bezahlung in langen Prozessen erstritten werden. In halbkolonialen Ländern kommen noch ihre Verfolgung und Unterdrückung dazu, die sie häufig komplett von der Gesundheitsversorgung ausschließen.

Eine Ursache für die angesprochenen Probleme für Frauen und queere Menschen ist zum einen deren besondere Stellung innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. Im Kapitalismus existiert eine Trennung zwischen gesellschaftlicher Produktion und der im Privaten meist von Frauen geleisteten Reproduktionsarbeit. Dies führt zu einem deutlich schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt, geringeren Löhnen und häufig zu einer finanziellen Abhängigkeit vom Partner. Hinzu kommt, dass durch die geschlechtsspezifische Rollenverteilung vorherrschende Stereotype weiter reproduziert werden. Kapitalismus ist daher, auch aufgrund globaler Konkurrenz, eng mit Sexismus und Rassismus verwoben. Hinzu kommt, dass im Gesundheitswesen deutlich weniger Profit generiert werden kann und daher die Kosten hierfür gerne auf die Gesamtgesellschaft abgewälzt werden. Um die angesprochenen Ursachen zu beseitigen, muss der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen und queeren Menschen mit dem gegen den Kapitalismus verbunden werden. Wir brauchen ein Gesundheitssystem unter Arbeiter:innenkontrolle, welches sich nicht an Profiten, sondern an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert. Die Pharmaindustrie muss enteignet und ebenfalls unter Arbeiter:innenkontrolle gestellt werden. Die bestehenden Patente müssen enteignet und nationale Produktionsstätten in Halbkolonien aufgebaut werden. Ebenso sind Ausbau und Förderung von Gendermedizin mit Berücksichtigung aller unterdrückten Gruppen der Gesellschaft unter Arbeiter:innenkontrolle von zentraler Bedeutung.




Care-Sektor: Warum die, die uns am Leben erhalten trotzdem so schlecht bezahlt werden

Sani Meier (REVOLUTION, Deutschland), Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 10, März 2022

Spätestens seit Beginn der Corona-Krise wurde uns allen noch einmal mehr verdeutlicht, wie sehr wir auf die Arbeiter_Innen im Gesundheitssektor angewiesen sind und wie schlimm es eigentlich um diesen ganzen Bereich steht: Überstunden, viel zu niedrige Löhne, privatisierte Kliniken und mangelndes Personal sind hier nur ein paar der unzähligen Baustellen. Doch warum werden gerade die Menschen, die uns buchstäblich am Leben erhalten so schlecht bezahlt?

Was ist Care-Arbeit eigentlich?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, was genau Care-, oder Sorgearbeit, eigentlich ist, denn hierzu zählt noch viel mehr als die Arbeit in Krankenhäusern. Generell fällt hierunter alles, was dem Erhalt menschlichen Lebens dient. Das ist also auch die Versorgung und Erziehung von Kindern, alten Menschen sowie Pflege- und Haushaltstätigkeiten wie u. a. Kochen, Putzen, Waschen und emotionale Fürsorge. Hier findet zudem eine Unterscheidung zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit statt. In Kliniken, Schulen, Kindergärten, Altersheimen oder ambulanten Pflegediensten wird gegen Lohn gearbeitet, während der größte Anteil unbezahlt und mehrheitlich von Frauen im Haushalt geleistet wird. Weltweit werden ungefähr 2/3 dieser unbezahlten Sorgearbeit von Frauen getragen, durchschnittlich verbringen Frauen 3,2-mal mehr Zeit damit. Care-Arbeit im privaten Haushalt wird also nicht mal wirklich als Arbeit angesehen, während in öffentlichen oder privaten Einrichtungen die Ausbeutung der Arbeiter_Innen kontinuierlich wächst. Somit stellt die Tatsache, dass man überhaupt für bestimmte Care-Tätigkeiten entlohnt wird, oft nur eine minimale Verbesserung für die Beschäftigten dar.

Der Charakter von Care-Arbeit im Kapitalismus

Die Entscheidung über Löhne und Arbeitsbedingungen ist dabei aber keine moralische, sondern basiert auf den Funktionsweisen des Kapitalismus. Alle Menschen, die selbst nicht das Kapital besitzen, um Produktionsmittel wie Fabriken, Maschinen etc. zu kaufen (Arbeiter_Innen), müssen ihre Arbeitskraft gegen Lohn an diejenigen verkaufen, die über dieses verfügen (Kapitalist_Innen). Letztere kaufen Arbeitskraft für einen gewissen Zeitraum mit der Absicht, das Produkt bzw. die Dienstleistung zu einem höheren Preis zu verkaufen als deren Kosten einschließlich der zur Reproduktion der benötigten Arbeitskraft. Diese Differenz nennen wir Mehrwert (Profit( für die Kapitalist_Innen. Dieser entsteht dadurch, dass Arbeiter_Innen nicht dann Feierabend machen können, wenn sie den Gegenwert ihres Lohnes erzeugt haben, sondern darüber hinaus weiterarbeiten müssen. Ab diesem Zeitpunkt wird unbezahlte Mehrarbeit geleistet, deren Wert sich die Kapitalist_Innen aneignen. Um diesen Profit möglichst effektiv zu maximieren, versuchen sie natürlich, die Lohnkosten so gering wie möglich zu halten. Da die Löhne aber dennoch hoch genug sein müssen, um die Arbeiter_Innen am Leben zu halten und den weiteren Verkauf ihrer Arbeitskraft zu sichern, wird ein Großteil der dafür benötigten Tätigkeiten (Reproduktionsarbeit) in die private und unbezahlte Sphäre in der „Freizeit“ der Beschäftigten ausgelagert. Warum manche reproduktive Arbeiten in öffentliche und private Hand gegeben werden, hat unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite profitieren Kapitalist_Innen auch davon, weibliche Arbeitskraft ausbeuten zu können, und Dinge wie eine einheitliche (Aus-)Bildung sind auch für manche Wirtschaftsbereiche notwendig. Das ist nicht immer besonders profitabel. Deshalb schreitet der Staat ein, um für das Kapital bestimmte Dinge umzusetzen, wo sich Unternehmen keinen (großen) Profit erhoffen können. Aber auch in Kriegssituationen kommt es oft zu einer Verstaatlichung der meisten reproduktiven Aufgaben, da die Arbeitskräfte fehlen und entlastet werden müssen. Andererseits wurden auch viele Fortschritte in Klassenkämpfen errungen. Im Care-Sektor (also Kinderbetreuung, Krankenhäuser u. ä.) haben von Beginn an hauptsächlich Frauen gearbeitet und da man erwartet hatte, dass ihre Beschäftigung mit Beginn der Ehe enden oder lediglich Nebeneinkommen zu dem des Mannes erwirtschaften würde, wurden Frauen von Anfang an schlechter bezahlt und ein Aufstieg in besser bezahlte Positionen (z. B. von der Krankpflegerin zur Ärztin) war lange nicht denkbar.

Doch obwohl Frauen heute fast selbstverständlich erwerbstätig sind, auch wenn sie heiraten, und es immer mehr Ärztinnen gibt, hat sich an der schlechten Bezahlung und den miserablen Arbeitsbedingungen wenig geändert. Wie kann das sein?

Die Ursache liegt im grundlegenden Verhältnis dieser Arbeit zum Kapital. Solange Reproduktionsarbeit (wozu private Kindererziehung ebenso zählt wie die Betreuung in der Kita) in staatlichen Einrichtungen geleistet wird, entsteht durch sie kein Mehrwert für das Kapital. Wenn es sich also nicht vermeiden lässt, diese Arbeiten außerhalb der Familie und des privaten Haushaltes zu verrichten, muss es eine andere Möglichkeit geben, damit Profit zu generieren: Privatisierung!

Privatisierung und Prekarisierung

Spätestens seit Einführung der Fallpauschale 2004 in Deutschland, welche für jedes Krankheitsbild eine durchschnittliche Bezahlung für die Behandlung festlegt, womit alles, was darüber hinausgeht, ein Defizit für die Klinik oder enormen Bürokratieaufwand bedeutet, sahen sich viele Kommunen gezwungen, ihre Kliniken an private Unternehmen zu verkaufen. Seit 1991 ist die Zahl der privaten Klinken um 70 % gestiegen und über 320 % mehr privatisierte Betten sind seitdem entstanden. Das führt dazu, dass vor allem die Behandlungen durchgeführt werden, die am meisten Profit bringen und im Gegenzug möglichst viel Geld beim Personal eingespart wird, um konkurrenzfähig zu bleiben. Kein Wunder also, dass allein zwischen 2002 und 2006, also rund um die Einführung der Fallpauschalen und den Beginn der Privatisierungswelle, circa 33.000 Vollzeitstellen in der Pflege wegfielen. Aktuell fehlen rund 100.000 Vollzeitstellen. Pflegekräfte arbeiten momentan rund 10 Jahre lang in ihrem Beruf, bevor sie wegen Überlastung eine neue Beschäftigung suchen.

Was tun?

Es ist also vor allem der Druck, Profit im Care-Sektor zu generieren, welcher letztendlich sowohl den Beschäftigten schadet als auch den Patient_Innen und damit der gesamten Bevölkerung. Wir fordern deshalb, dass der Care-Sektor nach den Bedürfnissen derer ausgerichtet werden muss, die er versorgt und die darin arbeiten. Dazu braucht es auf der einen Seite die Entprivatisierung und Neuorganisierung öffentlicher Einrichtungen unter Arbeiter_Innenkontrolle wie auch die Vergesellschaftung der privaten Reproduktionsarbeit in Form von öffentlichen Wäschereien, Küchen, Kitas etc. Diese Forderungen können aber letztendlich nicht vollständig im Rahmen des kapitalistischen Systems realisiert und müssen deshalb immer als Teil einer revolutionären gesellschaftlichen Umwälzung gesehen werden, die das Ziel hat, den Kapitalismus zu überwinden. Bis dahin muss es aber auch unsere Aufgabe sein, für konkrete Verbesserungen im Hier und Jetzt zu kämpfen wie zum Beispiel: Die Offenlegung aller Geschäftsbücher und damit volle Einsicht der Beschäftigten in Kosten und Einnahmen ihrer Betriebe!

  • Die Verstaatlichung und den Ausbau des gesamten Care-Sektors unter Kontrolle der Beschäftigten, Patient_Innen, Gewerkschaften und Arbeiter_Innen, finanziert durch die Besteuerung der Reichen!
  • Mehr Planungssicherheit und Wertschätzung für Care-Berufe! Das heißt: höhere Löhne, verringerte Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich und mehr Personal in sämtlichen Pflegebereichen!
  • Das Ende der Fallpauschalen! Für eine Behandlung, die an der Gesundheit und den Bedürfnissen der Patient_Innen ausgerichtet ist und nicht am Profit privater Konzerne!

Quellen

https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/—dgreports/—dcomm/—publ/documents/publication/wcms_633166.pdf




Das Corona-Virus und die Gesundheitskrise in den USA

Rebecca Anderson. Red Flag, Großbritannien, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung, März 2021

Das Corona-Virus hat sich unkontrolliert in allen fünfzig Bundesstaaten ausgebreitet und Millionen von Infektionen und Hunderttausende vermeidbarer Todesfälle verursacht. Von der Untergrabung der öffentlichen Gesundheitsberatung über die Verzögerung von Konjunkturpaketen bei gleichzeitiger Rettung des Großkapitals bis hin zu verspäteten Lockdowns – die politische Reaktion auf das Virus war katastrophal. Sogar die Einführung des Impfstoffs in dem Land, das einen der wichtigsten herstellt, ist schmerzlich langsam verlaufen. Die letzte Bastion gegen die Pandemie – das Gesundheitssystem, das sich um die schlimmsten Fälle kümmert, wo das Krankenhauspersonal unermüdlich daran arbeitet, schwerkranke Patienten zu retten – hat ebenfalls den Test der Pandemie nicht bestanden. Covid-19 hat die strukturelle Krise eines lückenhaften Gesundheitssystems offengelegt, das eher auf Profit als auf menschliche Bedürfnisse ausgerichtet ist.

Die Partei Democratic Socialists of America (Demokratische SozialistInnen Amerikas; DSA) führt seit 2016 eine Kampagne namens „Medicare for All“, ein Vorschlag, der von den Gewerkschaften nicht aufgegriffen wurde. Dies liegt zum einen daran, dass ihre bürokratischen Führungen kein Interesse an einer solchen Kampagne haben. Zum anderen bietet Medicare vielen ArbeiterInnen weniger Gesundheitsschutz als ihre bestehende Versicherung. Als RevolutionärInnen in der DSA glauben wir, dass die DSA stattdessen die Forderung nach einer universellen Gesundheitsversorgung für alle aufstellen und die Gewerkschaftsbasis mobilisieren sollte, um innerhalb der Gewerkschaften für diese Politik zu kämpfen.

Das Gesundheitssystem im reichsten Land der Welt

Das US-Gesundheitssystem ist versicherungsbasiert und selbst dort, wo der Staat über Programme wie Medicare oder Medicaid die Gesundheitsversorgung finanziert, wird der eigentliche Anbieter (z. B. ein Krankenhaus) in der Regel von einem privaten Unternehmen betrieben. Die Kosten für den Verzicht auf ein geplantes, flächendeckendes System von Krankenhäusern und Arztpraxen zugunsten der Finanzierung der Gewinne privater Anbieter lassen sich beziffern: Pro Person kostet die medizinische Versorgung in den USA 11.000 US-Dollar, mehr als doppelt so viel wie in anderen Industrieländern.

Von diesen durchschnittlichen Ausgaben sind 4.993 US-Dollar öffentliche Gelder. Das ist höher als in Frankreich (4.111 US-Dollar), aber niedriger als in Deutschland (5.056 US-Dollar). Das Vereinigte Königreich, wo die Gesundheitsversorgung im Behandlungsfall kostenlos ist, gibt pro Kopf 3.107 US-Dollar aus. In den USA bedeuten die überdurchschnittlich hohen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung jedoch nicht eine bessere, sondern lediglich eine teurere Versorgung. Einige Krankenhäuser und Kliniken sind staatlich, aber die meisten befinden sich in privater Hand. Die meiste Zeit werden die Ausgaben für die Gesundheit der BürgerInnen an private Unternehmen gezahlt.

Die staatlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen in den USA decken den medizinischen Bedarf der meisten Menschen nicht ab, weshalb private Krankenversicherungen einen riesigen Wirtschaftszweig ausmachen. Eine solche private Krankenversicherung kostet durchschnittlich 4.092 US-Dollar pro Person und Jahr. Für einige Arbeit„nehmer“Innen wird diese von den Arbeit„geber“Innen bezahlt – im Wesentlichen ein Abzug vom Lohn –, andere müssen sie entweder selbst bezahlen oder darauf verzichten.

Selbst mit einer Krankenversicherung ist die Gesundheitsversorgung bei weitem nicht kostenlos. Zuzahlungen und Selbstbeteiligungen bedeuten, dass diejenigen mit einer Versicherung es sich immer noch zweimal überlegen müssen, ob sie eine/n Ärztin/Arzt aufsuchen. Viele Menschen mit geringem Einkommen sind unterversichert, was bedeutet, dass ihre Versicherung keine angemessene Gesundheitsversorgung abdeckt.

Versicherungen schützen außerdem nicht vor den Kosten von chronischen Langzeiterkrankungen. Die Prämien steigen oder Versicherungen lassen teure, also kranke, VersicherungsnehmerInnen fallen. Eine Studie aus dem Jahr 2009 ergab, dass Schulden für medizinische Kosten zu 46 Prozent aller Privatinsolvenzen beitragen.

Das U.S. Census Bureau (Volkszählungsbehörde) berichtete 2017, dass fast neun Prozent der AmerikanerInnen keine Versicherung haben. Diese Zahl war in den Vorjahren höher, aber mit der Einführung des „Affordable Care Act“ (ACA) 2010 begann die Zahl der Unversicherten ab 2014 zu sinken. Diese 28 Millionen Menschen ohne Krankenversicherung zahlen entweder aus eigener Tasche für die Behandlung (die durchschnittlichen jährlichen Kosten pro Person liegen bei 1.122 US-Dollar) oder müssen warten, bis ihre Notlage so dramatisch ist, damit sie Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung von geringer Qualität erhalten. Das Fehlen einer Krankenversicherung verursacht etwa 60.000 vermeidbare Todesfälle pro Jahr.

ACA, allgemein bekannt als „Obamacare“, sorgte im Wesentlichen für eine gewisse Regulierung des Krankenversicherungsmarktes, indem es Versicherungsgesellschaften zwang, Menschen mit Vorerkrankungen aufzunehmen und grundlegende medizinische Bedürfnisse abzudecken. Es halbierte die Zahl der nicht versicherten Menschen und verlangsamte die steigenden Kosten der Gesundheitsversorgung. Trotz des enormen politischen Widerstands gegen den ACA wurde jedoch nur an den Rändern eines kaputten Systems herumgebastelt und viele AmerikanerInnen sind immer noch unterversichert, gar nicht versichert oder haben Schulden wegen medizinischer Behandlungen.

Joe Biden plant, weiter zu basteln und 25 Millionen unversicherte AmerikanerInnen zu versichern, allerdings nicht die 6,5 Millionen undokumentierten MigrantInnen, die sich im Land aufhalten. Er würde 4 Millionen in Armut lebende Menschen, deren Bundesstaaten sich geweigert haben, ihnen Medicaid anzubieten, automatisch anmelden. Für andere würden mehr Versicherungsoptionen zur Verfügung gestellt werden über das marktwirtschaftlich ausgerichtete Obamacare. Bidens Pläne greifen jedoch nicht in die von den UnternehmerInnen gestellte Versicherung ein, so dass die 150 Millionen Menschen, die ihre Versicherung darüber erhalten, nicht von der neuen Regelung profitieren würden.

In Amerika sind die Preise für Arzneimittel eine weitere große Belastung, da sie weit höher sind als in anderen Industrieländern. Ein 10-ml-Fläschchen Insulin kostet in den USA 450 US-Dollar im Vergleich zu nur 21 US-Dollar jenseits der Grenze in Kanada. Im Jahr 2015 riskierten fast 5 Millionen AmerikanerInnen eine Strafanzeige, um verschreibungspflichtige Medikamente aus anderen Ländern zu kaufen.

Die Corona-Krise

Das Corona-Virus hat die US-Regierung gezwungen, direkt mit den großen Pharmakonzernen zu verhandeln, um genügend Impfstoffe zu einem ausreichend niedrigen Preis zu erhalten und damit ein landesweites Impfprogramm zu starten. Der Impfstoff selbst ist kostenlos, allerdings dürfen die AnbieterInnen weiterhin Gebühren für die Verabreichung erheben.

Bei dem Impfprogramm geht es um Prävention, um die Wiedereröffnung von Schulen und die Rettung der Wirtschaft. Die Regierung hat ein offensichtliches Interesse daran, die Impfung von über 300 Millionen Menschen zu zentralisieren und sozialisieren.

In ähnlicher Weise hat das Corona-Virus die Regierung gezwungen, einzugreifen und die Schulden der KrankenhauspatientInnen zu begrenzen und die Infizierten zu ermutigen, sich behandeln zu lassen, anstatt das Risiko der Verbreitung des Virus einzugehen, indem sie sich selbst zu Hause behandeln. Ende Januar befanden sich über 120.000 Corona-Virus-PatientInnen in US-Krankenhäusern und die durchschnittlichen Kosten für ihre Behandlung betrugen 30.000 US-Dollar bzw. 62.000 US-Dollar für Personen über sechzig Jahre. Als das Ausmaß der Pandemie deutlich wurde, wurde eine Reihe von Hilfspaketen auf Bundesebene verabschiedet, die die Kosten für die Behandlung weitgehend abdeckten. Das Gesundheitssystem ist jedoch immer noch ein Marktplatz und einige Krankenhäuser und andere Gesundheitsdienstleister haben sich entschieden, nicht an den Hilfsprogrammen teilzunehmen. Einige PatientInnen fanden sich immer noch mit hohen Rechnungen konfrontiert.

Mehr als 25 Millionen Fälle wurden registriert und die Zahl der Todesfälle hat die 400.000-Marke überschritten, wobei kaum Zweifel daran bestehen, dass mindestens eine halbe Million AmerikanerInnen an dieser Pandemie sterben werden. Es wird auch geschätzt, dass eine von fünf Personen, die sich mit dem Virus infizieren, später an „Long Covid“ leiden wird, einer chronischen Krankheit mit unterschiedlichen Symptomen und Schweregraden. Viele, die an dieser Krankheit leiden, können auf Grund der ständigen Müdigkeit nicht mehr arbeiten. Einige haben bleibende Schäden an Herz, Lunge oder Gehirn davongetragen. Die Frage, wer die Kosten für die fortlaufende Behandlung von PatientInnen mit „Long Covid“ übernimmt, ist besorgniserregend für die Millionen von AmerikanerInnen, die durch die Krankheit ihren Arbeitsplatz und damit jede Versicherung verlieren könnten.

Das Corona-Virus hat das Versagen des US-Gesundheitssystems entlarvt. Die Anarchie des Marktes war nicht in der Lage, mit den Herausforderungen der Pandemie fertigzuwerden, so dass sogar die marktwirtschaftliche, für einen schlanken Staat stehende republikanische Partei gezwungen war, einzugreifen und die Verantwortung für das Impfprogramm zu übernehmen sowie Bundeshilfe für die KrankenhauspatientInnen bereitzustellen.

Die von Biden vorgeschlagene Erweiterung des ACA oder auch Sanders‘ „Medicare for all“ gehen nicht weit genug. Das Geld, das in den USA bereits für die Gesundheitsversorgung ausgegeben wird, würde ausreichen, um einen nationalen Gesundheitsdienst zu schaffen, der für alle, auch für MigrantInnen ohne Papiere, kostenlos ist. Im Gegensatz zum bestehenden Versicherungssystem könnte die universelle Gesundheitsversorgung durch die Besteuerung der MilliardärInnen und MultimillionärInnen finanziert werden, die von der Pandemie profitiert haben.

Doch zwischen den AmerikanerInnen und einer kostenlosen, qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung stehen mächtige GesundheitsanbieterInnen, die den Markt unter sich aufgeteilt haben und sowohl bei den staatlichen als auch bei den privaten Gesundheitsprogrammen einen massiven Gewinn abschöpfen. Auch die Pharmaindustrie hat sich daran gewöhnt, den Gesundheitsmarkt in den USA auszunutzen und weitaus mehr für ihre Produkte zu verlangen.

Der Kampf um kostenlose Gesundheitsversorgung

Die DSA setzt sich seit 2016 für „Medicare for All“ ein, d. h. für ein Gesundheitssystem mit einer einzigen Kasse, in das alle US-BürgerInnen automatisch aufgenommen würden. Dies wäre zwar ein großer Fortschritt für den Zugang zur Gesundheitsversorgung und deren Kosten in den USA, würde aber die Gesundheitsversorgung und das Eigentum an Arzneimitteln immer noch in privaten Händen belassen. Es fehlt auch die Unterstützung durch die Gewerkschaften, da viele von den Gewerkschaften ausgehandelte unternehmensfinanzierte Versicherungen besser als „Medicare“ sind, wenn auch natürlich teurer. Die DSA muss über „Medicare for All“ hinausgehen und ein System der universellen Gesundheitsversorgung vorschlagen. Die Unterstützung der Gewerkschaften kann gewonnen werden, indem zunächst die einfachen Gewerkschaftsmitglieder davon überzeugt werden, die diese Argumente in die Gewerkschaftsbewegung tragen können.

Während die DemokratInnen unter dem Druck ihrer Basis begrenzte Reformen wie das ACA verabschiedet haben, haben sie bewiesen, dass sie nicht gewillt sind, die Gesundheitsversorgung den privaten Händen zu entreißen. Die RepublikanerInnen haben sich vehement gegen eine Regulierung und Einmischung in den Gesundheitsmarkt gewehrt und wettern trotz des Corona-Virus, das sie im Extremfall zum Eingreifen zwingt, weiterhin ideologisch gegen eine sozialisierte Gesundheitsversorgung. Auf keine der beiden Parteien kann man sich verlassen, wenn es darum geht, ein Gesundheitssystem im Interesse der ArbeiterInnenklasse zu schaffen oder zu verwalten.

Bidens Vorschläge zur Ausweitung der Versicherung auf weitere 25 Millionen AmerikanerInnen sind zwar eine sehr begrenzte Reform, werden aber auf den Widerstand der RepublikanerInnen, der Versicherungslobbys und großer Teile der Medien stoßen. Die Horrorgeschichten, die in der Opposition zu „Obamacare“ kursierten, werden wieder auftauchen. Es wird enormen Druck auf die Regierung geben, die Gesundheitsreform zu verwässern oder zu verzögern. Daher müssen die SozialistInnen auch von links Druck aufbauen, um sicherzustellen, dass die neuen Gesetze verabschiedet werden, während sie gleichzeitig darauf hinweisen, dass sie nicht weit genug gehen und weiter reichende Änderungen vorschlagen.

Jeder ernsthafte Plan zur Verstaatlichung des Gesundheitswesens würde die Enteignung der privaten medizinischen und pharmazeutischen Unternehmen erfordern. Die Krankenhäuser wurden mit den hart verdienten Dollars der amerikanischen ArbeiterInnenklasse gebaut und zwangen diejenigen, die nicht zahlen konnten, in den Bankrott. Die Forschungs- und Entwicklungskosten von Medikamenten wurden durch die erpresserischen Gebühren der großen Pharmakonzerne um ein Vielfaches bezahlt. Dennoch sind sie bereit, Menschen an Diabetes und HIV/AIDS sterben zu lassen, anstatt ihre Gewinne sinken zu sehen. Den Unternehmen, die von Krankheit profitieren, steht keine Entschädigung zu. Ihre Patente sollten widerrufen und Sachwerte wie Labore und Krankenhäuser in einem öffentlichen Gesundheitsdienst verstaatlicht werden.

Wenn ein solcher Dienst durch Kampf errungen würde, wäre er bei den DemokratInnen und RepublikanerInnen nicht sicher, aber die ÄrztInnen, PflegerInnen und anderen MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens, die während der gesamten Pandemie ihr Leben riskiert haben, um ihre PatientInnen zu versorgen, wissen, was es bedeutet, für menschliche Bedürfnisse und nicht für private Eigeninteressen zu sorgen. Ein verstaatlichter Gesundheitsdienst, kostenlos für alle, finanziert durch die Besteuerung der Reichen und betrieben von den PatientInnen und dem Gesundheitspersonal, lautet die Antwort auf Amerikas Gesundheitskrise.




Krise des deutschen Krankenhaussektors

Katharina Wagner, Fight! Revolutionärer Frauenzeitung, März 2021

Man hatte es kommen sehen! Nicht erst seit dem Beginn der weltweiten Corona-Pandemie war es um das deutsche Gesundheitssystem nicht gut bestellt. Seit vielen Jahren existiert ein Fachkräftemangel im Gesundheits- und vor allem im Altenpflegebereich. Die herrschenden, schlechten Arbeitsbedingungen tun ihr Übriges dazu, potenzielle BerufsanfängerInnen abzuschrecken bzw. Fachkräfte aus dem Arbeitsumfeld zu vertreiben. Dabei war und ist der Bereich Kranken- und Altenpflege, sowohl der bezahlten als auch in viel größerem Maße der unbezahlten, weiterhin eine Domäne der Frauen. Der Anteil weiblicher Beschäftigter liegt bei über 80 %. Nun, inmitten  der Pandemie, mehren sich die Stimmen, die vor einem Kollaps des deutschen Gesundheitssystems warnen, vor allem auf den Intensivstationen.

Gleichzeitig spielten die Beschäftigten in den Krankenhäusern eine zunehmend bedeutendere Rolle in den Klassenkämpfen der  letzten Jahre, sei es um mehr Personal an diversen Unikliniken oder als VorkämpferInnen in der Lohntarifrunde des öffentlichen Dienstes von Bund und Kommunen im letzten Herbst.

Aktuelle Situation

Seit Anfang Februar gehen zwar die Zahlen von Covid-Neuinfizierten zurück. Noch immer sterben aber hunderte Menschen täglich und Grund zu Entwarnung gebt es aufgrund des Zick-Zack-Kurse von Bund und Ländern bei der Pandemie-Bekämpfung und aufgrund neuer Mutationen erste recht nicht. Laut DIVI-Intensivregister (DIVI: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) sind in den erfassten 1.200 Akut-Krankenhäusern derzeit 22.433 Intensivbetten belegt, lediglich 17 % der Gesamtbetten stehen bundesweit für weitere PatientInnen zur Verfügung. Von den derzeit intensivmedizinisch behandelten COVID-19-PatientInnen (über 5000 Anfang Januar 2021) müssen rund 57 % beatmet werden, mit einer durchschnittlichen Beatmungsdauer von rund zweieinhalb Wochen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020). Mit rund 64 % sind die Betten allerdings mit anderen als an COVID-19 Erkrankten belegt, bspw. nach Notfällen oder planbaren Operationen.

Denn anders als im Frühjahr haben viele Kliniken aufgrund finanzieller Gründe den Regelbetrieb noch immer nicht eingeschränkt. Allerdings muss hier berücksichtigt werden, dass diese Zahlen teilweise nicht der Realität entsprechen. So meldete das ARD-Magazin „plusminus“ am 02. Dezember 2020 aufgrund interner Recherchen, dass etliche Krankenhäuser mehr verfügbare Betten gemeldet hatten, als tatsächlich zur Verfügung stehen, um den versprochenen Bonus von bis zu 50.000 Euro pro neu aufgestelltem Intensivbett vom Bund zu bekommen. Allerdings kann ein nicht unerheblicher Teil dieser Betten aufgrund fehlender Fachkräfte nicht eingesetzt werden. Dieser Fehlanreiz seitens des Bundesgesundheitsministers kostete den/die SteuerzahlerIn bisher rund 626 Millionen Euro (Quelle: www.daserste.de/information/wirtschaft-boerse/plusminus/videos/sendung-vom-02-12-2020-video-102.html).

Zusätzlich erhielten die Kliniken sogenannte Freihaltepauschalen im Zuge von zwei Rettungsschirmen, um finanzielle Anreize für das Freihalten von Intensivbetten durch Verschiebung planbarer und nicht dringend notwendiger Operationen zu setzen. Während die Pauschalen beim ersten Rettungsschirm im Frühjahr 2020 an alle Krankenhäuser ausgezahlt wurden, sollen innerhalb des zweiten nur Kliniken Geld bekommen, die in Gebieten mit hohem Infektionsgeschehen liegen und weitere Bedingungen erfüllen. Die Entscheidung über die Auszahlung liegt bei den jeweiligen Bundesländern. Trotz der beiden Rettungsschirme fordern bereits verschiedene Organisationen, darunter die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) weitere Liquiditätshilfen für das gesamte Jahr 2021 inklusive Streichung der Einhaltung und Dokumentation von Personaluntergrenzen. Auch die Prüfquote des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen soll auf max. 5 % reduziert werden. All dies geht natürlich zu Lasten der Beschäftigten und PatientInnen.

Unterm Strich können diese Ausgleichszahlungen allerdings die Defizite im Krankenhaus nicht wettmachen, die ein auf gewinnträchtigen Behandlungen fußendes System mit sich bringt und besonders durch die Pandemie schonungslos aufgedeckt wurden. Wir kritisieren also nicht die Ausgleichszahlungen als solche, sondern ihre Planlosigkeit und ihren zu geringen Umfang. So wurden sie teils nicht an die Behandlung von CoronapatientInnen geknüpft, teils wurden Einrichtungen geschlossen (Rehakliniken) und ihr Personal in Kurzarbeit geschickt, während die Hotspots mit Überlastung und Einnahmeverlusten zu kämpfen hatten.

Für das Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gab es außer Beifall und warmen Worten wenig für seine aufopferungsvolle Tätigkeit während der Pandemie. Zwar wurde eine Corona-Prämie seitens des Bundes zugesagt, diese aber an sehr viele Bedingungen geknüpft und von vornherein nur für ca. 100.000 der über 440.000 Angestellten in Krankenhäusern vorgesehen. Die Entscheidung, wer nun den Bonus bekommen solle, wurde dabei den Betriebs- und Personalräten sowie MitarbeiterInnenvertretungen (in kirchlichen Einrichtungen, wo Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsgesetz nicht gelten) zugeschoben. Dagegen gab es allerdings teilweise heftigen Widerstand. Für die stationäre und ambulante Pflege wurde bereits im Frühjahr 2020 eine Bonuszahlung beschlossen, diese aber in sehr vielen Fällen nicht an die Beschäftigten weitergegeben.

Ökonomische Entwicklung

Während die Krankenhäuser in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg bis in die Anfänge der 1970er Jahre komplett durch den Staat finanziert wurden (Kameralistik), fand 1972 ein Wechsel zu einer dualen Finanzierung statt. Dabei wurden die Kosten zwischen den Bundesländern und den Krankenkassen aufgeteilt. Während letztere für die laufenden, also Betriebs- und Behandlungskosten, aufkamen, übernahm der Staat die sogenannten Investitionskosten. Allerdings gingen diese Aufwendungen seit Einführung dieses Systems  drastisch zurück, während es gleichzeitig zu einem Personalkostenanstieg für die Krankenkassen, genauer gesagt für die Versicherten, kam. Dies alles bereitete den Boden für die Einführung der sogenannten diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs: diagnosis related groups) 2004, nachdem bereits 2002 eine gesetzlich verordnete Öffnung des Krankenhausbereichs für private Konzerne eingeführt wurde. Dies erlaubte nur noch eine Abrechnung von gleichen Behandlungskosten pro Fall, wohingegen anfallende Kosten für z. B. für Rettungswesen, Verwaltung, Materialbesorgung etc. nicht berechnet werden können. Daraus resultiert eine Auslagerung von Tätigkeiten außerhalb der Pflege mit gleichzeitigem Personalabbau im Bereich der Pflegearbeit. So ermittelte beispielsweise eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahre 2018 einen Mangel von 100.000 Vollzeitstellen allein in der Krankenhauspflege. Durch mögliche Verluste der Kliniken bei überdurchschnittlich hohem Fallaufwand sieht man sich gezwungen, PatientInnen entweder frühzeitig zu entlassen oder profitorientierte Eingriffe wie das Einsetzen künstlicher Gelenke stark gegenüber konventionellen und langwierigen Therapien zu favorisieren. Auch zahlreiche Schließungen von kommunalen Krankenhäusern sowie eine starke Privatisierungswelle waren direkte Folgen des Wechsels hin zu einem profitorientierten Abrechnungssystem.

Darunter haben nicht nur die Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegebereich stark zu leiden. Auch für PatientInnen, Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet dies eine schlechtere Gesundheitsversorgung. Mittlerweile formiert sich schon seit einigen Jahren Widerstand gegen ungenügende Personalbemessungsgrenzen, Fachkräftemangel und schlechte Arbeitsbedingungen. Im Zuge der Corona-Pandemie kamen weitere Probleme wie die nicht ausreichende Versorgung mit Test- und Schutzausrüstung sowie die Aushebelung von erkämpften Arbeitsschutzrechten, als Beispiel sei an dieser Stelle die Erhöhung der maximalen Arbeitszeit angeführt, hinzu. So hat Niedersachsen eine Vorreiterrolle eingenommen und als erstes Bundesland die maximale tägliche Arbeitszeit für Beschäftigte in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen sowie im Rettungsdienst von 10 auf 12 Stunden täglich über den 1.1.2021 hinaus angehoben. Ausgleichsstunden oder besondere Entschädigungszahlungen sind in dieser Allgemeinverfügung zum Arbeitszeitgesetz nicht vorgesehen (Quelle: Neues Deutschland, 12.11.2020).

Die Antwort auf diesen besonders dreisten Vorstoß kann nur in einer Verstärkung des Kampfes für die Abschaffung der Fallpauschalen, eine gesetzlich geregelte Personalbemessung („Der Druck muss raus!“) und die Verstaatlichung der privatisierten Kliniken unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnenverbände bestehen. Dieser muss aktuell ergänzt werden durch einen Pandemienotplan unter ArbeiterInnen- und NutzerInnenkontrolle für flächendeckende Impfungen, Tests, Infektionskettenrückverfolgungen und Bereitstellung aller Krankenhäuser und Kliniken für die Coronatherapie.

Reaktion der Gewerkschaften und anderer Organisationen

Die Gewerkschaften, allen voran ver.di, haben sich in dieser Situation des Pflegenotstandes meist auf Lobbyismus, wie etwa das Sammeln von Unterschriften oder Starten diverser Petitionen, konzentriert. Kam es tatsächlich mal zu Streikaktionen, blieben diese meist auf einzelne Krankenhäuser wie etwa die Charité in Berlin oder andere Unikliniken beschränkt. Bei der letzten Tarifrunde im öffentlichen Dienst im Herbst 2020 wurde in erster Linie von der Tarifkommission eine Verbesserung der Entlohnung gefordert. Forderungen nach Einhaltung der beschlossenen Personaluntergrenzen wurden dagegen nicht aufgenommen, obwohl vielen Beschäftigten bessere Arbeitsbedingungen wichtiger gewesen wären als eine Anhebung ihrer Löhne. Denn selbst in Krankenhäusern, wo in der Vergangenheit Personaluntergrenzen vereinbart wurden, als Beispiel sei hier wieder die Charité in Berlin genannt, haben die Beschäftigten keinerlei Möglichkeiten, die Einhaltung durchzusetzen. Denn eigentlich müssten bei Unterschreitung der Personaluntergrenzen Betten gesperrt und planbare Operationen verschoben werden. Dies verringert allerdings den Gewinn der profitorientierten Krankenhäuser und wird demzufolge nicht durchgeführt.

Perspektiven für den Kampf

Um dies zu verhindern und die Einhaltung der Personalbemessungsgrenzen durchzusetzen, sind daher dringend Kontrollorgane der Beschäftigten sowie der  PatientInnenorganisationen notwendig. Und statt eines „Häuserkampfs“ in einzelnen Kliniken sollte seitens der Gewerkschaften ein bundesweiter Tarifvertrag mit gesetzlich geregelten Personaluntergrenzen und einer damit einhergehenden Mindestbesetzung gefordert werden. Um dies zu erreichen, müssen innerhalb der Gewerkschaften Streikaktionen bis hin zum politischen Streik als einem wichtigen Kampfmittel der Beschäftigten sowie der gesamten ArbeiterInnenklasse organisiert werden. Dafür sollten zunächst Aktions- und Kontrollkomitees in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen aufgebaut werden und die Beschäftigten sowie die GewerkschaftsaktivistInnen gemeinsam mit PatientInnenorganisationen über notwendige Maßnahmen entscheiden. Ein weiterer notwendiger Schritt wäre die Durchführung einer bundesweiten Aktionskonferenz zur Vernetzung für einen gemeinsamen Kampf und die Unterstützung der #ZeroCovid-Kampagne als ersten Schritt in Richtung eines Pandemiebekämpfungsnotplans.

Allerdings dürfen wir keine Illusionen in die bürgerliche Gewerkschaftsbürokratie hegen, sondern müssen für einen internen Wandel hin zu kämpferischen Gewerkschaften eintreten. Die Vernetzung für kritische Gewerkschaften (VKG) bildet einen ersten Sammelpunkt für die Möglichkeit der Bildung einer klassenkämpferischen, antibürokratischen Basisbewegung in den Gewerkschaften, die diese wieder auf den Pfad des Klassenkampfs statt der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital führen und die Bürokratie durch jederzeit abwählbare, der Mitgliedschaft verantwortliche, zum Durchschnittsverdienst ihrer Branche entlohnte FunktionärInnen aus den Reihen der besten AktivistInnen ersetzen kann!

Als Ausgangspunkte für Diskussionen im Zuge einer solchen bundesweiten Aktionskonferenz im Gesundheitsbereich halten wir folgende Forderungen für sinnvoll:

  • Staat und Unternehmen raus aus den Sozialversicherungen! Abschaffung der konkurrierenden Kassen zugunsten einer Einheitsversicherung mit Versicherungspflicht für alle, Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenzen!
  • Allerdings sollen die Unternehmen ihren Beitrag („Unternehmeranteil“) proportional zu ihren Gewinnen zahlen statt zu ihren Personalkosten!
  • Kostenlose Gesundheitsversorgung für alle – von Tests bis zur Unterbringung in Krankenhäusern!
  • Stopp aller Privatisierungen im Gesundheitsbereich! Entschädigungslose Enteignung der Gesundheitskonzerne und Verstaatlichung aller Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime unter Kontrolle der dort Beschäftigten und der Organisationen der PatientInnen, alten Menschen und Behinderten sowie ihrer Angehörigen!
  • Abschaffung der DRGs (Fallpauschalen) – stattdessen: Refinanzierung der realen Kosten für medizinisch sinnvolle Maßnahmen!
  • Breite Kampagne aller DGB-Gewerkschaften – unter Einbezug von Streikmaßnahmen – für Milliardeninvestitionen ins Gesundheitssystem, finanziert durch die Besteuerung der großen Vermögen und Erhöhung der Kapitalsteuern!
  • Sofortige Umsetzung aller bereits durchgesetzten Regelungen zur Personalaufstockung (PPR 2), kontrolliert durch Ausschüsse von Beschäftigten, ihrer Gewerkschaften und PatientInnenorganisationen!
  • Einstellung von gut bezahltem Personal entsprechend dem tatsächlichen Bedarf, ermittelt durch die Beschäftigten selbst! Sofortige Umsetzung der von ver.di, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem Deutschen Pflegerat eingeforderten neuen Personalbemessung PPR 2 und nötigenfalls ein politischer Streik zur Durchsetzung!
  • Kampf für bessere Bezahlung aller Pflegekräfte in Krankenhäusern und (Alten-)Pflegeeinrichtungen: mind. 4.000 Euro brutto für ausgebildete Pflegekräfte!
  • Einstellung von ausreichend gut bezahlten und geschulten Reinigungskräften! Entsprechende Qualifizierung von vorhandenem Reinigungspersonal, das mit tariflicher Bezahlung bei den medizinischen Einrichtungen eingestellt wird! Sofortige Rücknahme der Auslagerung von Betriebsteilen in Fremdfirmen bzw. Tochtergesellschaften mit tariflichen Substandards!
  • Radikale Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich – vor allem in den Intensivbereichen: Reduzierung der Arbeitszeit auf 6-Stunden-Schichten – bei vollem Lohn- und Personalausgleich und Einhaltung der Ruhezeit von mindestens 10 Stunden! Gegen die Verschlechterung des Arbeitszeitgesetzes, nötigenfalls mittels eines politischen Massenstreiks!
  • Für einen internationalen Notplan gegen die Coronapandemie unter ArbeiterInnenkontrolle, beginnend mit einer Ausweitung der #ZeroCovid-Kampagne und der Einberufung einer internationalen Aktionskonferenz!



Notstand im Krankenhaus: Was hat sich im Verlauf der Pandemie geändert?

Interview mit Anne Moll, Krankenschwester in Bremen, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung Nr. 9, März 2021

Fight Wie stellt sich im Moment bei Euch die Situation im Krankenhaus ganz konkret dar?

Ich arbeite im Klinikverbund Gesundheit Nord gGmbH in Bremen, einem kommunalen Krankenhausverbund der Maximalversorgung. Es gehören vier Häuser, über die Stadt verteilt, dazu, die über 3.000 Betten verfügen. Dort arbeiten 8.000 Menschen zur Versorgung der Bremer Bevölkerung und der aus dem niedersächsischen Umland.

Arbeitsüberlastungen und Personalmangel gehören seit Jahren zum Alltag.

Mit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 wurde deutlich, dass das Krankenhaus nicht über genügend Intensivplätze für beatmungspflichtige PatientInnen verfügte . Außerdem stand der Mangel an Schutzausrüstung für die Beschäftigten  ganz oben auf der Liste der Probleme neben dem an gut ausgebildeten Fachkräften, um die intensivpflichtigen PatientInnen zu versorgen.

Seit November, mit der sogenannten 2. Welle, war es eine Erleichterung, dass neue Intensiveinheiten aufgebaut worden waren. Auch an Schutzkleidung gibt es quantitativ keinen Mangel mehr. Die Qualität ist aber oft ungenügend, weil Schutzmasken teilweise nicht auf Virenschutz getestet wurden oder Schutzkleidung schon beim Anziehen reißt.

Das Hauptproblem bildet jetzt noch mehr der Notstand an Fachkräften zur Versorgung. Das betrifft vor allem das ärztliche, die Pflege und das Reinigungspersonal. Es wurde über die Sommermonate so gut wie nichts zum Aufbau von mehr gut ausgebildetem Personal unternommen. Außerdem sind in diesem Bereich nicht wenige Fachkräfte abgewandert, weil sie den Arbeitsdruck nicht aushielten. Und natürlich erkranken auch weiter Beschäftigte an Covid-19.

Fight: Wie kam es zu der Entwicklung? Worauf ist zurückzuführen, dass das Gesundheitswesen sich in den Sommermonaten nicht besser vorbereitet hat auf eine mögliche 2. Welle ?

Hier in Bremen wie in allen Krankenhäusern ging es darum, die Kosten des Lockdowns wieder einzufahren. Zudem wurden auch in den Sommermonaten starke Einschränkungen aufrechterhalten. Nur sehr begrenzt wurden wichtigste Fortbildungen angeboten, oft dann doch kurzfristig wieder abgesagt. Das Klinikum Bremen Nord hat bis heute keine Alternativen zu Präsenzfortbildungen entwickelt.

Fight: Was hat sich bei den Beschäftigtenvertretungen seit dem Sommer verändert?

Der Betriebsrat wirkt wie abgetaucht. Es gab im Sommer eine Einladung zu einer Betriebsversammlung, die dann wieder abgesagt wurde, weil der Versammlungsraum doch nicht den Hygienevorschriften entsprach. Auch hier werden keine Alternativen entwickelt.

Die Gewerkschaft ver.di fordert ja schon seit Jahren bessere Arbeitsbedingungen mit der Kampagne „Der Druck muss raus“, tut aber wenig dafür. So hat sie die Tarifverhandlungen im Herbst  nicht mit Arbeitszeitverkürzung oder der Kampagne „Mehr Personal im Krankenhaus“ verbunden. Auch hat sie nicht flächendeckend bundesweit zu Warnstreiks mobilisiert.

Die Beschäftigten selbst schaffen es in Bremen bis heute nicht, sich selbst zu organisieren. Dabei gibt es bundesweit einige gute Ansätze, darunter zwei bundesweite Vernetzungen. Einmal die zur Forderung einer Aktivenkonferenz, die sich im Sommer formiert hat. Daneben die für mehr Personal im Krankenhaus, die es jetzt schon 4–5 Jahre gibt.

Die Beschäftigten gehen aber überall vor allem einen individuellen „Lösungs“weg:

Sie arbeiten Teilzeit, wenn das möglich ist, wechseln die Abteilungen, zu möglichst weniger belastender Arbeit und gehen vor allem ganz aus den Krankenhäusern und oft auch aus den Berufen raus.

Fight: Welche sofortigen Maßnahmen wären aus Deiner Sicht nötig, um mit der zusätzlichen Belastung klarzukommen?

Die Sofortmaßnahme heißt gestern wie heute : MEHR PERSONAL, bessere Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen wie z. B. Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich, sichere Dienstpläne, sichere Pausen.

In Bremen gibt es eine Studie der Arbeitnehmerkammer („Pflegepersonal entlasten, halten und gewinnen“ von Dr. Jennie Auffenberg), die besagt, dass eine geschätzte Anzahl von zwischen 120.000 und 200.000 Pflegekräften, die den Beruf verlassen haben, wiederkommen könnten, wenn sich die Bedingungen ändern.

Als erste Schritte wären sofort umzusetzen :

  • Lohnsteigerung von 500 Euro monatlich für die unteren Gehaltsstufen
  • Arbeitszeitverkürzung, den 3-Schicht- auf einen 4-Schichtbetrieb umstellen, bei vollem Lohnausgleich

Zur Zeit passiert gerade das Gegenteil. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern  und Pflegeeinrichtungen sollen trotz ihrer schon chronischen Überlastung auch noch die Covid-19-Schnellteste durchführen und wurden für Impfungen angefragt.

Frage: Welche lang-/mittelfristigen Maßnahmen sind deiner Meinung nach nötig, um den Pflegenotstand insgesamt zu beseitigen?

Die Krankenhäuser, aber auch die Pflegedienste, Altenheime, Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sowie der Jugendhilfe müssen in öffentlicher Verantwortung geführt werden. Nur so kann die Voraussetzung geschaffen werden, dass das Personal nach Tarifvertrag bezahlt wird und Arbeitsschutzmaßnahmen umgesetzt werden. Es braucht einen Flächentarifvertrag für alle, die im Gesundheitssystem arbeiten, auch für die sogenannten patientenfernen Berufe wie Reinigung und Logistik. Es ist dringend notwendig, dass die Beschäftigten mit entscheiden über die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen, d. h. die Gesundheitsversorgung gehört unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen.

Dafür brauchen wir eine Basisopposition, die Aktionen organisieren kann und für eine antibürokratische, klassenkämpferische Neuausrichtung der Gewerkschaften kämpft.

Dafür trete ich in bestehenden Bündnissen und Vernetzungen aktiv ein. Vielleicht bist Du demnächst dabei?

Fight: Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg.

Das Interview wurde im Januar 2021 geführt.




Social Reproduction Theory – Fehler und Ansätze zur Reproduktionsarbeit

Aventina Holzer, Infomail 1104, 19. Mai 2020

„Social Reproduction Theory“ ist ein Zugang, der sich vornimmt, (meist) auf einer marxistischen Basis die Reproduktionssphäre besser zu analysieren, als es die sozialistische Bewegung bis jetzt geschafft hat. Der Anspruch ist richtig und wichtig. Für ein Verständnis von den ökonomischen Ursachen der Frauenunterdrückung und damit auch für die Strategie zu ihrer Überwindung braucht es eine bessere Analyse der sogenannten Reproduktionssphäre. Auch wenn viele der daraus resultierenden Ideen zu falschen Schlussfolgerungen und Konzepten führen, ist es wichtig, die geleistete Vorarbeit näher zu beleuchten, um eine Perspektive für eine echte marxistische Weiterentwicklung aufzuzeigen.

Geschichte

TheoretikerInnen der „Social Reproduction Theory“ (SRT) beschäftigen sich schon seit den 1970er Jahren mit dem Verhältnis von Reproduktionssphäre und Frauenunterdrückung. Zwar nicht gleichzusetzen mit dem sozialistischen Feminismus – schließlich sind nicht wenige der TheoretikerInnen der SRT in autonomen oder rein akademischen Strukturen zu verorten –, so steht die SRT doch in einem Naheverhältnis zu ihm.

Der sozialistische Feminismus selbst entstand als Antwort auf den Radikalfeminismus und dessen Ablehnung eines gemeinsamen Kampfs mit den männlichen Arbeitern für Frauenbefreiung. Allerdings griff er auch viele der Kritikpunkte des Radikalfeminismus auf. Die ArbeiterInnenbewegung wäre männlich dominiert und Aktivistinnen würden, aufgrund von vorherrschendem Sexismus, nicht gut in die Arbeit eingebunden werden. Für viele war die Antwort darauf eine teilweise separate Organisierung. Auch hielten viele die Kritik aufrecht, dass Marx‘ politische Ökonomie „geschlechtsblind“ sei und den speziellen Charakter der Hausarbeit bzw. Reproduktionssphäre nicht bedachte.

Dies führt teilweise zu einer Abwendung von Marx‘ Theorien und Methoden. Stattdessen wird die Analyse vorgelegt, dass es sich bei der Reproduktionssphäre eigentlich um eine autonome, von der Produktionssphäre unabhängige Ebene handelt. Das legt die Schlussfolgerung nahe, dass auch die Dynamik der Frauenunterdrückung, die aus der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung und der Bindung der Frau an die Reproduktionssphäre entspringt, eine unabhängige ist und dementsprechend nicht mit denselben Mitteln bekämpft werden kann wie Klassenunterdrückung. Das kann zu einem Verständnis führen, das potenziell die Bewegung spaltet und versucht, einen Kampf gegen den Mann der eigenen Klasse anstelle der wirklichen UnterdrückerInnen anzuzetteln.

Aber auch wenn der sozialistische Feminismus keine Alternative bietet, sind die Fragen, die von dieser Strömung aufgeworfen wurden bzw. werden, und auch die Gründe für ihre Entstehung sehr wichtige Ansatzpunkte für eine antisexistische ArbeiterInnenbewegung.

Es ist dringend notwendig, das in Grundzügen entwickelte Verständnis von Frauenunterdrückung weiterzudenken und nicht in rein ökonomistische Antworten abzudriften wie in Teilen der trotzkistischen Tradition.

Was ist Social Reproduction Theory?

„Dieses Projekt begann vor mehr als 10 Jahren. Wie bei vielen anderen Frauen in den späten 1960ern Jahren fiel mein Engagement für die aufkommende Frauenbewegung mit meiner Entdeckung der marxistischen Theorie zusammen. Zunächst dachten viele von uns, man brauche die marxistische Theorie einfach nur zu erweitern, um sie für unsere Anliegen als Frauenbewegung nutzbar zu machen. Schnell merkten wir jedoch, dass dieser Ansatz viel zu mechanisch war und vieles unbeantwortet ließ. Die marxistische Theorie, die wir vorfanden, und auch das sozialistische Vermächtnis an Werken zur Unterdrückung von Frauen bedurften einer grundlegenden Umgestaltung. Einige wandten sich aufgrund dieser Erkenntnis vollständig vom Marxismus ab. Andere blieben bei dem Versuch, von der marxistischen Theorie Gebrauch zu machen. Sie verfolgten nun das Ziel, die Unzulänglichkeiten der sozialistischen Tradition durch eine ‚sozialistisch-feministische’ Synthese zu überwinden. Obwohl ich mit diesem Ansatz sympathisierte, verfolgte ich weiterhin das ursprüngliche Vorhaben, die marxistische Theorie zu erweitern. Dafür war es jedoch notwendig, zu untersuchen, was marxistische Theorie überhaupt ist. Überdies machte mir eine gründliche Lektüre der wichtigsten Texte des 19. Jahrhunderts zur ‚Frauenfrage’ klar, dass die theoretische Tradition äußerst widersprüchlich ist. … Dennoch bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass nicht sozialistisch-feministische Synthesen, sondern eine Wiederbelebung der marxistischen Theorie in den bevorstehenden  Kämpfen für die Befreiung der Frauen als theoretische Orientierung am besten dient.“ (Lise Vogel, Marxismus und Frauenunterdrückung, 2019, Unrast Verlag Münster)

So versucht Lise Vogel – eine der wichtigsten und marxistischsten TheoretikerInnen der SRT –, die Entwicklung der Theorie zu erklären.

Social Reproduction Theory ist keine eigene Strömung, sondern eher eine theoretische und auch oft akademische Auseinandersetzung mit sozialer Reproduktion im Kapitalismus und, ob deren korrektes Verständnis von „orthodoxer“ marxistischer Theorie abweicht oder sie weiterentwickelt. Sie versucht dabei auch, den Ursprung der Frauenunterdrückung in der Klassengesellschaft aufzudecken, der laut vielen TheoretikerInnen, die sich mit Social Reproduction Theory beschäftigen, aus dieser Sphäre stammt und Frauen aufgrund der Fähigkeit zu gebären auch in diese Rolle historisch gedrängt hat.

Reproduktion im Marxschen Sinne kann mehrere Sachen bedeuten: auf der einen Seite (in der ArbeiterInnenfamilie) die Reproduktion der Ware Arbeitskraft (für den nächsten Tag oder die nächste Generation), andererseits meint Reproduktion auch die beständige Erneuerung der kapitalistischen Gesellschaftsformation (Kreislauf der Kapitalverwertung etc.). Die TheoretikerInnen der SRT beziehen sich vor allem auf die erstere Bedeutung, obwohl natürlich beide Varianten stark verknüpft sind.

Eine Stärke gegenüber anderen feministischen Analysen ist natürlich, dass der Ausgangspunkt ganz klar die ökonomische Analyse ist und auch die Unterdrückung daraus abgeleitet wird. Es wird versucht, Produktionsverhältnisse als menschliche Verhältnisse zu verstehen und dementsprechend gibt es auch keine eigene ökonomische Ebene abseits davon verschiedenen der Unterdrückung innerhalb der Klassengesellschaft. Die speziellen Ausprägungen der Frauenunterdrückung (z. B. von mehrfach Unterdrückten wie Migrantinnen etc.) können im Kontext von mangelnden demokratischen Rechten und deren Auswirkung auf die Gesellschaft und umgekehrt weiterverstanden werden, argumentieren die TheoretikerInnen der SRT.

Sie wollen in der theoretischen Analyse von einer dualen Betrachtungsweise („dual systems approach“), welche die Sphären der Reproduktion und Produktion auf unterschiedliche Ebenen stellt und daraus auch einen separaten Kampf für Frauenbefreiung heraufbeschwört, wegkommen. Stattdessen wird versucht, mit den Methoden, die in Marx‘ politischer Ökonomie begründet liegen, ein einheitliches Verständnis von Produktions- und Reproduktionssphäre zu finden bzw. es weiterzuentwickeln. Schließlich wirft es viele Fragen auf, wenn die Ware Arbeitskraft die einzige ist, die weitgehend außerhalb der Sphäre der Mehrwertproduktion hergestellt wird. Die SRT stellt sich diese Frage zu Recht, auch wenn sie selbst auch problematische Antworten entwickelt.

Lohn für Hausarbeit und Frauenstreiks

Die Fragestellung selbst ist auch nicht neu und wurde schon vor der SRT im feministischen Diskurs aufgeworfen. Mariarosa Dalla Costa warf zum Beispiel 1972 die Frage auf, ob die  Hausarbeit eine Form produktiver Arbeit wäre auf. Produktivität ist natürlich im Marx’schen Sinne zu verstehen als Mehrwert schaffende Arbeit für das Kapital und nicht im Sinne einer moralischen Bewertung (obwohl die Begriffe häufig vermischt werden – gerade in dieser Debatte). Daher stellt die private Hausarbeit ganz eindeutig keine Form produktiver Arbeit dar.

Dalla Costa argumentiert jedoch, dass Frauen durch ihre Reproduktionsarbeit der Ware Arbeitskraft Wert hinzufügen und damit den Mehrwert vergrößern würden. Das heißt, für Dalla Costa schafft private Reproduktionsarbeit genauso Mehrwert, wie es die in der kapitalistischen Produktion tut. Die Konsumtion zuhause ist Teil der produktiven Konsumtion. Frauen bilden somit ein eigenes revolutionäres Subjekt, Hausarbeit würde nur als nicht produktive Arbeit verschleiert und es ist notwendig, sich dagegen zu organisieren. Dafür stellt sie die Forderung nach einer Bezahlung der Hausarbeit auf (Lohn für Hausarbeit). Diese soll Frauen in den ökonomischen Kampf ziehen und es seien ja durch den produktiven Charakter der Hausarbeit auch dieselben Kampfmethoden möglich. Die Welt stehe still, wenn keine häusliche Reproduktionsarbeit mehr geleistet wird, und ohne diesen politischen Kampf könne es keine revolutionäre Perspektive geben.

Es macht keinen Sinn zu versuchen, Hausarbeit mit Produktion gleichzusetzen. Es führt auch zu problematischen Schlussfolgerungen. Die Reproduktion steht aufgrund von historischen Bedingungen außerhalb der kapitalistischen Produktionssphäre und es findet hier individuelle Konsumtion statt, keine produktive (die laut Marx das Verwerten von Produktionsmitteln ist, um den Produkten einen höheren Wert hinzuzufügen und zeitgleich auch die Konsumtion der Ware Arbeitskraft durch den/die KapitalistIn).

Dass Hausarbeit keinen Mehrwert schafft, heißt nicht, dass sie nicht unerlässlich für das Bestehen der Gesellschaft ist. Aber es braucht eben andere Kampfmethoden. Wenn Hausarbeit bestreikt wird, schadet es zuallererst den ArbeiterInnen selbst und nicht primär dem Kapital. Es wird ein Kampf gegen die Männer der eigenen Klasse aufgemacht und nicht gegen die KapitalistInnen. Das sind eben auch Probleme, die Reproduktionsstreiks der privaten Hausarbeit mit sich bringen.

Allerdings ist es wichtig, die politischen Möglichkeiten dieser Form der Proteste anzuerkennen. Auch wenn ein Bestreiken der Hausarbeit nicht denselben ökonomischen Effekt hat wie ein Streik der ArbeiterInnen, so sind doch auch sehr, sehr viele Frauen berufstätig – es ist eine gute Möglichkeit, um auf Fragen der Doppelbelastung hinzuweisen, die Einbeziehung von Frauen in den politischen Kampf voranzutreiben und das Erreichen von Leuten, die sonst an die häusliche Sphäre gebunden sind, zu ermöglichen.

Es ist aber keine Voraussetzung, Lohn für Hausarbeit zu fordern, um an solchen Demonstrationen und Aktionen teilzunehmen. Diese Forderung hat vielmehr den Charakter, Frauen noch eher an die häusliche Sphäre zu fesseln und ihnen damit die Möglichkeit zu erschweren, an politischen Kämpfen teilzunehmen – kein Wunder, dass diese Forderung auch von reaktionären Kräften aufgeworfen wird. Wir stellen dem die Forderung nach einer Vergesellschaftung der Hausarbeit entgegen.

Ausblick

SRT hat also viele Ansätze und auch viele Sackgassen. Es ist aber notwendig, sich mit diesem Zugang auseinanderzusetzen, da innerhalb dieser Debatte bis jetzt die intensivsten und auch am engsten an Marx orientierten Untersuchungen geleistet wurden. TheoretikerInnen wie Nancy Fraser, Tithi Bhattacharya und viele mehr werden auch jetzt wieder stark diskutiert. Den besten Ansatz bietet aber vermutlich Lise Vogels Werk „Marxismus und Frauenunterdrückung“ (UNRAST-Verlag, Münster 2019) und auch mit den Problemen, die dieses Buch hat, ist es ein wichtiger Beitrag zur gesamten Debatte und ein ernsthafter Versuch, von einer dualen Betrachtungsweise wegzukommen. Wir werden uns in Zukunft genauer mit ihren Theorien beschäftigen und versuchen, die historisch-materialistische Erklärung von Frauenunterdrückung zu erweitern und daraus ein Programm abzuleiten, um Sexismus – und damit auch Kapitalismus – endgültig ein Ende zu machen!




Kampf gegen Unterdrückung: Frauenstreik – ja bitte!

Katharina Wagner, Neue Internationale 234, Dezember 2018/Januar 2019

Am 10. November fand in Göttingen das erste Vernetzungstreffen zur Planung eines internationalen Frauenstreiks am 8. März 2019 statt. Rund 300 Teilnehmerinnen aus dem gesamten Bundesgebiet versammelten sich. Neben Organisationen wie der IL und der FAU waren auch zahlreiche lokale feministische Gruppen, das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung und das kurdische Frauenbüro vertreten. Als Rednerinnen waren Gäste aus Spanien, Großbritannien und Thailand eingeladen, die hauptsächlich über Erfahrungen und Lehren bisheriger Frauenstreiks sprachen. Ziel war zum einen die Erstellung eines gemeinsamen Aufrufes, zum anderen die weitere Planung der erforderlichen Organisationsstrukturen, um auch in Deutschland einen Frauenstreik durchführen zu können.

Historische Vorbilder

Vorbilder für einen Frauenstreik gibt es einige. So legten am 24. Oktober 1975 anlässlich des Internationalen Jahres der Frau etwa 90 % der weiblichen Bevölkerung Islands ihre Arbeit nieder, um für Gleichberechtigung, gerechtere Bezahlung und bessere Betreuungsangebote für Kinder zu kämpfen. Organisiert wurde der Protesttag von einem Komitee verschiedener Frauenorganisationen unter dem Namen „Frauen-Ruhetag“. Auch Hausfrauen waren dazu aufgerufen, ihre häuslichen Arbeiten niederzulegen und sich ebenfalls zu beteiligen. An der Demonstration in Reykjavík beteiligten sich neben rund 25.000 Frauen auch einige Männer. Die Protestaktion wurde absichtlich nicht als Streik bezeichnet, da es im Vorfeld heftige Diskussionen darüber gab. Die radikalfeministische Rote-Socken-Bewegung, auch Teil des Komitees, forderte bereits seit einigen Jahren einen Streik. Sie wurde allerdings von den anderen Organisationen überstimmt, die aus Angst vor den Folgen eines „politischen Streiks“ die Protestaktion lieber als „Ruhetag“ bezeichnen wollten.

Auch die Schweiz ist ein gutes Beispiel. Eine Million Schweizerinnen beteiligte sich am14. Juni 1991 an einem Frauenstreik, der unter dem Motto „Wenn Frau will, steht alles still“ durchgeführt wurde und sich hauptsächlich gegen ungerechte Löhnerichtete. Diesmal war es der schweizerische Gewerkschaftsbund, der zum Streik aufrief. Unterstützung kam von diversen Frauenorganisationen.

Frauenstreik 1994

In Deutschland selbst fand am 8. März 1994 ein großer Frauenstreik mit knapp einer Million Teilnehmerinnen statt. Sie kämpften gegen schlechte Arbeitsbedingungen und ungleiche Löhne, gegen den Abbau von Sozialleistungen ebenso wie für das Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung. Im Aufruf von 1994 heißt es: „Jetzt streiken wir! Frauen werden die Hausarbeit niederlegen, betriebliche Aktionen bis zum Streik durchführen, nicht einkaufen, nicht mehr höflich lächeln, nicht nett sein, keinen Kaffee kochen und die Kinder den Männern mit auf die Arbeit geben.“ Aber auch hier gab es im Vorfeld heftige Kontroversen um die Frage der Protestform. Innerhalb der autonomen Frauenbewegung war Streik als altes Kampfmittel der ArbeiterInnenklasse umstritten. Auch die Gewerkschaften konnten nur zur Unterstützung eines „Frauenprotesttages“ und nicht zum Aufruf für betriebliche Streiks gewonnen werden, auch wenn sie größtenteils die Forderungen unterstützten. Zu groß war die (vorgeschobene) Angst vor den Folgen eines politischen Streiks, der in Deutschland de facto als illegal eingestuft wird.

In den beiden letzten Jahren nahm die Frauenbewegung in zahlreichen Ländern massenhaften Umfang an. Hunderttausende oder gar Millionen beteiligten sich anden Aktionen wie von „Ni una menos“ (Nicht eine Frau weniger) in Argentinien, gegen sexuelle Gewalt in Indien, gegen Trump in den USA oder unter dem Motto „Ele nao“ (Er nicht) gegen den Rechtsextremen Bolsonaro in Brasilien.

Das stärkste Vorbild für einen Frauenstreik stellt aber die Protestaktion in Spanien anlässlich des 8. März 2018 dar. 6 Millionen Frauen – und Männer – traten in 300 spanischen Städten für 2 Stunden in den Streik, einige sogar den ganzen Tag lang. Neben Betrieben wurden auch Universitäten und Schulen bestreikt. Dass 40 % aller Lohnabhängigen Spaniens die Arbeit niederlegten, ist vor allem auf die Gewinnung der Gewerkschaftsbasis zurückzuführen. Zwar traten auch in diesem Fall die GewerkschaftsfunktionärInnen aus Angst vor einem politischen Streik nicht offen für eine Aufforderung dazu ein, allerdings stellte sich die Basis ihrer Führung entgegen und organisierte selbstständigdie betrieblichen Streiks.

Lehren und
Perspektiven

Welche Lehren können wir aus den vergangenen Frauenstreiks ziehen und was bedeutet dies für die weitere Arbeit? Zum einen ist es aus unserer Sicht notwendig, die Gewerkschaften in die Mobilisierung mit einzubeziehen, um darüber ihre Basis in den verschiedenen Betrieben zu erreichen. Vor allem der spanische Frauenstreik zeigt das enorme Mobilisierungspotential, welches von ihr ausgeht. Aber nicht nur die Betriebe, auch Universitäten und andere Bereiche, in denen Frauen vertreten sind, sollten in die Mobilisierung mit einbezogen werden. Um auch Frauen eine Beteiligung am Frauenstreik zu ermöglichen, die z. B. aufgrund der Pflege von Familienangehörigen nicht aktiv dazu in der Lage sind, können auch solidarische Streikformen integriert werden, welche ein Bewusstsein schaffen für die spezifischen Situationen, in denen sich viele Frauen befinden. Beim spanischen Frauenstreik waren dies weiße Schürzen oder lilafarbene Fahnen, welche in Fenster von Häusern gehängt wurden, in denen sich Frauen der Kinderbetreuung oder der Pflege widmeten und nicht selbst am Streik teilnehmenkonnten.

Nichtsdestotrotz muss es sich bei dem Frauenstreik um einen politischen Streik handeln, der neben zahlreichen Forderungen wie etwa der nach sexueller und körperlicher Selbstbestimmung oder nach gleichen Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen für Frauen auch antikapitalistische und antiimperialistische Positionen aufgreift. Da aus unserer Sicht die Frauenunterdrückung eng mit dem Bestehen von Klassengesellschaften verbunden ist, muss der Kampf zur Frauenbefreiung mit dem Klassenkampf und somit dem Sturz des Kapitalismus verbunden werden. Daher treten wir auch dafür ein, unter den männlichen Arbeitern ein Bewusstsein für die Forderungen der Frauen zu schaffen und sie ebenfalls für den Streik zu mobilisieren. Denn nur ein gemeinsamer Kampf unter Führung der Frauen kann einen starken Druck auf die herrschende Klasse ausüben und Streikbruch seitens der Männer verhindern.

Gemeinsamer Aufruf und zahlreiche Forderungen

Am Ende des zweitägigen Vernetzungstreffens in Göttingen waren sich die Teilnehmerinnen darüber einig, dass die Gewerkschaften aktiv dazu aufgefordert werden sollten, zum Frauenstreik aufzurufen und die Forderungen zu unterstützen. Auch wurde ein gemeinsamer Aufruf unter dem Titel „Wenn wir die Arbeit niederlegen, steht die Welt still“ verabschiedet, welcher zahlreiche Forderungen enthält, die wir unterstützen.

  • Gleiche Rechte, unabhängig von Geschlecht oder Herkunft
  • Recht auf sexuelle und körperliche Selbstbestimmung
  • Kampf gegen jede Art von Gewalt gegen Frauen oder Queers
  • Gleiches Recht auf bezahlbaren Wohnraum, Bildung und Gesundheitsvorsorge
  • Gleicher Lohn und bessere Arbeitsbedingungen
  • Ende der Rüstungsexporte, Stopp von Abschiebungen und Lagerunterbringung
  • Beendigung des Pflegenotstands und Schaffung ausreichender kostenloser Kinderbetreuung

Darüberhinaus haben sich Anfang Dezember Ortsgruppen in 18 Städten gebildet, darunter in Hamburg, Berlin, Leipzig und Augsburg Streikversammlungen gegründet.

 Aktuelle Infos: https://frauenstreik.org




Care Arbeit – weiblich, prekär und schlecht bezahlt

Anne Moll, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Rund 6,5 Millionen Menschen sind im bezahlten Caresektor beschäftigt. Darunter fallen alle Tätigkeiten, die direkt zum Erhalt des menschlichen Lebens dienen: Versorgung der Alten, alle Sorge- und Erziehungsaufgaben, Pflege sowie Haushaltstätigkeiten (Kochen, Waschen, Backen, Putzen, Spülen, Kindererziehung…). So wird Care-Arbeit gegen Lohn in Schulen, Kindergärten, Heimen, Krankenhäusern, Vereinen, ambulanten Diensten verrichtet. Darüber hinaus erfolgt ein größerer Teil der Care-Arbeit unbezahlt im Haushalt zur Reproduktion des unmittelbaren Lebens der RentnerInnen sowie gegenwärtiger und zukünftiger Arbeitskräfte.

Entwicklung bezahlter Care-Arbeit

Schulen, Kindergärten und Krankenhäuser sind heute für den Großteil der Bevölkerung Normalität. Doch diese Einrichtungen gab es nicht immer. Sie sind teilweise Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung. Schon bald nach Beginn der industriellen Revolution zeigte sich, dass das Fehlen jeglicher Arbeitsschutzbestimmungen (z. B. Verbot von Kinderarbeit und bestimmter Tätigkeiten für Schwangere, Arbeitssicherheitsmaßnahmen) auch die Reproduktion der ArbeiterInnenklasse selbst gefährdete und so der Expansion des Kapitals eine Schranke zu setzen drohte, weil sich die ArbeiterInnen wortwörtlich zu Tode arbeiteten.

Ohne Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen können, kommt der Kapitalismus nicht aus. Selbst diese für das Gesamtsystem notwendige Beschränkung der Ausbeutung musste den KapitalistInnen oft in zähen Kämpfen abgerungen werden. Aus ähnlichen Gründen wurde auch die allgemeine Schulpflicht eingeführt, um ein Mindestniveau an Qualifikation der Arbeitskraft und die Grundlage für eine weiterführende Ausbildung zu schaffen.

Für den einzelnen Kapitalisten erscheinen diese Kosten – sei es für Bildung, für Gesundheitsvorsorge, Pflege usw. – nur als Abzug vom Gewinn. Deswegen übernimmt oftmals der Staat diese Aufgabe, wobei die KapitalistInnen natürlich darauf drängen, dass diese Kosten vor allem die Lohnabhängigen über Steuern usw. zu tragen haben.

Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung wie die Einführung von Renten-, Unfall- und Kranken-, später Arbeitslosenversicherung, ermöglichten den Ausbau von Krankenhäusern. Damit einhergehend wurden die vorher von Ordensschwestern verrichteten Pflegearbeiten nun zur Domäne von Lohnarbeiterinnen.

Während Frauen der Zugang zu „Männerberufen“ als ArbeiterInnen wie auch als AkademikerInnen lange und hartnäckig verwehrt wurde, erschien die bezahlte Arbeit im Gesundheitswesen oder als Bedienstete in bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Haushalten als „natürliche“ Sphäre weiblicher Beschäftigung. Sie entsprach einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, reaktionären, bürgerlichen Rollenbildern, reproduzierte und festigte sie zugleich.

Sie galten außerdem von Beginn als Tätigkeiten von Frauen, die entweder mit der Heirat enden würden oder die dann als „Nebenerwerb“ zum eigentlichen Familieneinkommen beitrügen, das im Wesentlichen vom Mann bestritten würde. Das ist auch ein wesentlicher Faktor, warum diese Arbeiten historisch schlechter entlohnt wurden. Darüber hinaus war die berufliche Hierarchie auch von Beginn an geschlechtsspezifisch geprägt (Ärzte und Krankenschwestern).

Strukturen des Care-Sektors

Von den rund 6,5 Millionen lohnabhängig Beschäftigen waren 2013 340.000 staatlich anerkannte ErzieherInnen in Kindergärten oder Heimen etc. angestellt, davon über 327.000 Frauen. 2016/17 arbeiteten 760.000 LehrerInnen, der Großteil von ihnen an Grundschulen und Gymnasien.

Das Gesundheitswesen ist mit Abstand der größte Bereich und beschäftigte 2016 5,5 Millionen, 75,8 % davon waren Frauen. In Krankenhäusern schufteten über 1,2 Millionen, davon 180.000 ärztliches, 1,04 Millionen nichtärztliches Personal sowie 83.000 Auszubildende. Darunter fielen 880.000 Vollzeitkräfte (ÄrztInnen: 158.000, andere: 722.000). Die Altenpflege umfasste Ende 2015 611.000 Arbeitskräfte. Rund ein Siebtel der Auszubildenden im Gesundheits- und Sozialwesen besitzt einen ausländischen Pass.

Diese schon beeindruckend hohen Zahlen muss man jedoch in Relation zur unbezahlten Arbeit setzen. Laut Bundesamt für Statistik betrug das Gesamtvolumen an Reproduktionsarbeiten in der BRD 2001 96 Mrd. Stunden gegenüber 56 Mrd. für Erwerbsarbeit, wobei erstere weit überproportional von Frauen verrichtet werden. Untersuchungen zum individuellen Zeitverbrauch in den 30 reichsten Wirtschaftsländern ergaben für Deutschland für den Durchschnitt aller Erwerbsfähigen: 16 Wochenstunden für Erwerbsarbeit gegenüber 45 in Haus- und Familienarbeit und 24 für Freizeit.

In der Schweiz sollen 4/5 der gesamten Tätigkeiten von Frauen auf Care-Ökonomie entfallen, 2/5 bei Männern. Etwa 1/10 der Erwerbsarbeitsstellen für Männer gehören dazu (Frauen: 1/3). Das unbezahlte Volumen ist siebenmal größer als das bezahlte. (Gisela Notz: Zum Begriff der Arbeit aus feministischer Perspektive, Emanzipation, Jg. 1, Nr. 1, 2011)

Niedriglohn, Prekarität, Schattenarbeit: typisches Schicksal von Care-Frauen

Von institutionell organisierter Erziehungs-, Pflege- und Betreuungsarbeit bis hin zu sklavenähnlichen Abhängigkeiten finden wir alle Arbeitsverhältnisse in der Care-Arbeit.

Zwei Merkmale sind dabei bedeutend: Je schlimmer die Arbeitsbedingungen, je schlechter die Bezahlung, desto weniger männliche Arbeit„nehmer“ finden sich hier. Von diesem Care- Arbeitsmarkt ist selten die Rede, noch weniger von ganz überwiegend unsichtbaren Arbeitsverhältnissen im Privathaushalt und in der Schattenwirtschaft „illegaler“ MigrantInnen.

Selten werden diese Merkmale im Zusammenhang mit der Frauenunterdrückung in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt genannt. Ohne diese „Unsichtbarkeit“ solcher prekären Arbeitsverhältnisse würde in jedem kapitalistischen Land deutlich, dass die Ausbeutung wieder Formen angenommen hat, die denen zu Beginn der Industrialisierung sehr ähnlich sind. Kinder und Alte wären oft sich selbst überlassen, weil die Arbeitswelt sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter flexibilisiert und prekarisiert hat. Die Beschäftigten müssen jede Arbeitszeit und unbezahlte Mehrarbeit annehmen, da durch das Hartz-IV-System eine Verweigerung nicht mehr möglich ist. So sind viele Familien gezwungen, Pflege- und Betreuungsarbeit möglichst billig anderen zu überlassen.

Rassistisches Lohndumping

Also gibt es in der Care-Arbeit noch prekärere Beschäftigungsverhältnisse. Von der im Privathaushalt arbeitenden Pflegekraft mit Arbeitsvertrag bis hin zu „illegal“ Beschäftigten, die im schlimmsten Fall bei der Familie wohnen und 24 Stunden einsatzbereit sind. So kommt z. B. eine Frau aus Polen hierher, um in der Altenpflege zu arbeiten, und verdient nach ihren Maßstäben genug Geld, um ihre Familie in Polen durchzubringen. Dafür lässt sie ihre eigenen Familienangehörigen allein. Ihre Kinder werden mit Großeltern oder anderen Angehörigen notdürftig versorgt. Trotzdem ist es aus ihrer Sicht eine Verbesserung und sie hält einiges aus, um ihren Job nicht zu gefährden. Dies wirkt auch auf den sozialversicherten Teil im Care-Sektor als Lohndumping zurück

Auf diese Art wirkt der Druck des imperialistischen Weltmarktes auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen in den halb-kolonialen Ländern in Form von Arbeitslosigkeit und niedrigem Lebensstandard. Was der Arbeitsmarkt nicht absorbieren kann, fungiert in den führenden kapitalistischen Ländern als Reservearmee, die diesen keine Ausbildungskosten verursacht. Aufgrund ihrer Entrechtung und rassistischen Unterdrückung kann sie bei einem Sinken der Nachfrage nach Arbeitskraft leichter „entsorgt“, also abgeschoben oder zur „freiwilligen“ Rückreise gezwungen werden.

Unterschiede und Zusammenhänge im Care-Bereich

Die Pflege von kranken und alten Menschen ist einerseits in öffentlichen/kommunalen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen organisiert. Dort gibt es Tarifverträge und Betriebsräte die sich um die Umsetzung kümmern. So haben die Beschäftigten relative gute Arbeitsbedingungen im Vergleich zu denen Beschäftigten in privatisierten Einrichtungen und v. a. in privaten Haushalten.

Da heute in allen Krankenhäusern Profite erzielt werden müssen, sind die Arbeitsbedingungen extrem belastend und der Stress steigt ständig. Der überwiegende Teil der Beschäftigten hält den Leistungsdruck weniger als 10 Jahre aus. Dann sind sie gezwungen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren, werden krank oder suchen sich eine andere Lohnarbeit. Viele Auszubildende sind am Ende ihrer Ausbildung nicht bereit, den Job der Krankenpflege weiter auszuüben.

Von der Kostendämpfung zur Krankenhausprivatisierung…

Der Druck, die Carearbeit profitabel zu machen, setzte sich auch im Bereich durch, der die besten Arbeitsbedingungen der gesamten Branche bot: den Krankenhäusern. Der Einstieg in ihre Verschlechterung und schließlich das Auslösen einer massiven Privatisierungswelle erfolgte über die Finanzierungskrise der Sozialsysteme. Ab den 1970er Jahren setzte die Dauerwirtschaftskrise Staatsfinanzen und Sozialversicherungen unter Druck.

Sinkende Reallöhne führten dazu, dass die Gesundheitsausgaben den Einnahmen der Sozialversicherungen enteilten. Die paritätische Finanzierung wurde zugunsten der „Arbeitgeber“ verändert, ihr Beitrag eingefroren auf 7,3 %. Seitdem zahlen die Versicherten alle Mehrkosten (Krankenkassenzusatzbeiträge) und Zuzahlungen bei sehr vielen Behandlungskosten und Medikamenten. Erhöhungen der Krankenkassenbeiträge wären schließlich auch auf Kosten der sog. Arbeitgeberlohnanteile gegangen. Kostendämpfung bei den Gesundheitsleistungen war angesagt. Die Abrechnung der Krankenhausbehandlung wurde umgestellt. Vor 2004 wurde abgerechnet pro belegtes Bett pro Nacht. Die sogenannte Fallpauschale (DRG: Diagnosis Related Groups = diagnosebezogene Fallgruppen) legt für jedes Krankheitsbild eine durchschnittliche Bezahlung für die Behandlung fest. Reicht dieser Festbetrag für die jeweilige Krankheit nicht, macht die Klinik ein Defizit oder muss einen enormen Bürokratieaufwand leisten, um zu erklären, warum er nicht zur Heilung gereicht hat. Durch die Einführung der DRGs 2004 so wird jedes freie Bett zum Risikofaktor der Krankenhäuser. Es kam zu einem enormen Bettenabbau, der immer wieder zu Schlagzeilen in der Presse führt, dass Notfälle nicht aufgenommen werden können und Krankenwagen so lange gesucht haben, bis der Patient verstorben war.

Im alten Finanzierungssystem gab es keinen Anreiz für volle Belegung, da ja keine Gewinne gemacht werden durften und die laufenden tatsächlichen Behandlungskosten auf jeden Fall von den Kassen finanziert wurden. Heute kommt es durch DRG-Abrechnung, Gewinnabschöpfung und Konkurrenz in vielen Bereichen zu 110-120 % Belegung (PatientInnen auf dem Flur oder in Badezimmern etc.). Nicht dass es schon kompliziert genug ist, gibt es auch noch die duale Krankenhausfinanzierung: Das bedeutet, die Krankenkassen zahlen für die laufenden Kosten, die Länder und Kommunen für die Investitionen z. B. in Gebäude und Ausstattung. Diese haben die Länder seit 1991 immer weiter gesenkt, so dass wir heute einen Investitionsstau von 6-6,5 Milliarden Euro jährlich haben. Die Kliniken investieren zur Zeit viel selbst durch Einsparungen an Personal und Aufnahme von Krediten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Die Umstellung auf DRGs hat viele Kommunen ihre Kliniken an private Träger verkaufen lassen, wenn sie mit den Fallpauschalen nicht auskamen und zusätzlich noch aus laufenden Einnahmen dringend notwendige Investitionen tätigen mussten. Die privatisierten Betreiber schlossen übrigens Verträge mit den Ländern/Kommunen, um auch diese aus Steuergeldern finanziert zu bekommen, oft mehr als zuvor, als sie noch staatlich waren!

So hat der Gesetzgeber die Tür für private Unternehmen indirekt durch Einführung der Fallpauschalen geöffnet. Seit 1991 ist die Zahl privater Kliniken um 70 % gestiegen, über 320 % mehr privatisierte Betten sind seitdem entstanden. Die größten Krankenhauskonzerne sind Mediclin, Rhön-Klinikum AG, Sana Kliniken AG, Asklepios und Helios. Weitere wichtige Akteure in diesem Spiel sind die Pharmaindustrie und Gerätetechnik. Oftmals unbeachtet, dirigierten sie vor 2004 die Ausrichtung der Medizin ganz in ihre Richtung, um ordentlich Geld abzuzocken. So verschaffen sich einige wie der Pharma- und Dialysekonzern Fresenius SE & Co. KGaA als Betreiber zahlreicher Kliniken weiteren Marktzugang.

…und ihre Folgen für die Beschäftigten

Ob in kommunalen, privaten, kirchlichen oder anderen frei-gemeinnützigen Einrichtungen: Die Privatisierungen und Profitorientierung gingen einher mit Personalabbau und daraus folgender Arbeitsverdichtung und Überstunden. Daneben hatte der Ausstieg mancher Krankenhausträger aus dem relativ flächendeckenden Tarifvertrag (TvÖD) Lohnsenkungen zu Folge, denn der durch die DRGs geschaffene Markt übte seine bekannten Rationalisierungszwänge aus. Von 1995 bis 2006 wurden 87.000 Stellen im Krankenhaus abgebaut, davon 40.000 Pflegekräfte.

Dies ging auch einher mit Schließungen von ganzen Krankenhäusern. Gleichzeitig stieg allerdings die Bettenbelegung um 30 %. Im Jahr 2013 hat ver.di in 200 Krankenhäusern eine Befragung durchgeführt und dadurch errechnet, dass bundesweit 162.000 Stellen in den Krankenhäusern fehlen, um eine gute Krankenhausversorgung zu gewährleisten, davon 70.000 Stellen in der Pflege. Zur Zeit arbeiten in Deutschland in 2000 Krankenhäusern 410.000 Pflegekräfte. Sie müssen deutlich mehr PatientInnen versorgen als in anderen Ländern (Japan: 53,1; OECD-Durchschnitt: 31,9; BRD: 19,0 Pflegekräfte auf 1000 Behandlungsfälle). Dies führt erwiesenermaßen zu einer höheren Todesrate bei den Patienten neben erhöhter Belastung für Pflegekräfte (Burnout, Rückenleiden etc.; Berufsabbruch, s. o.).

Aber der Widerstand gegen schlechte Löhne und noch schlechtere Arbeitsbedingungen nimmt zu. Sowohl die Krankenpflege als auch die Altenpflege versucht, mit Aktionen Druck auf die EntscheidungsträgerInnen auszuüben.

Widerstand

Durch die oben genannten Probleme ist die Situation der Pflegekräfte miserabel und die PatientInnen sind in Gefahr. 2015 gab es einen wichtigen Anstoß der Beschäftigten in der Berliner Charité für mehr Personal im Krankenhaus. Ver.di möchte diesen Tarifvertrag an allen Kliniken durchsetzen und rief im Juli 2017 bundesweit zu Tarifverhandlungen für einen TV Entlastung auf (Artikel dazu in dieser Zeitung). In vielen Städten haben sich daraufhin Bündnisse für mehr Personal im Krankenhaus gebildet: Hamburg, Bremen, Berlin, Freiburg, Tübingen, Stuttgart, Saarland, Düsseldorf, Helios Amper-Kliniken in Dachau und Indersdorf, SRH Klinikum Karlsbad-Langensteinbach, Trier.

Und mit ca. 80 % weiblichen Beschäftigten in der Krankenhauspflege (in Altenheimen eher noch mehr) ist dies auch ein wichtiger Kampf für die Gleichstellung von Frauen im Beruf, kann eine Signalwirkung haben für alle „typischen“ weiblichen Arbeitsverhältnisse und deren nächste Arbeitskämpfe.

Trotz Tarifvertrags und offiziell gleicher Bezahlung in der Pflege gibt es deutliche geschlechtliche Unterschiede: männliche Pflegekräfte erhalten oft schneller eine Weiterbildung und arbeiten in Bereichen, die besser bezahlt sind: Intensivstationen, Anästhesiepflege oder haben Leitungsfunktion. Zudem werden sie durch individuelle Lohnabsprachen oft besser bezahlt als ihre Kolleginnen.

Die Gewerkschaft ver.di stellt in ihrem Aufruf zu Verhandlungen für einen Tarifvertrag Entlastung bundesweit drei Forderungen auf: mehr Personal, verlässliche Arbeitszeiten und Belastungsausgleich. Die Beschäftigten an einigen Orten, an denen sich Bündnisse gegründet haben und eigene Flugblätter geschrieben wurden, hatten deutlich oft Konkreteres und mehr verlangt.

So forderten die KollegInnen in Bremen 1600 zusätzliche Pflegekräfte sofort, Einarbeitungszeit für neue KollegInnen von mind. 6 Monaten, garantierte Fortbildung, Dienstplansicherheit (kein Holen aus dem Frei) oder Frühverrentungsmöglichkeit ohne Abschläge wie bei Polizei und Feuerwehr! Außerdem wurde der Wegfall der Fallpauschalen, das Ende der Privatisierung der Krankenhäuser und die Rekommunalisierung privatisierter und ausgegliederter Bereiche verlangt.

Zur Zeit gibt es aber eine deutliche Zurückhaltung der Gewerkschaft, die Kämpfe ernsthaft bis zum Streik zu führen. Dort, wo im Jahr 2017 Demonstrationen und Streiks stattfanden, beteiligen sich Beschäftigte aktiver als in Städten wie Hamburg und Bremen, die denken, es wäre noch zu früh, Streik auf die Agenda zu setzen! Deshalb treten wir für Belegschaftsversammlungen in allen Kliniken eine. Dort sollen nicht nur Unterschriften gesammelt, sondern auch Komitees zur Vorbereitung von Aktionen und Streiks gewählt werden, die der Basis rechenschaftspflichtig und von dieser abwählbar sind. So könnte die Grundlage für einen bundesweiten Streik im Pflegebereich gelegt werden. Dieser Kampf sollte mit dem für die Rückholung aller ausgelagerten Betriebsteile, für ein Verbot von Leiharbeit und Niedriglohnbereichen verbunden werden: Ein Betrieb – eine Belegschaft – ein Tarif!

Die Kontrolle der Umsetzung muss bei Komitees der Beschäftigten und Gewerkschaften liegen.

Für eine wirkliche Care Revolution!

Was bei ver.di und auch den Belegschaften oft fehlt, ist die Forderung nach Offenlegung aller Einnahmen und Ausgaben. Gesundheit ist eine Klassenfrage und betrifft alle Lohnabhängigen. Ein Gesundheitssystem muss nach ihren Bedürfnissen als PatientInnen und dortige Beschäftigte ausgerichtet werden.

Daher treten wir für ein Programm zum Ausbau des Gesundheitswesens wie aller anderen Felder der Care-Arbeit unter Kontrolle der Beschäftigten, der Gewerkschaften, von VertreterInnen der lohnabhängigen Bevölkerung ein. Ein solches Programm müsste durch die Besteuerung der Reichen, von Gewinnen und Vermögen finanziert werden.

So könnte zugleich auch weitere Abwälzung von Care-Tätigkeiten auf die private Hausarbeit und damit vor allem auf die Frauen bekämpft werden. Ein Ausbau von Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, Kitas, Betreuungseinrichtungen und Freiangeboten für Kinder und Jugendliche wäre ein Schritt zur Umkehr des Trends der letzten Jahre und Jahrzehnte.

Diese Forderungen können ein Schritt sein zur Sozialisierung der gesamten Care- und Reproduktionsarbeit einschließlich der bezahlten wie unbezahlten in Privathaushalten. Das kann auch die prekär Beschäftigten auf unterster Stufenleiter unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, ferner alle Azubis mitnehmen und die Tür aufmachen zu einem vernünftigen Gesellschaftssystem, die den arbeitenden Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Produktionszwecke stellt. Menschen statt Profite heißt: Sozialismus statt Kapitalismus!




Druck machen muss anders gehen! – Zum Stand der ver.di-Tarifkampagne Entlastung

Jürgen Roth, Gruppe ArbeiterInnenmacht, Fight! Revolutionäre Frauenzeitung No. 6

Vorzeigebetrieb Charité Berlin?

2015 streikte das dortige Pflegepersonal 11 Tage lang. Ab April 2016 befand sich der erstreikte Tarifvertrag Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung (TV) im einjährigen Testlauf und wurde von der Gewerkschaft über den Juni 2017 hinaus nicht verlängert. Feste Mindestbesetzungen wurden aber nur für den Intensivbereich und die Kinderklinik vereinbart. Der Interventionsablauf bei Unterschreitung der Besetzungsstandards war ausgesprochen schleppend und scheiterte oft an der Blockade durch Vorgesetzte. Der Vertrag war zudem ausgesprochen kompliziert und für die KollegInnen schwer verständlich. Zwar erwies sich das Konzept des Betten- und Stationsschließungsstreiks mittels Notdienstvereinbarungen als erfolgreich und die Etablierung neuer gewerkschaftlicher Strukturen in Form der TarifberaterInnen beinhaltet ein Potenzial für basisdemokratisch erneuerte gewerkschaftliche Vertrauenskörper, doch es überwog die Unzufriedenheit mit dem TV (siehe: „Lehren aus dem Charité-Streik“, NEUE INTERNATIONALE 219, Mai 2017).

Er wurde gekündigt und Ende September 2017 trat die Charité in einen erneuten Streik. Fast gleichzeitig bremste ver.di die streikwilligen KollegInnen bei den kommunalen Berliner Vivantes-Kliniken aus. Nach der 1. Streikwoche der Charité wurde dort nur in einigen Häusern ein bis zwei Tage warngestreikt. Dann wurde im Oktober die 2. Streikwoche an der Charité ausgesetzt auf eine „Verhandlungsverpflichtung“ der Arbeit„geber“Innen zur Erarbeitung von Schritten zwecks besserer Umsetzung des TV bis Ende Dezember hin. Die „TarifberaterInnen“ fungierten hierbei als bessere Ausführungsorgane der Gewerkschaftsbürokratie, statt als deren Opposition aufzutreten.

Schlingerkurs

Am 27. März 2017 kam es im Saarland vor dem Saarbrücker Landtag zu einem eintägigen Warnstreik mit 600 Angestellten aus 12 Betrieben. Am 25. Januar 2018 streikten Beschäftigte der 4 baden-württembergischen Universitätskliniken. Die Urabstimmung an den Amper-Kliniken (Helios-Konzern) in Dachau und Markt Indersdorf erbrachte ein über 90 %-iges Votum für Streik, doch die ver.di-Tarifkommission setzte den Streik unter Protest zahlreicher Beschäftigter und der Unabhängigen Betriebsgruppe einfach aus, nachdem die Geschäftsführung erklärt hatte, dem TVöD beitreten zu wollen, der gar keine Entlastungsregelungen enthält. Der Kommunale Arbeit„geber“verband (KAV) weigert sich zudem, auch nur Verhandlungen über einen Entlastungs-TV aufzunehmen. Außer mit der Charité kann ver.di bis jetzt nur auf einen solchen Abschluss mit den privaten Unikrankenhäusern in Gießen und Marburg nach 3 Streiktagen verweisen. Einer onkologische Station der saarländischen Uniklinik in Homburg sind zudem 21 zusätzliche Pflegevollkräfte bewilligt worden.

Außer (Warn-)Streiks gab es seitens der DGB-Gewerkschaft ver.di nur Ankündigungen. Ausgewählte Krankenhäuser in privater und öffentlicher Trägerschaft in 7 Bundesländern wurden zur Aufnahme von Verhandlungen über einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) aufgefordert. In weiteren 100 Betrieben soll der Druck erhöht werden: Dienst nach Vorschrift wie Verweigerung des Einspringens aus dem freien Wochenende und an freien Tagen (St. Ingbert); Protest vor dem Aufsichtsrat der „Gesundheit Nord“ (Bremen); Straßentheater (Rostock); Transparent am Deutschen Eck (Koblenz); Erheischen von Aufmerksamkeit am Tag der Pflege (Stuttgart) und vor dem Haupteingang in der Mittagspause (Kircheimbolanden); Aktionstage zur Händedesinfektion am 12. und zur Einhaltung der Pausen am 19. September 2017 (Brandenburg, Essen; darunter auch abgebrochene Aktionen „wegen angespannter Personalsituation“ in Baden-Württemberg, im Saarland und in Köln); Proteste in der Altenhilfe und Psychiatrie; Konferenz mit 150 Beschäftigten aus 50 nordrhein-westfälischen Kliniken am 29. April 2017 in Oberhausen. Diese forderte ein Sofortprogramm für die Einstellung von 20.000 Pflegekräften, damit niemand mehr allein auf Station arbeiten muss (Nachtdienste).

Lobbypolitik und Volksentscheid – kein Ersatz für Klassenkampf!

Letzteres ist aber doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein und zudem nicht mit guten Worten durchzusetzen, sondern nur mit flächendeckenden Vollstreiks für einen TVE, der 162.000 Stellen, davon 70.000 allein in der Pflege schaffen muss (Zahlen laut ver.di). Die ver.di-Bürokratie droht aber bereits einzuknicken vor den Versprechen der geschäftsführenden Bundesregierung und der laufenden Koalitionsverhandlungen. Erstere verspricht Personaluntergrenzen in „pflegesensitiven“ Bereichen. Viele Gewerkschaftsmitglieder fürchten bereits zu Recht einen Verschiebebahnhof, auf dem keine einzige zusätzliche Stelle geschaffen wird, sondern diese aus der Normalpflege abgezogen werden. Aus den Gesprächen für eine neue Große Koalition sickerte zudem durch, dass die zukünftige Bundesregierung 8000 zusätzliche Pflegearbeitsplätze „schaffen“ will – bundesweit! Dies ist mal gerade ein Zehntel der in der Pflege und weniger als ein Zwanzigstel der insgesamt benötigten Jobs in Akutkrankenhäusern!

Gegen eine gesetzliche Personalregelung haben wir natürlich keine Einwände. Doch über Unterschriftensammlungen für eine Pflegebemessungspetition an den Bundesrat (Ende 2015) und Vertrauen in die saarländische CDU-Gesundheitsministerin Monika Bachmann, die auf einer großen Krankenhausdemonstration am 8. März 2017 in Saarbrücken versprach, sich für eine solche im Bundesrat einzusetzen kommen die ver.di-FunktionärInnen nicht hinaus. Diese Initiative endete kläglich in der Beauftragung eines Gutachters, der bis zum Spätherbst 2017 brauchte auszurechnen, dass die Fallzahl um 2,7 % und in der Geriatrie um 13,8 % steigen werde. Personalempfehlungen gab der gute Mann indes nicht ab!

Die jüngste Initiative des „Berliner Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus“ sammelt Unterschriften für einen berlinweiten „Volksentscheid für Gesunde Krankenhäuser“. Bis es dazu kommt, braucht sie in der 1. Stufe des Volksbegehrens 20.000 Unterschriften, in der 2. 170.000 und in der 3. im eigentlichen Volksentscheid ein Beteiligungsquorum von 25 % aller Wahlberechtigten und eine Mehrheit. Als 2. Möglichkeit steht der Weg über eine Volksinitiative offen.

Das Bündnis will Mindestpersonalzahlen sowie eine Mindestinvestitionsquote erreichen; die Investitionen sollen vom Land Berlin übernommen werden. Alles in allem wird mit jährlichen Kosten von 385 Millionen Euro gerechnet.

Wir würden einem solchen Begehren zwar nicht unsere Unterschrift verweigern und im Falle eines Volksentscheids für dessen Anliegen stimmen, doch bezweifeln wir seine politische Wirksamkeit. Was soll geschehen, falls es nicht zustande kommt? Selbst bei positivem Ausgang ist aber auch das Ergebnis nicht zwingend vom Senat umzusetzen. Das Initiativbündnis hat schon eine entsprechende Bundesratsinitiative vorbereitet. Das Ergebnis dürfte wie 2015 und 2017 ausfallen. Statt allein auf die Mittel der bürgerlichen Demokratie (Volksbegehren, Länderparlament) zu bauen, sich im „alternativen“ Lobbyismus zu verfransen, hätte das Solidaritätsbündnis für mehr Personal im Krankenhaus im Charité-Streik dem Ausverkauf der ver.di-Spitze eine klassenkämpferische Alternative entgegensetzen und den Streikenden eine antibürokratische Kampfperspektive bieten sollen! So würden wir die Kampagne für den Volksentscheid damit verbinden, ver.di nicht vom Haken zu lassen, und unsere Perspektive Vollstreik einbringen sowie uns am Aufbau von Solidaritätskomitees beteiligen.

Statt des Lobbyismus der Gewerkschaftsbürokratie und ihrer „linken“ BegleitmusikantInnen brauchen wir einen politischen Streik für ein Gesundheitsgesetz unter Einbezug aller Gewerkschaften für:

– Abschaffung der Fallpauschalen (DRG)!

– 162.000 neue Stellen!

– Ausreichende staatliche Bau- und Investitionsfinanzierung!

Das ist die notwendige Entlastung für Beschäftigte und PatientInnen gleichermaßen!