Finanzialisierung des Wohnungsmarktes

Veronika Schulz, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Rasante Preissteigerungen am Wohnungsmarkt, stetig wachsende Gewinne privater Immobilienkonzerne, satte Renditen für deren AktionärInnen – seit über einem Jahrzehnt wird auch in Deutschland verstärkt mit der Ware und Kapitalanlage Wohnen spekuliert. Für Millionen MieterInnen bedeutet dieses Monopoly durch steigende Mieten bei stagnierendem oder gar sinkendem Lohnniveau ein Armutsrisiko. Auch Luxussanierung, gezieltes Rausekeln mit Hilfe verschleppter Instandhaltung („Entmietung“) und schlussendlich Zwangsräumung bei Mietschulden, oftmals in die Obdachlosigkeit, sind probate Mittel, um durch die Neuvermietung der auf diese Weise frei gewordenen Wohnungen höhere Einnahmen zu erzielen.

Wie es überhaupt dazu kam, dass Wohnungen als Anlageobjekte für das Finanzkapital in den Fokus rückten, welche politischen Entscheidungen dies nicht nur begünstigt, sondern erst in diesem Ausmaß ermöglicht haben und warum von einer „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarktes gesprochen werden muss, wollen wir hier kurz nachzeichnen.

„Sozialer“ Wohnungsbau = bezahlbares Wohnen für alle?

Westdeutschland, soziale Marktwirtschaft, Wohlstand für alle – glaubt man diesem Dogma, muss auch bezahlbares Wohnen für alle ausdrücklich erwünschtes Staatsziel und süße Realität gewesen sein. Auch in der aktuell angespannten Situation auf dem Mietwohnungsmarkt ist die Forderung nach „mehr“ und „schneller“ gebauten Sozialwohnungen allgegenwärtig, auch von Linkspartei und der Interventionistischen Linken (IL). Der „soziale“ Wohnungsbau war jedoch für die ArbeiterInnenklasse zu keiner Zeit eine Errungenschaft auf Dauer.

Ab den 1950er Jahren wurden zehn Millionen Sozialwohnungen, u. a. auch als Dienstwohnungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst sowie von Staatsbetrieben wie Post und Bahn, gebaut. Auch Unternehmen setzten zu dieser Zeit auf Werkswohnungen. In beiden Fällen, beim Bau von Sozial- wie auch Werkswohnungen, subventionierte der Staat entweder direkt oder durch Verzicht auf Steuereinnahmen indirekt diese Maßnahmen.

Der Bundesgerichtshof hat mehr als einmal geurteilt, dass Immobilienunternehmen eine zeitlich unbegrenzte Sozialbindung selbst bei Vergabe von Krediten oder Bauland durch die öffentliche Hand nicht verpflichtend auferlegt werden darf. Temporäre Sozialbindung ermöglicht für die massenhaft aus selbiger fallenden Wohnungen erst die enormen Anschlussmietpreissteigerungen. Allein zwischen 2016 und 2018 sind pro Jahr knapp 85.000 Wohnungen aus der Preis- und Belegungsbindung gefallen. Alle 6 Minuten wird also eine Wohnung dem „freien Markt“ überlassen. In München sind nicht einmal mehr 10 % der Wohnungen Sozialwohnungen, in Berlin 13 %. Der Anteil der Personen bzw. Haushalte mit Anspruch auf einen Berechtigungsschein für Sozialwohnungen (WBS) liegt in beiden Städten bei um die 50 %. Der sogenannte „soziale“ Wohnungsbau erwies sich bisher also nicht als Lösung auf dem Weg zu ausreichendem und bezahlbarem Wohnraum.

Subvention von Eigentum durch die Hintertür

Gerade im Bereich der Bau- und Wohnungswirtschaft greift der Staat durch eine Vielzahl an Steuervergünstigungen, Abschreibungsmöglichkeiten und Finanzhilfen massiv in das Wirtschaftsgeschehen ein – aus dieser Sicht kann also keine Rede vom „freien Markt“ sein, der der Immobilienlobby bei Mieterhöhungen sonst so heilig ist. Im Jahr 2018 wurde die Immobilienwirtschaft direkt oder indirekt mit etwa 25 Mrd. Euro subventioniert. Abgesehen von der Agrarindustrie ist kaum ein Wirtschaftsbereich dermaßen stark bezuschusst.

Somit spielt der Staat auch beim Bau sogenannter „frei finanzierter“ Wohnungen eine nicht unerhebliche Rolle. Immobilienfirmen leihen sich für Boden und Bau zunächst Geld bei Banken. Durch Vermietung verdienen die Firmen als Eigentümerinnen, zahlen Steuern an den Staat und bedienen zudem die Kredite bei den Banken. Im Gegenzug zur Verschuldung der Firmen gewährt der Staat Steuererleichterungen und Abschreibungsmöglichkeiten und verzichtet somit auf Einnahmen, was auf lange Sicht zugunsten dieser aufgeht, die Banken verdienen allemal gut daran. Zwischen 1980 und 2014 flossen auf diese Weise knapp 100 Mrd. Euro in den Wohnungsbau, davon 80 % für die Bildung von Wohneigentum! Privateigentum wird somit auf Kosten von SteuerzahlerInnen und MieterInnen aufgebaut.

Von der Liberalisierung des Wohnungsmarktes …

Betrachten wir die Situation in den Gebieten der ehemaligen DDR, so waren diese nach der Wiedervereinigung in besonderem Maße von Mietpreissteigerungen betroffen.

In den 1990er Jahren wurden in der DDR mehr als 1,2 Millionen bzw. ein Drittel der ehemals kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungen privatisiert. Das entsprach 20 % des gesamten ostdeutschen Wohnungsbestandes (1). Die DDR hatte seit ihrem Bestehen die Mietpreise auf den Stand von 1936 eingefroren. Die durchschnittliche Mietbelastung lag bei nur drei Prozent des Einkommens. Die Restauration kapitalistischer Eigentumsverhältnisse ebnete den Weg für die Aufhebung der existierenden Mietpreisfestsetzung. Anschließend sorgten politisch verordnete Mietsteigerungen um durchschnittlich (!) 600 % dafür, dass im Osten fortan Mieten auf Westniveau erzielt werden konnten (während die Löhne nie so weit angeglichen wurden). An diesem Beispiel werden die historische Tragweite der vollzogenen Vermögensumverteilung und gewissermaßen auch eine Enteignung der Ostdeutschen deutlich (2).

Für private InvestorInnen bedeutete dieser gänzlich neu zu erschließende Markt paradiesische Zustände für ihre Kapitalanlagen. In der Folge kauften sich in den 1990er Jahren Kapitalbeteiligungsgesellschaften (Private Equity Funds) in großem Stil besonders auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt ein.

Bereits im Laufe der gesamtwirtschaftlichen Welle von Privatisierung und Liberalisierung in den Jahrzehnten seit 1980 überließ der deutsche Staat auch im Westen den Wohnungsbau dem Kapitalmarkt und privaten InvestorInnen. Bundesweit wurde 1990 die Wohnungsgemeinnützigkeit ersatzlos abgeschafft und 2001 die Wohnungsbauförderung faktisch beendet. Hinzu kam die allgemeine Deregulierung der Finanzmärkte, in deren Zug die Koalition aus SPD und Grünen unter Kanzler Schröder zu Beginn des Jahrtausends den Wohnungsmarkt generell für Hedgefonds öffnete. Auch die gesetzlichen Grundlagen sowie Zuständigkeiten wurden in dieser Phase neu geregelt. Bei der Föderalismusreform von 2006 wurde die Wohnraumförderung den Ländern übertragen, wodurch eine vollständige Unterwerfung der Mieten unter Marktmechanismen erfolgte, denn die bisher geltenden Kostenmieten für Sozialwohnungen waren durch Bundesrecht und –gesetzgebung festgelegt, was durch die Neuregelung der Zuständigkeit ausgehebelt wurde. Auch die Mieten für Sozialwohnungen orientieren sich seitdem an den örtlichen Mietspiegeln und somit Marktmieten für Neubauten, was regelmäßige Erhöhungen zulässt.

 … zur Finanzialisierung

Der Begriff „Finanzialisierung“ beschreibt einerseits den Trend zunehmender privater Finanzanlagen im Immobiliensektor, andererseits auch den verstärkten Einfluss des Finanzsektors und seiner Erwartungen auf die Wohnungswirtschaft (3).

Dadurch, dass dauerhaft mehr Wohnungen aus der Sozialbindung fallen, als neue gebaut werden, wird aktuell ein große Anteil an Wohnungen über den „freien Markt“ angeboten und vermietet. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes sind die historisch niedrigen Zinsen, mit denen die Zentralbanken (sowohl die amerikanische Federal Reserve als auch die Europäische Zentralbank) billiges Geld bereitstellen.

Diese Ausgangssituation begünstigt den Renditeboom auch auf dem deutschen Immobilien- und Mietmarkt, den wir seit knapp zehn Jahren erleben. Dabei ist bemerkenswert, dass er hierzulande erst einsetzte und richtig Fahrt aufnahm, als die Immobilienpreise in anderen Ländern fast ins Bodenlose fielen. Die globale Wirtschaftskrise ab 2007/2008 ist Folge der Banken- und Finanzkrise, die durch das Platzen der Blase auf dem spekulativ aufgeblähten US-Immobilienmarkt losgetreten wurde. Die zusätzlichen Kapitalströme, die seither in den deutschen Wohnungsmarkt fließen, sind u. a. das Ergebnis mangelnder Renditesteigerungsmöglichkeiten durch Investitionen im produzierenden Sektor infolge der Überakkumulation von Kapital. Angesichts stagnierender Profitraten in Industrie und Gewerbe wird auf sichere Verzinsung und Rentengewinne gesetzt. In diesem Zusammenhang ist wieder vermehrt die Rede von „Betongold“, also Immobilien als „sicherer“ Investitionsmöglichkeit.

Die oben erwähnte Niedrigzinspolitik der Zentralbanken ist zwar ebenfalls eine Reaktion auf die Wirtschaftskrise, fördert ihrerseits aber erst die verstärkten Finanzanlagen im hiesigen Immobilienbereich. Die Systemkrise bildet also den spezifischen Hintergrund für die aberwitzig gestiegenen Immobilienpreise und Mieten.

Finanzindustrielle Wohnungskonzerne statt Wohnungsbaugesellschaften

Bei Investitionen in Immobilien geht es also vorrangig um die Konstruktion global konkurrenzfähiger Finanzanlageprodukte. Diese bilden das Kerngeschäft der neuen finanzindustriellen Wohnungskonzerne wie Vonovia SE, Deutsche Wohnen SE, TAG Immobilien AG oder LEG Immobilien AG. Neben individueller, privater Kleinvermietung, selbst genutztem Wohneigentum sowie staatlichen, genossenschaftlichen und gemeinnützigen WohnungsversorgerInnen bilden die genannten „großen Vier“ („Big 4“) eines der vier Hauptsegmente des deutschen Wohnungsmarkts.

Es handelt sich bei ihnen nicht um klassische Wohnungsbaugesellschaften. Vielmehr bilden diese neu entstandenen finanzindustriellen Konzerne eine Sonderform privater Wohnungsbauunternehmen, weil bei ihnen die Kalküle der Konstruktion und Vermarktung von Finanzanlageprodukten die wohnungswirtschaftlichen Aktivitäten dominieren. Heute gehören ihnen in Deutschland etwa 1,2 Millionen Wohnungen, davon sind rund 750.000 im Besitz der „Big 4“. Sie weisen markante Überschneidungen im Hinblick auf ihre größten AktionärInnen (z. B. BlackRock) auf und sind zudem intern stark verflochten.

Ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der vier Konzerne ist ihre strategische Ausrichtung auf die untere und mittlere Preiskategorie und deren „Modernisierung“, also Investitionen in den Bestand: „Kredite werden nicht mehr aufgenommen und gewährt, um Finanzierungslücken bei der Produktion oder Erneuerung von Wohnungen zu schließen. Vielmehr werden Wohnungen erworben, um diese mit Zinsen und Dividenden ,belasten’ zu können. Ziel ist nicht mehr die Tilgung der auf den Wohnungen lastenden Kredite, sondern die Bedienung einer im Grunde endlosen Reihe von Schulden durch das Immobilienvermögen. Diese Schulden bestehen nur noch zum Teil bei externen Banken, sondern überwiegend aus Anleihen und Verbriefungen, die von dem Immobilienkonzern selbst als Wertpapiere ausgegeben werden.“ (4)

Dieses Vorgehen kann als betrügerische, ja räuberische Formation bezeichnet werden. Die finanzindustrielle Unterwerfung hat die sofortige, teilweise nur kurzfristige Erzielung eines „Cashflow“ zur systemisch zwanghaften Voraussetzung: Mietsteigerungen („Modernisierung“, Verdrängung von AltmieterInnen, Wohnungsaufteilung, Nachverdichtung), Kostensenkung (Auslagerung und Zentralisierung des Gebäudemanagements sowie Aufbau eigener Instandhaltungsflotten zum Minimaltarif), Standardisierung der Wohnungsverwaltung (z. B. über anonyme Callcenter), transnationale Expansion, freilich nicht zu vergessen Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat in Form von Lobbyismus sind ihre dabei angewandten, teils drastischen Mittel.

Spekulation den Boden entziehen

Dass es dementsprechend nicht vorrangig um langfristige Verwertung von Wohnungsbaukapital in Form von Neubau, sondern um schnelle Rendite und Profit geht, lässt sich leicht durch Zahlen belegen. In Deutschland beruhten 2016 nur 32,4 % der Wohnungsbauaktivitäten auf Neubauten, fast doppelt so viele auf sogenannten Bestandsleistungen. Ein Viertel aller Immobilientransaktionen erfolgte in den sieben größten deutschen Städten (Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt, Stuttgart, Düsseldorf). Dabei wohnen dort nur 12 % der deutschen Bevölkerung.

Doch nicht nur in den Metropolen, auch in deren „Speckgürteln“ verschärft sich die Situation. Zusätzlich zu den Mieten für Wohnungen in den Vorstädten haben auch die Bodenpreise massiv angezogen. Seit 2009 bleibt der Quotient aus Kauf- zu Bodenpreis weitgehend konstant. Da die Anzahl der Transaktionen nahezu unverändert blieb, steigen die Baulandpreise in derselben Geschwindigkeit wie die der Gesamtimmobilien. Die Preiszuwächse bei Eigenheim- und Mehrfamilienhäuserbauplätzen sind exorbitant.

Um dies zu unterbinden, bedarf es einer offensiven Bodenpolitik, die Bauland in kommunaler Hand belässt und nur zu bestimmten Konditionen verpachtet. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Frage schon 1967 geurteilt, dass das Allgemeinwohl höher zu gewichten ist als das Eigentumsrecht an Grundstücken: „Die Tatsache, dass der Grund und Boden unvermehrbar und unentbehrlich ist, verbietet es, seine Nutzung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte und dem Belieben des Einzelnen vollständig zu überlassen. Eine gerechte Rechts- und Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, die Interessen der Allgemeinheit in weit stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als bei anderen Vermögensgütern.“

Kampfperspektive

Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich allenfalls gegen „spekulative Auswüchse“, also nicht gegen das private Grund- und Immobilieneigentum an sich. Unions-Parteien, FDP und AfD springen den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere bei und fordern noch mehr Privatisierung und einen noch „freieren“ Markt. Die SPD „bremst“ mit leeren Worten und halbherzigen Maßnahmen, die wie die unwirksame Mietpreisbremse noch zusätzlich verwässert werden.

Wie aber das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Berliner Mietendeckel ebenfalls zeigt, dürfen wir nicht auf eine institutionell bzw. juristisch verordnete Umkehr in all diesen Fragen hoffen. Der Umgang von Verwaltungen und Gerichten mit Volksentscheiden und Bürgerbegehren hat in der Vergangenheit gezeigt, dass die Privatisierungspolitik der vergangenen Jahrzehnte und somit das Dogma eines selbstregelnden Marktes nicht auf dem Rechtsweg abgeschafft und zurückgenommen werden können, da dieser Rechtsweg durch den bürgerlichen Staat führt, der dem Privateigentum verpflichtet ist.

Vielmehr brauchen wir eine Bewegung, die den MieterInnenkampf als Klassenkampf versteht. Und das bedeutet nicht nur die entschädigungslose Enteignung großer Immobilienkonzerne. Es bedeutet in letzter Konsequenz, den Kapitalismus überhaupt als Wurzel exzessiver Profite und Spekulation zu überwinden.

Quellenangaben

(1) Vgl. Wohnungsregulierung zwischen Staatsregulierung und Marktwirtschaft, in: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw): Report Nr. 116/117 (2018), S. 13

(2) Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte 1999: Weissbuch. Enteignung der Ostdeutschen. Unfrieden in Deutschland; Dahn, Daniela 1994: Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten? Vom Kampf um die Häuser und Wohnungen in den neuen Bundesländern.

(3) Vgl. Internationale Investoren und börsennotierte Anleger auf dem Wohnungsmarkt, in: Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung e.V. (isw): Report Nr. 116/117 (2018), S. 25

(4) Unger, Knut: Mieterhöhungsmaschinen. Zur Finanzialisierung und Industrialisierung der unternehmerischen Wohnungswirtschaft, in: PROKLA 191, 48. Jahrgang, Nr. 2, Juni 2018, S. 211.




Zum wohnungspolitischen Programm der Interventionistischen Linken (IL): Das Rote Berlin als blinder Fleck

Michael Eff, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Angesichts der sich zuspitzenden Wohnungsmisere in Berlin hat die IL ein wohnungspolitisches Programm vorgelegt. Der Titel der Broschüre lautet: „Das Rote Berlin (Strategien für eine sozialistische Stadt)“. Ein solches Programm vorgelegt zu haben, das erkennen wir an, ist an sich bereits verdienstvoll. Die Broschüre ist durchaus gut aufgebaut. Es werden, in sprachlich ansprechender Form, weite Themenfelder der Wohnungsfrage abgedeckt, und dabei werden zutreffende Beschreibungen der Berliner Wohnungssituation vorgenommen. Es gibt informative Zusatzinformationen, z. B. über die Geschichte des Berliner Baufilzes, und die wohnungspolitischen Forderungen können wir zu einem großen Teil durchaus unterschreiben.

Auch orientiert man sich an basisdemokratischen Entscheidungsstrukturen (hier der MieterInnen), allerdings, und hier kommt unser erster Einwand, durchgehend nur in einem vorgegebenen gesetzlich-institutionellen Rahmen. Rätestrukturen sehen anders aus und kommen auch anders zustande. Und auch bei der, zunächst durchaus positiv zu sehenden, Ausrichtung auf außerparlamentarische Kämpfe der Betroffenen kommt die Parlamentsfixierung, wie wir später sehen werden, durch die Hintertür wieder herein.

Trotzdem bleibt positiv festzuhalten, dass die IL sich nicht damit begnügt, begründete Forderungen zur Lösung der Wohnungsmisere zu formulieren, sondern das Ganze eingebettet ist in eine strategische Orientierung, nämlich in „Strategien für eine sozialistische Stadt“. Aber spätestens hier, bei der strategischen Orientierung, beginnen auch die Probleme.

Staatstreue

Während die IL in einem Selbstverständnispapier betont, dass ihre Politik „grundsätzlich antagonistisch zum Staat“ stehe, ist die Strategie in der Wohnungsbroschüre der IL durchweg anders ausgerichtet. Der Weg zum Sozialismus führt hier über die Reformierung und Demokratisierung der vorhandenen staatlichen Einrichtungen. (S. 8) Und das alles natürlich durch Gesetze. So fordert man z. B. den Umbau der BImA (Bundesanstalt für Immobilienaufgaben) zu einer „Vergesellschaftungsagentur“. Oder auch, dass börsennotierte Unternehmen in öffentliches Eigentum „überführt“ werden sollen, und ihre Neubildung soll „durch gesetzliche Regelungen unterbunden werden.“ (S. 20)

Das Ganze atmet den Geist gesetzlich-bürokratischer (die IL würde sagen „demokratischer“) Neuregelungen innerhalb des bestehenden Staates.

Selbst wenn die IL von „Mieter*innen-Räte“ spricht, meint sie damit nicht Organe demokratischer Selbstermächtigung in notwendiger Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat und kapitalistischem Eigentum, sondern Formen von Selbstverwaltung innerhalb vorgegebener Institutionen.

So ist es denn auch kein Wunder, dass die IL zufrieden feststellt: „Die meisten dieser Ziele (des rot-rot-grünen Berliner Koalitionsvertrages, d. V.) stimmen ohnehin eins zu eins mit langjährigen Forderungen der stadtpolitischen Bewegung überein.“ (S. 39) Allerdings fehlt ihr im Koalitionsvertrag „die Vision für ein anderes Berlin“ (??) (S. 10). Alles klar?

Die IL fasst ihre Kampfausrichtung für den Sozialismus folgendermaßen zusammen: „…der Charakter des Ganzen (Kampfes, d. V.) muss außerparlamentarisch sein. Dennoch muss mit Parteien diskutiert werden. Parteien sind Teil des Staates, und wenn wir Teilziele umsetzen wollen, müssen sich Parteien und Abgeordnete dafür einsetzen.“ (S. 39)

Hier also, gewissermaßen durch die Hintertür, kommt die Parlamentsfixierung wieder herein, denn der Gesetzgeber ist bei uns das Parlament. Nicht dass es per se illegitim wäre, das Parlament von außen unter Druck zu setzen, um Forderungen durchzusetzen, aber als strategische Orientierung so den Sozialismus erkämpfen zu wollen („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!), ist doch reichlich illusorisch.

Auch kommt es einem in diesem Zusammenhang schon merkwürdig vor, dass in einer Broschüre von 43 Seiten die Wohnungsprivatisierungspolitik des rot-roten Senats 2002 bis 2011 in ganzen dreieinhalb Zeilen abgehandelt wird.

Die IL entpuppt sich somit immer mehr, zumindest in wohnungspolitischer Hinsicht, als außerparlamentarischer Arm der Linkspartei.

„Das Rote Wien“ als Leit(d)bild

Vieles an der Wohnungspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den zwanziger Jahren in Wien war, gemessen am übrigen kapitalistischen Europa, sicherlich beeindruckend, aber Wien war keineswegs eine „sozialistische Stadt“, sondern der reformistische Versuch, eingegrenzt auf das Feld der öffentlichen Versorgung (insbes. Wohnen), den Kapitalismus lediglich einzudämmen. Wien war eben keine „sozialistische Insel“ in einem kapitalistischen Land, sondern (bei aller Sympathie für die Wohnungspolitik) eine kapitalistische Hauptstadt eines kapitalistischen Landes!

Und eines zeigt sich an diesem Beispiel ganz klar: Ein wie auch immer geartetes „antikapitalistisches Wohnungsprogramm“ kann nur funktionieren, wenn es eingebettet ist in ein Gesamtprogramm der sozialistischen Revolution bzw. eine Strategie der Machtergreifung und Zerschlagung der bürgerlichen Staatsmacht. Solange die Staatsmacht nicht zerschlagen ist, ist keine einzige Errungenschaft gesichert.

Bei der IL dagegen heißt es: Vergesellschaftung „ gelingt nur durch eine Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung und durch die radikale Demokratisierung der bestehenden (!!!, d. V.) staatlichen Institutionen.“ (S. 8).

Es war aber genau diese reformistische Sichtweise der Sozialdemokratie auf die Gesellschaft, die die Zerschlagung des „Roten Wiens“ ermöglicht hat und die Machtergreifung des „Austrofaschismus“ 1934 nach sich zog.

Diese Schlussfolgerung zieht die IL aber nicht, ihre Kritik bleibt halbherzig und verkürzt.

Bei der IL sieht die Bilanz dieser „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ Wiens wie folgt aus: „Das ,Rote Wien‘ war damals und ist heute ein beeindruckendes Symbol, dass auch unter politisch und wirtschaftlich schwierigen Bedingungen die Lösung der Wohnungsfrage möglich ist. Die SDAPÖ kam allerdings über ein konsequentes Umverteilungs- und Wohlfahrtsprogramm nicht hinaus. Die Auswirkungen des zugrunde liegenden Interessensgegensatz der Klassen (!, welche?, d. V.) und der kapitalistischen Produktionsweise insgesamt wurden abgemildert und durch nicht-kapitalistische soziale Infrastruktur ergänzt. Die abwartende Haltung der Sozialdemokratie wurde ihr dabei zum Verhängnis. Dennoch ist bis heute ihr Vermächtnis eine Inspirationsquelle mit internationaler Ausstrahlung.“ (S. 12)

Dass die „abwartende Haltung“ (inwiefern?, womit?) integraler Bestandteil jeder „reformistisch-antikapitalistischen“ Strategie ist, kommt der IL nicht in den Sinn.

Nebenbei, auch die Wohnungspolitik der Sozialdemokratie im Berlin der zwanziger Jahre wird als „Vorgriff auf eine sozialistische Gesellschaft“ (S. 28) gesehen. Aber leider, leider, beklagt die IL: „Vieles ging nicht weit genug, die Aufbrüche wurden 1933/34 (in Berlin und Wien, d. V.) abgebrochen (!!, d. V.).“ (S. 10)

Das Ende der „reformistisch-antikapitalistischen Kommunalpolitik“ in den Katastrophen von 1933 und 1934 theoretisch derartig zu verharmlosen und zu verkürzen, ist kaum zu fassen, ist aber angesichts der eigenen strategischen Ausrichtung nur folgerichtig.

Auf reformistischem Schleichweg zum Sozialismus

Es handelt sich beim IL-Wohnungsprogramm um eine Reformstrategie mit der „Perspektive der Vergesellschaftung. Wohnraum darf keine Ware am Markt sein, sondern Gemeingut in demokratischer Verwaltung.“ (S. 6) Die IL macht aus ihrer gradualistisch-kleinschrittigen (Reform-) Strategie auch gar kein Hehl. Zur Verdeutlichung seien ein paar Aussagen zitiert,

da heißt es z. B.:

„Abschaffung des privaten Wohnungsmarktes… durch eine Reihe von Reformen…Schritt für Schritt“ (S. 7);

„ Ausweitung von Ansätzen kollektiver Selbstverwaltung“ (S. 8);

„…weiter treibende Reformen, die schrittweise den Handlungsspielraum des Immobilienkapitals einschränken, die Spielräume für öffentliches und kollektives Eigentum erweitern“ (S. 12);

 „Daher muss erst mal kräftig Sand ins Getriebe der privaten Immobilienspekulation, bevor (!,d. V.) wir über Rekommunalisierung reden können.“ (S. 19);

„…schrittweise Zurückdrängung von privatem Wohnungseigentum“ (S. 33).

Es wird natürlich auch positiv Bezug auf das Grundgesetz genommen, das ja Enteignung zulässt, die vorgeschriebene Entschädigung wird dabei prinzipiell akzeptiert (S. 34).

Dazwischen, völlig unvermittelt und nicht weiter erklärt, heißt es an einer Stelle: „Die sozialistische Stadt wird nicht konfliktfrei und als reine Reform durchgeführt werden können.“ (S. 34) Aber dann geht’s gleich munter weiter mit den Reformen:

„Demokratisierung“ als „langer Prozess“ und „Nach und nach muss der Aufbau von lokal verankerten Strukturen, die Punkte des Widerstands schaffen…“ (S. 36) Usw. usf., die Liste ist beileibe nicht vollständig.

Zusammengefasst kann man sagen: Die IL hat die Vorstellung/Strategie von einer allmählichen Ausweitung nichtkapitalistischer Freiräume, die sich zunehmend vernetzen, die bestehenden staatlichen Strukturen demokratisieren, alles natürlich „kämpferisch“ und „von unten“, was dann irgendwie (hier gibt es nicht zufällig eine absolute Leerstelle) die „sozialistische Stadt“ (was immer das auch sei) ergeben soll.

Aber: So verläuft Klassenkampf nicht, und so ist er auch noch nie verlaufen. Teilerfolge sind zwar durchaus möglich, sind aber keine sicheren „Stützpunkte“, von denen ausgehend dann „Schritt für Schritt“ eine weitere Ausdehnung erfolgen könnte.

Solange die kapitalistische Staatsmacht besteht, sind Teilerfolge immer gefährdet. Das Hin und Her im Klassenkampf verläuft nie geradlinig – und schon gar nicht immer in eine Richtung. Hier gibt es tiefe Brüche, Erfolge und Rückschläge. Dass man der herrschenden Klasse die Macht stückweise bzw. allmählich entreißen könnte, ist naiv und eine klassische Vorstellung jeder reformistischen Strategie.

Klassenkampf?

Wer kämpft eigentlich? Die Betroffenen natürlich, – die MieterInnen! Richtig, aber niemand ist nur MieterIn, schon gar nicht in der kapitalistischen Gesellschaft. Bei der IL ist etwas dubios die Rede von „Schmieden von breiten Bündnissen“, „breiter Bewegung mit verschiedenen Formen des Widerstands“, „Hineinwirken in die Gesellschaft“, von „Kultur des zivilen Ungehorsams“ etc.

Klassenkampf und ArbeiterInnenklasse gibt es nicht. Gewerkschaften auch nicht. Nun verlangen wir von der IL nicht, dass sie unseren Klassenbegriff teilt, aber etwas genauere Ausführungen darüber, wer aufgrund welcher Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft BündnispartnerIn sein kann und wer nicht, und – wenn ja – wie und wohin „Kampfzonen“ über den Wohnungsbereich hinaus ausgeweitet werden können oder auch nicht, das kann man von einer Broschüre, die eine strategische Orientierung bieten will, erwarten.

Hier passt auch ins Bild, dass offensichtlich niemand verschreckt werden soll. Während es an anderer Stelle in einem Selbstverständnispapier bei der IL erfreulich klar heißt, dass die IL „das staatliche Gewaltmonopol bestreitet“, wird in der Broschüre kirchentagskompatibel versichert: „Jede Gewalt gegen Personen verbietet sich daher,…“ (S. 43) Wie man dieses Prinzip, z. B. bei dem Versuch, eine Zwangsräumung zu verhindern, durchhalten will, ist uns schleierhaft.

Auch ist es vermutlich in diesem Zusammenhang kein Zufall, was in der Broschüre fehlt. Z. B. die Forderung nach Beschlagnahme von untergenutztem Wohnraum. Als die Flüchtlingszahlen hoch gingen und die Flüchtlinge in unwürdige Massenquartiere gepfercht wurden, hätte es sich doch angeboten, durch Berlins Villenviertel zu ziehen mit der Forderung „Hier ist Wohnraum genug – Beschlagnahme!“ Man hätte auf diese Weise dem rassistischen Diskurs „Innen gegen Außen“ den revolutionären Diskurs „Oben gegen Unten“ entgegengesetzt. Aber damit lässt sich gegenwärtig natürlich kein „breites Bündnis“ aufbauen.

Nun ist die Wohnungsfrage besonders dafür geeignet, die Klassenfrage auszuklammern, denn ArbeiterInnenklasse und Kleinbürgertum sind beide von der Wohnungsmisere betroffen. Es ist daher kein Zufall und typisch für kleinbürgerliche Bewegungen, in einem Bereich außerhalb der unmittelbaren kapitalistischen Produktionssphäre (Schaffung von Mehrwert) die „soziale Frage“ („Strategien für eine sozialistische Stadt“!!); lösen zu wollen. Darauf hat schon Engels in seiner Schrift „Zur Wohnungsfrage“ hingewiesen.

Die IL bleibt aber auch hier nebulös. Unter „nicht-kapitalistischer Organisation von Wohnen“ kann man sich ja vielleicht noch einiges vorstellen, aber was „nicht-kapitalistische“ Organisation „von Stadt“ sein soll, (S. 8) müsste man schon erklären. Die Arbeitswelt gehört aber offensichtlich nicht dazu.

Überhaupt wird die Wohnungswirtschaft gewissermaßen rein sektoral betrachtet, als ein von der übrigen Gesellschaft streng abgrenzbarer Bereich und auch als eigenständiges Kampffeld. Das hat in gewissen Grenzen auch seine Berechtigung, aber es muss zumindest angedeutet werden, wo diese Grenzen überschritten werden (müssen).

Und es fehlen hier kurze Erklärungen zur polit-ökonomischen Herleitung und Verortung des Wohnungskapitals, z. B. die Punkte: Was ist Miete überhaupt?, Grundrente, Verschmelzung der Wohnungswirtschaft mit Finanz- und Industriekapital, Verhältnis zur Mehrwertproduktion, Aufteilung des Profits, Bedeutung der Miete für die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft, und damit gesamtkapitalistische Interessen an der Wohnungsfrage und dabei die Rolle des Staates etc.

Fazit: Das alles muss man nicht immer, wenn man sich zur Wohnungsfrage äußert, oberlehrerhaft ausbreiten und man kann sich hier auch kurz halten. Aber in einer Broschüre, die den Anspruch stellt, eine strategische Orientierung zu geben, gehören Ausführungen darüber schon dazu.

Ja! Ein revolutionäres Programm!

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Auch RevolutionärInnen haben nichts gegen reformistische Forderungen, aber sie müssen eingebettet sein in ein wohnungspolitisches Programm, das folgende drei Prinzipien berücksichtigt:

1. Ökonomisch-gesellschaftlich muss der Wohnungssektor in den Forderungen ansatzweise überschritten werden (z. B. entschädigungslose Enteignung von Banken, Finanzierungsgesellschaften, der Bauindustrie usw.). Es gibt nämlich kein isoliertes Wohnungskapital, das Kapital insgesamt ist der Feind.

2. Klassenorientierung (z. B. durch Einbeziehung der Gewerkschaften, denn schließlich beeinflussen die Mieten die Reproduktionskosten der Ware Arbeitskraft und damit Lohnkämpfe).

3. Organisierung der MieterInnen in räteähnlichen Strukturen und nicht in bürokratisch-gesetzlich vorgegebenen Gremien (was einzelne Verbesserungen in gesetzlichen gegebenen Gremien nicht prinzipiell ausschließt, aber das sollte man nicht als Schritt zum Sozialismus verkaufen). Der bürgerliche Staat ist nicht die freundliche Spielwiese, sondern der Feind.

Fazit

Wenn die IL vertritt, dass der herrschenden Klasse die Macht stückweise, „Schritt für Schritt“ zu nehmen sei, so trägt sie dazu bei, reformistische Illusionen zu wecken und zu verbreiten.

Aber immerhin, dass die IL in ihrer Einleitung zu ihrem Selbstverständnis schreibt: „Wir sagen, was wir tun – und wir tun, was wir sagen.“ (S. 6) ist berechtigt. Ihr Reformismus in der Wohnungsfrage wird offen und ehrlich dargelegt.




Die DWE-Broschüre „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft“ – Würdigung und Kritik

Tomasz Jaroslaw, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Im Dezember 2019 hat die Initiative „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) eine Broschüre mit dem Titel „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft – Lösungen für die Berliner Wohnungskrise“ veröffentlicht. In dieser Publikation werden in den ersten beiden Kapiteln die Begriffe Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft beschrieben, in Kapitel 3 und 4 die Vorteile der Vergesellschaftung von Wohnraum und wird im letzten Kapitel abschließend die angedachte Verwaltungs- und Mitbestimmungsstruktur dargestellt.

1. Aktionseinheit und Freiheit der Kritik

Vorab muss festgestellt werden, dass das Motiv, Grundbegriffe einem breiteren Publikum vorzustellen, verständlich ist. Gleichzeitig ist es schwierig für eine Kampagne, deren gemeinsames Ziel einzig und allein in der erfolgreichen Durchführung eines Volksentscheids zur Vergesellschaftung großer Wohnkonzerne liegt, politische Aussagen zu treffen, die die gesamte Breite der UnterstützerInnen teilt. Daher ist es für politisch breite Aktionseinheiten, wie die Kampagne sie darstellt, empfehlenswert, sich nur auf konkrete praktische Ziele zu verständigen, aber möglichst wenig politisch-programmatische Aussagen zu tätigen, die alle TeilnehmerInnen zu unterstützen verpflichtet sind. Programmatischer und ideologischer Kampf sollte vor allem politischen Gruppen vorbehalten sein.

Bei den internen politischen Diskussionen im Vorfeld zur Broschüre wurden der freien Diskussion und demokratischen Entscheidungen im Plenum Steine in den Weg gelegt. Anfänglich wurde beschlossen, den Broschürenentwurf offen zu diskutieren. Später versuchten Teile der Kampagne (vor allem die Interventionistische Linke; IL), den Entwurfstext der Arbeitsgruppe ohne weitere politische Diskussionen im Plenum zu bestätigen. Dabei wurde jede alternative Meinung scharf angegriffen – darunter Anträge von Mitgliedern der Gruppe ArbeiterInnenmacht, aber auch Kommentare der Akelius-MieterInnenvernetzung. Wer eine breite städtische Partizipation und demokratische Beteiligung bei der Verwaltung vergesellschafteter Wohnungen verspricht, sollte dies zuerst in der Kampagne selbst realisieren, um glaubwürdig zu sein.

Wir unterlagen bei der abschließenden Plenarbesprechung im Januar 2020 mit unseren Änderungsanträgen in den zentralen Punkten. Trotzdem unterstützen wir die Sammelaktion und das Enteignungsziel mit all unseren Kräften, denn wie bei jeder Einheitsfront muss das Motto lauten: Einheit der Aktion, Freiheit der Kritik – Letztere auch an den PartnerInnen der Initiative.

Bei aller Solidarität mit Aktionen und Ziel der DWE halten wir es für notwendig, mit unserer Kritik auf die strategische Schwachstellen der Broschüre aufmerksam zu machen.

2. „Stadtgesellschaft“ oder Klasse?

Die Broschüre trägt insgesamt die politische Handschrift der IL, mit deren wohnungspolitischem Programm, das mehrere Aspekte als das Heftchen der DWE umfasst, wir uns an anderer Stelle unserer Broschüre auseinandersetzen. Durch die gesamte Broschüre wird ohne jede Erläuterung der ominöse Begriff Stadtgesellschaft verwendet.

Mit Stadtgesellschaft soll möglicherweise die Gesamtheit der Berliner Bevölkerung gemeint sein. Hier einen Interessenkonflikt zwischen Wohnenden, Regierenden und den VertreterInnen des Kapitals zu suggerieren, ist erst einmal in der Tendenz begrüßenswert und sachlich gerechtfertigt. In der Tat ist der Hauptgrund für Mietpreissteigerung das internationale, mit dem Finanz- und Bankensektor verbundene Kapital, das durch langfristige Renditeerwartungen Mieten hochtreibt. Der bürgerliche Staat in Form des rot-roten Senats hatte durch die Privatisierung der 2000er Jahre diesen Prozess ermöglicht oder zumindest beschleunigt. Offen bürgerliche Regierungskoalitionen haben noch größeren Schaden in der Mietenpolitik angerichtet. Die Einbeziehung von SenatsvertreterInnen in den Verwaltungsrat ist daher kontraproduktiv. Ebenfalls problematisch und irreführend ist der fehlende Hinweis, dass die sog. Stadtgesellschaft analog zum Volksbegriff aus verschiedenen Klassen mit teilweise abweichenden und auch gegensätzlichen ökonomischen und politischen Interessen besteht. Als ob die besitzende Klasse ihre Interessen und ihre Feindschaft zur Vergesellschaftung einfach mal vergisst, nur weil sie wie alle zur Zivilgesellschaft gehört und DWE das Klasseninteresse der ArbeiterInnen nicht anspricht und die Besitzenden begriffstechnisch wie strukturell einbindet. Diese klassenübergreifende Einheit ist natürlich strategisch auf Sand gebaut.

Eine Einheit im politischen Kampf muss sich in erster Linie aus den Gruppen und Schichten zusammensetzen, die ein gemeinsames objektives Interesse haben. Die Zahl der ArbeiterInnen und lohnabhängigen Mittelschichten reicht zum Sieg des Volksbegehrens. Der Klassenbegriff würde hier für Klarheit sorgen. Das Verhältnis MieterIn–VermieterIn ist zwar kein auf der Ausbeutung von Lohnarbeit in der Produktion beruhendes, sondern die Immobilienkonzerne eigenen sich Monopolrenten an. Doch die überwältigende Mehrheit der Mieterinnen sind ProletarierInnen, die weder Eigentum an Produktionsmitteln, Wohnungen noch Grund und Boden besitzen, was sie deutlich von den Klassen mit großem und kleinem Besitz unterscheidet.

Da MieterInnen meist Lohnabhängige sind und deren Lebenserhaltungskosten tarifliche Erfolge und leichte Lohnsteigerungen auffressen, ist der Kampf für Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft und Demokratisierung über das Wohnungswesen hinauszutreiben, also in alle Bereiche der Wirtschaft. Für dieses Gesamtinteresse der Lohnabhängigen wäre die Integration von VertreterInnen der Gewerkschaften notwendig anstelle der Stadtgesellschaft oder des Senats. Dieser Vorschlag wurde jedoch leider abgelehnt.

Dies ist umso bedauerlicher, weil sich die ArbeiterInnenbewegung mächtige Organisationen geschaffen hat wie die Gewerkschaften, die mittels einheitlicher Aktionen – wirtschaftliche wie politische Streiks, Besetzungen, Mietpreiskontroll- und Mietsteigerungsboykottkomitees – wesentlich mehr Druck aufs Großkapital ausüben können als eine auf Volksabstimmungen fixierte BürgerInneninititative.

So sehr BürgerInnenbewegungen außerparlamentarischen Druck auf Kapital und Staat erzeugen können, so wenig sind sie alleine als Transformationsvehikel zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise geeignet. Ohne Einbindung in eine bewusste, revolutionäre Klassenpolitik enden selbst Initiativen oder Bewegungen mit Massenanhang als außerparlamentarische Anhängsel des parlamentarischen Reformismus oder werden – wie im Falle der Grünen – selbst zu einer bürgerlichen Partei.

3. Historische Bezüge: Grundgesetz oder ArbeiterInnenbewegung?

a) Zum Begriff der Vergesellschaftung

In Kapitel 1 wird konstatiert, dass Vergesellschaftung die Wohnungskrise lösen kann. Es sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass dieser Begriff historisch unterschiedlich definiert wird. Im marxistischen Kontext beschreibt er eine Situation, wo die Konsumentinnen und Produzentinnen in einer befreiten, sozialistischen Gesellschaft über das erwirtschaftete Gesamtprodukt einschließlich eines Überschussfonds, der nicht in den unmittelbaren Verbrauch eingeht, als Kollektiv verfügen können. Nach Artikel 15 Grundgesetz liegt eine Vergesellschaftung vor, wenn Grund, Boden, Naturschätze oder Produktionsmittel durch Gesetz ihren Eigentumstitel zugunsten der Überführung in Gemeineigentum oder andere Formen der Gemeinwirtschaft ändern. Die folgende Verwendung dieses Begriffs erfolgt in einem breiteren Sinn, den auch die bürgerliche Gesellschaft anerkennt.

Die Verwaltung des vergesellschafteten Wohnraums durch ein System von sog. „MieterInnenräten“ und einer demokratisch kontrollierten Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) stellt zweifelsohne einen Fortschritt nicht nur gegenüber der gemeinwohlorientierten Regulierung privaten Eigentums, sondern auch der Überführung in eine städtische Wohnungsgesellschaft nach dem Vorbild der existierenden dar. Auch ist das Festhalten an einem einheitlichen (kollektiven, staatlichen) Gemeineigentum sinnvoller als mögliche Szenarien des Aufteilens der Wohnbestände auf Individualbesitz oder kleinere Besitzgemeinschaften zur Realisierung einer kleindimensionierten Selbstverwaltung. Auch eine Wohnungsgenossenschaft wäre möglich, die gemeinwirtschaftlich arbeitet und eine interne demokratische Verfassung präsentiert.

Die AöR soll via Gesetz eingerichtet werden. Es ist positiv, dass DWE hier Druck auf die Senatsparteien ausüben will. Eine Schwäche ist jedoch, dass wenn die AöR durch ein Gesetz des Abgeordnetenhauses eingerichtet wird, dieses auch von ihm je nach Mehrheitsverhältnissen und Senatszusammensetzung wieder, zu Ungunsten der MieterInnen, reorganisiert werden könnte.

Nach dem aktuellen DWE-Modell sollen die Entschädigungen per Schuldscheine über einen Zeitraum eines halben Jahrhunderts abbezahlt werden. Damit entfällt die Abhängigkeit von Bankkrediten, jedoch nicht von der Kursentwicklung langfristiger Anleihen, und wird deren Verzinsung auch auf die Mieten umgelegt, was einen Negativpunkt darstellt. Wer wird diese kaufen können mit entsprechenden Erwartungen an langfristige Verzinsung? Große VermögensbesitzerInnen wie Banken, Investmentfonds, Versicherungen? Was passiert zudem mit den Überschüssen nach der Entschädigung? Fließen die in den Haushalt, wird der Überschuss in Sozialneubau investiert oder werden die Mieten gesenkt? In jedem Fall muss die Entscheidung durch die MieterInnen getroffen werden und nicht vom Senat oder dem Gesetzgeber. Hier sollten die sog. MieterInnenräte eine entscheidende Rolle spielen.

b) Zum Begriff der „Räte“

Positiv ist die Idee einer gewissen Autonomie einzelner Häuser (Hausplenum) und von MieterInnengremien als Kontrollorganen auf verschiedenen lokalen Ebenen (Siedlung-, Gebiets- und Berliner GesamtmieterInnenrat). Dadurch wird es möglich werden, die Basis einzubeziehen, bessere Ansprechbarkeit der Verwaltungs- und Servicestruktur zu garantieren und gewisse Aufgaben lokal zu entscheiden (Subsidiaritätsprinzip). Nur Aufgaben, die die Gesamtheit betreffen, sollen zentral in der AöR entschieden werden, die durch einen Verwaltungsrat und eine Geschäftsführung geleitet wird. Der GesamtmieterInnenrat setzt hier die VertreterInnen der MieterInnen ein. Zusammen mit den VertreterInnen der Beschäftigten bilden diese eine Mehrheit im Verwaltungsrat. Das ist positiv. Mit den VertreterInnen auch der Stadtgesellschaft, davon zweien des Senats, hat der Verwaltungsrat aber auch einen bürgerlichen Charakter – zusätzlich zu den vollständig bürgerlichen Besitzverhältnissen auf dem gesamten Wohnungssektor und erinnert leicht an einen Staatskapitalismus im Unterschied zu einer wirklichen Vergesellschaftung. Die Anstalt des öffentlichen (!) Rechts ist Staatseigentum.

Zwar werden die Kontrollstrukturen „Räte“ genannt (Siedlungs-, Gebiets-, GesamtmieterInnenrat), jedoch werden diese ohne jederzeitige Abwählbarkeit und Rechenschaftspflicht der gewählten VertreterInnen statt zu Institutionen der direkten oder ArbeiterInnendemokratie auf bürgerlich-repräsentative Organe reduziert. Also statt richtiger Räten werden Miniparlamente vorgeschlagen. Der Begriff des Rates wird nicht aus den Doppelmachtorganen der ArbeiterInnenbewegung der Jahre 1918 bis 1921 abgeleitet oder aus dem ursprünglichen Begriff der Betriebsräte als Organ der Betriebsbelegschaftskontrolle über die Industrie, sondern aus dem Betriebs- bzw. Personalrat als Vertretungs- und Mitbestimmungsorgan des sozialpartnerschaftlichen Betriebsverfassungs- bzw. Personalvertretungsgesetzes der BRD. Die Betriebs- und Personalräte sind hier alles andere als vollständige Interessenorgane der Beschäftigten.

Personal- und Betriebsräte bilden eine der wichtigsten Stützen des Reformismus in der ArbeiterInnenklasse und damit von SPD und Linkspartei. Die politische Handschrift des Verständnisses von Vergesellschaftung und Räten im DWE-Pamphlet liegt mit dem Ankerpunkt Art. 15 Grundgesetz und dem Betriebsverfassungsgesetz eindeutig im Sozialdemokratismus und sperrt sich damit gegenüber einer realen Vergesellschaftung im Sinne einer Kollektivierung und der wirkungsvollen Kontrolle wie in einer Rätedemokratie. Dies sieht man nicht nur am parlamentarischen Verständnis von den Organisationsstrukturen der AöR, sondern v. a., indem der Unterschied zwischen Integration ins System und ArbeiterInnenkontrolle verwischt wird.

Natürlich muss jeder Kampf für direkte Demokratie auf Basis einer gesamtgesellschaftlichen Gemeinwirtschaft (Sozialismus) mit konkreten Auseinandersetzungen beginnen. Und die Kampagne macht hier einen guten Anfang, weil sie auch grundlegende Fragen des Eigentums und der Kontrolle in der öffentlichen Auseinandersetzung aufwirft.

Jedoch muss das strategische Ziel – eine grundlegende, ihrem Wesen nach sozialistische Transformation – in den Rahmen einer Übergangsmethode eingebunden werden, wo tagespolitische Aufgaben verbunden werden mit dem Aufbau von Gegenmachtstrukturen, die von der bürgerlichen Klasse und ihren Institutionen unabhängig agieren und letztlich auf den Bruch mit der Staatsmacht und dem Kapitalismus orientieren. Diese Methode liegt in der Broschüre jedoch nicht vor, sondern der reformistische Ansatz, soziale, klassenübergreifende Zonen zu schaffen, als Teil des bürgerlichen Staates, und den Kapitalismus von innen her zu reformieren. Diese Strategie mag sich zwar aufdrängen, hat historisch jedoch immer versagt.

c) Historie und Perspektive der Gemeinwirtschaft

In Kapitel 2 wird der Begriff der Gemeinwirtschaft historisch skizziert. Es war die Perspektive einer neuen politischen Ordnung und in den Jahren 1918–1919, Mietstreiks, Aufstände, bewaffnete Milizen und die ArbeiterInnen- und SoldatInnenräte, die die Regierenden zu Zugeständnissen bewegt haben. Ein erwähnenswerter Bezugspunkt für DWE wäre der Berliner Mietstreik 1919, wo Arbeitslosenräte Versammlungen mit 200.000 Teilnehmenden durchführten und Forderungen nach Enteignung der HausbesitzerInnen und Mietpreiskontrolle aufgestellt haben. Hier zeigt sich zentral der Klassenkampf als Ursache für Reformen jeder Art (Gesetze, Verfassungen) und nicht die umgekehrte, falsche Sichtweise, das Grundgesetz als Motor für Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft zu betrachten.

Es reicht für die AutorInnen dagegen die reine Existenz eines nie zuvor verwendeten Grundgesetzartikels aus, um eine „lange Tradition“ zwischen Gemeinwirtschaft und Grundgesetz zu konstruieren. In Artikel 14 steht, dass Eigentum verpflichtet und der Allgemeinheit diesen soll. Diese beiden Aussagen haben die besitzende Klasse nie davon abgehalten, ihren Reichtum auf Kosten der Massen zu vermehren, öffentliche Güter und Profite mehr und mehr zu privatisieren und dabei Kosten zu sozialisieren. Der Art. 15, der „Sozialstaats“gedanke in Form der sozialen Marktwirtschaft, ist auf Basis einer breiten antikapitalistischen Stimmung und in Konkurrenz zu einer Forderung nach Elementen einer sozialistischen Wirtschaftsordnung, wie der Verstaatlichung der Grundstoffindustrie, entstanden. Es ist natürlich opportun, sich in der Kampagne rechtlich auf den Artikel 15 GG zu berufen. Man muss jedoch auch gleichzeitig feststellen, dass die historische Alternative von vornherein zu vergesellschafteten, gemeinwirtschaftlichen Wohnbeständen geführt hätte und es damit keinen Boden für die Mietpreisspirale gäbe. Diese Aussagen sind also, diplomatisch ausgedrückt, sehr optimistisch und einseitig und greifen Rechtspraxis und Natur des bürgerlichen Staates inklusive Grundgesetz in keinster Weise an. Ferner fehlt jeder Verweis auf Erfolge, die mittels dieser Paragraphen erreicht wurden. Warum wohl? Die Verstaatlichung des Grund und Bodens sowie der Grundstoffindustrie wurde außer auf dem Gebiet der späteren DDR trotz überwältigender Zustimmung im hessischen Volksentscheid nicht durchgesetzt. Um Flächen für Autostraßen, AKWs und Braunkohletagebaue zu enteignen, hat sich das GG dagegen bestens bewährt. Sprach sich ein Volksentscheid dagegen mit überwältigender Mehrheit gegen die Schließung eines Krankenhauses aus wie in Hamburg, schloss der dortige Senat es trotzdem. Wir erinnern an dieser Stelle auch an die zahlreichen Anläufe für Volksabstimmungen für mehr Klinikpersonal, die von etlichen Landesverfassungsgerichten (Bayern, Hamburg) für unzulässig erklärt wurden.

Im zweiten Kapitel werden die historischen Ursprünge der Gemeinwirtschaft in Form von Genossenschaften und Kooperativen auf sozialistische wie liberale WirtschaftsreformerInnen zurückgeführt. Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts existierten vielfältige Zusammenschlüsse wie Darlehenskassenvereine, Handwerks-, ArbeiterInnen- und Gewerksvereine, Produktions- und Konsumgenossenschaften, von denen heute nur die Raiffeisen- bzw. Volksbanken auf der einen Seite und Gewerkschaften und Wohnungsgenossenschaften auf der anderen Seite überlebt haben.

Zunächst muss man zwischen den kleinbürgerlichen und proletarischen Organisationen unterscheiden. Ständische Gewerks- oder Wohnvereine, die sich um Meister, leitende Angestellte, BeamtInnen und Intellektuelle gruppierten, hatten zwar den Anspruch, ihren Mitgliedern das Leben zu vereinfachen, jedoch bestand nie der, Gesellen und ArbeiterInnen aus dem ausbeuterischen Lohnverhältnis und der Preisdiktatur zu befreien.

Anders stellt sich das mit den proletarischen Organisationen in der Tradition der jungen, teilweise noch revolutionären Sozialdemokratie dar, die den Anspruch auf Umwandlung in eine sozialistische Wirtschaft und proletarische Demokratie aufgriffen. Aber auch die sozialistischen Organisationen haben im 20. Jahrhundert praktisch und politisch den Anspruch aufgegeben, ihr Prinzip der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Gemeinwirtschaft zu verallgemeinern und eine alternative, sozialistische Ökonomie aufzubauen. Dafür wäre der Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und den bürgerlichen Institutionen eine Bedingung gewesen. Was passiert, wenn man dies nicht tut, sieht man gerade an den Konsequenzen: zahlreiche Vereinigungen sind zusammengebrochen, der Rest passte sich den ihn umgebenden politischen Institutionen und „wirtschaftlichen Sachzwängen“ an. Von den ArbeiterInnenkooperativen (Neue Heimat, Bank für Gemeinwirtschaft, Konsumgenossenschaften, … ) existiert heute noch genauso viel wie von der sonstigen sozialdemokratischen Gegengesellschaft (Presse, Sport-, Gesangs- und Bildungsvereine) – nämlich nichts! ArbeiterInnengenossenschaften werden entweder Schulen des Sozialismus und integraler Teil einer internationalen demokratischen Planwirtschaft oder sie enden als stinknormale Läden wie andere auch.

Der Apparat der Wohnungsgenossenschaften lässt sich personell und politisch kaum von dem der privaten Konzerne unterscheiden. Die Führung der Wohngenossenschaften wetterte gegen den Mietendeckel und kämpft mit Falschbehauptungen auch gegen DWE und ihre Vergesellschaftungspläne. Damit enthält sie 300.000 BerlinerInnen das vor, was sie ihren Mitgliedern bietet: gewisse Selbstbestimmung, moderate Mieten und kostendeckendes Wirtschaften. Die politische Union zwischen zahlreichen Berliner Wohnungsgenossenschaften und finanzindustriellen Wohnkonzernen wie Deutsche Wohnen, Vonovia und Covivio wird dadurch treffend symbolisiert, dass sie alle in derselben Immobilienlobby Mitglied sind (Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen e. V.; BBU).

Hier liegt das Grundproblem der AöR: Entweder deren Verwaltung konstituiert sich als Organisation der MieterInnen, Beschäftigten und ArbeiterInnenklasse, wird ein Motor des Klassenkampfes und schafft es, als Teil einer Massenbewegung zusammen mit Gewerkschaften, oppositionellen Betriebsgruppen, der MieterInnenbewegung, sowie sozialistischen und revolutionären Gruppen den Kapitalismus zu stürzen, oder sie wird dasselbe Schicksal erleiden wie die Prototypen, auf die sie sich beruft. Und der besteht dann nur noch im wirtschaftlichen (siehe Neue Heimat) oder politischen Verfall (siehe SPD und kommunale Wohnungsgenossenschaften). Die aktuelle Strategie der DWE-Mehrheit schließt den Brückenschlag zu einer wirklichen Vergesellschaftung politisch aus. Entweder es wird in einer offenen, geduldigen und demokratischen Auseinandersetzung um Taktik, Strategie und Programm zu neuen demokratischen Mehrheiten und einer politischen Kehrtwende führen, oder der Weg, den die Wohnungsgenossenschaften bereits beschritten haben, wird leider wieder beschritten.

4) Vorteile der Vergesellschaftung

a) Kleinkapitalismus oder Gemeinwirtschaft?

Im Abschnitt „Perspektiven fürs Kleingewerbe“ (Kapitel 3) wird beschrieben, dass kleine Gewerbetreibende ebenfalls von steigenden Mieten und Verdrängung bedroht sind. Diese würden auch von günstigen Mieten durch Vergesellschaftung profitieren und ihre Mehrkosten nicht auf die KonsumentInnen abwälzen. Es existiert jedoch hier kein Automatismus, dass niedrige Kosten sich immer in günstigen Preisen für den/die DurchschnittsarbeiterIn auswirken. Es ist korrekt, das Kleinbürgertum und kleine Gewerbetreibende, die mehrheitlich auch von steigenden Mieten betroffen sind, von der Richtigkeit und dem Nutzen vergesellschafteten Wohnraums zu überzeugen. Was jedoch übersehen wird, ist dass die Hauptadressatin der Vergesellschaftung die ArbeiterInnenklasse ist, die Notwendigkeit der Preiskontrolle als wichtige politische Forderung aus dem Kreis der proletarischen MieterInnenbewegung integriert werden müsste, damit sich die Kostenersparnis in niedrigen Warenpreise niederschlägt und das Ziel von Gemeinwirtschaft nicht in der Stärkung des Kleinkapitalismus endet.

Es wurde von uns ein alternativer Antrag unter dem Titel „Perspektiven für Klein- und Gemeingewerbe“ eingebracht:

„Wo Gewerberäume leer stehen oder Kleingewerbetreibende ihre Unternehmung einstellen, sollen diese ausschließlich durch gemeinnützige Träger und Vereine, gemeinschaftlich und demokratisch organisierte und rein kostenfinanzierte DienstleisterInnen und ProduzentInnen ersetzt werden. Wir nutzen vergesellschafteten Wohnraum vorsätzlich im Interesse und für die Bedürfnisse der Allgemeinheit und streben den systematischen Ausbau gemeinwirtschaftlicher Einheiten an. (…)“

Auch dieser Kompromissvorschlag wurde abgelehnt. Das steht natürlich im Widerspruch zum Titel der Broschüre, wo es gerade um Gemeinwirtschaft und Demokratisierung gehen sollte.

Auch an diesem Punkt halten Broschüre und Initiative eindeutig nicht das, was sie versprechen. Des Weiteren wird die Bereitschaft ersichtlich, das zentrale und strategische Interesse der Kampagne zugunsten der Hinwendung zur (klein)bürgerlichen Mitte und neuer zeitweiliger SymphatisantInnen und TrittbrettfahrerInnen zu opfern. Die Ablehnung dieses Vorschlages, jeder politischer Ansatz, der der ArbeiterInnenklasse gemeinsame strategische Interessen mit anderen Klassen suggeriert, betreiben Augenwischerei und ordnen die politischen Interessen und Perspektiven der große Masse der Bevölkerung einer kleineren Schicht unter. Während Kleingewerbetreibende und Kleinunternehmen Verbündete auf Zeit sein könnten, sind die besitzlosen Lohnabhängigen der strategische Kern für Vergesellschaftung. Auch wenn sich gemeinwirtschaftliche Unternehmungen langfristig im Kapitalismus nicht halten können, würden diese nicht nur ein viel loyaleres und politisches Umfeld bilden, sondern auch die Frage der Wirtschaftsordnung stellen.

b) Neubau

Positiv ist zu bemerken, dass die Broschüre die Frage des Neubaus aufgreift und beantwortet. Im Absatz „Neubau für die wachsende Stadt“ (Kapitel 3) und „Die Bauhütte“ (Kapitel 4) wird festgestellt, dass der Privatsektor wenig und unerschwinglich baut und durch die Vergesellschaftung von Grund und Boden neue Flächen zur Verfügung stünden. Der Bezug auf die gemeinwirtschaftliche Bauhütte der 1920er Jahre ist positiv. Ergänzend müsste man vorschlagen, dass die Bauhütte, ähnlich der AöR, auch einer demokratischen Kontrolle unterliegt und die Sozialbindung von deren Wohneinheiten entweder unbefristet ist oder die Mietpreise durch demokratische Kontrollorgane festgesetzt werden sollen.

c) Spezielle Gruppen

Einen weiteren Vorteil der Vergesellschaftung verkörpert die Forderung, Räume für marginalisierte gesellschaftliche Gruppen (Kitas, Jugendliche, Schutzräume gegen Gewalt, barrierefreies Wohnen, Geflüchtete, Wohnungslose/Verbot von Zwangsräumungen, Kunst- und Kulturschaffende) anzubieten und eine diskriminierungsfreie Vermietung sicherzustellen.

5. Entschädigung ist eine politische Frage

Unser Antrag auf entschädigungslose Enteignung – 1 Euro symbolische Entschädigung, um formal im Rahmen des GG zu bleiben – wurde abgelehnt. Inhaltlich wurde nicht begründet, warum den Immobilienkonzernen die Verwandlung ihres fiktiven Kapitals (Titel auf zu realisierende Gewinne) vergoldet werden soll. Formal könnte man denken, dass eine „gerechte Abwägung der Interessen der Allgemeinheit und der Beteiligten“ (Art. 14 GG) notwendig sei. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel zeigt jedoch eindrücklich, dass im bürgerlichen Rechtssystem auch im einseitigen Interesse entschieden werden kann – leider im Interesse der Immobilienkonzerne. Es zeigt aber auch, dass es nicht um gerechte Abwägung geht, sondern um im Klassenkrieg schlicht und einfach zu siegen.

Die grundsätzliche Anerkennung einer Entschädigung bei Enteignung impliziert logisch auch, dass ein Gewinn aus dem Immobiliengeschäft selbst als grundlegend berechtigt anerkannt,  also das Recht auf Profite im Voraus akzeptiert wird. Daraus folgt logischerweise, dass auch ein Volksentscheid vor die Frage gestellt wird, was es denn zu bieten hat für zu entschädigenden EigentümerInnen.

Mit Beginn des Volksbegehrens, der 2. Stufe im Volksentscheid, präsentierte DWE eine Höhe, die es für angemessen hält. Diese bewegt sich zwischen 7,3 Mrd. und 13,7 Mrd. Euro. Das bedeutet pro Kopf jeden/r EinwohnerIn Berlins eine Steigerung der Landesschuld zwischen 2.000 und 4.000 Euro oder – auf Basis der Staatsschuld vom 31.12.2019 von 14.700 Euro – um ca. 14 bis knapp 27 %.

Die von DWE in Aussicht gestellte Hauhaltsneutralität könnte nur dann gewährleistet werden, wenn die Entschädigung weit unter Marktwert liegt oder es zu einer steuerlichen Umverteilung kommt. Das von DWE favorisierte Faire-Mieten-Modell (FFM) versucht dabei, die Interessen der MieterInnen zum Ausgangspunkt für die Berechnung der Entschädigung zu nehmen, indem nicht die Werte der Immobilien als Berechnungsgrundlage herangezogen werden, sondern leistbare Mieten. Doch selbst die Verwirklichung dieser guten Absicht erfordert letztlich einen politischen Kampf und eine soziale Mobilisierung, um für 300.000 Menschen eine spürbare Entlastung sicherzustellen. Darüber hinaus entkommt auch das FFM einem grundsätzlichen Problem nicht.

Die Anerkennung einer „gerechten“ Entschädigung impliziert nämlich auch, dass diese letztlich über bürgerliche Parlamente und Gerichte ausgehandelt wird. So geht z. B. die amtliche Kostenschätzung unter dem rot-rot-grünen Senat von Kosten zwischen 28,8 und 26 Milliarden Euro aus. Die Immobilienlobby wird hier sicher noch weit höhere Forderungen präsentieren.

In jedem Fall eröffnet sich damit den Kapitalinteressen ein weites Feld für zukünftige Auseinandersetzungen, um eine Enteignung durch extreme Rückzahlungsforderungen für die Steuern zahlenden Lohnabhängigen unattraktiv und teuer zu machen. Damit wollen sie nicht nur maximale Profite sichern, sondern können auch einen Spaltkeil zwischen einen Teil der MieterInnen und die Mehrheit der Klasse treiben. Die einzige Möglichkeit, dem grundsätzlich entgegenzuwirken, besteht darin, die Legitimität von Entschädigungen grundsätzlich zu bestreiten und dafür zu kämpfen, alle Kosten den ProfiteurInnen der Wohnungsmisere aufzuzwingen.

Die entschädigungslose Enteignung – und eine symbolische von einem Euro ist im Grunde nur eine Sonderform davon – zeigt deutlicher und besser, wie wir diesen Kampf führen sollten: Nicht durch Verhandlungen um die Entschädigung, sondern indem wir – wie die Gegenseite – unsere einseitigen Interessen als Basis des politischen Handelns betrachten und unsere Instrumente verwenden, um zu gewinnen oder zumindest das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten zu verschieben. Man sollte neben den Unterschriftensammlungen auch Massenmobilisierung, politische Streiks und Mietboykotte einbeziehen, anstatt die bürgerlichen Kreise (nur) mit vernünftigen oder seriösen Kalkulationen zu überzeugen.

6. Ausblick

Die Broschüre „Vergesellschaftung und Gemeinwirtschaft“ stellt zentrale Modelle einer breiten Öffentlichkeit vor. Es werden dadurch Alternativen zu Privateigentum, Profitwirtschaft und der bürokratischen Führung aufgeworfen. Wichtige politische Instrumente (demokratische Kontrolle, Reprivatisierungsverbot), Schnittpunkte (Bauhütte) und auch die Vorteile für marginalisierte soziale Gruppen (Kinder/Jugendliche, FLINT, Gehinderte, Wohnungslose, Geflüchtete) werden positiver Weise dargestellt.

Auch wenn „rechtssichere“ Gesetzesentwürfe vorteilhaft sind, sieht man jedoch an dem Fokus darauf, dass es mehr darum geht, als „ExpertInnen“ intellektuelle Mittelschichten und die politische „Mitte“ zu überzeugen, anstatt eine Strategie zu entwickeln, die die Interessen der Masse der ArbeiterInnenklasse in den Mittelpunkt stellt. Diese stellt einerseits die deutliche gesellschaftliche Mehrheit und hat andererseits als einzige Klasse ein objektives und strategisches Interesse daran, Vergesellschaftung, Gemeinwirtschaft und Demokratisierung konsequent, also über die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse hinaus durchzusetzen, zu verteidigen und auszuweiten. Die politische Orientierung auf bürgerliche Institutionen (Grundgesetz, Abgeordnetenhaus) wie die der Broschüre und der Kampagne zugrundeliegende politische Programmatik schränken die Weiterentwicklung dieser positiven Ansätze ein.

Anstatt Modelle der direkten Demokratie für die MieterInnenkontrolle vorzuschlagen, werden die sog. MieterInnenräte auf einen Miniparlamentarismus reduziert, politische Zugeständnisse an den Staat (SenatsvertreterInnen), das Kleinbürgertum (Kleingewerbetreibende) und der Bourgeoisie (via Stadtgesellschaft) gemacht. Das gefährdet das Projekt, erhöht die Angriffsfläche für Staat und Kapital, die AöR entweder zu verbürokratisieren (Neue Heimat) oder wie in der Privatwirtschaft zu reorganisieren (Wohnungsgenossenschaften). Die historischen Fehler der sozialdemokratischen Wohnungsgenossenschaften werden in der Broschüre  wiederholt. Entsprechend kann festgestellt werden, dass sie viele gute Ansätze beinhaltet, jedoch am Ende nicht hält, was sie verspricht.

Auch wenn die Broschüre auf halben Weg stehen bleibt, ist die Kampagne zu unterstützen, da sie einen positiven Referenzpunkt einer Mietenpolitik im Interesse von Lohnabhängigen darstellt. Trotz ihrer inneren Widersprüche beinhaltet sie auch ein Potenzial, diese positiv aufzulösen und eine neue MieterInnenbewegung auf eine neue klassenkämpferische Grundlage zu stellen.

Des Weiteren strahlt die Kampagne mit ihren Losungen auf andere Teile der sozialen Bewegungen und Organisationen der ArbeiterInnenklasse (wie Mieterverein, SPD, Linkspartei, Gewerkschaften) aus. Der Kampf um Enteignung, Vergesellschaftung und Kontrolle durch die Beschäftigten und NutzerInnen könnte beispielsweise in Auseinandersetzungen gegen Schließungen und Entlassungen, für den Ausbau des Gesundheitswesens oder für ein ökologisch nachhaltiges Energie- und Verkehrssystem dem Trend der letzten Jahrzehnte entgegentreten, der in Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Schulden bestand. Ja, er könnte ihn sogar umkehren. Wenn wir das Potenzial aufgreifen und weitertreiben wollen, das DWE schon jetzt auch gezeigt hat, müssen wir jedoch auch eine kritische Auseinandersetzung um die Schwächen der Initiative bzw. ihre programmatische und strategische Ausrichtung führen. Zu dieser notwendigen Diskussion wollen wir mit unsere Kritik beitragen.




Enteignung, MieterInnenkomitees und ArbeiterInnenkontrolle

Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Dass private VermieterInnen ihr Eigeninteresse verfolgen, ist klar. Aus unserer Erfahrung wissen wir aber auch, dass die Kommunen oder andere staatliche AkteurInnen keineswegs die Interessen der MieterInnen und erst recht nicht der Lohnabhängigen vertreten. In ihren Händen fungieren Wohnungen als staatskapitalistisches Eigentum oder erscheinen für die herrschende Klasse als unnötige Kosten im Staatshaushalt, weshalb sie immer wieder auf Kürzungen der Wohnungsetats oder auf Privatisierungen drängen. Kurzum, der Klassenkampf um die Wohnungsfrage endet nicht mit der Enteignung, er nimmt nur eine andere Form an.

Daher treten wir in allen privaten, staatlichen und auch genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften für die Kontrolle durch gewählte Ausschüsse oder Komitees der MieterInnen ein. Diese müssen volle Einsicht in die Geschäftsunterlagen, Finanzen und Verträge bekommen sowie ein Vetorecht über alle Entscheidungen. Notwendige, größere Erweiterungsinvestitionen oder ökologische Erneuerungen müssen nicht von den MieterInnen bezahlt werden, sondern sollen aus der Besteuerung privater EigentümerInnen oder vom Staat bestritten werden. In oben genannte Ausschüsse oder Komitees müssen neben den MieterInnen auch die Beschäftigen einbezogen werden, die für Instandhaltung, Betreuung, Neubau usw. tätig sind.

Wie bei allen gesamtgesellschaftlich relevanten Bereichen kann sich die Kontrolle über das gesamte System des Wohnens und des Wohnbaus nicht auf MieterInnen und Beschäftigte beschränken. Die Prioritäten für Neubau z. B. müssen von der gesamten Gesellschaft, also der gesamten ArbeiterInnenklasse, vertreten durch ihre Gewerkschaften oder Stadtteilkomitees, gesetzt werden.

Die genauen Formen der Kontrolle werden sich logischerweise im Zuge der Entwicklung verändern. Es versteht sich von selbst, dass die VertreterInnen von MieterInnenvereinen, Gewerkschaften, migrantischen und linken Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung einbezogen werden müssen.

Grundsätzlich muss aber der Kampf um Kontrolle von jenem um bloße Mitbestimmung unterschieden werden, also von Gremien, in denen Staat, Kommunen und private Unternehmen neben den Lohnabhängigen vertreten sind. Dabei kommt allenfalls eine etwas gemilderte bürgerliche Wohnungspolitik heraus, ein mehr oder weniger zufriedenstellender Kompromiss zwischen Lohnabhängigen, Staat und Unternehmen, aber keine Prioritätensetzung im Sinne der Masse der Bevölkerung.

MieterInnenvertretungen und MieterInnenräte, die direkt die Interessen der Masse vertreten, stellen daher Kontrollorgane dar, die Organen der ArbeiterInnenkontrolle in den Betrieben ähneln. Sie können nur in größeren Kämpfen entstehen und verallgemeinert werden und sie müssen sich auf direkt-demokratische Strukturen in den Wohnhäusern und Stadtteilen stützen, auf Versammlungen, von den sie gewählt und denen sie rechenschaftspflichtig sind. Nur durch diese Verankerung an der Basis können sie ihre Unabhängigkeit von Staat und bürgerlichen Institutionen überhaupt erreichen und behaupten. Diese bedeutet aber auch, dass sie – wie die ArbeiterInnenkontrolle in der gesamten Wirtschaft – entweder zum Sprungbrett für eine größere Umwandlung der Eigentumsverhältnisse und der Gesellschaft insgesamt oder wie einst die Betriebsräte inkorporiert oder zerschlagen werden.

In jedem Fall nimmt die Kontrolle durch die MieterInnen und die ArbeiterInnenklasse insgesamt eine zentrale Stellung ein, wenn der Kampf um Verbesserungen und Reformen mit dem strategischen Ziel der Enteignung und dem Sturz des Kapitalismus verbunden werden soll.




Wohnst du noch oder übersiedelst du schon?

Jürgen Roth/Martin Suchanek, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Programmatische Schlüsselfragen zur Wohnungsfrage

Wohnst Du noch oder übersiedelst Du schon? Für Millionen Menschen wird die Wohnungsfrage zunehmend zu einer des Überlebens.

Durchschnittlich betrugen die Wohnungskosten (Miete, Wasser, Heizung, Versicherungen etc.) Ende 2019 25,9 % der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland. Bei der sog. armutsgefährdeten Bevölkerung betrug ihr Anteil sogar 49 % – und das vor Rezession und Corona! In den städtischen Zentren ist der Anteil, sofern Menschen mit geringen oder mittleren Einkommen dort überhaupt noch wohnen, noch höher. Eine gigantische Verdrängung findet, wie wir in dieser Broschüre dargelegt haben, statt. Private InvestorInnen, Finanzkapital, GrundbesitzerInnen bereichern sich an der Masse der lohnabhängigen MieterInnen, die zugleich angesichts von Kurzarbeit, stagnierenden Löhnen, viel zu geringen Renten und Sozialleistungen noch mehr vor die Alternative Verarmung oder Umzug mit etwas weniger Verarmung gestellt werden.

Als Antwort darauf entwickelt sich seit Jahren eine MieterInnenbewegung, deren größte und zur Zeit wichtigste die Initiative Deutsche Wohnen und Co. enteignen darstellt.

Damit die Bewegung weiter wächst, an Dynamik und Schlagkraft gewinnt, gilt es die Erfahrungen aus den einzelnen Städten und Regionen auszutauschen und zu bündeln sowie die verschiedenen Bündnisse, Initiativen, Kampagnen zu einer bundesweit koordinierten Bewegung zusammenzuführen. Dazu braucht es eine organisierte, gemeinsame Diskussion und auch einen Aktionsplan.

Zugleich müssen in diesem Zuge aber auch grundlegende, in der Bewegung durchaus umstrittene programmatische und perspektivische Fragen diskutiert und geklärt werden, insbesondere wenn die Wohnungsfrage als Teil des Klassenkampfes gegen den Kapitalismus begriffen werden soll und nicht nur als Forderung nach einem Ende der „spekulativen Auswüchse“ der Marktwirtschaft.

Daher wollen wir im abschließenden Beitrag dieser Broschüre einige programmatische Grundfragen einer antikapitalistischen und revolutionären Politik in der Wohnungsfrage zur Diskussion stellen.

Ein Aktionsprogramm zur Wohnungsfrage muss dabei in der aktuellen Lage an den unmittelbaren und zentralen Problemen der MieterInnen anknüpfen. Daher werden wir uns im Folgenden mit sechs, miteinander verbundenen Themen beschäftigten.

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt

3. Programm für den Neubau von Sozialwohnungen und günstigen Wohnraum für die Masse der Lohnabhängigen

4. Kampf gegen Armut, für Mindestlohn und Anpassung der Löhne an die Steigerung der Mietpreise und anderer Lebenshaltungskosten

5. Enteignung von Grund und Boden, der privaten Immobilienkonzerne und des Wohnungsbaukapitals

6. Kontrolle durch MieterInnen und die lohnabhängige Bevölkerung

1. Sofortmaßnahmen gegen Mietpreiserhöhungen und für Begrenzung der Miethöhe

Angesichts der eklatanten Mietpreissteigerungen braucht die Dringlichkeit dieser Frage wohl nicht weiter betont zu werden. Grundsätzlich unterstützen wir jede Maßnahme, die zu einer Beschränkung der Mieten führt, mag sie auch für sich genommen unzulänglich und zu gering sein.

Wie die Aufhebung des Berliner Mietendeckels durch das Verfassungsgericht verdeutlicht hat, können wir uns auf die bürgerliche Justiz und Gesetzgebungsverfahren nicht verlassen. Um solche Reformen durchzusetzen, braucht es den gemeinsamen Druck, die gemeinsame Mobilisierung aller MieterInnenvereinigungen und -initiativen, der Gewerkschaften und aller linken Parteien, die vorgeben, die Interessen der MieterInnen zu vertreten. Schlüsselforderungen sollten dabei sein:

  • Sofortiger Mietstopp und Einführung einer reglementierten und kontrollierten Kostenmiete, wobei Kosten für Neubau, notwendige und sinnvolle Sanierungen auf den gesamten Wohnungsbestand umgelegt werden! Offenlegung der Kostenkalkulation aller VermieterInnen! Deckelung des Mietpreises auf höchsten 30 % des Nettoeinkommens!
  • Feststellung des Leerstandes von Wohnungen! Zweckentfremdungsverbot und  Beschlagnahme des spekulativen Leerstandes, um rasch Wohnraum für Obdachlose, Geflüchtete, Jugendliche, Studierende und Menschen mit geringen Einkommen zu schaffen!
  • Verbot aller Zwangsräumungen von MieterInnen! Legalisierung der Besetzung leerstehender Häuser und Wohnungen! Kein Abriss, keine Modernisierung, keine Stadtsanierung ohne Zustimmung der Betroffenen!
  • Rücknahme aller Verschlechterungen im Mietrecht! Wiederherstellung der Gemeinnützigkeit kommunaler und genossenschaftlicher Wohnungsbauunternehmen, langfristiger Sozialbindung! Wiedereinführung des Mietendeckels!
  • Keine Abzocke mit den Nebenkosten! Schluss mit dem Outsourcing des Facility-Managements! Fest angestellte, tariflich bezahlte HausmeisterInnen, Reinigungskräfte, HandwerkerInnen, Verwaltungs- und Servicepersonal in Wohnungsgesellschaften statt Fremd- oder ausgelagerter Tochterfirmen!

2. Kampf gegen rassistische, geschlechtliche und soziale Diskriminierung am Wohnungsmarkt

Die Freiheit des Wohnungsmarkts reproduziert und verstärkt offen oder verdeckt gesellschaftliche Unterdrückung. Von Rassismus, Frauenunterdrückung, Unterdrückung aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität Betroffene werden auf dem Wohnungsmarkt besonders benachteiligt. Das betrifft ebenso Menschen mit Behinderungen und insbesondere alle mit geringen Einkommen. Dass Diskriminierung offiziell verboten ist, ist eine Farce angesichts der Realität des Marktes. Wer sich für eine Wohnung bewirbt, muss seine Einkommensverhältnisse, seine Herkunft, familiäre Situation, ja selbst Lebensplanung offenlegen. Und wer dies verweigert, hat unter dutzenden oder hunderten Bewerbungen schon verloren. Diskriminierungsverbote müssen daher zwar verteidigt werden, angesichts der Konkurrenz unter den MieterInnen findet die Selektion jedoch verdeckt durch die blinde Macht des Marktes statt. Zugleich reproduzieren die verschiedenen Formen der Benachteiligung die Spaltung unter den lohnabhängigen MieterInnen. Auch deshalb ist der Kampf gegen diese für die gesamte Bewegung unerlässlich.

  • Geförderte, kostengünstige Wohnungsvergabe für gesellschaftlich Unterdrückte und sozial Benachteiligte!
  • Ausbau von barrierefreien Wohnungen, Frauenhäusern und anderen Schutzräumen für Opfer von Diskriminierung, häuslicher und sexueller Gewalt!
  • Kontrolle der Vergabe von Wohnraum durch MieterInnenkomitees und Antidiskriminierungsausschüsse, die von den sozialen Unterdrückten selbst gewählt werden!

3. Öffentliches Wohnungsbauprogramm!

Wohnungsmangel und Wohnungsnot resultieren nicht nur aus der spekulativen Bewegung des Anlage suchenden Finanzkapitals und ihrer Verschärfung durch rassistische und geschlechtliche Unterdrückung, Armut und geringe Einkommen. Sie werden ergänzt durch einen Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und generell kostengünstiger Wohnungen. Unter dem Diktat des spekulierenden Großkapitals wird natürlich auch neu gebaut oder umgebaut – aber in erster Linie im Bereich höherpreisiger Marktsegmente oder infolge von Sanierung und Modernisierung, die den Bestand zwar kaum verbessern, aber kräftige Mietpreissteigerungen und infolge dieser höhere Aktionskurse und Renditen erlauben. Deshalb:

  • Der Bund muss den Kommunen ausreichend Finanzmittel für den Bau von mind. 250.000 Wohnungen bereitstellen, bezahlt aus Abgaben und progressiver Steuer auf Gewinn und Vermögen!
  • Schaffung von ausreichend geschützten bzw. betreuten Wohnformen für Menschen in Krisensituationen, Opfer von Gewalt und Geflüchtete! Förderung alternativer Projekte wie von Mehrgenerationenhäusern, zentralisierter Hauswirtschaft (Kantinen, Wäschereien, betriebs- bzw. wohnortnahe Betreuung von Säuglingen, Kleinkindern und SchülerInnen bei Hausaufgaben und Nachhilfe)!
  • Mitspracherecht der BewohnerInnen und MieterInnen bei allen Bau- und Modernisierungsmaßnahmen in den Stadtteilen!

4. Mieten runter – Löhne rauf!

Die Wohnungsnot trifft v. a. prekär Beschäftigte, Erwerbslose, alleinerziehende Frauen und MigrantInnen, weil sie zu den am meisten ausgebeuteten und am schlechtesten bezahlten Teilen der ArbeiterInnenklasse gehören. Selbst wenn alles ohne Diskriminierung durch VermieterInnen abginge, selbst wenn die Mietpreise weniger steigen würden, würden sie aufgrund von sinkenden oder stagnierenden Einkommen immer mehr unter Druck geraten.

Der Kampf gegen die Mietpreissteigerungen ist daher gerade für die Lohnabhängigen eng mit dem um höhere Löhne, einen ausreichende/n/s Mindestlohn, Arbeitslosengeld, Renten und Mindesteinkommen, die die Reproduktionskosten decken, eng verbunden.

  • Mindestlohn von 15 Euro/Stunde! Arbeitslosengeld, Renten, Mindesteinkommen, und -sicherung in derselben Höhe!
  • Elternunabhängige Grundsicherung für SchülerInnen ab 16 Jahren, Studierende und Mindesttariflohn für Berufsauszubildende!
  • Gleicher Lohn für gleiche Arbeit unabhängig von Geschlecht, Nationalität, StaatsbürgerInnenschaft, Religion, sexueller Orientierung und Wohnort in Ost- oder Westdeutschland!
  • Anpassung der Löhne und Einkommen an die Mietpreissteigerung und Steigerung der Lebenshaltungskosten!

5. Enteignet die EnteignerInnen!

Um die Eigentumsfrage führt kein Weg herum. Solange Grund und Boden ihren EigentümerInnen horrende Gewinne bringen, solange der Wohnungsbau in privater Hand bleibt und vor allem den Unternehmen Profite bringt und vor allem solange der Wohnungsmarkt von Immobilienunternehmen dominiert wird, die auf rasche, spekulative  Gewinne an den Börsen setzen, werden die Preise weiter steigen und wird die Wohnungsfrage noch brisanter werden.

Die massiven Mieterhöhungen für die Lohnabhängigen gehen Hand in Hand mit  Privatisierungen und horrenden Gewinne der Immobilienhaie einher.

Diese Entwicklung führt übrigens auch zu erhöhten Kaufpreisen für persönlich genutztes Wohnungseigentum und damit zu höheren Schulden privater Haushalte wie auch zu einer extremen zusätzlichen Belastung für kleine Gewerbetreibende, die ebenfalls durch überhöhte Mieten verdrängt werden.

An der Enteignung der großen PlayerInnen am Wohnungsmarkt, von Grund und Boden wie der Baufirmen führt letztlich kein Weg vorbei. Wir treten für die Öffnung von deren Bilanzen, Verträgen sowie der Verstrickung von Tochterunternehmen und Beteiligungen ein, um ihre wirklichen Vermögen und ihre EigentümerInnenstrukturen offenzulegen.

Die Milliarden, die sie sich über Jahre bei den MieterInnen oder bei viel zu günstigen Wohnungsverkäufen angeeignet haben, sind selbst Resultat einer rücksichtslosen, ja räuberischen Geschäftspolitik. Die Gelder müssten für Neubau, ökologische und kostengünstige Erneuerung und Erhaltungskosten verwandt werden.

Daher sollten alle diese Konzerne entschädigungslos enteignet werden. Das betrifft auch ihre GroßaktionärInnen. Nur die kleinen AnlegerInnen sollten so weit entschädigt werden, dass sie ohne Verluste aus dem spekulativen Geschäft aussteigen können. Die entschädigungslose Enteignung bedeutet natürlich eine massive Konfrontation nicht nur mit dem Kapital im Wohnungssektor, sondern in allen Bereichen, weil eine Enteignung der großen Immobilienkonzerne und von Grund und Boden auch eine Beispielwirkung für die gesamte Ökonomie hätte.

Das trifft selbst zu, wenn Kampagnen wie Deutsche Wohnen und Co. enteignen eine Entschädigung in Aussicht stellen. Als RevolutionärInnen sind wir zwar gegen die Entschädigung, doch wir kämpfen ungeachtet ohne Wenn und Aber an der Seite dieser Initiative. Gerade weil die Eigentumsfrage so grundlegend für den Kapitalismus ist, müssen wir uns zugleich auf eine massive Konfrontation darum, auf eine Kontroverse um die Höhe von Entschädigungen vorbereiten, die nur mit den Mitteln des Klassenkampfes, also einer Massenmobilisierung, zu gewinnen sein wird.

  • Entschädigungslose Enteignung der Großkonzerne und aus spekulativen Gründen brachliegenden Bodens!
  • Wohnungsversorgung (zurück) in öffentliche Hand unter Kontrolle von MieterInnenräten und Organen der ArbeiterInnenbewegung!
  • Sofortige entschädigungslose Enteignung der ImmobilienspekulantInnen wie Vonovia und Deutsche Wohnen sowie der VermieterInnen, die Wuchermieten erheben bzw. ihrer Instandhaltungspflicht nicht nachkommen!
  • Überführung von Banken, Baukonzernen, HerstellerInnen von Baumaterial und -maschinen, Versicherungen und Bausparkassen in Staatseigentum unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle!

6. Kontrolle durch MieterInnen und die lohnabhängige Bevölkerung

Selbst wenn die privaten Unternehmen enteignet würden, stellt sich unwillkürlich die Frage, wem diese gehören und wer die Kontrolle darüber ausübt. Im Kapitalismus bedeutet Enteignung von Unternehmen entweder deren Überführung in genossenschaftliches Eigentum oder Verstaatlichung – egal nun Bund, Länder oder Kommunen als EigentümerInnen fungieren oder es die Form einer Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) annimmt.

Genossenschaftliches Eigentum stellt im Grunde eine Form des Privateigentums dar, auch wenn sich mehrere Personen den Besitz teilen.

Auch in einer kommunalen oder genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaft, ob nun als AöR oder sonst wie organisiert, herrscht immer noch das kapitalistische Wert- und Aneignungsgesetz. Staats- und Wohnungsschulden, Bodenpreise verschaffen sich letztlich immer wieder Geltung und verhindern eine Transformation staatskapitalistischen Eigentums in vergesellschaftetes. Kurzum, der Klassenkampf um die Wohnungsfrage endet nicht mit der Enteignung, er nimmt nur eine andere Form an.

Daher treten wir in allen privaten, staatlichen und auch genossenschaftlichen Wohnungsgesellschaften für die Kontrolle durch gewählte Ausschüsse/Komitees der MieterInnen ein. Die genauen Formen der Kontrolle werden sich logischerweise im Zuge der Entwicklung verändern. Es versteht sich von selbst, dass die VertreterInnen von MieterInnenvereinen, Gewerkschaften, migrantischen und linken Organisationen und Parteien der ArbeiterInnenbewegung darin einbezogen werden müssen.

Aber es gibt keine sozialistischen Inseln im Kapitalismus. Wirkliche Vergesellschaftung kann nur in Form der Assoziation der direkten ProduzentInnen umgesetzt werden, erfordert also letztlich den Sturz des Kapitalismus.




Deutsche Wohnen und Co enteignen: Wenn die Immobilienhaie rufen, klopft die Polizei an

Tomasz Jaroslaw, Neue Internationale 254, April 2021

Der Housing Action Day am 27.3.2021 kommt gerade rechtzeitig. In die Wohnungsfrage, die immer mehr Menschen v. a. in Großstädten unter den Nägeln brennt, kommt Bewegung. Das Beispiel Berlin zeigt, dass allerdings auch die Gegenseite mobilmacht.

Mit dem Erfolg der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“ (DWE) nimmt auch der Druck seitens VermieterInnen, Immobilienlobby und konservativer Medien zu.

Meinungsfreiheit?

Das hat sich bereits 2019 gezeigt, als ein Vermieter einem Mieter kündigen wollte, da ein DWE-Sticker auf seinem Briefkasten war. Der Vermieter begründete diese Kündigung mit dem Verlust des „Vertrauensverhältnisses“ und drohte zusätzlich mit einer Klage wegen Beleidigung.

Ein ähnlicher Fall der Einschränkung der Meinungsfreiheit ereignete sich im Februar 2021: als 2 WGs und eine Senioren-WG Banner mit der Aufschrift „Lebenslänglich – Bezahlbarer Wohnraum ist ein Grundrecht!“ aus ihren Fenstern hingen, da sie als BewohnerInnen der Kreuzberger Wohnungsgenossenschaft Möckernkiez eG „selbst in gesicherten Wohnverhältnissen [wohnen] und (…) nicht hinnehmen, dass Menschen fürchten müssen, ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen zu können“, so eine gemeinsame Erklärung der 25 BewohnerInnen des Hauses. Der Vorstand der Wohnungsgenossenschaft hat die BewohnerInnen aufgefordert, das Transpi runterzuhängen, da „Die Fassade nicht mit vermietet sei“ und es sich bei „der Anbringung nicht um einen üblichen Mietgebrauch handelt, die Anbringung berechtigte Interessen unserer Genossenschaft verletzt und Belästigungen anderer Hausbewohner und Nachbarn zu erwarten sind“. Die Genossenschaft gilt übrigens als Vorreiterin für eine Energiewende.

MieterInnen an der Warschauer Straße und Kopernikusstraße wurden ebenfalls von ihren VermieterInnen aufgefordert, Fahnen in den Farben lila-gelb (Kampagnen-Farben von DWE) abzuhängen.

Es zeigt eindrücklich, dass die VermieterInnen und selbst die Wohnungsgenossenschaften bereit sind, elementare Grundrechte wie die Unverletzlichkeit der Wohnung und Meinungsfreiheit zu beschränken.

Neutralität des Staats?

Aber macht es Sinn, hier die Konfrontation vor Gericht zu suchen? Wenn bürgerliche PolitikerInnen, bürgerliche Zeitungen oder VertreterInnen des bürgerlichen Staates davon reden, dass Recht, Ordnung und Gesetz durchgesetzt werden sollen und das unter Verwendung von Justiz und Ordnungsmaßnahmen zu erfolgen hat, ist dies einfach nur am geltenden Recht orientiert, politisch neutral und bezüglich des sozialen Standes der Streitenden unparteiisch? Steht der Staat der Durchsetzung des Mietrechts genauso nahe wie der des Eigentumsrechts?

Zur Beantwortung dieser Frage können wir uns einige prägnante Beispiele angucken, die jedoch keine Einzelfälle, sondern die Spitze des Eisbergs darstellen

Ein Eigentümer wollte in der Emser Straße 2019 eine energetische Sanierung durchführen, obwohl bereits wenige Jahre zuvor eine durchgeführt worden war. Die MieterInnen organisierten sich in einer Initiative, um diese und den Mietanstieg in der Folge vor Gericht abzuwehren. Das Gericht tendierte zunächst dazu, die erneute Sanierung zu stoppen. Noch während des Verfahrens wurde in einer Nacht die Fassade von Unbekannten an mehreren Stellen angebohrt, wodurch die Isisolierung beschädigt worden ist. Die Mietinitiative dokumentierte diese offensichtliche Sachbeschädigung im Interesse des Vermieters. Das Ergebnis: unbekannte TäterInnen, keine Verbindung mit dem Vermieter, beschädigte Bausubstanz und das Urteil: Die Sanierung durfte durchgeführt werden.

Ein Eigentümer will seit Jahren die BewohnerInnen in der Karl-Marx-Straße aus ihren Wohnungen verdrängen, indem im Winter wochenlang Heizung und Warmwasseraufbereitung nicht repariert worden sind. Der Eigentümer will das Objekt sanieren, die aktuell sehr günstigen Mieten damit aushebeln und viel teuerer neu vermieten. Als HandwerkerInnen im Auftrag des Eigentümers mutmaßlich die Gasleitung des Hauses beschädigten, ist es nur dem Umstand, dass der erste Mieter, der die Leckage bemerkt hat, kein Raucher war, zu verdanken, dass keine Explosion zustande kam. Die Polizei hat die Ermittlungen eingestellt, da ihrer Aussage nach keine TäterInnen ermittelt werden und dem Eigentümer keine Gelegenheit und kein Motiv unterstellt werden konnten, obwohl die HandwerkerInnen am Tag der Beschädigung im Haus waren (Gelegenheit) und das Motiv des Eigentümers durch die jahrelangen Verdrängungsbemühungen mehr als offensichtlich war.

Mafiamethoden

Das Padovicz-Netzwerk ist ein mafiöses Unternehmensgeflecht um die gleichnamige Familie, das dadurch auffällt, Wohnungen zu kaufen, mit Steuermitteln zu sanieren und dann die MieterInnen durch Sanierungsmaßnahmen, Müll, Ausfall von Heizungen und sogar Bedrohungen zum Verlassen zu nötigen, um die fertig sanierten und öffentlich geförderten Wohnungen viel höher neu zu vermieten. Selbst bei Wohnobjekten, die auf Grund ihrer Rolle in der ultralinken Szene bei seriösen UnternehmerInnen als Risikokapital gelten, hat das Netzwerk seine dreckigen Finger im Spiel. Nudelmann & Friends Immobilien, Teil dessen, tritt als Verhandlungspartner zwischen den unbekannten EigentümerInnen und dem Staat zur Rigaer Straße 94 auf. Auch bei der Planung, Bebauung und Verdrängung in der Rummelsburger Bucht mischt Padovicz mit.

Es gibt Hinweise auf Verflechtung zwischen ihm und diversen Bezirksämtern bezüglich Zuschüssen zur Sanierung, Kooperation bei Räumungen (Immobilienfilz). Welche Position der Staat im Konflikt zwischen MieterInnen und Padovicz einnimmt, sieht man daran, dass bis heute dieser untätig ist, das gesamte Firmengeflecht und die mafiösen Praktiken zu untersuchen und zu verfolgen. Stattdessen werden MieterInnen in den Fokus des Verfassungsschutzes gerückt, nachdem sie Protestaktionen vor Büros der Firma und Klingelstreiche organisiert haben. Während also die Ermittlungen gegen ImmobilienbesitzerInnen eingestellt werden, diese vor Gericht Recht bekommen, genießt Padovicz einen Personenschutz rund um die Uhr durch 4 Einsatzfahrzeuge der Polizei. Gleichzeitig ermittelt der Verfassungsschutz gegen den „Phänomenbereich Anti-Gentrifizierung“ und weist den Blog „Padowatch“ im Verfassungsschutzbericht 2018 aus.

Immobilienkapital und Staat: herzliches Einvernehmen

Beim „Global Residential Cities Index” (Stand 2019) liegt Berlin an 6. Stelle. Der GRCI untersucht Parameter wie u. a. Mietpreiserhöhungen, wirtschaftliche und politische Stabilität und liberale Steuergesetzgebung und berechnet daraus einen Wert, der für ImmobilienanlegerInnen als Kennzahl dient. Berlin ist daher nicht nur ein Anlagefeld für große bekannte finanzindustrielle Wohnkonzerne wie Deutsche Wohnen, Vonovia, Covivio usw., sondern voller unseriöser und mafiöser Unternehmen, die es neben krassen Profiten zusätzlich zur Geldwäsche und Steuervermeidung nutzen. Zwischen 2011 und 2015 wurden Immobilien im Wert von 13 Milliarden Euro gekauft, aber durch die Konstruktion von sog.  „Share Deals“ ist dem Land bzw. der Kommune eine Grunderwerbsteuer von 700 Millionen entgangen.

Von Seiten des Staates passiert nichts, um das vielschichtige Netz von Beteiligungen, Tochter-, Briefkastenfirmen und Steueroasen zu durchleuchten und trockenzulegen. Oft werden MieterInnen aus ihren Wohnungen vertrieben und heraus geklagt, müssen sich gegen unbegründete Mieterhöhungen oder Kostenumlagen wehren und kennen nicht mal den/die BesitzerIn der Immobilie, sondern nur deren AnwältInnen. So 2019 beim Räumungsverfahren gegen die linke Kiezkneipe „Syndikat“. Nachdem das Gericht auf Grund massiver Proteste angeordnet hatte, dass der/die EigentümerIn erscheinen musste, entpuppte sich die Adresse als Briefkastenfirma. Trotzdem siegte diese/r letztlich und die Polizei organisierte Schützenhilfe bei der Räumung, indem sie die Straße unter militärische Belagerung stellte und systematisch AnwohnerInnen schikanierte. In denselben Kontext stellt sich auch die Räumung der „Meuterei“, einer anderen linken Kneipe, die für den 25.3. angesetzt ist, und die Schließung der unabhängigen Jugend- und Kulturzentren „Potse“ und „Drugstore“.

Ein anderer international bekannter Standort ist die „Köpi“, dessen Käufer Siegfried Nehls, Vorstand der SANUS CAPITAL AG und Kopf eines ebenfalls dubiosen Unternehmensgeflechts, mehrfach wegen Betrugs und Urkundenfälschung verurteilt worden ist und die „Köpi“ als Immobilienpaket durch Strohmänner aus der STARTEZIA GmbH erworben hat. Im Februar wurde den BewohnerInnen ein Räumungsbescheid erteilt und eine Räumungsklage vor Gericht eingereicht. Es ist vorauszuahnen, dass, obwohl Bezirksverordnetenvertretung und Bezirksamt offiziell kundtun, eine Eskalation vermeiden zu wollen, die Polizei diese Räumung durchsetzen wird.  Weitere Standorte sind auch akut von Räumung bedroht: z. B. Liebigstraße 34, Voigstraße 36, Hermannstraße 48, Beermannstraße 6.

Beamtete HandlangerInnen

Das sind alles Beispiele, wo Organe des bürgerlichen Staates im Interesse von Unternehmen aufgetreten sind. Manchmal wird der Staat aber selbst aktiv gegen die MieterInnenbewegung:

  • Gezieltes und bewusstes „Totprüfen“ des Antrages für das Volksbegehren durch den Berliner Innensenat.
  • Abreißen von Plakaten durch die Polizei im Baumschulenweg.
  • Festnahme von PlakatkleberInnen eines legalen und angemeldeten Volksbegehrens wegen angeblicher Sachbeschädigung und Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz, obwohl ihm zufolge politische Werbung im Rahmen des Volksbegehrens ausdrücklich gestattet ist.
  • Ermittlungen des Staatsschutzes gegen DWE wegen einer Anzeige durch die Anwaltskanzlei Hartmann, Gallus und Partner, die mit schweren Schadensersatzforderungen den Mietenvolksentscheid e. V. (Trägerverein von DWE) nötigen will, Plakatieren im öffentlichen Raum zu unterlassen.
  • Anmeldungen zu Ständen und Kundgebungen werden von der Polizei nicht genehmigt, obwohl das neue Versammlungsgesetz eine einfache Anmeldung und Ablehnung nur in gut begründeten Ausnahmen vorsieht. Das schließt öffentlich zugängliche Privatgelände (Bahnhöfe, Einkaufshäuser) ein.

Forderungen und Perspektiven

Natürlich muss man diese vielen Beispiele publizieren und skandalisieren, aber man sollte nicht der Illusion verfallen, dass Staat, Gerichte und Polizei neutrale Institutionen seien, die dem privaten Eigentumsrecht genauso nahe stehen wie dem Mietrecht. Zudem verhält es sich selbst in parlamentarischen Demokratien so, dass BeamtInnen und RichterInnen vom Staat eingesetzt werden und die einzigen gewählten Körperschaften (Parlamente, Stadt- und Gemeinderäte) bestehen aus Abgeordneten, die ihrem Gewissen (und ihrem Geldbeutel) verpflichtet sind, nicht den WählerInnen. Diese können sie bei Verletzung ihrer Interessen nicht jederzeit abwählen wie in einer Demokratie der ArbeiterInnenräte. Wir fordern deshalb: Wahl der RichterInnen durch Organe der MieterInnen und ArbeiterInnenbewegung, gerade weil erstere zum größten Teil der ArbeiterInnenklasse angehören!

Um die Ziele von DWE zu erreichen, müssen wir solidarisch mit dem Volksbegehren und ihrer Verteidigung gegen Repression seitens Staat, Gerichten und Immobilienlobby sein. Doch sie muss über ihren Tellerrand schauen. Dazu gehört die Perspektive einer bundesweiten Zusammenführung der MieterInnenbewegung, beginnend mit einer Aktions- und Organisationskonferenz. Dazu gehört aber auch ein Plan B, der über den angestrebten Volksentscheid hinausgeht. Denn selbst im Erfolgsfall bleibt die Umsetzung in den Händen von Parlament, Staat und Gerichten, nicht zuletzt in der Frage der Höhe der Entschädigung.

Eine entschädigungslose Enteignung unter ArbeiterInnen- und MieterInnenkontrolle – unseren Vorschlag also – hat ja DWE mit großer Mehrheit einschließlich der meisten sich als sozialistisch bezeichneten Kräfte abgelehnt! Stattdessen wird die zu gründende Anstalt des öffentlichen Rechts (AöR) leichtfertig zur Form des Gemeineigentums stilisiert. So richtig es wäre, die Arbeit in ihren MieterInnenräten auszunutzen, so wenig kann diese Mitbestimmung mit wirklicher Gegenmacht der ArbeiterInnenklasse gleichgesetzt werden (ganz wie die im Betriebsverfassungsgesetz festgeschriebenen Betriebsräte keine Form der Gegenmacht darstellen).

Entscheidend ist der Klassenkampf, ob aus ihnen so etwas entstehen kann. Dazu müssen aber SozialistInnen auf den Aufbau von Gegenmachtorganen zu Kapital und Staat überhaupt erstmal orientieren. Methoden wie Mietboykott, Verhinderung von Zwangsräumungen gerade infolge der Coronakrise, von organisierter Kontrolle des Mietendeckels, Beschlagnahme von Wohnraum für die obligatorische Unterbringung von Geflüchteten, Wohnungs- und Obdachlosen sind ferner zu berücksichtigen. Sie sind allesamt nur mit Klassenkampforganen durchzusetzen. Die Unterstützung der Unterschriftenkampagne von DWE stellt daher nur ein Etappenziel dar, hin zum Aufbau einer breiteren Bewegung für die Enteignung des Wohnungsbaukapitals, des Immobilienbesitz und der Wohnungsspekulation.




Ein Aktionsprogramm für Palästina

Liga für die Fünfte Internationale, Herbst 2018, Revolutionärer Marxismus 51, Mai 2019

Ein Jahrhundert nach der Balfour-Erklärung, in der Großbritannien zum ersten Mal eine nationale Heimstätte für die Jüdinnen und Juden in Palästina versprach und gleichzeitig zusagte, dass „nichts getan werden soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nichtjüdischen Gemeinschaften in Palästina beeinträchtigen könnte“, werden die Rechte eben dieser Gemeinschaften des palästinensischen Volkes massiv verweigert. Heute sind es zwölf Millionen, von denen weniger als die Hälfte noch in ihrer historischen Heimat, sei es im Staat Israel oder in den besetzten Gebieten des Westjordanlandes und des Gazastreifens, lebt. Die restlichen sechs bis sieben Millionen sind Flüchtlinge, die noch immer in notdürftigen Lagern leben, in die sie und ihre Familien 1948 und 1967 vertrieben wurden.

Trotz alledem gibt es die PalästinenserInnen als Nation, als Volk, weiterhin und sie widersetzen sich so entschlossen wie eh und je ihrer Vernichtung. Sie kämpfen gegen eine der am besten ausgerüsteten Armeen der Welt, die mit Atomwaffen bewaffnete israelische Armee, unpassend als „Verteidigungsstreitkräfte“ (IDF) bezeichnet. Dazu kommt ein gewaltiger Apparat der Überwachungs- und Geheimdienste, Mossad (Institut für Aufklärung und besondere Aufgaben; Auslandsgeheimdienst) und Schin Bet/Schabak (Allgemeiner Sicherheitsdienst; Inlandsgeheimdienst), der repressive Regime auf der ganzen Welt mit Neid erfüllt. Die israelische Cyber-Kriegsführungskapazität wird als eine der fünf oder sechs besten der Welt angesehen. Um das Ganze abzurunden, verfügt dieser Gegner über die uneingeschränkte logistische und finanzielle Unterstützung der einzigen Supermacht der Welt, den USA.

Der zionistische SiedlerInnen-Kolonialismus hatte zwei Voraussetzungen: die Migration jüdischer Flüchtlinge vor dem in Europa grassierenden Antisemitismus nach Palästina sowie ein politisches und wirtschaftliches Regime, das die Vertreibung der bereits dort lebenden Bevölkerung ermöglichte. Das wurde durch ein Bündnis mit dem britischen Imperialismus möglich, der im Ersten Weltkrieg über das Osmanische Reich siegte und eine zwanzigjährige Herrschaft über Palästina errichtete. So wurde es einer beträchtlichen (aber immer noch nicht mehrheitsfähigen) Siedlerpopulation möglich, sich anzusiedeln und zu bewaffnen. Diese Bewegung, insbesondere ihr sogenannter ArbeiterInnenflügel, verfolgte ein Programm der Enteignung armer palästinensischer Bäuerinnen und Bauern sowie eines Ausschlusses aller nichtjüdischen ArbeiterInnen aus den Fabriken, Läden und Büros.

Ohne den europäischen Massenmord am jüdischen Volk,  Höhepunkt der antisemitischen Verfolgung im Holocaust (Shoa) und  enorme historische Tragödie der Jüdinnen und Juden in Europa, hätte das zionistische Projekt jedoch nie die Unterstützung einer Mehrheit des jüdischen Volkes erlangen können. Sechs Millionen starben, davon fast fünf Millionen aus den jiddischsprachigen Gemeinschaften Polens und der Sowjetunion und eine halbe Million aus Ungarn. Doch der Zionismus war nicht das Hauptinstrument des Widerstandes gegen diesen Vernichtungsfeldzug, und er bot den meisten seiner Opfer auch keine Zuflucht, bevor es zu spät war. Die UnterstützerInnenmächte Israels, Großbritannien und die USA, haben ihre Grenzen für die Masse der jüdischen Flüchtlinge weder vor noch nach dem Krieg geöffnet. Sie versuchten auch nicht, die Shoa durch Bombardierung der Infrastruktur des Massenmordes zu verhindern, selbst nachdem sie wussten, dass sie im Gange war. Die PalästinenserInnen hingegen waren, trotz der reaktionären Sympathien einiger ihrer FührerInnen, nicht für den Holocaust verantwortlich. Trotzdem wurden sie gezwungen, deren Kosten zu bezahlen. Das zionistische Projekt verhinderte nicht das Abschlachten der europäischen Juden, und die Gründung Israels war dadurch nicht gerechtfertigt.

So führte eine historische Tragödie zur nächsten: der Besetzung von 78 Prozent des britischen Mandatsgebiets Palästina und der umfassenden ethnischen Säuberung mittels Vertreibung von mindestens 750.000 PalästinenserInnen aus ihren Häusern und von ihrem Land, der Nakba (arabisch: Katastrophe) von 1948. Palästinensischen BürgerInnen Israels ist es bis heute gesetzlich verboten, derer zu gedenken. Aber die Katastrophe endete 1949 nicht. 1967 schloss Israel die Besetzung aller verbliebenen palästinensischen Gebiete ab, als die IDF das gesamte Westjordanland und den Gazastreifen einnahm und weitere 300.000 vertrieb. Seitdem hat Israel unerbittlich weiter „Fakten geschaffen“ und die fruchtbarsten Landstücke im Westjordanland nach dessen Eroberung an sich gerissen. Trotz der Osloer Abkommen mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) bleiben 61 Prozent des Westjordanlandes unter der direkten Kontrolle der IDF. Die Besiedlung geht bis heute weiter, unterstützt durch den Bau der Apartheids-Mauer, festungsartige Siedlungen, militärisches Sperrgebiet und Militärstraßen sowie unzählige Kontrollpunkte. Israelische Statistiken aus dem Jahr 2018 zeigen, dass heute 435.708 jüdische SiedlerInnen im besetzten Westjordanland leben. Wird Ost-Jerusalem dazugerechnet, steigt diese Zahl auf 700.000. Eine dauerhafte und unumkehrbare Situation zu schaffen, in der die Gründung eines souveränen und wirtschaftlich überlebensfähigen palästinensischen Staates unmöglich ist, bleibt das Ziel aller israelischen Regierungen, egal, ob sie es offen aussprechen oder stillschweigend durchführen.

Israel fordert immer wieder die Anerkennung seines Existenzrechts von den PalästinenserInnen ein und bezeichnet alle, die das verweigern, als AntisemitInnen. Aber ein Staat, dessen Existenz darauf beruht, einem anderen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung zu verweigern, kann dieses nicht für sich selbst in Anspruch nehmen. Die palästinensische Führung hat das Existenzrecht trotzdem immer wieder (1988, 1993 und seitdem) anerkannt, aber keine israelische Regierung hat je das Recht Palästinas, als souveräner Staat zu existieren, anerkannt.

Das Versprechen des britischen Labour Parteichefs Jeremy Corbyn, Palästina als Nation anzuerkennen, sollte er an die Regierung kommen, hat eine beispiellose Verleumdungs- und Hetzkampagne gegen ihn und den linken Flügel der Partei ausgelöst. Er hat die Belagerung des Gazastreifens und das Gemetzel an unbewaffneten DemonstrantInnen 2018 verurteilt und gedroht, Rüstungsgeschäfte und militärische Zusammenarbeit zu unterbinden, wenn dieser Zustand anhalte. Die BDS-Kampagne („Boycott, Divestment and Sanctions“; Boykott, Investitionsabzug und Sanktionen), in der antizionistische Jüdinnen und Juden in Israel wie auch im Ausland eine führende Rolle spielen, löste bei den rechten Regierungsparteien Israels eine wahnhafte Kampagne gegen die FreundInnen der PalästinenserInnen aus.

Die Unterstützung wiederum zeigt, dass es eine Perspektive für Palästina gibt, seine Vertriebenen zurückkehren zu lassen und in einem gemeinsamen Staat leben zu können, der beide jetzt in Palästina lebenden Nationen respektiert. Das bedeutet keineswegs eine „Vertreibung der Jüdinnen und Juden ins Meer“, einen „zweiten Holocaust“ oder all die anderen Horrorgeschichten, mit denen den PalästinenserInnen ihre Rechte vorenthalten werden sollen.

Palästinensischer Widerstand

Bis 1967 setzte die palästinensische Führung, in der Hoffnung, eines Tages Israel besiegen zu können, auf Befreiung durch die arabischen Staaten, insbesondere auf diejenigen, die wie Ägypten von nationalistischen Regimen regiert wurden. Aber nach dem Sechstagekrieg und der Versöhnung Ägyptens mit den USA wurde klar, dass PalästinenserInnen selbst die Hauptinstanz ihrer eigenen Befreiung sein mussten. Die Fatah unter Jassir Arafat, die Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) unter George Habasch, die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und andere Gruppierungen wandten sich dem „bewaffneten Kampf“ zu, also einer Strategie der Guerillakriegsführung. Aber auch diese ist gescheitert.

Die Strategie  hat jedoch den Fokus des Widerstands auf die Bevölkerung der besetzten Gebiete verlagert. Im Dezember 1987 begann die erste Intifada in Gaza. Junge PalästinenserInnen, nur mit Steinen und Benzinbomben bewaffnet, standen gegen die ganze Macht der IDF. Der damalige israelische Verteidigungsminister Jitzchak Rabin ist dafür berüchtigt, seinen Streitkräften befohlen zu haben, gefangenen DemonstrantInnenen „die Knochen zu brechen“. Die folgenden fünf Jahre heldenhaften  und massenhaften zivilen Ungehorsams, von Streiks, Demonstrationen, Steuerverweigerung und Boykotten israelischer Produkte, führten zu einer zunehmenden weltweiten Feindseligkeit gegenüber Israel und wurden für seine amerikanischen GeldgeberInnen so unangenehm, dass die Verhandlungen zwischen Israel und der PLO 1993 zu den Osloer Abkommen führten. Diese sollten in Vereinbarungen über Fragen des „dauerhaften Status“ wie den Jerusalems, Wasserrechte, Grenzabgrenzung, Siedlungen und Flüchtlinge münden.

Der Rest der 1990er Jahre wurde in fruchtlosen Verhandlungen über diese Themen verbracht. Schlimmer noch, die Bedingungen für die BewohnerInnen des Westjordanlandes, des Gazastreifens und der arabischen BürgerInnen Israels selbst haben sich verschlechtert, da das Kontrollpunktregime das Wirtschafts- und Familienleben erschöpfend und demütigend gestaltete. Aber das beste Angebot auf dem Gipfel von Camp David im Juli 2000 war ein palästinensischer Kleinstaat, der in vier nicht zusammenhängende Gebiete unterteilt war, die von israelischen Territorien und IDF-Truppen umgeben waren. Diese an die Bantustans der südafrikanischen Apartheid erinnernden Kantone hätten keine Kontrolle über ihre eigenen Grenzen, Lufträume oder Wasserressourcen. Die Gründung eines solchen „Staates“ hätte zudem illegale Siedlungen auf seinem Territorium und weitere Gebietsforderungen innerhalb der Grenzen von 1967 legitimiert.

Die sogenannte „Zwei-Staaten-Lösung“, die von PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation) und PLA (Palästinensische Befreiungsarmee; militärischer Arm der PLO) wiederholt akzeptiert, von nachfolgenden israelischen und US-Regierungen in Worten befürwortet und von der Hamas unterstützt wurde, hat sich als Fata Morgana erwiesen, die sich in israelischen Übergriffen immer weiter in Luft auflöst. Diese angebliche Lösung hat zum Hauptziel, die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Mit dem Scheitern des Camp-David-Abkommens, dem Ausbruch der zweiten Intifada und dem Bau der Trennbarriere, besser bekannt als Apartheids-Mauer, wurde klar, dass Israel nie eine tragfähige Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren würde. Israel wird niemals einen souveränen und gleichberechtigten palästinensischen Staat akzeptieren oder die Rückkehr derjenigen zulassen, die vertrieben wurden.

Die Befreiung des palästinensischen Volkes und die Freiheit der Völker des Nahen Ostens von westlicher Herrschaft und Ausbeutung erfordern den revolutionären Sturz Israels als rassistischen Staat und seine Ersetzung durch einen einzigen bi-nationalen Staat, sowohl für sein palästinensisches als auch für sein israelisch-jüdisches Volk. Das bedeutet weder die Vertreibung der israelischen Bevölkerung noch ihre Zerstörung als Nation.

Strategie und Führung

Der panarabische Nationalismus, sei es auf der Grundlage der palästinensischen Bourgeoisie in der Diaspora oder der herrschenden Klassen in den umliegenden Staaten, hat weder Palästina befreit noch das Los seiner Bevölkerung wesentlich verbessert. Kleinbürgerliche Guerilla-Kräfte, ob beeinflusst durch nasseristische oder baathistische Regime in den 1960er Jahren oder durch radikale StalinistInnen in den 1970er und 1980er Jahren, sind daran ebenfalls gescheitert. Die Fatah, zuerst unter Jassir Arafat und dann unter Mahmud Abbas, wandte sich der reaktionären Utopie eines von ImperialistInnen vermittelten Friedensprozesses mit Israel zu. Dabei wurde sie zu einer Kollaborateurin des zionistischen Staates und der imperialistischen Mächte trotz der wiederholten Vertrauensbrüche und Erniedrigungen seitens Tel Avivs/Jerusalems und Washingtons.

Nach 25 Jahren Oslo-Abkommen kontrolliert die Palästinensische Autonomiebehörde (PA/PNA) nur 39 Prozent des Westjordanlandes, während der Rest unter IDF-Besatzung steht. Viele PalästinenserInnen wandten sich wegen ihrer Unterwerfung unter die ZionistInnen sowie der offensichtlichen Korruption und Gier ihrer AnführerInnen gegen die Fatah. Bei den Wahlen zum Legislativrat 2006 erhielt die Hamas 44,45 Prozent der Stimmen, während für Fatah nur 41,43 Prozent stimmten. Gemeinsam mit Israel und den USA sabotierte die Fatah die Hamas-Regierung und behielt die Macht im Westjordanland, verlor aber Gaza.

Die Hamas mit ihrer reaktionären islamistischen Ideologie widersetzte sich weiterhin Israel und zog so dessen erbarmungslosen Hass und den des Westens auf sich. Gaza wurde in einen Angst und Schrecken verbreitenden Belagerungszustand versetzt, um fast 2 Millionen Menschen kollektiv für den Widerstand der Hamas zu bestrafen. Aber die Hamas-Strategie der Raketen gegen Israel und die Selbstmordattentate auf israelische SoldatInnen und ZivilistInnen erwies sich als völlig wirkungslos, den Willen eines so mächtigen Gegners zu brechen. Gleichzeitig gab sie Israel den Vorwand, den BewohnerInnen von Gaza hundertmal mehr Zerstörung und Terror anzutun, als die Hamas jemals anrichten könnte. Es ist klar, dass weder Fatah- noch Hamas-Regime Palästina befreien können.

Kurz gesagt, weder der Verlass auf arabische Monarchien oder nationalistische DiktatorInnen noch sonstwie mutige Guerillas oder islamistische politische MärtyrerInnen können das palästinensische Volk befreien. Nur der massenhafte Kampf der ArbeiterInnen, Bäuerinnen, Bauern und Jugendlichen, zum Beispiel in der Intifada oder den Demonstrationen im Westjordanland und Gazastreifen, kann eine Grundlage zu einem wirkungsvollen Aufbegehren sein. Auch der Generalstreik und Betriebsbesetzungen werden den Kampf verstärken und Solidaritätsaktionen von fortschrittlichen Israelis, in der umliegenden Region und der ganzen Welt, motivieren.

Die für eine solche Strategie erforderliche Führung muss eine revolutionäre Partei verkörpern, die palästinensische VorhutkämpferInnen weltweit, in den besetzen Gebieten, in Israel und die Vertriebenen umfasst sowie mutige antizionistische israelische Juden und Jüdinnen. Allein aufgrund des Charakters des Kampfes muss dieser sowohl international ausgerichtet als auch internationalistisch geführt werden, um die größtmöglichen Kräfte gegen die Unterdrückung zu mobilisieren. Diese Organisation muss ein Programm als Strategie für den Sieg formulieren, das an den anhaltenden Kämpfen an allen Fronten ansetzt.

Ende der Belagerung von Gaza

In Gaza werden 1,9 Millionen Menschen in einem Freiluftgefängnis, das einem Ghetto gleichkommt, eingesperrt. Sie werden von Land- und Seeseite belagert und regelmäßig in ihren Häuser, Schulen, Krankenhäusern und Betrieben bombardiert. Die Materialien zum Wiederaufbau sind begrenzt. Gaza ist in seiner Wasser-, Strom-, Nahrungsmittel- und medizinischen Versorgung auf die Israelis angewiesen, die diese regelmäßig als Kollektivstrafe für Widerstandshandlungen, die sie frech als Terrorismus verunglimpfen, unterbrechen. Tatsächlich ist es die IDF, die die Bevölkerung dieser Enklave terrorisiert. Dazu kommt die hoffnungslose wirtschaftliche Lage: Die Hälfte der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ist arbeitslos, und laut den Vereinten Nationen steht die Wirtschaft kurz vor dem Zusammenbruch.

Seit dem einseitigen Rückzug Israels aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 und dem Sieg der Hamas bei den Wahlen 2006 hat Israel wiederholt Großangriffe auf Gaza gestartet: die Operationen  Hot Winter 2008, Cast Lead 2008–09, Pillar of Defence 2012 und Protective Edge im Juli 2014. Diese Angriffe haben in vielen Ländern Massenproteste ausgelöst. Als die internationale Solidaritätsbewegung im Mai 2010 die Gaza-Solidaritätsflotte organisierte, um die Blockade des Gazastreifens durch die israelische Marine mit lebenswichtigen Gütern an Bord zu durchbrechen, enterten Spezialeinheiten die Boote und zwangen sie umzukehren. Auf einem der Schiffe, der Mavi Marmara, töteten sie dabei neun AktivistInnen. Viele mehr wurden verletzt.

Seit März 2018, als ein Bündnis vieler Organisationen unter Beteiligung breiter Massen von Jugendlichen den „Großen Marsch der Rückkehr“ zur Mauer um den Gazastreifen organisierte, starben über 160 Menschen im Kugelhagel der IDF. Die meisten von ihnen waren unbewaffnet. Diejenigen die als bewaffnet galten, führten Steinschleudern und Brandballons mit sich. Wenig später erklärte Donald Trump zum 70. Geburtstag Israels Jerusalem zum Sitz der US-Botschaft. Er erkannte Jerusalem damit als die Hauptstadt Israels und nicht Palästinas an. Als wäre das nicht genug, fror er gleichzeitig auch 300 Millionen Dollar an US-Beiträgen an das UNRWA (UN-Hilfswerk für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten) ein.

Nachdem Trump und Netanjahu den ägyptischen Diktator und den saudischen Kronprinzen für ein de-facto-Bündnis gewonnen haben, steht als nächster Schritt eine neue israelische Offensive gegen den Libanon, Gaza oder Iran unter dem Deckmantel eines verlogenen „Friedensplans“ an, der wohl sicher abgewiesen werden würde.

In den kommenden Jahren muss die internationale Solidaritätsbewegung mit Palästina ihr Handeln um die Forderungen herum verstärken:

  • Beendigung der israelischen Land-, See- und Luftblockade gegen Gaza und Öffnung seines Hafens für Hilfe, Handel und wirtschaftliche Versorgung.
  • Vollkommene Bewegungsfreiheit in das Westjordanland und nach Ägypten.
  • Für die internationale Anerkennung der EinwohnerInnen Gazas als BürgerInnen eines souveränen Staates Palästina.
  • Massive Hilfe beim Wiederaufbau und der Ausstattung von Schulen, Kliniken und Häusern sowie Arbeitsplätzen, die von den „Großmächten“ bezahlt werden, die die Region geplündert haben.

Weltweite Solidarität mit Palästina

Die BDS-Bewegung will Institutionen aller Art davon
überzeugen, die Finanzierung und Unterstützung für alle israelischen und
internationalen Agenturen oder Unternehmen, die an der Verletzung
palästinensischer Rechte beteiligt sind, einzustellen. Sicherlich wird BDS
allein nicht die israelischen Verbrechen wie den Armeeterror gegen Gaza oder
den Siedlungsbau und die Fragmentierung der palästinensischen Gebiete im
Westjordanland beenden können. Ein Umschwenken der öffentlichen Meinung in den
imperialistischen Demokratien allein wird an der Unterstützung ihrer
HerrscherInnen für Israel nichts ändern. Nur radikale und grundlegende
politische Veränderungen in diesen Ländern, verbunden mit dem Sturz der
Marionettenregime der Länder im Nahen Osten, Länder die sie ausbeuten und
dominieren, können das schaffen.

Dennoch ist BDS ein Schritt in diese Richtung, und
deshalb setzen der israelische Staat, seine Botschaften in der ganzen Welt und
die zionistische Bewegung Himmel und Hölle in Bewegung, um die Kampagne und ein
Anwachsen der öffentlichen Sympathie für die palästinensische Sache zu stoppen.
Die Boykottkampagne gegen Südafrika allein führte nicht zum Untergang der
Apartheid, sondern die massenhaften Aktionen der Jugend in den Townships
(Vorstädten) und antirassistischen ArbeiterInnenbewegung in den 1970er und
1980er Jahren. Ebenso kann die BDS-Kampagne die Verbrechen Israels benennen und
den Kampf der palästinensischen Massen und ihrer UnterstützerInnen in der
israelischen Gesellschaft fördern und unterstützen. Ebenso wichtig ist aber
eine Solidarisierung mit den demokratischen und ArbeiterInnenbewegungen in den
umliegenden Ländern, wie sie im Arabischen Frühling 2011 auf den Plan traten.

Die von israelischen Botschaften organisierte Antwort auf
den Erfolg von BDS beruht darauf, Parteien, akademische Institutionen und
Regierungen zu zwingen, die Definition des Antisemitismus durch die „Internationale
Allianz zur Erinnerung an den Holocaust“ (IHRA) zu akzeptieren. Dazu gehören
auch Beispielsätze wie „dem jüdischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung zu
verweigern, z. B. indem behauptet wird, dass die Existenz eines Staates
Israel ein rassistisches Bestreben sei“ und „von ihm ein Verhalten zu
verlangen, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt
wird“, die im Kern antisemitisch seien. Wie bereits dargelegt, ignoriert die
erste Formulierung, dass die gängige Interpretation der jüdisch-israelischen
Unabhängigkeitserklärung von 1948 als Recht, die arabische Bevölkerung zu
vertreiben, sehr wohl ein rassistisches Unterfangen ist. Auf die massenhafte
Vertreibung der nichtjüdischen Mehrheitsbevölkerung und die apartheidartige
Unterdrückung der verbliebenenen PalästinenserInnen gibt es nun mal kein
demokratisches Anrecht. Zionistische Behauptungen, dass antiisraelische und
antizionistische Ansichten selbstredend antisemitisch seien, entwerten die
Bekämpfung des wirklichen, ursprünglichen Antisemitismus und lenken davon ab.
Der befindet sich noch immer im Arsenal rassistischer PopulistInnen und offener
FaschistInnen und kommt immer wieder zum Vorschein, wenn die Gesellschaft in
die Krise schlittert. Aber die Aktionen Israels schützen nicht die Interessen
der jüdischen Gemeinschaften weltweit – sie isolieren und schädigen sie.
Menschen, die die PalästinenserInnen verteidigen und Islamfeindlichkeit
bekämpfen, werden auch die ernsthaftesten KämpferInnen gegen die AntisemitInnen
sein.

Es ist eine zentrale Aufgabe, die Arbeiterbewegung in
Europa und Nordamerika dafür zu gewinnen, ihre Unterstützung für die
palästinensische Befreiung zu erklären und diese als untrennbaren Teil ihres
eigenen Kampfes für den Sozialismus zu verstehen. Als Schritte in diese
Richtung müssen wir die Parteien und Gewerkschaften der internationalen ArbeiterInnenbewegung
für die folgenden Forderungen gewinnen:

  • Boykott der Firmen, wissenschaftlichen und akademischen Institutionen, die Material für die israelische Aggression und Unterdrückung produzieren.
  • TransportarbeiterInnen auf Straßen, Schienen, Docks und Flughäfen sollten sich weigern, Exporte und Importe abzuwickeln, angefangen bei Waffen und Hochtechnologieprodukten, die zur Unterdrückung benutzt werden, sowie für Waren aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten usw.
  • Zurückweisung aller Versuche, Kritik und Boykott Israels als Antisemitismus zu stigmatisieren und zu verbieten.

Gleiche Rechte für die palästinensischen BürgerInnen
Israels

Das jüngste Grundgesetz Israels definiert Israel als „den
Nationalstaat des jüdischen Volkes“, das allein das Recht auf Selbstbestimmung
hat und dessen Sprache, Hebräisch, die alleinige Staatssprache ist. Damit
bekennt sich Israel schuldig im Sinne der Anklage, eine Form der Apartheid, ein
rassistisches Unternehmen zu verkörpern. Es ist nicht antisemitisch, das
auszusprechen. Israel und der Zionismus sind nicht gleichbedeutend mit der
jüdischen Identität oder den Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt, von denen
sich immer mehr, trotz Einschüchterung, gegen Israels Behandlung der
PalästinenserInnen aussprechen. Bis heute wird Millionen von PalästinenserInnen
der Zugang zu ihrer Heimat verwehrt. Ihr Land und Eigentum bleiben konfisziert,
nur weil sie keine Jüdinnen und Juden sind. Seit seiner Gründung hat Israel
eigene BürgerInnen auf dieser Grundlage systematisch diskriminiert und
NichtbürgerInnen wie die PalästinenserInnen im Westjordanland und im
Gazastreifen einem Militärregime unterworfen, das sich durch Freiheit der
Kolonisation, aber anhaltende Zerstörung palästinensischer Häuser und strikte
Trennung auszeichnet.

1973 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten
Nationen die Internationale Konvention über die Bekämpfung und Bestrafung des
Verbrechens der Apartheid. Die darin enthaltene Definition von Apartheid
umfasst auch das Verweigern des „Recht(s) auf Verlassen des Landes und auf
Rückkehr ins Heimatland, auf Staatsangehörigkeit, auf Freizügigkeit der
Bewegung und des Aufenthalts“. Die Definition umfasst auch „die Enteignung von
Grundbesitz, der einer ethnischen Gruppe gehört“. Tatsächlich dürfen
„Nichtjuden und -jüdinnen“ auf den 93 Prozent des von ihren Vorfahren
enteigneten und vom israelischen Staat kontrollierten Landes keinen Boden
kaufen oder mieten. Die BürgerInnenrechtsorganisation Adalah (deutsch:
Gerechtigkeit) rechnet vor, dass mehr als 50 Gesetze
palästinensisch-israelische BürgerInnen bei Landbesitz, Wohnrechten, dem Recht
auf ein Familienleben, Bildung und anderen Themen diskriminieren. Obwohl
palästinensische BürgerInnen Israels bei Parlamentswahlen wählen und
Knessetabgeordnete werden können, lehnte dieses Parlament 2016 ausdrücklich
einen Gesetzentwurf ab, der die Gleichstellung zu einem Grundgesetz gemacht,
also in den Verfassungsrang gehoben hätte.

Palästinensische Dorfgemeinden und städtische Gebiete
werden regelmäßig zu „unerlaubt errichteten“ erklärt und abgerissen.
Israelische nichtjüdische BürgerInnen mit EhepartnerInnen aus dem
Westjordanland oder dem Gazastreifen können diese nicht nach Israel bringen.
Das Höchste Gericht gestand zwar zu, dass dies eine Verletzung der
Menschenrechte sei, fügte aber hinzu: „Menschenrechte sind kein Rezept zum
nationalen Selbstmord“, und wies Klagen dagegen zurück. Weiters sind
Wohngebiete rassisch getrennt und das Schulsystem privilegiert offen jüdische
Israelis. Auch der Wohnungsbau ist im Grunde genommen segregiert. 70 Prozent
der israelischen Gemeinden verfügen über Zulassungskommissionen, die potenzielle
EinwohnerInnen auswählen und PalästinenserInnen systematisch ausschließen.

Der Staat kontrolliert 93 Prozent des Landes in Israel,
und eine Regierungsbehörde, die „Israelische Landverwaltung“ (ILA), verwaltet
und verteilt dieses Land. Die ILA verfügt über kein Mandat, Land nach fairen
Kriterien zu verteilen, und die Mitglieder des Jüdischen Nationalfonds (JNF;
gegründet 1901 von Theodor Herzl!) machen fast die Hälfte des
ILA-Aufsichtsrates aus. Der JNF übernimmt hier eigentlich staatliche Aufgaben.
Im Jahr 2005 behauptete der Vorsitzende, Yehiel Leket, dass seine Organisation
„nicht verpflichtet ist, zum Wohle aller ihrer BürgerInnen, (sondern) nur zum
Wohle der jüdischen Bevölkerung zu handeln. Der JNF besitzt auch direkt 13
Prozent aller öffentlichen Flächen, von denen viele zu den fruchtbarsten und
produktivsten des Landes gehören. Eine besonders brutale staatliche Kampagne
wurde gegen mindestens 250.000 BeduinInnen in der Negevwüste und in Galiläa
durchgeführt. Die traditionell nomadischen HirtInnen gelten als BlockiererInnen
zionistischer Siedlungsprojekte und als Hindernis im Weg der Ausweitung
israelischer Kontrolle über diese Gebiete. Ihren Gemeinschaften wird regelmäßig
die Anerkennung verweigert und somit ein Rechtsvorwand geschaffen, ihre
Unterkünfte abzureißen. Ihre medizinischen und Bildungseinrichtungen sind in
einem fürchterlichen Zustand im Vergleich zu denen, die jüdischen Israelis zur
Verfügung stehen.

Gegen diese groben Verstöße gegen demokratische Rechte
und den grassierenden Rassismus fordern wir:

  • Uneingeschränkte Bewegungsfreiheit zwischen allen Teilen des historischen Palästina für alle arabischen PalästinenserInnen und alle jüdischen Israelis.
  • Eine gemeinsame StaatsbürgerInnenschaft für alle arabischen PalästinenserInnen und alle jüdischen Israelis mit der Möglichkeit für palästinensische Flüchtlinge außerhalb des Landes, diese zu erlangen.
  • Die Abschaffung des israelischen Rückkehrgesetzes und aller anderen Gesetze, die einen privilegierten Zugang zu Einwanderung, Aufenthalt oder Staatsbürgerschaft auf Grundlage der jüdischen Abstammung oder Religion gewähren.
  • Die Abschaffung aller israelischen Gesetze, die das Recht der arabischen BürgerInnen Israels einschränken, ihre Staatsangehörigkeit auf EhepartnerInnen oder Nachkommen zu übertragen.
  • Die Abschaffung aller israelischen Gesetze, die arabische BürgerInnen Israels im Bereich des Eigentums oder anderer BürgerInnenrechte diskriminieren, und die vollständige zivile Gleichstellung von Jüdinnen/Juden und AraberInnen im gesamten historischen Palästina.
  • Das Verbot und die Aufhebung von „privaten“ und anderen „nichtstaatlichen“ Rechtsvorschriften, Verträgen oder Übereinkommen, die das Aufenthaltsrecht von Nichtjuden und -jüdinnen einschränken.
  •  Verstaatlichung des Jüdischen Nationalfonds sowie seine Öffnung für PalästinenserInnen, Abschaffung aller Privilegien für Jüdinnen und Juden sowie Zugang zur Nutzung von Staatsland für alle.
  • Anerkennung des Rechts der BeduinInnen auf das Land, auf dem sie leben und ihre Tiere versorgen.

Die Befreiung des Westjordanlandes von der israelischen
Besatzung

Die besetzten Gebiete, vom israelischen Staat „Judäa und
Samaria“ genannt und allgemein als Westjordanland bezeichnet, sind ein Archipel
palästinensisch verwalteter Inseln. Die rund 20 Kilometer breite Zone wird mit
Ausnahme des Gebietes um Jericho (arabisch: Ariha) vom Militär besetzt.
Andererseits ist ein Landstreifen entlang der „Grünen Linie“, der jetzt durch
die Sicherheitsbarriere begrenzt und teilweise durchtrennt wird, im Widerspruch
zu den UN-Resolutionen stark besiedelt. Gab es 1993, als die Osloer Abkommen
unterzeichnet wurden, 260.000 israelische SiedlerInnen im Westjordanland und in
Ostjerusalem, so sind es heute mehr als 600.000 in etwa 140 Kolonien. Vor allem
hier hat Israel eine Apartheidsituation geschaffen, in der Israelis das beste
Land besetzen und Vorrang beim Zugang zu Ressourcen haben, während PalästinenserInnen
von Mauern, Militärstraßen und Kontrollpunkten eingeschlossen sind und ihre
Dörfer und Städte oft von Hügelsiedlungen bewaffneter und aggressiver
SiedlerInnen dominiert werden.

Die „Sicherheitsbarriere“, jetzt international als
„Apartheids-Mauer“ bekannt, verstößt gegen das Völkerrecht, obwohl natürlich
keine internationale Behörde und keine Staatsmacht Israel dafür belangen kann
und will. Ebenso sind die Ausrufung Jerusalems als „ungeteilte“ und ewige
Hauptstadt Israels 2018 und deren Anerkennung durch die Vereinigten Staaten
weitere Maßnahmen, um zu verhindern, dass die Stadt jemals zur Hauptstadt
Palästinas wird. Israel behindert aufdringlich politische Aktivitäten der
PalästinenserInnen, die in bürgerlichen Demokratien Grundrechte sind. Kontrollpunkte
und Trennmauern behindern die Bewegungsfreiheit, was das Funktionieren des
palästinensischen Legislativrates erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.
Seine Mitglieder und ParteivertreterInnen sind oft lange im israelischen
„Sicherheitsarrest“ oder gar in Haft weggesperrt. Einige Abgeordnete (vor allem
von der Hamas) wurden sogar durch die israelischen Sicherheitskräfte ermordet.

  • Reißt die Apartheidmauer nieder! Für die Freizügigkeit aller PalästinenserInnen im gesamten Gazastreifen, im Westjordanland und in Israel.
  • Widerstand gegen das Recht Israels, PalästinenserInnen aus dem historischen Palästina auszuweisen, und gegen die Erpressung durch eine „Anerkennung des Existenzrechts Israels“, mit der dies gerechtfertigt wird.
  • Wir fordern die Abschaffung der segregierten Siedlungen im Westjordanland und ihre Umwandlung in multiethnische Gemeinschaften unter der Kontrolle demokratisch gewählter Versammlungen.
  • Keine internationale Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels. Anerkennung als Hauptstadt eines zukünftigen palästinensischen Staates.

Ende Juni 2018 befanden sich 5.667 palästinensische
Sicherheitshäftlinge und politische Gefangene, darunter mehrere hundert Kinder,
in Verwahrung durch den Israelischen Gefängnisdienst (IPS).

  • Wir fordern ihre sofortige und bedingungslose Freilassung.

Ein wichtiger Schritt im Befreiungskampf besteht darin,
die korrupte und kollaborative Fatah-Führung zu ersetzen. Wir kämpfen für:

  • freie und faire Wahlen zu einer palästinensischen verfassunggebenden Versammlung.

Für Frauenbefreiung

Frauen sind seit den 1920er Jahren, als sie mit Männern
gemeinsam gegen die britische Besatzung protestierten, im palästinensischen
Kampf aktiv. Sie mussten in der Nakba Grausames erleiden einschließlich
brutaler Vergewaltigungen, die darauf abzielten, die Bevölkerung zu demütigen,
zu demoralisieren und die ethnischen Säuberungen zu beschleunigen. Dennoch
haben Frauen in den Flüchtlingslagern und im Exil ihre Strukturen erhalten und
ihre Identifikation mit der Heimat an nachfolgende Generationen weitergegeben.
In der Zeit des Guerillakampfes wurde Leila Chaled zu einem internationalen
Symbol des gesamten Kampfes.

Auch heute noch werden Frauen an israelischen
Kontrollpunkten absichtlich gedemütigt und schikaniert. Auch israelische Bomben
kümmern sich nicht um das Geschlecht ihrer Opfer. Obwohl die traditionelle
palästinensische Gesellschaft sozial konservativ ist und Frauen und Mädchen vor
dem, was als „unehrenhafte“ Aktivität gilt, „schützt“, fanden viele Frauen
durch politische Bildung und Mobilisierung zur Freiheit. Während der beiden
Intifadas wurden Frauen zu Organisatorinnen der Gemeinschaften und bildeten
Straßenkomitees und andere Organisationen.

Obwohl die Rolle der Frauen als entscheidend anerkannt
wurde, sind sie immer noch selten an politischer Entscheidungsfindung
beteiligt. Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA/PNA) beschränkt die
Beschäftigung von Frauen auf Berufe wie Sekretärinnen oder Lehrerinnen an
öffentlichen Schulen. In der Führung der wichtigsten palästinensischen
politischen Parteien sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert.

Der Sieg der Hamas in Gaza war ein Rückschritt für die
Rechte der Frauen, da sie darauf drängte, das palästinensische Recht durch die
Scharia (wörtlich: gebahnter Weg; religiöses Gesetz) zu ersetzen. Frauen sind
verpflichtet, islamische Kleidung zu tragen und kulturelle Einschränkungen
hinzunehmen. Oft können sie ohne die Erlaubnis eines männlichen Verwandten
nicht einmal das Haus verlassen. Dennoch setzen sich palästinensische
Frauenaktivistinnen für Gesetze zum Schutz von Frauen vor Ehrenmorden und
männlicher häuslicher Gewalt ein. Vor kurzem zeigte der Große Rückkehrmarsch,
an dem bis zu 40 % Frauen teilnahmen, wie bei dem Intifadas davor, dass
der Kampf gegen die israelische Herrschaft mit dem für die Befreiung der Frauen
zusammenhängt und ihn stärkt.

  • Beendigung der Schikanen von israelischen SoldatInnen gegen Frauen und deren Durchsuchungen an Kontrollpunkten.
  • Gleiche Rechte und Zugang zu Bildung für Frauen, gleiche Eigentumsrechte, gleicher Lohn für gleiche Arbeit.
  • Positive Diskriminierung bei der Auswahl von weiblichen Mitgliedern zu allen politischen und staatlichen Gremien und Diensten.
  • Keine Straffreiheit für diejenigen, die Frauen ermorden, vergewaltigen und schlagen, seien es Verwandte oder Fremde.
  • Für Zentren zur Frauenförderung und medizinische Versorgung, für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und über die Geburt eines Kindes zu entscheiden.
  • Aufhebung aller patriarchalen Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, der Kleidung und der PartnerInnenwahl von Frauen.
  • Für eine unabhängige und demokratische palästinensische Frauenbewegung.

Für eine sozialistische Ein-Staaten-Lösung

In Wirklichkeit ist die „Zwei-Staaten-Lösung“ tot. Die
Anerkennung in Worten existiert als Feigenblatt für israelische Übergriffe. Für
die USA und die westeuropäischen Staaten rechtfertigt sie die anhaltende
Unterstützung für Israel, und für reformistische Parteien wie die britische
Labour-Partei ermöglicht sie es  zu
ignorieren, dass die Existenz des Staates Israel als jüdischer Staat die
Auslöschung der palästinensischen Nationalität bedeutet.

Den gegenwärtigen zionistischen Staat zu stürzen bedeutet
nicht, die israelische Nation zu vernichten. Keine ernstzunehmende
palästinensische Organisation verlangt dies. Alle islamistischen Bewegungen,
Könige und DiktatorInnen in der arabischen Welt, die in der Vergangenheit
impotente antisemitische Drohungen ausgesprochen haben oder heute aussprechen,
die „Jüdinnen und Juden ins Meer zu treiben“, sollten aufs Schärfste verurteilt
werden. Sie sind keine FreundInnen, sondern FeindInnen sowohl der
PalästinenserInnen als auch des israelischen Volkes.

Nur die ArbeiterInnenklassen dieser nationalen,
sprachlichen und religiös-kulturellen Gemeinschaften, ihre Jugend, ihre Frauen
können den Sturz des Zionismus erreichen. Gegenwärtig sind die meisten
israelisch-jüdischen ArbeiterInnen durch den Gewerkschaftsbund Histadrut an den
Unterdrückerstaat gebunden. Die Histadrut (wörtlich: Zusammenschluss) war nie
eine echte Klassengewerkschaft, sondern eine der Hauptagenturen für die
Enteignung und ethnische Trennung der ArbeiterInnen. Fortschrittliche
israelische ArbeiterInnen, die die Sicherheit einer freien und
gleichberechtigten Gesellschaft anstreben, sollten sich vom Histadrut lösen und
mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern gemeinsame Gewerkschaften
bilden.

PalästinenserInnen als unterdrücktes Volk haben kein
Interesse daran, die Unterdrückung umzukehren, wie es die ZionistInnen taten.
Wir lehnen Antisemitismus entschieden ab und begrüßen all jene Jüdinnen und
Juden in Israel und weltweit, die die palästinensischen Rechte und das Ziel
unterstützen, ein Land ohne nationale, rassische, religiöse oder sprachliche
Privilegien für eine einzelne Gemeinschaft aufzubauen.

Zwar würde die Rückkehr von Millionen palästinensischer
Flüchtlinge zu ernsthaften sozialen und wirtschaftlichen Problemen führen, wenn
es den KapitalistInnen und dem Markt überlassen bliebe, sie zu organisieren. Es
gibt jedoch einen Weg, wie das historische Land Palästina beiden Nationen Platz
bieten kann. Der einzige Weg, den Konflikt um den Zugang zu Land, Arbeit,
Bildung und Wohnen zu lösen, ist das vergesellschaftete Eigentum an
Produktionsmitteln, Grundstücken, Fabriken, Büros und ebenso die
gleichberechtigten Bereitstellung von Gesundheit, Bildung und Wohnen,
koordiniert durch einen demokratischen Plan.

Deshalb kämpfen wir für eine sozialistische Lösung, die
auf dem gemeinsamen Besitz des Landes und aller wichtigen Produktionsmittel
basiert. Das bedeutet nicht die Enteignung derjenigen, die das Land tatsächlich
bewirtschaften, sondern im Gegenteil ihnen zu ermöglichen, es zu entwickeln und
zu verbessern, damit sie ein gutes Leben für sich selbst und Lebensmittel und andere
landwirtschaftliche Erzeugnisse für die Dörfer, Städte und Gemeinden schaffen,
was zu einem demokratisch vereinbarten Plan beiträgt.

  • In den Fabriken und anderen Betrieben kämpfen wir für ArbeiterInnenkontrolle und -verwaltung.
  • Das Land den kleinen Bäuerinnen und Bauern! Wir fordern die Verstaatlichung des Landes, damit diejenigen, die es ursprünglich bestellt haben und es wieder bewirtschaften wollen, zurückkehren können, und die Israelis, die das Land seit vielen Jahren bewirtschaften und dies fortsetzen wollen, dies zusammen mit ihren palästinensischen Brüdern und Schwestern in demokratischen Genossenschaften tun können, die Lebensmittel für die Gesamtbevölkerung liefern.
  • Vollständige Verstaatlichung aller Banken und Finanzinstitute unter  ArbeiterInnenkontrolle.
  • Verstaatlichung der gesamten Großindustrie unter der ArbeiterInnenkontrolle und Einrichtung von branchenübergreifenden Ausschüssen, um einen Plan für Produktion und Vertrieb zu erstellen.
  • Für ein umfangreiches Programm von öffentlichen Arbeiten zum Bau von Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. Einrichtung von integrierten Arbeitsgruppen, die je nach Bedarf Wohnraum zuweisen.
  • Für einen regionalen Plan der Energieerzeugung, weg von den fossilen Brennstoffen hin zur Stromerzeugung mittels erneuerbarer Energien.
  • Unterstützung der Kämpfe anderer ethnischer Minderheiten innerhalb des zionistischen Staates, z. B. chinesischer und osteuropäischer WanderarbeiterInnen.
  • Unterstützung für alle sozialen und wirtschaftlichen Kämpfe der israelisch-jüdischen ArbeiterInnen und Jugendlichen, solange diese nicht darauf abzielen, Privilegien gegen ihre Klassenbrüder und -schwestern aufrechtzuerhalten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Befreiung der
PalästinenserInnen in Israel und in den besetzten Gebieten sowie in den
Flüchtlingslagern nur durch eine Strategie der permanenten Revolution erfolgen
kann. Das bedeutet die Umwandlung des demokratischen Kampfes gegen die
nationale Unterdrückung in einen für Gemeineigentum, Planung und Kontrolle
unter einer ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung. Es bedeutet auch
die internationale Ausweitung der Revolution. Palästina ist ein kleines Land,
und sein Weg zum Sozialismus wird nur auf der Grundlage der Ausbreitung einer
miteinander verbundenen demokratischen und sozialistischen Revolution in der
gesamten Region erfolgreich sein.

Für eine sozialistische Föderation des Nahen Ostens

Vor fast zweihundert Jahren begannen die kapitalistischen
Länder Europas, Teile des Nahen Ostens im untergehenden Osmanischen Reich zu
erobern. Seit einem Jahrhundert wird der enorme Ölreichtum des Nahen Ostens von
diesen Mächten geplündert, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch die
Vereinigten Staaten. Sein natürlicher Reichtum floss nach Westen und Osten, um
die industrielle und kommerzielle Entwicklung Europas, Amerikas und Japans nach
dem Krieg voranzutreiben, während die Massen der arabischen Länder und des Iran
unter korrupten und diktatorischen Regimen in Armut lebten.

Israel ist ein Keil, der in die zersplitterte arabische
Welt getrieben wurde. Milliarden von US-Dollar haben einen militärisch
mächtigen Brückenkopf aufgebaut, dessen Armee im Bedarfsfall als Gendarm
agieren kann. Israel ist eine Hightech-Militärmacht mit Atomwaffen und mit 6,5
Milliarden Dollar Jahresumsatz einer der weltweit größten Waffenexporteure. Es
steht unter keiner ernsthaften Bedrohung durch die viel schwächeren arabischen
Staaten oder den Iran. Doch Israel und die USA haben alle angegriffen oder mit
einem Angriff bedroht, die sich ihren Wünschen widersetzen, egal wie unwirksam
oder symbolisch.

  • Das Vertreiben dieser imperialistischen Mächte und ihrer verschiedenen regionalen HandlangerInnen stellt daher eine wesentliche Voraussetzung für die Freiheit für Palästina und ein Ende des rassistischen Siedlerstaates dar.
  • Wir kämpfen für die entschädigungslose Verstaatlichung aller Dachgesellschaften (Holdings) der imperialistischen multinationalen Konzerne, der Ölgesellschaften und ihrer Vermögenswerte in der gesamten Region.
  • Wir fordern von den imperialistischen Staaten und den Ölkonzernen eine massive Entschädigung für ihre Überausbeutung der Region im letzten Jahrhundert.
  • Alle US-Basen, alle „westlichen“ Truppen müssen verschwinden. Schließung aller ihrer Stützpunkte und Militärhäfen. Die anhaltenden mörderischen Aktionen Russlands in Syrien zeigen, dass das Gleiche für dessen Standorte in diesem Land gilt.

Welche Art von Partei kann dies erreichen?

Der israelische Staat kann nur dann besiegt und die
Möglichkeit eines sozialistischen Staates nur dann eröffnet werden, wenn er im
revolutionären Kampf, gegen die zionistische herrschende Klasse, unter der
Führung von PalästinenserInnen und den fortschrittlichen Kräften innerhalb der
israelischen Gesellschaft zerstört wird. Wir können uns nicht der Illusion
hingeben, dass dies weniger als einen Massenaufstand und eine Bewegung
erfordert, die diese endgültige Konfrontation planen und vorbereiten muss. Nur
eine revolutionäre Partei kann die Avantgarde der ArbeiterInnen und Jugendlichen
auf diese Aufgabe vorbereiten. Daher muss sich die Partei bei Bedarf illegal
organisieren und auch eine disziplinierte Kaderpartei repräsentieren, die den
demokratischen Zentralismus anwendet, um ihre Wirksamkeit und
Überlebensfähigkeit unter repressiven Bedingungen zu gewährleisten.

Die revolutionäre Partei wird offen sein für alle
AvantgardenkämpferInnen, die ihr Programm unterstützen. Sie muss ArbeiterInnen,
Frauen, Jugendliche und Intellektuelle erreichen und einbeziehen. Sie wird
versuchen, fortschrittliche israelisch-jüdische ArbeiterInnen und Jugendliche
in ihre Reihen zu holen.

Sie wird sich zum Ziel setzen, nicht nur für den Sturz
der israelischen Regierung, sondern auch der korrupten PA zu kämpfen und sie
durch eine konstituierende Versammlung zu ersetzen, die mit der Ausarbeitung
der Verfassung eines binationalen, säkularen, demokratischen und
sozialistischen Staates beauftragt ist. Auf dem Höhepunkt dieses revolutionären
Kampfes treten wir dafür ein, eine ArbeiterInnen- und Bauern-/Bäuerinnenregierung
an die Macht zu bringen. Ihr Ziel wird darin liegen, die Macht in die Hände von
Delegiertenräten zu legen, die arbeitenden Menschen zu bewaffnen und so den
repressiven bürgerlichen Staat zu zerschlagen.

Die folgenden Losungen fassen die Strategie zusammen, für
die in Palästina und von der internationalen ArbeiterInnenklasse zu kämpfen
ist:

  • Nieder mit allen imperialistischen Mächten, AusbeuterInnen und UnterdrückerInnen der Völker des Nahen Ostens!
  • Zerschlagt den zionistischen Staat, ein Instrument des Imperialismus!
  • Für den Sieg der nationalen Befreiung des palästinensischen Volkes!
  • Für permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten!
  • Für ein sozialistisches Palästina innerhalb Vereinigter Sozialistischer Staaten des Nahen Ostens!
  • Für die Fünfte Internationale, eine zentrale Waffe der ArbeiterInnen und aller unterdrückten Völker, die für ihre Befreiung kämpfen!



Vorwort

Capitalism kills, Imperialismus, Kapitalismus und die Zerstörung von Mensch und Natur, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Juni 2019

Die Zerstörung der Umwelt und der natürlichen
Lebensgrundlagen auf der Erde schreitet unvermindert fort und nimmt immer
bedrohlichere Ausmaße an.

Während Eingriffe in die und die Nutzung der
Umwelt für menschliche Bedürfnisse notwendig sind und auch in einer
klassenlosen Gesellschaft fortbestehen würden, ist es der Kapitalismus, der aus
seinem grenzenlosen Drang nach Kapitalakkumulation die Umwelt um der Profite
willen zerstört. Die Großmächte und Konzerne der Welt profitieren davon und weigern
sich hartnäckig, wirksame Maßnahmen für ein Umsteuern zu ergreifen. Die
Unvereinbarkeit kapitalistischer „Entwicklung“ mit der Erhaltung und
Wiederherstellung eines für menschliche Gesellschaften wünschenswerten Zustands
der Umwelt wird hier besonders deutlich.

Der Kapitalismus hat sich dabei global zu einem
System des Umweltimperialismus entwickelt. Die Ausbeutung in den
halb-kolonialen Ländern wird weitgehend ohne Rücksicht auf die ökologischen und
sozialen Folgen intensiviert, um die Profite in den imperialistischen Zentren
zu vermehren. Die sozio-ökologischen Auswirkungen werden systematisch in Länder
der „Peripherie“ ausgelagert.

Die folgende Broschüre – vor allem der in diesem
Jahr erarbeitete Text „Umwelt und Kapitalismus“ – beschäftigt sich mit den politischen
und ökonomischen Grundlagen dieses Systems, das untrennbar mit
Umweltzerstörung, Ausbeutung, Nationalismus und Krieg verbunden ist.

Darüber hinaus wollen wir uns der Frage widmen,
warum und wie der Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen
der Menschheit mit dem Kampf gegen den Kapitalismus verbunden werden kann und
muss.

Wir veröffentlichen daher erneut die „Thesen zum
Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschheit“,
die unsere internationale Strömung, die „Liga für die Fünfte Internationale“
2008 angenommen hat. Auch wenn sie mittlerweile mehr als 10 Jahre alt sind, so
präsentieren sie nach wie vor Kernelement eines internationalen Programms zur
Verknüpfung des Kampfes gegen Umweltzerstörung mit dem für die revolutionären
Befreiung der ArbeiterInnenklasse.

Die Broschüre wird durch zwei Beiträge abgerundet, die wir in den letzten Monaten zur Frage „Ende Gelände“ sowie zu Fridays for Future veröffentlich haben.

Wir wollen mit der Broschüre einen Betrag zur
Diskussion um die Perspektiven, Analyse und Programmatik der Bewegung gegen die
Klimakrise und zur politischen und theoretischen Klärung der marxistischen
Linken und der ArbeiterInnenbewegung leisten. Viel Spaß beim Lesen und
Diskutieren!




Umwelt und Kapitalismus

Zu den grundlegenden Widersprüchen zwischen Nachhaltigkeit und der kapitalistischen Produktionsweise

Gruppe ArbeiterInnenmacht, Capitalism kills, Imperialismus, Kapitalismus und die Zerstörung von Mensch und Natur, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, Juni 2019

Inhalt

Einführung

Seit 1987 der berühmte Bericht „Our Common Future“ der Weltkommission für
Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen (auch bekannt als
Brundtland-Kommission) veröffentlicht wurde, hat der Begriff der Nachhaltigkeit
einen Siegeszug angetreten. Die UN-Konferenz in Rio de Janeiro 1992 (Earth
Summit) benannte nach Jahrzehnten wichtiger außerparlamentarischer
Auseinandersetzungen die Umweltfrage als globales Problem und erklärte eine
„nachhaltige Entwicklung“ zum politischen und ökonomischen Ziel.

Seitdem hat die Bedeutung von Nachhaltigkeit und Umwelt-/Naturschutz im
politischen Diskurs weltweit an Bedeutung gewonnen und auch Eingang in die
bürgerliche Öffentlichkeit gefunden. Heute gibt es kaum noch eine Regierung,
kaum ein Unternehmen oder eine Institution, die nicht von sich behaupten,
„nachhaltig“ zu sein oder zumindest dieses Ziel anzustreben. Produkte, Konsum,
Politik, Entwicklung – alles bekommt heute den Stempel der Nachhaltigkeit.
Nachhaltigkeit ist heutzutage im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig.

Damit einhergehend gab und gibt es unzählige Gipfel, Konferenzen,
Initiativen etc., die sich mit dem Thema auf verschiedensten Ebenen
auseinandersetzen. Seit nunmehr über 20 Jahren – 1997 wurde das Kyoto-Protokoll
zur Reduktion des Ausstoßes von Treibhausgasen verabschiedet – wird auf
globaler, regionaler und nationaler Ebene auch versucht, wissenschaftliche
Erkenntnisse in praktische Politik umzusetzen.

Trotz all dieser Anstrengungen und Beteuerungen verschärft sich das Problem
der Umweltzerstörung, das mit der Entwicklung des Kapitalismus globale Ausmaße
erreicht und deren menschheitsbedrohende Folgen während der sogenannten
Globalisierung immer dramatischer hervortreten. Umweltprobleme können allgemein
in zwei große Kategorien eingeteilt werden: die Übernutzung von (erneuerbaren
oder nicht erneuerbaren) Ressourcen einerseits und die Überlastung von Senken
andererseits. Unter die erste Kategorie fällt z. B. der Raubbau an
Ressourcen wie Boden, (Grund-) Wasser, Bodenschätzen oder Holz. Unter die
zweite Kategorie fallen z. B. die zunehmende Verschmutzung von Flüssen, Seen
und Meeren sowie die Übernutzung der Atmosphäre als Senke für Treibhausgase.
Alle diese Umweltprobleme nehmen heute nie gekannte Ausmaße an, mit
dramatischen Folgen. Dazu zählen z. B. der Verlust von Biodiversität, die
Auslaugung, Versalzung und Versandung von Böden, der Zusammenbruch von
Fischpopulationen, die Akkumulation von Schadstoffen in den Nahrungsketten, die
Überdüngung, Vergiftung und Erschöpfung von Oberflächen- und
Grundwasserressourcen und nicht zuletzt die globale Klimaerwärmung. Die
Menschheit fördert nicht nur spürbare negative Einflüsse auf die globale
Umwelt, diese drohen mittlerweile auch, ihre eigenen Reproduktionsbedingungen
zu zerstören. Deshalb kann zusammenfassend von Umweltzerstörung gesprochen
werden, definiert als die Überausbeutung von Ressourcen und/oder die
Überlastung von Senken. Zusammenhängend mit der fortschreitenden
Umweltzerstörung steigt auch die Anzahl an Konflikten und Kämpfen, die durch
diese Entwicklung verursacht werden.

Trotz aller Beteuerungen, Werbung und Propaganda: Von „nachhaltiger Entwicklung“ kann keine Rede sein – weder in Deutschland, der EU, noch weltweit. Die tatsächliche Entwicklung steht in krassem Gegensatz zu den Beteuerungen und erklärten Absichten der herrschenden Eliten. Es bestehen offensichtlich tiefgründigere Ursachen, die einen „Politikwechsel“ in Richtung „nachhaltige Entwicklung“ und eine Lösung der Probleme verhindern. Diese liegen in der aktuellen Wirtschaftsform der Menschheit begründet – dem Kapitalismus.

Green Economy – die falschen Antworten des Kapitalismus

In dem Brundtland-Bericht wurde nachhaltige Entwicklung folgendermaßen definiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu beeinträchtigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.“ (WCED 1987, S. 41)

Diese Definition lässt die soziale Frage weitgehend offen und stellt die
Frage zukünftiger Generationen (Generationengerechtigkeit) in den Mittelpunkt.
Sie impliziert zugleich, dass es ein weitgehend einheitliches, allgemeines
Interesse „der Menschheit“ – unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung
und ihren sozialen Interessen – gäbe. Die Definition war und ist deshalb zu Recht
Gegenstand vieler Kritik. Dass sie sich dennoch durchsetzte und einen so hohen
Stellenwert im politischen Diskurs erhielt, liegt nicht in erster Linie an
einem steigenden, abstrakten Umweltbewusstsein der Bevölkerung und/oder der
PolitikerInnen, sondern daran, dass die Grundlagen der Kapitalakkumulation
selbst langfristig durch die zunehmende Umweltzerstörung gefährdet werden und
zugleich Massenkämpfe und Bewegungen die Stabilität des bürgerlichen Systems
unterminieren könnten. Diese Besorgnis von Teilen der herrschenden Klassen
wurde bereits 1972 in dem berühmten Bericht „The Limits to Growth“ („Die
Grenzen des Wachstums“; Meadows et al. 1972) von dem elitären Club of Rome
zusammengefasst. Die zentrale Besorgnis der Eliten ist dabei nicht die Integrität
der Umwelt an sich oder die Auswirkungen der zunehmenden Umweltzerstörung auf
arme oder weniger privilegierte Bevölkerungsgruppen, sondern die
Aufrechterhaltung und Fortführung der kapitalistischen Wirtschaftsweise und
Kapitalakkumulation.

In diesem Sinne wurden und werden im Rahmen des Diskurses der nachhaltigen
Entwicklung nicht nur die Probleme im Zusammenhang mit Umwelt definiert,
sondern auch deren Lösungen: „Green Economy“ und „Green Growth“ sind hier die
wichtigsten Schlagworte. Sie umschreiben die Vorstellung, dass die Grundlagen
unserer Gesellschaft und Ökonomie – die kapitalistische Wirtschaftsordnung – weiter
bestehen und ihre negativen Umweltauswirkungen reduziert und/oder schließlich
ganz überwunden werden könnten bei gleichzeitiger Beibehaltung des Wachstums,
der kapitalistischen Akkumulation. Diese Konzepte sind heute im öffentlichen
Umweltdiskurs vorherrschend. Sie werden nur selten hinterfragt, geschweige denn
in Frage gestellt, sondern meistens als völlig selbstverständlich
vorausgesetzt.

Eine Schlüsselrolle tragen in diesen Konzepten neue, sog. „grüne“
Technologien. Kern der Vorstellung ist, dass der Kapitalismus weiter, wenn auch
nicht unbegrenzt, so doch „reguliert“ und zum Wohle von Mensch und Umwelt
wachsen könne, wenn er nur auf grüne Technologien umgestellt würde. Diese
müssten nur in „vernünftige“ staatliche und globale „Rahmenbedingungen“ eingebettet
werden, die die Interessen der verschiedenen Klassen, von Armen und Reichen,
zwischen den „reichen“ Nationen und der sog. „Dritten Welt“ zum Wohle aller
ausgleichen würden. Deshalb wird die Umwelt-Frage im vorherrschenden Diskurs
immer und vordergründig im Zusammenhang mit technologischen Aufgaben
diskutiert. Wo politische und gesellschaftliche Fragestellungen auftauchen,
werden diese gewissermaßen sozialtechnisch betrachtet, die im Rahmen eines
„Green New Deal“ prinzipiell lösbar wären. Die Frage, ob auf Basis der
kapitalistischen Produktionsweise, also der grundlegenden Verfasstheit der
gegenwärtigen Ökonomie und Politik, eine ökologische Nachhaltigkeit etabliert
werden kann, wird systematisch ausgeblendet.

Am deutlichsten wird dieser Ansatz im Bereich der Energiegewinnung und
-versorgung. Die Energieversorgung ist nicht nur für die kapitalistische,
sondern für jede Art von Ökonomie von zentraler Bedeutung. Die Entwicklung des
Kapitalismus ist aufs Engste mit der Erschließung und Nutzung von fossilen
Brennstoffen – Kohle, Öl und Gas – verbunden. Die gesamte moderne,
kapitalistische Gesellschaft ist auf diesen Energieträgern aufgebaut, ihre
ganze Infrastruktur darauf ausgelegt und danach geformt. Wie Marx im „Kapital“
im Kapitel über die relative Mehrwertproduktion zeigt, erfordert die
kapitalistische Produktionsweise eine Antriebsmaschinerie und ein
Energiesystem, das permanent, ohne Schwankungen und im großen Stil, Energie für
das Fabriksystem und die dazu passende allgemeine Infrastruktur bereitstellt.
Daher historisch die enorme Bedeutung der Dampfmaschine bei der Durchsetzung
der großen Industrie, als der dem Kapitalismus angemessenen technischen
Grundlage. Diese – und mit ihr die auf fossilen Brennstoffen entstandene
Energieversorgung – ist von Beginn an auf den Weltmarkt und die Expansion über
nationale Schranken hinaus angelegt, formt daher notwendigerweise auch die
technologische Basis der Weltwirtschaft. Mit den fossilen Energieträgern und
der dazu gehörigen Maschinerie (Dampfkraft, später Elektrizität) konnte die
kapitalistische Logik der permanenten Beschleunigung und Expansion etabliert
werden, die, im Kapital begrifflich schon vorausgesetzt, zur Wirklichkeit in
jedem Land wird. Die zunehmenden Erkenntnisse über die Auswirkungen des steigenden
Treibhausgasausstoßes bei ihrer Verbrennung hat die Einstellung gegenüber
fossilen Brennstoffen jedoch grundlegend geändert. Wurden sie während eines
Großteils des 20. Jahrhunderts als Grundlage von Entwicklung, Wachstum und
Reichtum verherrlicht, werden sie heute zunehmend als Problem angesehen.
Interessanterweise – und vom Mainstream der ökologischen Bewegung
totgeschwiegen – stellten Autoren wie Marx und Engels schon im 19. Jahrhundert
die unvermeidlichen negativen, gesellschafts- und naturzerstörenden
Auswirkungen des Kapitalismus dar und verwiesen auf die widersprüchliche Natur
des Fortschritts. Dieser kritische, der Marxschen Kapitalismustheorie
innewohnende Blick auf die ökologischen Folgen ging jedoch in der
ArbeiterInnenbewegung aufgrund der Vorherrschaft des sozialdemokratischen und
stalinistischen Reformismus verloren.

Doch zurück zum „grünen Kapitalismus“. In seiner Logik ist die Lösung für
dieses Problem schon in Sicht, schon lange sogar: erneuerbare Energien. Wind,
Sonne, Biomasse und Wasser (in etlichen Ländern auch Uran) sollen Öl, Gas und
Kohle ersetzen. Damit könne der Treibhausgasausstoß gesenkt werden, bei
gleichzeitigem Beibehalten der sog. „Versorgungssicherheit“ und
wirtschaftlichem Wachstum – sprich der stetigen, wenn auch ökologisch regulierten
Kapitalakkumulation.

Auch ein bedeutender Teil der klassischen Umweltbewegung, vor allem in den
reichen, imperialistischen Ländern, ist inzwischen auf diese Linie
eingeschwenkt. Dabei kann alles im Wesentlichen so bleiben wie heute, nur eben
mit erneuerbaren Energien versorgt. Die Umwelt- und sozialen Auswirkungen von
erneuerbaren Energien im Kapitalismus werden oft unterschätzt, übersehen oder
sogar ignoriert.

Der massive Anbau von Biomasse für die Produktion von Treibstoffen hat in
vielen Ländern zur Vertreibung der Landbevölkerung und der Konzentration von
Ackerland in der Hand von mächtigen Unternehmen und Konzernen geführt. Die mit
dem Anbau verbundenen Monokulturen verursachen die Übernutzung von Böden, den
massiven Einsatz von Kunstdüngern und Pestiziden und einen hohen Artenverlust.
Darüber hinaus trug die gestiegene Produktion von Biotreibstoffen zu einer
Erhöhung der Preise von Nahrungsmitteln, welche auf dem Weltmarkt gehandelt
werden, bei und damit auch zu den negativen Auswirkungen auf die
Nahrungsmittelsicherheit von Millionen Menschen. Noch heute werden native Wälder
für den Anbau von Biotreibstoffpflanzen gerodet z. B. in Kolumbien,
Indonesien oder Malaysia. Biotreibstoff aus diesen Quellen führt oft
absurderweise zu höheren Treibhausgasemissionen als fossile Brennstoffe
(Transport and Environment o. D.).

Auch Wind- und Sonnenenergie sind – anders als oft suggeriert – nicht frei
von negativen Auswirkungen. Beide Energieformen benötigen Rohstoffe zur
Herstellung der Turbinen bzw. Solarzellen und haben je nach Anwendung einen
hohen Landbedarf. In ihrer Produktion werden viele Materialien eingesetzt, die
teilweise unter schwer umweltschädigenden Bedingungen gefördert werden. Das
gilt z. B. für die „seltenen Erden“, die zu überwiegendem Teil in China
gewonnen werden, und für Coltan aus dem Kongo (zu den heftigen
Umweltauswirkungen der Gewinnung v. a.r Erden in China siehe z. B.
den Bericht von Maughan [2015]). Aber auch soziale Konflikte, die durch
erneuerbare Energien verursacht werden, zeichnen sich zunehmend ab. Z. B. hat
die Errichtung großer Windparks von ausländischen InvestorInnen in Oaxaca, Mexiko,
zu heftigen Konflikten mit der lokalen, kleinbäuerlichen Bevölkerung geführt,
die durch die Windparks massiv beeinträchtigt werden (siehe z. B. Schenk 2012,
oder – auf Spanisch – Castillo Jara 2011). Auch hier werden im Interesse des
Profits der KapitalistInnen die negativen Auswirkungen auf die lokale, weniger
privilegierte (Land-)Bevölkerung abgewälzt – dasselbe Prinzip wie bei fossilen Energieträgern,
auch wenn die Auswirkungen andere sind.

Wasserkraft, vor allem große Staudämme, hat durch die Förderung
erneuerbarer Energien eine Renaissance erlebt. Im Gegensatz zu den anderen
zitierten Energieformen ist ihre Nutzung schon lange im Kapitalismus etabliert.
2015 hatte sie einen Anteil von 16 % der weltweiten Stromerzeugung und
repräsentierte damit 70 % der weltweit erzeugten erneuerbaren Energien
(IEA 2017). Die heftigen sozio-ökonomischen Auswirkungen von Staudämmen, die
viel studiert und dokumentiert wurden und zu großen sozio-ökologischen
Konflikten geführt haben (siehe z. B. Hess et al. 2016 oder Hess und
Fenrich 2017), haben bis zur Jahrtausendwende zu einer abfallenden Dynamik des
Wasserkraftsektors beigetragen, zumindest bei den großen Projekten. Seitdem
haben sie aber vor dem Hintergrund der Treibhausgas-Diskussionen wieder an
Fahrt aufgenommen. Staudämme sind als (angeblich) treibhausgasarme Technologie
in dem Clean Development Mechanism (CDM) der UN anerkannt und können darüber
gefördert werden. Dabei sind die Auswirkungen oft gigantisch: von der
Umsiedelung bzw. Vertreibung von tausenden bis zu hunderttausenden von
Menschen, über die Zerstörung von Fischpopulationen und der Ökologie ganzer
Flusssysteme bis zu der Verletzung von Arbeitsrechten, offener Gewalt und
struktureller Korruption. Und selbst die angeblich niedrigen
Treibhausgasemissionen sind inzwischen widerlegt, da Stauseen enorme Mengen an
Kohlendioxid und Methan ausstoßen können (Mendonça et al. 2012).

Die Politik der Umstellung auf erneuerbare Energien, in Deutschland als
„Energiewende“ bekannt, suggeriert geradezu eine technologische Verengung des
Problems. Die neue grüne Ökonomie nimmt dies als eine ihrer ideologischen
Grundlagen. Auch in anderen Bereichen kann diese Logik beobachtet werden. So
werden die intensive Landwirtschaft und Gentechnik von der Agrarlobby als
Antworten auf Klimawandel und wachsende Bevölkerung propagiert – als wären die
massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern und die Überausbeutung
von Böden und Wasserressourcen nicht gerade auf sie zurückzuführen. Das
Elektroauto gilt als neue Hoffnung für die Aufrechterhaltung nicht nur der
wirtschaftlichen Bedeutung der Autokonzerne und ihrer Profite, sondern auch der
Fixierung der Ober- und Mittelschichten, aber auch großer Teile der
ArbeiterInnenklassen auf den Individualverkehr. Selbstredend unterliegt auch
der Ökolandbau der Profitlogik und wird heute teilweise bereits in einer
ökologisch wie sozial schädigenden Art und Weise betrieben.

Neben dem Einsatz neuer, umweltfreundlicherer Technologien ist die
effizientere Nutzung von Ressourcen im Produktionsprozess das zweite
technologische Standbein der Green Economy. In der Tat konnte der Kapitalismus
in vielen Prozessen die Effizienz massiv steigern. Das führt aber keineswegs
automatisch zu einem geringeren tatsächlichen Verbrauch der betroffenen
Rohstoffe. Wird ein Produktionsprozess effizienter – im Sinne von der
benötigten Menge an Input von Energie und Rohstoffen zur Erstellung eines
bestimmten Produktes – so sinkt damit natürlich der Wert der einzelnen Ware,
weil weniger Rohstoff und/oder Energie zu ihrer Herstellung verbraucht werden
muss. Das günstiger produzierende Unternehmen erzielt damit einen Vorteil
gegenüber seinen Konkurrenten, da es die von ihm produzierten Waren billiger
oder mit mehr Gewinn verkaufen kann. Diese Situation dauert aber
notwendigerweise nur begrenzt an, nämlich solange, bis die KonkurrentInnen
ebenfalls billigere Rohstoffe oder Energie einsetzen. So unterliegt die technische
Basis der Produktion im Kapitalismus einem permanenten Druck zur
„Revolutionierung“, zur Umwälzung.

Darüber hinaus drängt die Konkurrenz auch zur Ausweitung der Produktion,
zum ständigen Wachstum, zur Erschließung neuer Märkte (damit auch zur Vernichtung
weniger effektiver Unternehmen), zur Überproduktion über den Bedarf, zur Krise
und auch zur Vernichtung „überschüssiger“ Produkte, also solcher, die auf keine
kaufkräftige Nachfrage treffen.

Daher kann die Verringerung des Verbrauchs an Rohstoffen und Energie für
das einzelne Produkt durchaus mit der Steigerung des Gesamtverbrauchs
einhergehen, gerade in Phasen massiven Wachstums und ungebremster Akkumulation.

Dieses Phänomen war auch im 19. Jahrhundert nicht unbekannt und lässt sich
im Übrigen, wenn auch in weitaus geringeren Zeitperioden, auch bei der
menschlichen Arbeitskraft beobachten, namentlich dann, wenn die Expansion eines
bestimmten Sektors so groß ist, dass trotz einer steigenden
Arbeitsproduktivität mehr Lohnabhängige in die Produktion gezogen werden. Da
die industrielle Produktion jedoch mit einer regelmäßigen Ersetzung
menschlicher Arbeitskraft durch Maschinerie einhergeht, ist eine solche
„paradoxe“ Entwicklung bei Rohstoffen und Energie ausgeprägter.

Der britische Ökonom William Stanley Jevons beschrieb diesen Effekt bereits
im 19. Jahrhundert an dem Beispiel des Verbrauchs von Kohle in Großbritannien
und führte diesen 1865 in seinem Buch „The Coal Question“ aus. Deshalb wird
dieser Effekt als das Jevons-Paradoxon bezeichnet (siehe z. B. Foster et
al. 2010, S. 169 ff.). Jevons verkennt, ja verklärt geradezu die Ursachen des
Paradoxons, das auf Grundlage der Marxschen Kapitalismusanalyse leicht
erklärbar ist. Jevons selbst war Malthusianer. Malthus bestritt, dass die
„Überbevölkerung“ (also die Masse von Armen, die ihre Arbeitskraft nicht
verkaufen können und als „Überschussbevölkerung“ kein Auskommen finden) als
Folge der kapitalistischen Akkumulation entsteht und erklärte sie zu einem
unabänderlichen Naturgesetz. In derselben Weise erklärt Jevons das Paradox
nicht aus den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise,
sondern er behauptet, dass es als Naturgesetz jeder industriellen
Großproduktion eigen wäre.

Heute wird dieses „Paradoxon“ auch oft unter dem Stichwort Rebound-Effekt
zusammengefasst. In der Autoindustrie führt es z. B. dazu, dass die
Automodelle größer und schwerer anstatt sparsamer werden. Das Ziel ist hierbei
nicht, möglichst sparsame und preiswerte Autos für KäuferInnen mit begrenzter
Kaufkraft herzustellen, sondern neue attraktive Angebote für die kaufkräftigen
Mittelschichten und ArbeiterInnenaristokratie zu schaffen (siehe hierzu z. B.
Brand und Wissen 2017, S. 125 ff.).

Die im Mainstream der „Green Economy“ vorherrschende Reduktion der
ökologischen Folgen des Kapitalismus wird hier zwar kritisiert, tendenziell
jedoch bloß umgekehrt. Während den bürgerlichen IdeologInnen alles technisch
lösbar erscheint, so wird die Technik oder eine bestimmte Produktionsform als
Ursache benannt, nicht die Produktionsweise. Der Zusammenhang von Produktion
und individuellem Konsum wird auf den Kopf gestellt. Wenn sich Autokonzerne in
den imperialistischen Ländern stärker auf höherpreisige Produkte fokussieren,
folgt dies aus keiner Präferenz gegenüber einkommensstärkeren KäuferInnen,
sondern einfach aus der Tatsache, dass die Einkommen der mittleren und unteren
Schichten der ArbeiterInnenklasse stagnieren, wenn nicht sinken. Höhere
Gewinnmargen lassen sich daher nur in den Premiumsegmenten erzielen.

Auch im institutionellen und ökonomischen Bereich hat die hohe Bedeutung
der Umweltfrage zu neuen Entwicklungen geführt. Diese sind allerdings, wie
bereits erwähnt, in der Regel den technologischen Innovationen untergeordnet.
Ein zentrales Beispiel hierfür ist der berühmte Emissionshandel, der mit dem
Kyoto-Protokoll geboren wurde. Hintergrund ist die Förderung der
Konkurrenzfähigkeit erneuerbarer Energien gegenüber fossilen Energieträgern.
Das Prinzip folgt der Logik, dass eines der zentralen Probleme des Kapitalismus
in Bezug auf Umwelt sei, dass viele Umweltfaktoren sich gar nicht oder nur
unzureichend in den Preisen von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln –
Auswirkungen auf die Umwelt werden von kapitalistischen Unternehmen, die einzig
und alleine den Profit als Antrieb kennen, externalisiert.

Die „Externalisierung“ gesellschaftlicher Kosten prägt die kapitalistische Produktionsweise von Beginn an. Marx selbst diskutiert im „Kapital“ eine Reihe dieser Phänomene. So weist er auf ein ganz allgemeines hin: „Indem das Kapital sich die beiden Urbildner des Reichtums, Arbeitskraft und Erde, einverleibt, erwirbt es eine Expansionskraft, die ihm erlaubt, die Elemente seiner Akkumulation auszudehnen jenseits der scheinbar durch seine eigne Größe gesteckten Grenzen, gesteckt durch den Wert und die Masse der bereits produzierten Produktionsmittel, in denen es sein Dasein hat.“ (MEW 23, S. 630/631)

So erfordert beispielsweise die extraktive Industrie kaum Ausgaben für den
Rohstoff, dieses Naturprodukt wird einfach „nur“ abgebaut. Der Wert, der dem
Produkt zugesetzt wird, besteht fast ausschließlich aus Arbeitskraft, Nutzung
von Arbeitsmitteln und Transport. Dasselbe trifft auch auf die Kooperation von
Arbeitenden zu, deren kombinierte Produktivkraft und planmäßiger Einsatz werden
vom Kapital während des Arbeitsprozesses einfach verwandt – da es sich die
Arbeitskraft selbst einverleibt, diese als Teil des Kapitals fungiert. Wie sich
die Arbeitskraft umgekehrt produziert, wie Lebensmittel hergestellt, Kinder
versorgt werden, ob es eine Schule gibt oder nicht, stellt sich dem/r
individuellen KapitalistIn als außerhalb ihrer/seiner Verantwortung, außerhalb ihrer/seiner
Interessen liegende „Naturbedingung“ dar. Sie/Er nutzt diese Verhältnisse
einfach, um so die Arbeitskraft möglichst effektiv und schrankenlos
auszubeuten.

Dasselbe gilt auch für die ohne sein Zutun vorgefundenen oder neu geschaffenen gesellschaftlichen Entwicklungen, Infrastruktur, Kommunikationsmittel. Diese eignet sich das einzelne Kapital „gratis“ mit jeder Umwälzung des Kapitals an. So wird der „gesellschaftliche Fortschritt“, den z. B. Wissenschaft, öffentliche Universitäten, … verkörpern, „in seine neue Form einverleibt“ (MEW 23, S. 632).

Diese „externalisierten“ Kosten umfassen also drei Elemente: erstens die
Erde (Rohstoffe, Wassser, Luft, „Natur“…), zweitens die Arbeitskraft, deren
private Reproduktion der „Familie“, also v. a. der Frau im Haushalt
überlassen wird, und drittens allgemeine gesellschaftliche Entwicklung der
Produktivkraft der Arbeit (Wissenschaft, Bildung, Infrastruktur, öffentlicher
Transport, …).

Auf die Umweltproblematik übertragen bedeutet Externalisierung, dass
Unternehmen umweltbezogene Kosten (z. B. Wasser- und Luftverschmutzung,
die Extraktion von Wasser und anderen Ressourcen als Produktionsmittel, der Ausstoß
von Treibhausgasen etc.) nicht in ihre Bilanzen mit einbeziehen und diese
Kosten deshalb auf die Allgemeinheit bzw. die Gesellschaft abwälzen. Es ist
allerdings keineswegs so, dass die Auswirkungen gleichmäßig auf die
Gesellschaft bzw. Gesellschaften (verschiedener Länder) verteilt würden. Dabei
können zwei grundlegende Praxen unter dem Begriff zusammengefasst werden: erstens
die Externalisierung von diffusen Umweltauswirkungen, die in ihren Auswirkungen
nicht oder nur schwer eindeutig örtlich und räumlich zugeordnet werden können (z. B.
Treibhausgasemissionen, die zu einem globalen Klimawandel mit vielfältigen
Auswirkungen führen), und zweitens die bewusste Auslagerung umweltschädlicher
Produktion in andere, meist ärmere Länder.

Im Falle von Treibhausgasemissionen wird die Atmosphäre der Erde als Senke
für Treibhausgase in Anspruch genommen – lange Zeit völlig sorgen- und
kostenlos. Kapitalistische Unternehmen ändern dieses Verhalten nur, wenn sie durch
gesellschaftliche Kämpfe und Bewegungen, vom Staat oder supra-staatlichen
Institutionen durch Regelungen und Gesetze gezwungen werden oder attraktive
finanzielle Anreize erhalten. Bei Treibhausgasen ist der Weg über staatliche
Regulierungen aus mehreren Gründen schwierig bis unmöglich – schließlich ist die
Verbrennung von fossilen Treibstoffen eng mit der vorherrschenden Ökonomie
verzahnt und kann nicht einfach per Gesetz beschränkt werden, ohne massive
Auswirkungen auf das Kerngeschäft der kapitalistischen Ökonomie, der
Kapitalakkumulation, zu haben. Die kapitalistische Lösung ist der
Emissionshandel. Treibhausgase sollen über Zertifikate einen Preis erhalten und
damit in die Bilanzen der Unternehmen einfließen. Unternehmen, die viel
Treibhausgas ausstoßen, müssen sich Zertifikate von anderen kaufen, die wenig
ausstoßen. Darüber soll die Förderung von treibausgasarmen Technologien und
Innovationen gefördert werden.

Während der Ansatz der Internalisierung von umweltbezogenen Kosten in die
Bilanzen der Produktion von Gütern und Dienstleistungen durchaus positiv und
richtig sein kann, wird er im Rahmen der kapitalistischen Produktionsweise oft
in sein Gegenteil verkehrt. Der Emissionshandel hat in der Praxis bislang nicht
zu einer Senkung von Treibhausgasemissionen geführt, dafür aber zu einer neuen
lukrativen Quelle von Profiten für große Konzerne. Die Europäische Union war
bisher die führende Institution bei dem Versuch, einen flächendeckenden Handel
mit Emissionsrechten einzuführen. Die Zertifikate wurden aber über Jahre hinweg
viel zu billig verkauft, was dazu geführt hat, dass sie im Überfluss gerade für
die Unternehmen und Konzerne zur Verfügung standen, die am meisten
Treibhausgase ausstoßen. Dadurch konnten sie sich billig Zertifikate erwerben,
ohne jedoch irgend etwas zu verändern, und diese auch noch weiterverkaufen, um
daran zu verdienen. Schließlich kann der Zertifikathandel grundsätzlich auch
spekulative Züge annehmen, sobald Emissionsrechte selbst zu einer Ware werden,
die auf eigenen Börsen gehandelt werden können. Die Treibhausgasemissionen steigen
derweil weiter an und der Emissionshandel ist als Instrument zur Reduzierung
von Treibhausgasemissionen in der Krise.

Wie bereits erklärt liegt der „Grünen Ökonomie“ die Vorstellung zu Grunde,
dass die Herausforderungen im Bereich von Umwelt und Klima im Wesentlichen
durch die Umstellung auf neue Technologien und regulative wirtschaftliche
Eingriffe bei gleichzeitiger Beibehaltung und sogar Intensivierung der
kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu meistern seien. So schafft der
Emissionshandel einen riesigen neuen Markt. Im Rahmen seiner anhängenden
Instrumente, wie z. B. des „Clean Development Mechanism“ (CDM), erschließt
er sogleich neue Märkte, Ressourcen und Flächen im globalen Süden zur
Ausbeutung (Energieprojekte) und/oder Rechtfertigung von umweltschädigenden
Aktivitäten anderswo (sog. Ausgleichsflächen). Das Prinzip der „Einpreisung“
von Umwelt-Faktoren („getting the prices right“) wird von vielen
internationalen Entwicklungsinstitutionen wie z. B. der GIZ (Deutsche
Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, „Entwicklungshilfe“) als
Rechtfertigung für die (Teil-) Privatisierung von Umweltgütern oder -dienstleitungen
propagiert. In derselben Logik arbeitet das REDD (Reducing Emissions from
Deforestation and Forest Degradation)-Programm der Vereinten Nationen. Während
dessen löbliches Ziel die Reduzierung von Entwaldung (und den damit
zusammenhängenden Treibhausgasemissionen) ist, führt es in der Praxis oft dazu,
dass traditionelle Gemeinschaften die Kontrolle über ihr Territorium verlieren
und neue Gebiete für global agierende Konzerne erschlossen werden (Fatheuer et
al. 2015, S. 81). Im Bereich der Landwirtschaft ist gemäß der vorherrschenden
neoliberalen Logik nicht die massenhafte Vertreibung von Kleinbäuerinnen und -bauern,
die zunehmende Konzentration von Böden in der Hand multinationaler Konzerne
und/oder lokaler Eliten und die zunehmende Orientierung auf kapital-, wasser-
und pestizidintensive Cashcrops (Anbau von Feldfrüchten für den Export) das
Problem, sondern – ganz im Sinne der global agierenden Konzerne – die fehlende
Klarheit der privaten Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden (Fritz 2010,
S.115 f.).

Sicher spielen neue, weniger umweltschädigende Technologien eine
Schlüsselrolle in der Überwindung der aktuellen, ausbeuterischen und räuberischen
Wirtschaftsweise. Die Umstellung auf erneuerbare, emissionsarme Energien und
ressourcenschonende, effizientere Produktionsformen ist angesichts der
Erkenntnisse zu Klimawandel und dessen möglicher Folgen richtig und notwendig.
Jedoch zeigen die Erfahrungen der letzten zehn bis zwanzig Jahre deutlich, dass
eine rein technologische Umstellung im Rahmen der kapitalistischen
Produktionsverhältnisse nicht die erhofften Resultate und/oder neue Probleme
hervorbringt.

Technologien und deren Auswirkungen sind immer abhängig von ihrer
Verwendung, ihrer Einbettung in bestimmte sozio-ökonomische Verhältnisse und
welchen bzw. wessen gesellschaftlichen Interessen sie entsprechen. Im
Kapitalismus geht die technologische Entwicklung immer mit der Ersetzung menschlicher
Arbeitskraft durch Maschinerie einher. Dies würde in einer zukünftigen,
nachkapitalistischen Gesellschaft eine zentrale Quelle des gesellschaftlichen
Fortschritts und der Ausweitung freier Zeit für alle bedeuten. Im Kapitalismus
geht sie unvermeidlich mit der Festigung der Herrschaft des Kapitals über die
Arbeit, mit der Verschärfung der Ausbeutung der Beschäftigten und der
Freisetzung der „überflüssig“ gemachten Lohnabhängigen einher.

Und so werden auch erneuerbare Energien und andere neue Technologien oder Ansätze (wie z. B. auch der Ökolandbau) im Interesse des Kapitals eingeführt und eingesetzt und unterliegen der Logik der Profitmaximierung um (fast) jeden Preis. Und in dieser Logik gehen sie mit Vertreibung, Landraub, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung einher, anstatt diese „Kollateralschäden“ der kapitalistischen Wirtschaftsweise zu überwinden. Mittlerweile sind erneuerbare Energien ein etablierter, florierender Wirtschaftszweig und für Teile des Kapitals von hohem Interesse. Das zeigt nicht zuletzt der Protest von Teilen des US-amerikanischen Kapitals (inklusive großer Energiekonzerne wie Exxon) gegen die Entscheidung von Präsident Trump, das Pariser Klimaschutzabkommen zu verlassen. Anderseits verdeutlicht dieser Schritt auch, dass in der globalen Konkurrenz und im Kampf um die Neuaufteilung der Welt selbst halbherzige, zu wenig bis nichts verpflichtenden Abkommen keinen Bestand haben werden, wenn es darum geht, wem die Kosten der Zerstörung der Umwelt aufgebürdet werden sollen.

Das „Umweltparadoxon“

Obwohl sich die globalen Umweltprobleme weiter verschärfen und zuspitzen,
ist die direkte Umweltverschmutzung und -zerstörung in den reichen,
imperialistischen Ländern (im Wesentlichen in West-Europa, USA, Kanada,
Australien und Japan) seit den 1970er Jahren in einigen Bereichen
zurückgegangen. Das mag angesichts von Dieselskandal und zunehmender
Grundwasserverschmutzung mit Nitrat in Zweifel gezogen werden, betrifft aber z.
B. die Wasserverschmutzung durch häusliches und industrielles Abwasser, die
Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid und Stickoxide, die heftigen
Auswirkungen auf Boden und (Grund-) Wasser durch offene Mülldeponien oder
direkte industrielle Umweltbelastungen durch das Freisetzen von toxischen
Stoffen. In den meisten imperialistischen Ländern existieren heute umfangreiche
Umweltvorschriften und -gesetze und in vielen gibt oder gab es auch (mehr oder
weniger) bedeutende Umweltbewegungen und Parteien, die sich auf diese
Bewegungen stützen. Darüber hinaus führten v. a. die ArbeiterInnenbewegung
und die Gewerkschaften über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte einen
erbitterten Kampf um einigermaßen menschenwürdige Lebensbedingungen, also
solche, die eine dauerhafte Reproduktion der Arbeitskraft ermöglichen. Im
Frühkapitalismus war deren Existenz oft durch absolute Verelendung
gekennzeichnet. Die neu entstehende Industrie setzte sie in Fabrik und
Wohnviertel unerträglichen Bedingungen aus (fehlende oder schlechte
Kanalisation, kein Schutz vor gesundheitsgefährdenden Gasen und Chemikalien,
fehlende Kranken- und Altersvorsorge, Kinderarbeit, …), die in den Ländern
der sog. Dritten Welt bis heute fortbestehen.

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, dass sich die reichen Länder
auf einem guten Weg befänden, während Umweltverschmutzung und –zerstörung heute
vor allem ein Problem der armen Länder im globalen Süden seien. Bei näherem
Hinschauen zeigt sich hier allerdings ein Paradoxon: In den Ländern, in denen
der Verbrauch von Ressourcen (total und vor allem pro Kopf) besonders hoch ist
(imperialistische Länder), scheint die Umweltzerstörung niedriger zu sein als
in den Ländern, in denen der Ressourcenverbrauch weitaus geringer ist. Dieser
Umstand wird in der bürgerlichen Soziologie als „environmental degradation
paradox“ (Jorgensen and Rice 2005) oder „ökologisches Paradoxon“ (vgl.
Lessenich 2016, S. 96 ff.) bzw. Umweltparadoxon bezeichnet.

Um dieses zu erklären, erweitert der Soziologe Stephan Lessenich das Prinzip der Externalisierung auf das Verhältnis zwischen Ländern. Mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes konnten die reichen Länder dazu übergehen, systematisch energieintensive, besonders umweltschädigende und auch sozial schädliche Produktionsbereiche in andere Länder zu verlagern. Lessenich (2016, S. 96 ff.) fasst zusammen, „dass die reichen Industriegesellschaften in der Lage sind, die Voraussetzungen und Folgen ihres ,überbordenden Konsums‘ systematisch in andere Weltregionen, nämlich an die Gesellschaften der ärmeren, rohstoffexportierenden Länder, auszulagern. Auf diese Weise säubern sie konsequent ihre eigene Umwelt- und Sozialbilanz – und überlassen das schmutzige Geschäft anderen. Bis auf die ökonomischen Profite natürlich, die daraus zu ziehen sind.“

Diese Verlagerung hat besonders in drei Bereichen stattgefunden: (i)
Auslagerung naturzerstörender Rohstoffförderung (Energieträger wie Öl, Kohle
und Uran und Rohstoffe wie Eisen, Aluminium, Kobalt, Kupfer und viele andere
Metalle etc.); (ii) Auslagerung umweltschädlicher Industrieproduktion (z. B.
Stahlproduktion, Textilsektor, Zement- und Papierherstellung,
Elektronikindustrie); (iii) Auslagerung Land vernutzender Agrarwirtschaft (z. B.
Soja, Getreide, Fleisch, nachwachsende Rohstoffe wie Zuckerrohr oder ölhaltige
Pflanzen) und intensiver Aquakultur (Fisch und Garnelen). Diese Entwicklung
wurde in den vergangenen Jahrzehnten, während des Neoliberalismus, nochmals
verschärft und beschleunigt. Ein großer Teil der Umweltzerstörung der reichen
kapitalistischen Ökonomien wird somit auf dritte, ärmere Staaten abgewälzt. Das
bedeutet auch, dass die negativen wie positiven Umweltauswirkungen eines Landes
nicht alleine anhand interner Kenndaten beurteilt werden können (z. B. inländischer
Strom- oder Ressourcenverbrauch), sondern die Material- und Energieflüsse an
Ressourcen und Abfallprodukten mit anderen Ländern mit einbezogen werden
müssen.

An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass für viele der genannten
Auslagerungen nicht laxere Umweltauflagen, sondern niedrigere Lohnkosten die
Hauptmotivation waren und sind. Diese Faktoren widersprechen sich jedoch nicht,
sondern ergänzen sich. Die Motivation der KapitalistInnen für die Auslagerung
ist die Senkung der Produktionskosten und die Steigerung der Profite sowie der
Profitrate – dazu können sowohl niedrigere Löhne als auch laxere Umweltauflagen
beitragen. Das Verhältnis zwischen diesen Faktoren mag von Branche zu Branche
oder auch von Firma zu Firma unterschiedlich sein, die systematische
Externalisierung sozio-ökologischer negativer Auswirkungen in ärmere, halbkoloniale
Länder ist jedoch das Resultat.

Zweitens könnte eingewendet werden, dass manche natürlichen Rohstoffe wie
Agrarprodukte nur in bestimmten Weltregionen ab- bzw. angebaut werden können
und deshalb in den entsprechenden Ländern produziert werden. Oftmals hat die
billige Verfügbarkeit dieser Ressourcen (aufgrund niedrigerer Löhne und
Umweltauflagen in den Herkunftsländern) jedoch systematisch dazu beigetragen,
einheimische Produkte zu ersetzen oder bestimmte technische Entwicklungen und
Innovationen erst für das Kapital attraktiv zu machen. Ersteres gilt z. B.
für den Import von Zucker als Nahrungs- oder von Soja als Futtermittel.
Letzteres gilt z. B. für die billige, ständige Verfügbarkeit von Öl als
Vorraussetzung des öl-basierten, Individualverkehrssystems.

Die Ökonomie von Europa bzw. vor allem der EU ist dafür beispielhaft. Im
Vergleich zu den USA, Kanada oder Australien verfügen die europäischen Staaten
über weit weniger Flächen. Die Bedeutung der Landwirtschaft ist in den
westlichen europäischen Ländern seit dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich
gesunken. In Deutschland arbeiten heute nur noch ca. 2 % der Arbeitskräfte
in der Landwirtschaft (ca. 940.000 von 44,7 Mio. Beschäftigten, siehe
Statistisches Bundesamt 2017). Trotzdem hat sich die Ernährungssicherheit stark
gesteigert. Ein Grund hierfür liegt zweifellos in der gestiegenen Produktivität
der Landwirtschaft, ein anderer aber auch in der erfolgreichen Externalisierung
des Flächenverbrauchs für landwirtschaftliche Produktion. Heute deckt
Deutschland nur ca. 50 % seines Agrarflächen-, 25 % seines
Waldflächen- und ca. 35 % seines Grünlandbedarfs durch die Produktion im
eigenen Land (Umweltbundesamt 2017a). Für die EU sind die Anteile der
Eigenbedarfsdeckung 77 %, 74 % und 60 % (Fischer et al. 2017).
Auch bei der Bilanz von Energieträgern und metallischen Rohstoffen kann dieses
Verhältnis festgestellt werden. Obwohl die EU – und hier vor allem die
sogenannten Kernländer Deutschland, Frankreich sowie (noch) Großbritannien –
nach wie führend in der weltweiten Industrieproduktion ist, verfügt sie über
sehr wenige eigene Ressourcen. Eisen, Aluminium, Zement, Kupfer, Kobalt,
Seltene Erden, Kohle, Uran und Gas – viele der für die Produktion notwendigen
Ressourcen werden in anderen Teilen der Welt hergestellt und in die EU
importiert. Mit Ausnahme von Großbritannien und Norwegen gibt es in West- und
Zentraleuropa auch keine bedeutenden Erdölförderländer. Dazu kommt der
massenweise Import von Textilien und Konsumgütern (vor allem
Elektronikartikel), die in der EU verbraucht werden. Auf der Kehrseite steht
dann der massenhafte Export von erzeugten Abfallprodukten wie z. B. der
von Elektronikschrott in afrikanische Länder oder Plastik- und anderen Abfällen
nach China. Im Jahr 2016 hat die EU 1,6 Mio. Tonnen Plastikmüll, davon
Deutschland alleine 560.000 Tonnen, nach China exportiert (Tagesschau 2018).
Mit dem Aufstieg Chinas zur imperialistischen Macht verschieben sich freilich
die Gewichte. Ende 2018 verbot das Land die Einfuhr stark verschmutzenden und
schlecht sortierten Altmülls – der Dreck soll zukünftig in andere asiatische
Ländern verfrachtet werden. Gleichzeitig beginnt China, selbst Müll zu
exportieren.

Die Externalisierung von negativen Umweltauswirkungen hat allerdings ihre
Grenzen. Auch in den reichen Ländern ist sie natürlich nicht vollständig
gelungen und kann es auch nicht. Nach wie vor gibt es auch in diesen Ländern
viele gravierende alte und neue Umweltprobleme, die sich weiter zuspitzen oder
neu auftreten wie z. B. die Verschmutzung von Grundwasser mit Nitrat, Arten-
und Biodiversitätsverlust, Degradierung von Böden, Luftverschmutzung durch
Auto-, Kraftwerks- und Industrieabgase und Eintrag in die Umwelt von
schädlichen Chemikalien oder solchen, deren Auswirkungen unbekannt sind. In der
EU sind zehntausende von Chemikalien in der Industrie im Einsatz und gelangen
in die Umwelt und laufend kommen neue dazu. Nur die wenigsten (einige Hundert)
sind reglementiert und von einem Großteil gibt es überhaupt keine gesicherten
Erkenntnisse über ihre (Langzeit-)Wirkungen in der Umwelt. Darüber hinaus kommt
es bei der Externalisierung der negativen Auswirkungen von
Treibhausgasemissionen zu natürlichen Grenzen und die Konsequenzen fallen durch
den Klimawandel teilweise auch auf die reichen Länder zurück – wenn auch vermutlich
in geringerem Ausmaß.

Des Weiteren gibt es gegenläufige Tendenzen und Interessen. Die hohe
Subventionierung der Agrarproduktion in der EU ist z. B. ein Faktor, um weitere
Auslagerung zu verhindern oder abzubremsen und damit erstens nicht noch
abhängiger von Importen zu werden und zweitens selbst hochindustrialisierte
Agrarprodukte international gewinnbringend verkaufen zu können und damit die
importierenden Länder wiederum in Abhängigkeiten zu halten. Ein weiteres
Beispiel ist der Fracking-Boom in den USA. Dieser führt zu einer Verringerung
der Abhängigkeit von Erdölimporten zum Preis von sozio-ökologischen
Auswirkungen innerhalb der eigenen Grenzen (das sind jedoch neue, teilweise
unbekannte und/oder in ihrer Tragweite noch nicht bekannten Auswirkungen, die
bisher noch nicht in großen Ausmaß „an die Oberfläche“ gekommen sind und
deshalb noch nicht zu großen Konflikten geführt haben). Donald Trump hat als
Präsident eine aggressive Agenda der Re-Internalisierung von externalisierten
Umweltauswirkungen wie z. B. die Wiederansiedelung und Stärkung der Kohle-
und Erdölförderung zugesagt. Er verspricht der US-amerikanischen
ArbeiterInnenklasse dadurch Arbeitsplätze, verschweigt aber die
sozio-ökologischen Auswirkungen, die damit einhergehen.

Natürlich geht es dabei nicht um die Interessen der Lohnabhängigen. Auch
die kurzfristigen Gewinne, die die US-Ölindustrie daraus schöpfen kann und
wird, erklären diesen Kurs nur bedingt. Vielmehr bildet die Krise der
Globalisierung, die verschärfe Konkurrenz zwischen den alten und neuen
Großmächten den Hintergrund, vor dem solche Wendungen verstanden werden müssen.
Die Konkurrenz zwischen den imperialistischen Hauptmächten USA und China, aber
auch Japan, Russland und Führungsmächten der EU (insbes. Deutschland und
Frankreich) nimmt eine immer größere Schärfe an, was auch bedeutet, dass der
exklusive Zugang zu Märkten und ganzen Kontinenten umkämpft ist. So haben sich
die USA unter Trump von multilateralen Übereinkünften wie dem Pariser
Klima-Abkommen verschiedet, weil sie – durchaus nicht unrealistisch – davon
ausgehen, dass sie einzelnen Staaten politisch und wirtschaftlich (und
natürlich auch in Klimafragen) viel leichter und umfassender ihre Bedingungen
diktieren können als in multilateralen Verhandlungen und Abkommen. China vorfolgt
in dieser Konkurrenz ein eigenes Projekt aufgelegt – die „Neue Seidenstraße“.
Für Deutschland fungiert die EU auch als imperialer Herrschaftsraum, in den die
Länder Süd- und Osteuropas als halbkoloniale Gebiete inkorporiert sind.

All dies verdeutlicht, dass die Verschärfung der ökologischen Probleme untrennbar mit dem imperialistischen Entwicklungsstadium des Kapitalismus verbunden ist – und die ökologischen Fragen ohne Sturz des imperialistischen Weltsystems und dessen Ersetzung durch eine sozialistische Planwirtschaft nicht lösbar sind.

Umwelt-Imperialismus

Die Externalisierung von negativen sozio-ökologischen Auswirkungen entsteht
naturwüchsig in allen Ländern, wo kapitalistische Produktionsweise vorherrscht.
Die Expansion des Weltmarktes, die Abschaffung von Regulierungen und die
Durchsetzung des Neoliberalismus verschärfen diesen Prozess nur. Im Rahmen der
imperialistischen Weltordnung geht er notwendigerweise mit einer Abwälzung und
Auslagerung der Kosten der reichen, imperialistischen Länder auf die
halbkolonialen einher. Hierbei ist – wie in der Kapitalanalyse generell – immer
zwischen der stofflichen und der Wert-Seite dieser Transfers zu unterscheiden.

Die Stellung der „armen“, also halbkolonialen Länder innerhalb der
internationalen Arbeitsteilung reflektiert das. Die reichen Länder importieren
energie-, flächen- und umweltintensive Rohstoffe und Konsumgüter und
exportieren kapital- und mehrwertintensive Industrieprodukte und
Dienstleistungen.

Die armen Länder hingegen orientieren sich auf die Produktion für den
Export von entsprechenden Rohstoffen oder Gütern, wodurch ihre
sozio-ökologischen Probleme ständig verschärft werden. Grundlage hierfür ist
die sich immer weiter verstärkende Konzentration von Kapital in den
imperialistischen Zentren (USA, Kanada, West- und Mitteleuropa, Japan, China
und Russland). Die großen Kapitale kontrollieren einerseits die jeweils gerade
entscheidenden Technologien, die durch überlegene Produktivität Kosten- und
Preisvorteile ermöglichen. Dadurch sind sie in der Lage, sich immer mehr Wert
anzueignen, der von kleineren, unproduktiveren Kapitalen hergestellt wird (und
letztere sind zumeist in den nicht-imperialistischen Ländern angesiedelt).
Andererseits bestimmen die großen Kapitale auch durch massiven Kapitalexport
die für die abhängigen Länder ungünstige ökonomische Struktur. Dieser
Kapitalexport kann sich sowohl in direkten Investitionen und dem Aufbau von
Zulieferketten als auch in wachsender öffentlicher und privater Verschuldung
ausdrücken.

In der bürgerlichen ökonomischen Theorie wird von einer „Senke der
Wertschöpfungskette“ gesprochen: Die „wertvollsten“ Tätigkeiten bei der
Herstellung eines Produkts wie Erfindung, Design, Marketing und Verkauf werden
den „minderwertigen“ Tätigkeiten der Rohstoffextraktion und der nötigen
Handarbeit bei der Produktion gegenübergestellt. Hier werden die wahren Quellen
des Wertes, die Verausgabung von notwendiger menschlicher Arbeitskraft und
natürlicher Ressourcen, verschleiert. Es wird aber auch klar, dass sich diese
„Senken der Wertschöpfung“ immer mehr in die abhängigen Länder verschieben. Je
ausbeuterischer, ressourcenverbrauchender und umweltschädlicher, umso mehr
werden die Industrien und zugehörige Bereiche in die halbkoloniale Welt
ausgelagert. Energie-, flächen- und umweltintensive ebenso wie
arbeitsintensive, monotone und gefährliche Produktion verschwindet immer mehr
in diese Länder, während in den imperialistischen Zentren die „sauberen“
Dienstleistungen, die Steuerungstätigkeiten und immer weniger werdende Endfertigungen
verbleiben.

Dieser Prozess darf nicht einfach mit einer „Deindustrialisierung“ der
imperialistischen Länder verwechselt werden, sondern bedeutet vielmehr, dass
wir es mit einer internationalen Arbeitsteilung zu tun haben, die zu einer bloß
selektiven und abhängigen Industrialisierung der restlichen Welt unter der
Kontrolle durch die Großmächte führt. Daher gehen die Investitionen und
kapitalistischen Projekte in den „armen“ Ländern notwendigerweise mit einer
extremen Verschärfung der Ungleichheit einher – wie sich gerade in den „Schwellenländern“
wie Indien, Brasilien oder Südafrika zeigt. Diese ungleichzeitige und
kombinierte Entwicklung, bei der wichtige moderne Produktionsstätten mit
extremer Rückständigkeit und Armut einhergehen, stellt ein Kennzeichen der
gesamten imperialistischen Epoche dar, wie es heute handgreiflich in allen
„Mega-Cities“ des Südens hervortritt. Alle diese extreme Ungleichzeitigkeit der
Entwicklung verschärft die ökologische Frage im Verhältnis von Stadt und Land
wie auch im Rahmen der Urbanisierung.

Die ökonomische Entwicklung der semikolonialen Länder verharrt aufgrund der
Dominanz des Finanzkapitals, das institutionell, politisch und militärisch
durch die Großmächte abgesichert wird, in struktureller Abhängigkeit. Die Profite
werden von den international operierenden Konzernen und Unternehmen angeeignet,
deren Zentralen sich in den imperialistischen Ländern befinden, weshalb die
Profite kontinuierlich in diese abfließen – womit der Kreislauf von vorne
beginnt. Während zu Beginn der imperialistischen Epoche die kapitalarmen Länder
vor allem Lieferanten billiger Rohstoffe im Austausch gegen Industrieprodukte
aus den imperialistischen Zentren waren, so wurde dies inzwischen durch eine
neue Form der Arbeitsteilung ergänzt. Im Zuge einer immer globaleren Produktion
werden inzwischen auch die Endpunkte von globalen Wertschöpfungsketten in
halbkolonialen Ländern angesiedelt wie z. B. in der Elektronik- und
Textilindustrie. Die Hälfte des Welthandels besteht heute aus Zwischenprodukten.
Neben Rohstoffen und Konsumgütern sind die halbkolonialen Länder für die
Zentren auch als Standorte billiger Zulieferindustrien interessant. Dabei wird
nicht nur Ausbeutung und Umweltzerstörung in die halbkoloniale Welt
externalisiert – die zum Teil absurde Verteilung von Produktionsketten auf die
ganze Welt und die damit verbundenen riesigen Transportflotten in der Luft, auf
dem Wasser, der Straße etc. sind selbst schon eine massive Form ökologischer
Verschwendung im Interesse kurzfristiger Kostenvorteile der großen Konzerne.

Die Handelsbeziehungen zwischen armen, halbkolonialen Ländern einer- und
imperialistischen Ländern andererseits basieren auf einem Werttransfer, der
Aneignung eines großen Teils des geschaffenen Reichtums durch die
imperialistischen Zentren, wo nach wie vor der größte Teil des Kapitalstocks
konzentriert bleibt. Dieser Werttransfer spiegelt sich in einer Arbeitsteilung
wider, die mit der Fixierung der von den Zentren dominierten Ökonomien auf
bestimmte Produkte einhergeht. Der Werttransfer zugunsten des globalen
Finanzkapitals bestimmt wesentlich die Entwicklungsrichtung dieser Länder und
reproduziert, ja verstärkt beständig deren Abhängigkeit.

Diese Strukturen drücken sich in einem ökonomisch wie ökologisch „ungleichen“
Tausch aus. Die (verschiedenen) Theorien des ökonomischen ungleichen Tausch
beziehen sich auf ein quantitatives Problem im Austausch von Wert und gehen von
einem systemischen Werttransfer von den halbkolonialen zu den imperialistischen
Ländern aus, was sich einigen dieser Theorien zufolge auf den Tausch von mehr
Arbeitskraft für weniger zurückzuführen lässt.

Das Konzept des ökologisch ungleichen Tauschs hat analog dazu den Austausch von mehr ökologischem Gebrauchswert (oder Naturprodukten) gegen weniger als Grundlage und bezieht sich somit auf die qualitativen Aspekte von Gebrauchswert (vgl. Foster und Hollemann 2014, S. 205 und 207). Foster und Hollemann (2014, S. 227) definieren ökologisch ungleichen Tausch als „den disproportionalen und unterkompensierten Transfer von Materialien und Energie von der Peripherie zu den Zentren, und die Ausbeutung von Umweltraum innerhalb der Peripherie für intensive Produktion und Müllentsorgung.“

Während klassische marxistische Theoretiker wie Otto Bauer von den
Unterschieden in der organischen Zusammensetzung des Kapitals von
kapitalistisch fortgeschrittenen und rückständigeren Ländern als Ursache für
ökonomisch ungleichen Tausch ausgehen, haben spätere Autoren wie Emmanuel
argumentiert, dass die hohen Lohnunterschiede zwischen den Ländern die Ursache
seien (vgl. Howard und King 1992, S. 190). Aus diesen Theorien wurden
reformistische Konzepte abgeleitet, die zumeist davon ausgehen, dass durch
regulative Eingriffe und „Import-Substitution“ in den halbkolonialen Ländern
ein gerechter, freier Welthandel erreicht werden könne. Sie tragen den Fehler
in sich, dass sie ein Symptom (die ungleichen Bedingungen auf dem Weltmarkt)
für die (kurierbare) Ursache verkennen. Die ungerechten Weltmarktbedingungen
sind jedoch nur die Folge: Nicht die Organisation der Warenzirkulation ist das
Entscheidende, sondern die Form der Kapitalakkumulation, die ihren
Bewegungsschwerpunkt in den imperialistischen Zentren hat. Nur der
international koordinierte Kampf gegen die Macht der Konzerne und gegen die mit
ihnen verbundenen politischen Mächte kann diese strukturell bedingte
Abwärtsspirale der armen Länder brechen. Zu diesem koordinierten Kampf ist nur
die international organisierte ArbeiterInnenklasse in der Lage, die sich auch
mit denjenigen verbinden muss, die gegen die ökologischen und agrarischen
Zerstörungen dieses Systems aufstehen.

Die internationale Arbeitsteilung zu Gunsten der reichen Länder hat eine
extreme sozio-ökologische Ungleichheit zwischen den reichen und den armen
Ländern hervorgebracht. Diese unbestreitbare Tatsache ist auf dem Boden des
Kapitalismus selbst ein Resultat der von den imperialistischen Zentren
bestimmten Kapitalbewegung. Die Problematik bei den Theorien des ökologischen
ungleichen Tausches besteht freilich darin, dass sie in der stofflichen Seite
des Transfers die Ursache, wenn nicht den Kern des Problems erblicken, daher
die begriffliche Scheidung von Gebrauchswert und Wert/Tauschwert verwässern und
verwirren und damit einen Schritt zurück hinter die Errungenschaften der
Marxschen Theorie darstellen. Dies trifft auch auf die Arbeiten von Foster und
Hollman (2014) zu, wie ihre oben zitierte Definition des ökologisch ungleichen
Tausches und ihr positiver Bezug auf Howard Odums Konzept von „emergy“
verdeutlichen. Dieses Konzept soll ein gemeinsames energetisches Maß zur
Messung von realem Reichtum und Gebrauchswert darstellen, so dass ungleicher
Transfer von Gebrauchswert anhand ungleicher Energiebilanzen dargestellt wird.
Damit wird freilich selbst ein willkürliches und strittiges Moment zum
Vergleich von Gebrauchswerten eingeführt, das Odum und seine SchülerInnen
letztlich dazu führt, auf Geld als Maß des Gebrauchswerts zurückzugreifen (und
zu einem Streit darum, wie weit und ob das zulässig sei). Die ganze Konfusion
ergibt sich jedoch nicht zufällig, sondern daraus, dass versucht wird, eine
alternative, gemeinsame Substanz der Werte außerhalb der in den Waren
vergegenständlichten gesellschaftlichen Arbeit zu finden.

Typisch für diese Theorien ist dann, ein Hauptaugenmerk auf die Verteilung
von Einkommen und Ressourcen zu legen, nicht auf die Bewegung der
Kapitalakkumulation. So verweist Lessenich darauf, dass die Ungleichheit im
Weltmaßstab noch größer als die Ungleichheit zwischen den Reichsten und Ärmsten
innerhalb einzelner Länder sei. Solche Verweise haben eine Berechtigung, wenn
es darum geht, auf Unrecht und Ungleichheit hinzuweisen. Der Verweis auf „arm“
und „reich“ bezieht sich jedoch nur auf das Verhältnis von
EinkommensbezieherInnen. Die ihr zugrunde liegenden Klassenverhältnisse werden
ausgeblendet oder tendenziell als nachrangig betrachtet, womit die Ausbeutung
von Arbeitskraft in den imperialistischen wie in den halb-kolonialen Ländern
nicht mehr im Zentrum der Analyse steht.

Lessenich (2016) umschreibt diese Verhältnisse mit dem Begriff
„Externalisierungsgesellschaft“, Brandt und Wissen (2017) sprechen von
„imperialer Lebensweise“. Beide Begrifflichkeiten verfehlen den Kern der
kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Sie lassen die
Machtverhältnisse und die Möglichkeiten, die herrschende Ordnung zu gestalten
und zu verändern, außen vor oder räumen ihr einen untergeordneten Stellenwert
ein. Denn die herrschende Gesellschaftsordnung ist im Wesentlichen eine Ordnung
im Sinne der herrschenden Klasse, im Kapitalismus eine des Kapitals. Ob die
herrschende Klasse mehr oder minder erfolgreich darin ist, untergeordnete,
subalterne und ausgebeutete Klassen und Schichten dabei mit einzubeziehen und
ihre Ordnung damit zu stabilisieren oder nicht, ändert dieses grundlegende
Verhältnis nicht.

Wie Thomas Sablowski (2018) zeigt, blendet die These der „imperialen
Lebensweise“ die Klassenfrage letztlich aus. Die meisten Menschen in den
imperialistischen Ländern würden Bandt/Wissen zufolge „auf Kosten der Natur und
der Arbeitskräfte anderer Weltregionen“ leben. Alle Gesellschaftsmitglieder –
von der/dem superreichen KapitalbesitzerIn bis zum prekär Beschäftigten oder
Langzeitarbeitslosen – wären in eine gemeinsame „Lebensweise“ oder
„einheitliche Konsumnormen“ eingebunden, der Unterschied wäre letztlich bloß
quantitativ. So problematisch es schon ist, den Armen und Reichen eine
gemeinsame „imperiale Lebensweise“ zu unterschieben, so enthält die ganze
Theorie eine Reihe falsche politischer Konsequenzen. Erstens wird der Blick auf
den individuellen Konsum und weg von der Produktion gelenkt. Zweitens
unterstellt die Theorie ein gemeinsames Interesse von AusbeuterInnen und
Ausgebeuteten, dem gegenüber der Klassengegensatz in den Hintergrund tritt –
und zwar nicht nur in den Zentren, sondern spiegelbildlich natürlich auch in
den „peripheren Ländern“. Nicht die Klasse der Lohnabhängigen und deren
gemeinsamer internationaler Kampf, sondern entweder individuelles „Ausscheren“
aus der „imperialen Lebensweise“ (z. B. durch Kauf von regionalen Bioprodukten)
oder klassenübergreifende und letztlich nationalistische Allianzen in den
abhängigen Ländern bilden die politisch fatale, aber logische Folge aus dieser
Theorie.

So sehr diese Erklärungen auch das Verdienst haben mögen, den Blick auf
wichtige Erscheinungsformen der ökologischen Verheerungen zu werfen, so greifen
sie theoretisch zu kurz und führen politisch in eine Sackgasse, ja im
Extremfall zu reaktionären Schlussfolgerungen.

Die Ganzheit dieses globalen kapitalistischen Regimes kann treffender als
Imperialismus, bezogen auf die ökologische Frage als umweltbezogener
Imperialismus oder Umweltimperialismus bezeichnet werden. Der Begriff des
Imperialismus wurde und wird in der bürgerlichen Theorie heute oft als
geopolitischer Begriff verstanden, als Umschreibung des Kolonialismus der
europäischen Mächte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (auch wenn z. B.
der Schöpfer des Begriffs, der britische linksliberale Ökonom Hobson die Wurzel
des Imperialismus im ökonomischen Expansionsstreben des Kapitals ortete).

Lenin hat in seiner berühmten Schrift über Imperialismus den Begriff
weiterentwickelt und marxistisch interpretiert. Der Imperialismus beschreibt
ein bestimmtes Entwicklungsstadium des Kapitalismus, in dem sich Finanz- und
Industriekapital zu großen Kapitalgruppen vereinen – wobei ersteres die
Oberhand über letzteres gewinnt –, die ganze Welt der kapitalistischen
Verwertung erschlossen wird und der Kapitalexport der reichen,
imperialistischen Länder die Verhältnisse auf den Weltmärkten bestimmt (Lenin
1975 [Original: geschrieben 1916, zuerst veröffentlicht 1917]). Der Imperialismus
geht mit einer Aufteilung der Welt unter einige wenige Großmächte einher, die
auf einer gewaltigen Konzentration des Kapitals in den imperialistischen
Zentren beruht und zu deren Sicherung dient. Die politische Ordnung des
Imperialismus schafft Institutionen, die die weltweiten Geschäfte der großen
Kapitalgruppen absichern. War dies zu Beginn der imperialistischen Epoche der
Kolonialismus, so kann der Imperialismus heute zumeist auf direkte koloniale
Verwaltung verzichten. Die weltweiten Verschuldungs-, Währungs- und
Investitionsstrukturen erzeugen über Institutionen wie den Internationalen
Währungsfonds, die Weltbank, die internationalen Handelsorganisationen etc.
zusammen mit bilateralen Kredit- und Handelsabkommen zumeist genug Druck zur
indirekten Herrschaftssicherung. Sollte es dennoch Abweichungen geben, existieren
immer noch genug Mittel für militärische, para-militärische oder politische
Interventionen, die zur Unterwerfung führen. Oft genügt aber schon die
Androhung von Kapitalabzug oder von Handelssanktionen, verbunden mit Währungs-
und Börsenturbulenzen, um das Einlenken ungehorsamer Regierungen zu bewirken.
Die Form der Beherrschung hat sich zwar liberalisiert, aber dafür ist die
Ausbeutung umso intensiver geworden und hat die ganze Welt in eine immer
stärker vernetzte globale Arbeitsteilung eingebunden, die im Interesse der in
den imperialistischen Zentren konzentrierten Kapitale funktioniert. Der
koloniale Status für die armen Länder wurde daher durch einen halbkolonialen
ersetzt.

In seiner Imperialismustheorie verweist Lenin auch schon darauf, dass die
imperialistische Ausbeutung mit bestimmten Formen des materiellen Transfers von
Kolonie/Halbkolonie zu den imperialistischen Zentren einhergeht; vor allem aber
hebt er gegenüber dem Kolonialismus die zentrale Bedeutung des Kapitalexportes
hervor.

Um die ökologische Dynamik des Kapitalismus zu verstehen, muss an diesem
Verständnis angeknüpft werden und müssen die Material- und Energieflüsse
zwischen den imperialistischen und halbkolonialen Nationen als Teil des
imperialistischen Gesamtsystems begriffen werden.

Diese hat notwendigerweise auch Folgewirkungen auf die Klassenstruktur in
den imperialistischen Zentren – nicht nur hinsichtlich der Bereicherung der
herrschenden Klasse, der oberen Schichten des KleinbürgerInnentums und der
Mittelschichten, sondern auch für die ArbeiterInnenklasse. Ein bedeutender Teil
der Lohnabhängigen kann über einen Anteil an der Ausbeutung der „Dritten Welt“
integriert werden, kann über längere Perioden Einkommen erkämpfen, die über den
Reproduktionskosten liegen, die eine dem KleinbürgerInnentum ähnliche
Lebensweise erlauben, wenn auch oft mit enorm hoher Ausbeutung verbunden (was
sich z. B. in der enormen Arbeitsproduktivität und Intensität der Beschäftigen
in der Exportindustrie zeigt).

Der Kapitalismus kann sich das nur unter drei Bedingungen leisten: (i) eine
ständige Expansion der Kapitalakkumulation, (ii) die Extraktion von Extraprofiten
aus armen Ländern und (iii) die systematische Externalisierung seiner
sozio-ökonomischen Auswirkungen. Die soziale Stabilisierung „zu Hause“ durch
die Externalisierung negativer sozialer und ökologischer Folgen des
Kapitalismus bildet somit ein zentrales, herrschaftsstabilisierendes Element
dieses Systems. In den halbkolonialen Ländern werden dafür Rohstoffe
geplündert, Landstriche und Wasserressourcen zerstört, Bevölkerungen entwurzelt
und zwangsumgesiedelt, Kleinbäuerinnen und -bauern von ihren Felder vertrieben,
Wälder gerodet und geplündert. Das kennzeichnet das System des
Umweltimperialismus und erklärt das „Umweltparadoxon“.

Der Imperialismus hatte für die imperialisierte Welt immer schon
verheerende sozio-ökologische Auswirkungen. Die Art der imperialistischen
Ausbeutung hat sich jedoch verändert: Anfänglich waren Kolonialgesellschaften,
Aktiengesellschaften für bestimmte Ausbeutungsprojekte, große
Schuldverschreibungen an bestimmte Staaten etc. vor allem an der extensiven
Ausbeutung ganz bestimmter Reichtümer ausgerichtet. In der Epoche nach dem Zweiten
Weltkrieg wurde dies durch direkte Investitionen und Zweigstellen der großen
Kapitale in der halbkolonialen Welt ergänzt. Inzwischen wurde die extensive
Ausbeutung durch ein System der intensiven Ausbeutung in einer von den großen
Kapitalen global ausgerichteten Arbeitsteilung weiterentwickelt. Flexible
Finanzströme erlauben die rasche Verlagerung von Produktions- und
Handelsströmen gemäß den Ausbeutungsbedingungen. Direkte Zweigstellen wurden
durch Ketten von indirekt abhängigen Zulieferbetrieben abgelöst. Immer größer
konzentrierte Kapitalgruppen kontrollieren unüberschaubare Netze von
untergeordneten Firmengruppen, die weltweit vernetzt sind.

So wird der weltweite Agrarmarkt für Sojaöl, -mehl, -bohnen, Palm- und Rapsöl,
Mais, Weizen, Grobgetreide und Zucker heute von fünf Großkonzernen aus den USA,
den Niederlanden und China kontrolliert, die allein auf sich 70 % des
Weltmarktes konzentrieren (Herre 2017, S. 26). Diese beherrschen nicht nur die
Marktbedingungen für ZulieferInnen und AbnehmerInnen, sondern können sich auch
über Warenterminbörsen und ihre Derivate gegen Marktschwankungen absichern,
ganz im Gegensatz zu den von Preisschwankungen betroffenen Bevölkerungen. Dabei
sind die Rohprodukte nur noch das grundsätzliche Standbein der Konzerne,
während die Weiterverarbeitung nicht nur für Lebensmittel zur viel
interessanteren Gewinnquelle geworden ist (z. B. wird Palmöl auch für
Reinigungsmittel, Kosmetik und zur Energiegewinnung genutzt). Ähnliche Konzentrationsprozesse
finden sich auch bei der Fleischindustrie, Agrartechnologie und
Lebensmittelkonzernen. Darüber hinaus wird die Agrarproduktion immer stärker
von Pharmaunternehmen (Saatgutindustrie) und Chemiekonzernen (Pestizide,
Gentechnik) bestimmt. Mit der Fusion von Bayer und Monsanto wird der Weltmarkt
für Saatgut und Pestizide unter nur mehr 4 Großkonzerne aufgeteilt. Insgesamt
führt diese Konzentration und globale Ausrichtung von Agrar- und
Lebensmittelindustrie zu einer katastrophalen sozio-ökologischen Schieflage. Z. B.
hat die globale Konzentration der Agroproduktion zu einer Vernichtung der
agrarischen Selbstversorgung ganzer Regionen u. a. in Lateinamerika und Afrika
geführt, die abhängig von den Importen billiger Agrarprodukte der weltweiten
Agroindustrie geworden sind. Erschütterungen der Weltagrarmärkte – wie z. B.
nach 2009, als alle wesentlichen Agrarpreise sich in kurzer Zeit verdoppelten –
führen sofort zu massiven Versorgungsproblemen und Hungerkatastrophen.

Diese Aufzählung von Konzentrationsprozessen lässt sich auch in Bezug auf
die extraktiven Industrien wie z. B. Bergbau und Energie fortführen. Mit
ihren Großplantagen zum Anbau von Pflanzen für Energiegewinnung oder als
Rohstoffe für die verarbeitende Industrie überschneiden sich Agroindustrie und
klassische Industrie auch zunehmend. Ob durch die Agroindustrie, Energie- und
Bergbau oder Fleischindustrie – die von wenigen großen Konzernen für ihre
Kapitalverwertung beherrschten und vernutzten Flächen steigen jährlich in
atemberaubendem Tempo.

Alle Proteste der Betroffenen in den Halbkolonien gegen die Projekte der
großen Agro-, Saatgut-, Bergbau-, Energieunternehmen etc. führen sofort zum
Auftreten der internationalen GeldgeberInnen und Institutionen, die die
Regierungen vor Ort dann meist als willige Vollzugsorgane vorfinden. Ob
Proteste gegen Staudammprojekte, Landvertreibungen, Preis- und Abnahmediktaten
bei Saatgut oder Düngemitteln oder Lebensmitteln, gegen massive Rodungen z. B.
im Interesse der Fleischindustrie etc. – überall hier zeigt der
Umweltimperialismus sein wahres, brutales und repressives Gesicht. In den
imperialistischen Zentren wird die tatsächlich betriebene Raubbau-Politik dann
mit zynischen Kampagnen über angeblich „nachhaltige“ und für die Menschen vor
Ort gerechte Produktion verbunden. Öko-Siegel und Alibi-Öko-Projekte der
Großkonzerne sind zumeist nichts anderes als „green-washing“ für
imperialistische Ausbeutung und Zerstörung. Nur eine Zerschlagung der Macht der
großen internationalen Konzerne könnte es den Kleinbauern/-bäuerinnen und Landlosen
in der semikolonialen Welt ermöglichen, zu einem Ausgleich zwischen notwendiger
Selbstversorgung der einheimischen Bevölkerung und den inzwischen erreichbaren
Standards für ökologisch nachhaltige Landwirtschaft zu kommen (z. B. durch
regional selbst erzeugtes und gemeinschaftlich verwaltetes Saatgut).

Lenin hat im Zusammenhang mit seiner Imperialismustheorie auch auf die
Bildung einer privilegierten Schicht in den imperialistischen Ländern innerhalb
der ArbeiterInnenklasse, der sog. Arbeiteraristokratie, hingewiesen. Diese
ArbeiterInnenaristokratie wird in besonderem Maße in das weltweite System des
Imperialismus einbezogen und profitiert von guten, sich verbessernden
Arbeitsbedingungen und steigenden Löhnen. Sie ist die Basis für einen
weitverbreiteten Reformismus und eine ArbeiterInnenbürokratie in den
imperialistischen Ländern und einigen entwickelteren Halbkolonien. Die
ArbeiterInnenbewegung kann sich nicht internationalisieren und ihr
revolutionäres Potential entfalten, solange sie von diesen reformistischen
Strömungen dominiert ist.

Grundsätzlich unterminiert die Entwicklung des Kapitalismus heute die
Stellung der ArbeiterInnenaristokratie in den imperialistischen Zentren, was
einerseits den Nährboden für Konflikte und Klassenkampf, andererseits auch für
reaktionäre populistische und nationalistische Lösungen bilden kann. Um diese
Schichten wie die ArbeiterInnenklasse überhaupt für den Kampf um ihre
unmittelbaren Interessen wie für eine Lösung der ökologischen Fragen zu gewinnen,
muss freilich der sich objektiv verschärfende Klassenwiderspruch auch politisch
zugespitzt werden.

An dieser Stelle müssen wir auf unsere Kritik des Konzepts der imperialen Lebensweise zurückkommen. Diese TheoretikerInnen behaupten, dass auch die unteren Schichten in den reichen Ländern von der Verschiebung gewaltiger Ausbeutungs- und Umweltprobleme erfolgreich z. B. durch die günstigen Preise von Konsumgütern aller Art profitieren würden. Dadurch könnten die Ärmeren in den reichen Ländern ihren Lebensstandard – bzw. genauer gesagt: Konsumstandard – steigern. „So wäre es ohne die auf Kosten von Mensch und Natur andernorts hergestellten und ebendeshalb billigen Lebensmittel womöglich weitaus schwieriger gewesen, die Reproduktion der unteren Gesellschaftsschichten des globalen Nordens auch angesichts der tiefen Wirtschaftskrise seit 2007 zu gewährleisten.“ (Brand und Wissen 2017, S. 13)

Natürlich hat die Senkung der Lebenshaltungskosten durch günstigere
Konsumgüter auch einen stabilisierenden Aspekt. Vor allem aber erlaubte diese
(und zwar nicht erst seit 2007), sondern während der gesamten
Globalisierungsperiode, eine Senkung des Werts der Ware Arbeitskraft in den
imperialistischen Ländern. Diese hatte die Ausweitung des Billiglohnsektors
sozial erleichtert, mit zur Schaffung eines Millionenheeres von Working Poor
beigetragen und zur Steigerung der Ausbeutungsrate in den imperialistischen
Ländern!

Hier zeigen sich die reaktionären und antiproletarischen Seiten der
„Theorie“ von der imperialen Lebensweise, indem die Erhöhung der
Ausbeutungsrate der Lohnarbeit zu einem „Transfer“, nicht zugunsten des
Kapitals, sondern der ArbeiterInnenklasse umgedichtet wird. Denken wir diese
Annahme logisch zu Ende, so wäre jeder Lohnkampf, jeder Kampf gegen Hartz IV
usw. letztlich ein Kampf für einen höheren Anteil an der Ausbeutung der
halbkolonialen Welt und bloß ein Streit unter allen, die einer „imperialen
Lebensweise“ frönen würden.

Der Begriff „imperiale Lebensweise“ von Brand und Wissen (2017) suggeriert, dass die ArbeiterInnenklasse in den imperialistischen Ländern selbst zu einem Teil der herrschenden Klasse geworden sei. Das ist sie aber nicht. Sie stellt bloß einen im internationalen Kontext des globalen Kapitalismus relativ privilegierten Teil der unterdrückten und ausgebeuteten Klasse dar. Um den Kapitalismus zu bekämpfen, ist es zentral, diese Zusammenhänge und Mechanismen des Imperialismus und deren Wirkungen auf die ArbeiterInnenklassen sowohl in den imperialistischen, in den sog. Schwellenländern als auch in den Halbkolonien zu verstehen. Die ArbeiterInnenklasse des Nordens muss den Kampf gegen den sozio-ökologischen Raubbau im Süden als ihren aufgreifen, bei dem es letztlich um das Überleben der gesamten Menschheit geht. Wenn Menschen zu tausenden aufgrund dieses Raubbaus aus dem Süden in den Norden fliehen, heißt es schnell: „Fluchtursachen bekämpfen“ – tatsächlich bildet die eigentliche Ursache der Imperialismus und solche Phänomene, bei denen die Auswirkungen dieses imperialistischen Systems vor aller Augen sichtbar werden, müssen zu der Schlussfolgerung führen, dass dieses insgesamt bekämpft werden muss. Jedes Programm im Kampf gegen den Imperialismus muss daher von den Betroffenen und den globalen Interessen der ArbeiterInnenklasse ausgehend auch zentral Forderungen zum Kampf gegen den weltumspannenden ökologischen Raubbau zu Lasten vor allem der Halbkolonien entwickeln.

Der grundlegende Widerspruch zwischen Kapitalismus und der Umwelt

Eine nachhaltige Wirtschaftsweise ist im Kapitalismus unmöglich. Jede/r
einzelne KapitalistIn sowie das Gesamtsystem ist zu der permanenten Steigerung
der Kapitalakkumulation gezwungen. Foster et al. (2010, S. 201) bezeichnen
diesen Zwang als „Tretmühle der Akkumulation“. Im herrschenden Diskurs wird
Akkumulation allgemein als Wachstum bzw. Wirtschaftswachstum bezeichnet.
Dahinter verbirgt sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchswert
und Tauschwert. Im Kapitalismus werden Waren, Güter und Dienstleistungen nicht
primär hergestellt, um Bedürfnisse zu befriedigen, sondern um Wert anzueignen.
Der in einer Ware vergegenständlichte Wert (Tauschwert) ergibt sich aus der
gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, die zu ihrer Produktion notwendig
ist. Das bedeutet, dass dieser Wert abhängig von der sich gesellschaftlich
durchsetzenden Produktivität von Arbeit ist. Die Natur geht in die Bestimmung
des Tauschwertes nur insofern als „Kostenfaktor“ ein, wenn menschliche
Arbeitskraft notwendig ist, um sie nutzbar zu machen (z. B. die notwendige
Arbeit zur Extraktion eines Rohstoffes). Die von menschlicher Arbeitskraft
unabhängige Natur wird im Kapitalismus als Quelle von Wert ausgeschlossen (vgl.
Foster und Hollemann 2014, S. 216). Die Reproduktion von Arbeitskraft oder
Natur ist dieser Frage der möglichst günstigen Produktion der Waren
untergeordnet. Die Produktion dient nicht der Reproduktion, sondern umgekehrt:
Die Reproduktion der ArbeiterInnen und der Natur wird nur anerkannt, insofern
sie der Produktion von Mehrwert für das Kapital dient.

Darüber hinaus besteht im Kapitalismus als der Produktionsweise der
verallgemeinerten Warenproduktion (vgl. Marx, Das Kapital, Band 1, MEW 23
[Original: 1867]) der Hauptzweck der Produktion nicht mehr nur in der
Produktion von Wert an sich, sondern vor allem von Mehrwert. Die Mehrarbeit
über die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeit hinaus
vergegenständlicht sich in diesem Mehrwert, der zur Quelle des Profits für das
investierte Kapital wird. Damit wird für das Kapital der Produktionsprozess zum
Verwertungsprozess. Dies bestimmt das Wesen der Entwicklung der Produktivkräfte
im Kapitalismus. Produktivitätsfortschritt aus Sicht des Kapitals bedeutet,
weniger Arbeitskraft für dieselbe Produktionsmenge einsetzen zu müssen als die
Konkurrenz. Dies erlaubt es, entweder (a) bei gleichbleibenden Preisen einen
größeren Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts anzueignen
(Werttransfer in Richtung produktiveres Kapital), oder (b) durch niedrigere
Preise die Konkurrenz aus dem Markt zu drängen (Konzentration des Kapitals).
Pro Stück wird durch die Reduktion eingesetzter Arbeitskraft gegenüber dem
notwendigen Einsatz von Maschinen und Rohstoffen dabei jedoch immer weniger
Mehrwert erzielt, was zu einem tendenziellen Fall der Profitrate führt. Als
Folge ist das Kapital zur ständigen Ausweitung der Produktion gezwungen, um den
relativen Fall der Profitrate mit einem absoluten Wachstum der Profitmasse
auszugleichen. Daher ist das Kapital aus seinem Wesen als Verwertungs„maschine“
heraus zu beständigem Wirtschaftswachstum gezwungen. Durch jeden Einbruch des
Wachstums muss die Tendenz zum Fall der Profitrate sofort in eine
Verwertungskrise des Kapitals umschlagen.

Das Kapital muss beständig Auswege aus dem Fall der Profitrate suchen.
Neben der Tendenz zur Kapitalkonzentration und der Erschließung billiger
Finanzierungsquellen (z. B. Aktienkapital), zählen hierzu u. a.
Methoden der Intensivierung von Arbeit und zur Einsparung bei den materiellen
Grundlagen der Produktion („konstantes Kapital“, z. B. Energie- und
Rohstoffquellen). Das Kapital ist daher auch zur rücksichtslosen Ausnutzung
möglichst kostengünstig anzueignender Umweltressourcen gezwungen, um
Verwertungskrisen zu vermeiden – und wälzt somit seine Verwertungsprobleme als
langfristige Kosten von Umweltzerstörung auf „die Allgemeinheit“ ab.

Die kapitalistische Wirtschaft, die sogenannte Marktwirtschaft, ist auf
globaler Ebene ineffizient, was die Verteilung von Waren und Dienstleistungen
anbelangt. Gerne wird auf die sehr viel höhere Effizienz einer Marktwirtschaft
im Vergleich zu den bürokratischen Planwirtschaften des „real existierenden
Sozialismus“ hingewiesen. Im globalen Maßstab allerdings – und der Kapitalismus
kann nur global verstanden und beurteilt werden – funktioniert die Verteilung
extrem schlecht und ungerecht: Diejenigen, die bereits sehr viel haben,
bekommen ständig mehr, während diejenigen, die fast nichts haben, nach wie vor
am Existenzminimum und oft auch darunter verharren. Die kapitalistische
Wirtschaft – und mit ihr der Großteil des produktiven und kreativen Potentials
der ArbeiterInnen – ist weit mehr damit beschäftigt, ständig neue Feinheiten
für die zahlungskräftigen Mittel- und Oberschichten zu entwickeln und zu
vermarkten, als die grundlegenden Probleme der Welt zu lösen. Und selbst in den
imperialistischen Zentren nimmt der Lebensstandard großer Teile der ArbeiterInnenklassen
seit Jahrzehnten tendenziell ab.

An diesem grundlegenden Verhältnis ändert auch der wirtschaftliche
„Aufstieg“ der sog. Schwellenländer nichts. Länder wie Brasilien, Mexiko oder
Indien können ihre strukturelle Abhängigkeit und Unterordnung innerhalb der
globalen Ökonomie nicht überwinden. Mit einer Änderung der wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen schlittern diese Länder schnell wieder in eine heftige Krise
und die bescheidenen Verbesserungen für die ArbeiterInnenklassen und das
KleinbürgerInnentum, die in Zeiten des Exportbooms tendenziell erreicht werden
können, stehen damit ständig auf dem Spiel (während die gewaltigen Privilegien der
Eliten geschützt werden). Zur Überwindung der Krise greifen die Regierungen
dieser Länder dann zu den altbewährten Mitteln: einer Intensivierung der
Ausbeutung und der Exporte zulasten der ArbeiterInnen, Kleinbauern/-bäuerinnen,
der traditionellen Bevölkerungen und – nicht zuletzt und damit zusammenhängend
– der Umwelt.

Die große Ausnahme in diesem Szenario stellt China dar. Das Land hat es
aufgrund spezieller politischer und ökonomischer Konstellationen geschafft,
selbst in den erwählten Kreis der imperialistischen Länder aufzusteigen. China
hat systematisch daran gearbeitet, produktive Sektoren und die industrielle
Entwicklung im eigenen Land zu verankern, zu festigen und zu fördern.
Gleichzeitig ging mit der Entwicklung des chinesischen Kapitalismus eine
Umweltzerstörung und –inwertsetzung einher, deren Ausmaß in der Kürze der Zeit
in der Geschichte der Menschheit vermutlich einzigartig ist. Heute hat China
begonnen, selbst daran zu arbeiten, Kapital und negative sozio-ökologische
Auswirkungen in andere Länder und Regionen zu exportieren, auch wenn es das diesbezügliche
Niveau der klassischen imperialistischen Länder noch nicht erreicht hat.

Der Zwang zur permanenten Steigerung der Kapitalakkumulation bewirkt, dass sich der Kapitalismus ständig einerseits revolutionieren und andererseits ausdehnen muss. Nie wurde das besser auf den Punkt gebracht als im Kommunistischen Manifest: „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. […] Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muss sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen.“ (Marx und Engels 1988 [Original: 1848], S. 48 f.) Wie Lessenich (2016, S. 41 f.) anmerkt, gilt dieses Bedürfnis nicht nur für neue Territorien, sondern auch für weitere Möglichkeiten, die Verwertung des Kapitals auszuweiten wie z. B. die Ausdehnung auf neue Wirtschaftszweige (Privatisierung), für neue Personengruppen und -kategorien, die als Arbeitskräfte in (weltweite) Produktionsketten eingegliedert werden, für Fähigkeiten und Eigenschaften dieser Arbeitskräfte oder für neu zu erschließende profitable Geschäftsfelder (z. B. Gentechnik oder Biotechnologie).

Die Intensivierung der Ausbeutung, zu der das Kapital als entgegenwirkende
Ursache zum Profitratenfall drängt, bedeutet aber auch, dass es den
Produktionsprozess immer mehr selbst nach seinen Prinzipien umstrukturiert.
Setzt sich das Kapital zunächst als Käufer von Produktionsmitteln und
Arbeitskraft am Anfang und als Verkäufer von Waren ans Ende des
Produktionsprozesses, so erfordert der kapitalimmanente Produktivitätssteigerungszwang
ein intensives Durchdringen des Arbeitsprozesses und damit auch des
Stoffwechselprozesses mit der Natur selbst („Subsumtion des unmittelbaren
Produktionsprozesses“). Der Arbeitsprozess wird zergliedert, mit (im
kapitalistischen Rahmen gesteuerter) Wissenschaft und Technik verknüpft und
nach dem Verwertungsprinzip neu zusammengesetzt. So wird eine umfassende
Wertschöpfungskette geschaffen von der kostengünstigen Rohstoffaneignung, über
ausbeuterische Zulieferbetriebe, logistischer Optimierung von Endfertigung und
dazwischen liegendem Transport bis zu ebenso ausbeuterischen Verkaufs- und
Auslieferbetrieben hin zu den EndkundInnen. In dieser Intensivierung und
Verwissenschaftlichung der Verwertungsprozesse kommen natürliche
Reproduktionssysteme im Wesentlichen als zu minimierende Kostenfaktoren und
verwertungskonform zu erschließende Quellen für die Expansion der Produktion
vor. Wenn hier von „Nachhaltigkeit“ die Rede ist, dann nur, insofern sie die
Kostenziele insgesamt nicht wesentlich berührt und dann als billige
Marketingstrategie verwendet werden kann. Natürlich können Umweltgesetzgebungen
und Imageprobleme dazu führen, dass KapitalistInnen reagieren müssen. In diesem
Fall fällt eine bestimmte Form von Produktivitätssteigerung auch für die
Konkurrenz zeitweise aus – bis man entsprechende Schlupflöcher durch
Produktionsverlagerung oder Gesetzesänderungen durch Lobbyarbeit etc. gefunden
oder erreicht hat.

Auch wenn es den Kapitalismus historisch kennzeichnet, dass er nicht
erschlossene Territorien oder Bereiche der Kapitalverwertung unterordnet, so
sollte diese „Inwertsetzung“ von bisher nicht genutzten Ressourcen für die
Kapitalverwertung nicht absolut gesetzt werden: Mit Bezug auf Rosa Luxemburg
behaupten (vor allem feministische) ReproduktionstheoretikerInnen, die
fortgesetzte Kapitalakkumulation würde ein beständiges nicht-kapitalistisches
„Außen“ erfordern, das erst die Kapitalreproduktion auf immer erweiterter
Stufenleiter ermögliche. Marx hat dagegen im zweiten Band des „Kapital“ im
Schema der erweiterten Reproduktion (Das Kapital, Band 2, MEW 24, S. 485–520) gezeigt,
dass das Kapital, sobald es an die Grenzen des rein expansiven Wachstums stößt,
durch Wechsel zu intensivem sogar zu beschleunigtem fortschreitet. Durch
Investieren in die Ausweitung der Produktion mithilfe der geschilderten
Methoden der Subsumtion unter Verwertungsprinzipien schafft sich das Kapital
gleichzeitig die Nachfrage für die steigende Kapitalakkumulation selbst.
Dadurch werden auch neue, nicht-kapitalistische Bereiche für die Inwertsetzung
und damit für extensive Akkumulation erschlossen (z. B. Rohstoffe,
Arbeitsbereiche, Techniken etc., die bisher für die Kapitalverwertung nicht von
Interesse waren). Damit verschiebt sich die „Grenze“ der Kapitalexpansion in
jedem Kapitalverwertungszyklus neu, der Kapitalismus definiert sich sein
„Außen“ immer wieder von Neuem selbst.

Die Steigerung der Kapitalakkumulation ist historisch eindeutig mit dem
Verbrauch einer immer größeren Material- und Energiemenge gekoppelt. Zwar gibt
es Diskussionen, wonach es für hoch-entwickelte kapitalistische Ökonomien
möglich sei, das Wirtschaftswachstum – sprich die Kapitalakkumulation – von dem
steigenden Verbrauch von Ressourcen und Energie zu entkoppeln. Die Mechanismen
des Umweltimperialismus lassen es auf den ersten Blick sogar so erscheinen, als
sei eine solche Entkoppelung für einige fortgeschrittene Ökonomien tatsächlich
gelungen. So sinkt in Deutschland z. B. der Primärenergieverbrauch sowie der
direkte Ressourcenverbrauch, der sog. abiotische direkte Materialeinsatz, seit
1990, während das Bruttoinlandsprodukt ansteigt. Der abiotische direkte
Materialeinsatz erfasst jedoch nicht die Ressourcen, die im Ausland gewonnen
und verarbeitet werden, um nach Deutschland importierte Halb- oder Fertigwaren
zu produzieren. Werden diese miteinbezogen, dann ergibt sich ein anderes Bild.
Zwischen den Jahren 1994 und 2015 stiegen die Einfuhren an Fertigwaren um 109 %,
während die von Halbwaren um lediglich 12 % zunahmen. Die Importe von
Rohstoffen erhöhten sich um 23 %. Im selben Zeitraum sank die Gewinnung
von Energieträgern in Deutschland um 30 %, während die Importe um 43 %
anstiegen. Auch die Importe von Erzen und ihren Erzeugnissen (überwiegend
Metallwaren) stiegen um 46 % an, während z. B. die inländische
Gewinnung von mineralischen Baurohstoffen um 34 % sank (Umweltbundesamt
2017b). Das Umweltbundesamt schlussfolgert: „Die starken Anstiege der
Fertigwaren gelten gleichermaßen für metallische Güter wie auch für Produkte
aus fossilen Energieträgern, etwa Kunststoffe. Mit dem zunehmenden Import von
Fertigwaren werden rohstoffintensive Herstellungsprozesse mitsamt den meist
erheblichen Umwelteinwirkungen der Rohstoffgewinnung und -aufbereitung
verstärkt ins Ausland verlagert.“ (Ebenda) Werden die Importe und Exporte in
die Statistik mit einbezogen, was in dem Indikator Rohstoffverbrauch der Fall
ist, dann ist dieser für Deutschland nicht nur deutlich höher als der direkte
Materialeinsatz, sondern hat auch zwischen 2000 und 2011 um ca. 2 %
zugenommen. Da das BIP im selben Zeitraum deutlich stärker zunahm, stieg die
sog. Gesamtrohstoffproduktivität (relative Entkopplung), es konnte jedoch keine
absolute Entkopplung erreicht werden. Für den Energieverbrauch stellt das UBA
keine analoge Statistik, unter Berücksichtigung der Im- und Exporte, für
Deutschland zur Verfügung.

Die Natur erscheint im Kapitalismus als reine Ressource zur Vermehrung von Kapital, als notwendige Variable im Akkumulationsprozess. In der klassischen bürgerlichen Ökonomie sowie in der Neoklassik werden natürliche Ressourcen und Senken als „kostenfreie Geschenke“ angenommen, die es auszubeuten gilt (Foster et al. 2010. S. 61). Auch Marx wurde oft vorgeworfen, dass er mit seiner ökonomischen Theorie den Wert einer Ware rein auf die in ihr enthaltene menschliche Arbeit reduziert und deshalb die ökologische Basis der Ökonomie außer Acht gelassen habe. Foster et al. (2010, S. 61 f.) haben gezeigt, dass dieser Vorwurf auf einer Verwechslung von Wert und Reichtum basiert, die in der bürgerlichen Ökonomie als Synonyme verwendet werden. Nicht so jedoch bei Marx: „Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Formung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften. Arbeit ist also nicht die einzige Quelle der von ihr produzierten Gebrauchswerte, des stofflichen Reichtums. Die Arbeit ist sein Vater, wie William Petty sagt, und die Erde seine Mutter.“ (MEW 23, S. 57 f.) In diesem Sinne kritisiert Marx in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD die Behauptung, dass die Arbeit die Quelle allen Reichtums sei: „Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die Äußerung einer Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.“ (MEW 19, S. 15, Hervorhebungen im Original).

Ohne Zweifel war der Kapitalismus sehr erfolgreich darin, Gebrauchswerte in
großer Masse zu produzieren und in diesem Sinne ein großer historischer
Fortschritt gegenüber vorkapitalistischen Produktionsformen. Er hat die
Grundlage dafür gelegt, materiellen Mangel und Not auf der Welt für alle
Menschen zu überwinden. Doch mit zunehmender Entwicklung des Kapitalismus hat
sich ein grundlegendes Missverhältnis zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten
eingestellt. Letztere werden zunehmend auf Kosten ersterer produziert und
hergestellt. So führt z. B. die zunehmend massenhafte Produktion von
Fleisch für eine kaufkräftige Minderheit auf der Welt zu einer enormen
Profitmasse für die immer mehr monopolisierten ProduzentInnen, richtet
gesamtgesellschaftlich gesehen jedoch immensen Schaden an, da sie mit
zunehmender Umweltzerstörung und extremer Ausbeutung von Mensch und Tier
einhergeht und dabei den Hunger eines großen Teils der Menschheit nicht
verringert oder sogar verschärft. Noch offensichtlicher ist dieses inverse
Verhältnis zwischen Gebrauchs- und Tauschwert z. B. bei der
Rüstungsproduktion.

Dieses Missverhältnis ändert sich auch nicht in der neuen, grünen Ökonomie.
Um eine nachhaltige Wirtschaftsweise zu erreichen, ist aber genau seine
Überwindung notwendig. Das ist im Kapitalismus unmöglich. Durch die permanente
Steigerung der Kapitalakkumulation wird erstens sichergestellt, dass sich die
Profite des Kapitals allgemein ständig vermehren können (auch wenn natürlich
einzelne KapitalistInnen immer auf der Strecke bleiben). Zweitens werden
dadurch die Mechanismen des Umweltimperialismus aufrechterhalten. Die sog.
„Post-Wachstum-Theorien“ gehen fälschlich davon aus, dass der Zwang zur
Kapitalakkumulation innerhalb des Kapitalismus überwunden werden könne. Was sie
dabei ausblenden oder ignorieren, ist dass ohne permanente Steigerung der
Kapitalakkumulation der Kapitalismus noch vermehrt Massenarbeitslosigkeit und
-armut verursachen würde, auch und vor allem in den imperialistischen Zentren. So
kann im Kapitalismus selbst bei steigender
Kapitalakkumulation Arbeitslosigkeit entstehen oder zunehmen, z. B. durch
Automatisierung und Rationalisierung. Wachstum ist also keine hinreichende
Bedingung oder Garantie dafür, dass sich Arbeitslosigkeit verringert, jedoch
eine notwendige Voraussetzung im Rahmen des Systems.

Damit im Zusammenhang steht, dass im Kapitalismus als einzige Möglichkeit
zur Steigerung der Lebensqualität der Menschen die Steigerung ihrer
Konsumfähigkeit erscheint. Während die steigende Produktion von
Massenkonsumgütern zunächst ein bedeutender Fortschritt gegenüber
vorkapitalistischen Produktionsweisen war, um z. B. die Ernährungssicherheit
der Bevölkerung sicherzustellen und deren Lebensstandard zu erhöhen, hat sich
diese mittlerweile auch in einen absurden Fetisch verkehrt. Während z. B.
Bildung, Gesundheitsversorgung und Kultur entweder vernachlässigt werden
(Bildung), degenerieren (Kultur) oder selbst zu großen Teilen privatisiert
werden (Gesundheit), sprießen Einkaufstempel in vielen Ländern geradezu aus dem
Boden und werden als Inbegriff des Fortschritts verherrlicht.

Der Zwang zur permanenten Kapitalakkumulation ist ein struktureller Grund, warum im Kapitalismus keine nachhaltige Produktionsweise möglich ist. „Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug“, stellte bereits der antike Philosoph Epikur von Samos im 4. Jahrhundert vor unserer Zeit fest. Dieser Zwang führt aber nicht nur zu einem immer größer werdenden Verbrauch von Material und Energie, während gleichzeitig elementare menschliche Bedürfnisse nicht befriedigt werden, sondern auch zu grundlegenden Brüchen in den natürlichen und gesellschaftlichen Stoffkreisläufen. Marx, inspiriert durch die Arbeiten des deutschen Chemikers Justus von Liebig, hatte bereits erkannt, dass die kapitalistische Landwirtschaft nicht nachhaltig ist: „Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebne Zeitfrist zugleich ein Fortschritt in Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Das Kapital, Band 1, S. 529 f.) In früheren Gesellschaften wurden die Nährstoffe aus der Landwirtschaft zu einem großen Teil den Böden wieder zugeführt. Im Kapitalismus jedoch ist ein „Riss“ in diesem Kreislauf entstanden: „Auf der anderen Seite reduziert das große Grundeigentum die agrikole Bevölkerung auf ein beständig sinkendes Minimum und setzt ihr eine beständig wachsende, in großen Städten zusammengedrängte Industriebevölkerung entgegen; es erzeugt dadurch Bedingungen, die einen unheilbaren Riß hervorrufen in dem Zusammenhang des gesellschaftlichen und durch die Naturgesetze des Lebens vorgeschriebnen Stoffwechsels, infolge wovon die Bodenkraft verschleudert und diese Verschleuderung durch den Handel weit über die Grenzen des eignen Landes hinausgetragen wird.“ (Marx, Das Kapital, Band 3, S. 821)

Der steigenden Auslaugung und dem Verlust an Fruchtbarkeit der Böden wurde mit der Erfindung des Kunstdüngers im Haber-Bosch-Verfahren (technische Synthese von Ammoniak als Ausgangsstoff) begegnet, der endgültig das Zeitalter der Expansion der kapitalistischen Landwirtschaft einläutete. Viele KritikerInnen aus der neo-klassischen Ökonomie argumentieren deshalb, dass das Argument des „unheilbaren Risses“ in der Landwirtschaft überholt sei. Die Realität hat die KritikerInnen aber inzwischen eingeholt. Die industrielle Landwirtschaft hat zwar kurz- und mittelfristig Produktionssteigerungen erzielt, führt aber langfristig durch die permanente Überdüngung der Böden, verursacht durch industrielle Düngemittel und die Konzentration tierischer Extremente in industriellen Großbetrieben, die stets steigende Anwendung von Pestiziden im Ackerbau und Antibiotika in der Tierhaltung sowie die durch die Herstellung von industriellen Düngemitteln verursachten Treibhausgasemissionen zu vielen, enormen ökologischen und sozialen Problemen. Der Verlust an fruchtbaren Böden ist heute ein zunehmendes sozio-ökologisches Problem in vielen Teilen der Welt (vgl. Fritz 2010). Foster et al. (2010, S. 78) argumentieren, dass der „Riss“ im Nährstoffkreislauf der Landwirtschaft nicht überwunden, sondern verlagert wurde – in diesem Fall durch die massenhafte Verwendung und die daraus resultierende Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, die notwendig sind, um die Düngemittel zu produzieren. Sie weisen auch darauf hin, dass dieses Prinzip nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für die gesamte kapitalistische Produktionsweise gilt, und sprechen in Anlehnung an Marx von einem ökologischen Riss im Kapitalismus. Die Logik des Kapitals und die permanente Konkurrenz und Expansion „[…] führen zu einer Reihe von Rissen und Verlagerungen, wobei Risse im Stoffwechsel kontinuierlich erzeugt werden und ihnen durch die Verlagerung auf andere Risse begegnet wird – typischerweise erst nachdem sie das Ausmaß einer Krise erreicht haben. Einem kurzsichtigen Beobachter mag es erscheinen, dass der Kapitalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt einige Umweltprobleme erfolgreich bearbeitet, da in diesem Moment eine Krise gemindert wird. Ein weitsichtigerer Beobachter wird jedoch erkennen, dass neue Krisen entstehen wo alte vermeintlich gelöst wurden. Das ist unvermeidlich, da das Kapital zu einer konstanten Expansion gezwungen ist.“

Deshalb ist die Lösung der ökologischen Frage aufs Engste mit der Überwindung des Kapitalismus verbunden. Die Schaffung einer Perspektive für eine sozialistische Gesellschaftsordnung, die in der Lage ist, diese grundlegende Widersprüche zwischen der menschlichen Ökonomie und den natürlichen Bedingungen zu überwinden, bei gleichzeitiger Befriedigung der materiellen und immateriellen Bedürfnisse aller Menschen, ist die zentrale Herausforderung für RevolutionärInnen im 21. Jahrhundert.

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Sablowski T (2018): Warum die imperiale Lebensweise die Klassenfrage
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Schenk M (2012): Oaxaca: Windkraftanlagen verstärken Landkonflikte, Amerika
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Transport and Environment (ohne Datum): Biofuels, https://www.transportenvironment.org/what-we-do/biofuels (04.01.2019)

Umweltbundesamt (2017a): Land-Fußabdruck: Wieviel Landfläche benötigt Deutschlands Konsum?, https://www.umweltbundesamt.de/themen/land-fussabdruck-wieviel-landflaeche-benoetigt (04.01.2018)

Umweltbundesamt (2017b): Rohstoffproduktivität, https://www.umweltbundesamt.de/daten/ressourcen-abfall/rohstoffe-als-ressource/rohstoffproduktivitaet#textpart-1 (14.01.2018)

WCED – World Commission on Environment and Development (1987): Report of the World Commission on Environment and Development: Our Common Future, http://www.un-documents.net/our-common-future.pdf (28.07.2017)




Die Krise der Europäischen Union

Die Krise der Europäischen Union, Liga für die Fünfte Internationale, Kapitel 1: Einleitung, Broschüre der Gruppe ArbeiterInnenmacht, April 2019

Auf ihrem Sondergipfel in Lissabon im März
2000 verpflichteten sich die Staats- und RegierungschefInnen der Europäischen
Union auf Initiative ihrer dominierenden Mächte Deutschland und Frankreich,
„Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Zwei Jahrzehnte später ist die Europäische
Union stattdessen das „schwächste Glied“ in der imperialistischen Weltordnung
geworden. Tatsächlich wäre „Unordnung“ ein besserer Begriff für eine Welt
rivalisierender Mächte, die in Handelskriege, neue kalte und heiße Kriege
verwickelt sind und die sich weigern, irgendetwas Ernsthaftes zur Verhinderung
einer Klimakatastrophe und globaler Konflikte zu tun. Innerhalb der Union
selbst sind offene Kämpfe um die Art und Zukunft ihrer Verfasstheit
ausgebrochen, einschließlich des Versuchs der drittgrößten Volkswirtschaft
auszutreten.

Nur die ArbeiterInnenklasse, die soziale
Kraft, die heute weltweit größer ist als je zuvor, kann die drohenden
gesellschaftlichen, politischen, militärischen und ökologischen Katastrophen
stoppen – durch eine revolutionäre Machteroberung und einen sozialistischen
Produktionsplan. Doch die Führungen ihrer Massenorganisationen, der politischen
wie gewerkschaftlichen, haben sich wiederholt als unfähig erwiesen, sich diesen
Aufgaben überhaupt zu stellen, geschweige sie zu erfüllen.

Mit der Einführung des Euro um die
Jahrhundertwende und dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 sollte der schon damals
größte Markt der Welt zu einem gemeinsamen europäischen Kapitalblock werden.
Das würde nichts Geringeres bedeuten als die politische und militärische
Vereinigung des Kontinents unter deutscher und französischer Herrschaft. Seine
führenden PolitikerInnen erklärten, wenn auch vorsichtig, dass sie zu den USA
aufschließen und sie weltweit herausfordern wollten.

Sie verabschiedeten eine Reihe von
Maßnahmen zur wirtschaftlichen Vereinheitlichung der EU:

  • die vollständige Umsetzung einer europaweiten, neoliberalen Agenda, die es den großen Monopolen ermöglichen sollte, alles zu übernehmen, was noch nicht privatisiert und kommerzialisiert worden war;
  • mehr „Reformen“ auf dem Arbeitsmarkt und in den Sozialsystemen durchzuführen, d. h. ein Programm zum Abbau der Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, zur Erhöhung der Ausbeutung und zur Verringerung der Leistungen der Sozialversicherung und der „Lohnnebenkosten“, wodurch die Arbeitskraft sowohl in den wichtigsten imperialistischen Ländern als auch in den schwächeren halbkolonialen Staaten Ost- und Südeuropas massiv verbilligt werden sollte;
  • weitere Expansion der EU und der Eurozone unter der direkten Führung Deutschlands und der anderen führenden imerialistischen Mächte  mit dem Ziel, neu eintretende Länder zu einem halb-kolonialen Raum unter ihrer direkten Kontrolle zu machen.
  • das gesamte europäische Finanzsystem und die Finanz- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten einer stärkeren Kontrolle durch die Europäische Zentralbank (EZB) durch Europa-Abkommen und europäische Institutionen unterzuordnen, die ihrerseits von den großen und wettbewerbsfähigsten Mächten des Kontinents dominiert werden;
  • die Schaffung von „europäischen Champions“, also  großen Monopolen, die über die bestehenden nationalen Kapitalstrukturen hinausgehen und so Banken, Industrie- und Dienstleistungskonzerne bilden, die mit US-amerikanischen,  japanischen und chinesischen WettbewerberInnen konkurrieren können;
  • die Vereinheitlichung der europäischen Forschung und Entwicklung sowie der Bildungssysteme im Sinne des Ziels, den größten „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu schaffen;
  • die Vereinheitlichung der Sicherheitsorgane, die Bildung europäischer Kampfverbände und verschiedene Schritte zur Bildung einer europäischen Armee;   
  • Ausweitung des freien Finanz-, Waren- und Arbeitskräfteverkehrs innerhalb der EU bei gleichzeitiger Versiegelung ihrer Grenzen durch gemeinsame Abkommen (Schengen, Dublin,…), um die so genannte Festung Europa zu schaffen.

All dies erforderte eine ideologische
Rechtfertigung wie die Schaffung eines Raums der „Demokratie“ und des
„Friedens“, des Fortschritts, des sozialen Wohlstands, der Menschenrechte und
in jüngster Zeit der weltweiten Führungsrolle bei der Bewältigung der
Umweltkrise.

Diese Ansprüche waren immer falsch. Vom
Vertrag von Rom bis zu den heutigen rassistischen Grenzkontrollen waren die EU
und ihre Vorgängerinnen stets Projekte der großen imperialistischen Mächte des
Kontinents, zunächst in enger Zusammenarbeit mit den USA, später aber in einem
zunehmend  konkurrenzorientierten
Verhältnis.

In den 1990er Jahren und sogar Anfang der
2000er Jahre war die EU eindeutig auf dem Vormarsch. Der Sieg des Westens im
Kalten Krieg öffnete Osteuropa für das europäische Großkapital, wobei der
deutsche Imperialismus eine Vorreiterrolle spielte. Die Wiedervereinigung
machte ihn zur mit Abstand stärksten Macht des Kontinents, weit vor seinen
französischen, britischen oder italienischen Partnern und Rivalen.

Der Aufstieg der EU war von der Allianz des
deutschen und französischen Imperialismus vorangetrieben worden, verkörpert in
der engen Zusammenarbeit zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand, dann
zwischen Jacques Chirac und Gerhard Schröder. Sie verkörperten auch eine
europaweite Koalition zwischen Konservativen und SozialdemokratInnen, um das
europäische Projekt voranzutreiben.