Vom Widerstand zur Befreiung. Wie kommen wir zu einem sozialistischen Palästina?

Jaqueline Katherina Singh, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, April 2024

Frieden. In Sicherheit zu leben, ohne dass Städte zerbombt werden. Sich frei bewegen zu können, ohne Kontrollen. Eine Möglichkeit zurückzukehren. Die Olivenbäume, die niedergebrannt wurden, wieder pflanzen zu können. Davon träumen viele. Doch was heißt das praktisch und wie kommen wir dahin? Wir wollen im Folgenden erläutern und erklären, was wir meinen, wenn wir für ein freies, säkulares und sozialistisches Palästina eintreten.

Es würde bedeuten, dass alle Bewohner:innen – egal welcher Religion oder Nation, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung oder Geschlecht nicht nur neben-, sondern miteinander leben können. Praktisch würde es bedeuten, dass an Schulen alle Sprachen angeboten würden – ob Hebräisch, Arabisch oder Jiddisch. Und dieses Angebot hört nicht dort auf, sondern erstreckt sich auf alle staatlichen Institutionen und kulturellen Räume. Es würde bedeuten, dass Palästinenser:innen und arabische Israelis nicht von höherer Arbeitslosigkeit betroffen sind, sondern die Arbeit auf alle aufgeteilt wird. Es würde bedeuten, dass in Betrieben und öffentlichen Einrichtungen Quotierungen eingeführt werden, sodass alle Zugang zu allen Berufen und Bereichen haben und systematische Verarmung verhindert wird. Es würde bedeuten, dass das Rückkehrrecht auch für alle Palästinenser:innen gilt und die Siedler:innenkolonien aufgelöst werden. Dass die Bereiche, die in Schutt und Asche gelegt worden sind, wieder aufgebaut werden und Wasser, Elektrizität, Wärme, Lebensmittel sowie medizinische Versorgung nicht mehr Mangelware sind, sondern nach Bedarf für alle verfügbar – unter Kontrolle der Nutzenden und Arbeitenden.

Im Grunde handelt es sich dabei v. a. um grundlegende demokratische Rechte. Doch die Geschichte von über 75 Jahren Vertreibung und Besatzung seit Gründung des Staates Israel zeigt, dass diese durch Reformen oder die illusionäre Zweistaatenlösung nicht verwirklichbar sind. Dies gilt umso mehr angesichts eines Vernichtungskrieges gegen die Bevölkerung Gazas, einer Bodenoffensive, der bisher rund 40.000 Menschen – in der Mehrzahl Zivilist:innen – zum Opfer gefallen sind. Daher scheint selbst die Verwirklichung von demokratischen Rechten als eine unfassbar weit entfernte Utopie.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Verweigerung ebendieser in die imperialistische Ordnung des Nahen Ostens, wie sie nach 1945 etabliert wurde, in den zionistischen Staat von Beginn an eingeschrieben ist. Eine demokratische Lösung des sog. Nahostkonflikts ist unmöglich, solange Israel als rassistischer Staat existiert. Der Ausschluss und die Vertreibung der Palästinenser:innen sind in seine Existenzweise eingeschrieben. Daher kann er auch nicht reformiert, sondern muss revolutionär zerschlagen und durch einen binationalen sozialistischen Staat ersetzt werden.

Wir müssen dabei streng zwischen dem zionistischen Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden. Die Existenz einer jüdischen Nation in Palästina, d. h. die Berechtigung von Millionen Juden und Jüdinnen, dort zu leben, ist unleugbar und daher auch von Sozialist:innen zu verteidigen. Genauso rückschrittlich ist jedoch auch die Erwartung, dass die Palästinenser:innen als Staatsbürger:innen zweiter Klasse (wenn überhaupt) existieren müssen und sich unterzuordnen zu haben.

Im Folgenden werden uns daher damit beschäftigen, welche Strategie nötig ist, um den heutigen Kampf gegen den völkermörderischen Krieg mit dem für ein sozialistisches Palästina zu verbinden, und wie diese untrennbar mit dem Kampf gegen Zionismus und Imperialismus in der gesamten Region und in den imperialistischen Ländern zusammenhängt.

Grundannahmen

Dabei ist es vollkommen klar, dass im Hier und Jetzt der Kampf für einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Arme und Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen ohne jegliche Kontrollen und Bedingungen durch die Besatzungsmacht im Vordergrund aller Bemühungen stehen muss. Denn die Bomben fordern hier und jetzt ihre Opfer, während gleichzeitig mehr Land in der Westbank annektiert wurde und sich mehr Palästinenser:innen in israelischer Haft befinden als je zuvor. Die Lage scheint manchen aussichtslos, vor allem, da die israelische Offensive in aller Härte mehr als 7 Monate andauert. Doch wir glauben, dass es wichtig ist, nicht nur über eine (dauerhafte) Waffenruhe zu reden. Denn letzten Endes verschafft diese zwar Milderung, aber sie wird nicht die Unterdrückung und Gewalt beenden, der die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. Das heißt nicht, dass man nicht auch für direkte Verbesserungen kämpft – einen sofortigen Rückzug der israelischen Truppen beispielsweise.

Zeitgleich braucht es jedoch darüber hinaus eine Debatte darüber, was ein freies Palästina ist – und wie wir dahin kommen. Deswegen halten wir es für notwendig, dass wir über Taktiken und Strategien diskutieren und versuchen, aus der Vergangenheit zu lernen – um eine Einstaatenlösung mit Rückkehrrecht für die Vertriebenen möglich zu machen. Bevor wir zu konkreten Forderungen und Vorschlägen für die aktuelle Solidaritätsbewegung kommen, wollen wir ein paar Grundannahmen festhalten:

1. These: Der palästinensische Befreiungskampf ist ein internationalistischer. Weder können die aktuelle Situation drastisch verändert noch ein eigener Staat allein aus Palästina oder Israel heraus selbst erkämpft werden.

Es ist klar: Ohne den jahrzehntlangen heroischen Widerstandskampf der palästinensischen Massen wäre der „Konflikt“ längst reaktionär befriedet worden. Daher ist Solidarität mit ihm Voraussetzung für jeden Internationalismus, auch wenn dies keineswegs bedeutet, die Politik der palästinensischen Führungen zu unterstützen. Angesichts der militärischen Übermacht, dem Andauern des Konfliktes und dem aktuellen Kräfteverhältnis vor Ort wird deutlich, dass selbst der entschlossenste Widerstand alleine nicht ausreicht. Da der israelische Staat seitens der USA, Deutschlands und anderer imperialistischer Mächte gestützt wird, braucht es massiven Druck, der nur seitens der internationalen Arbeiter:innenklasse erbracht werden kann. Ob Massenproteste, Solidaritätsstreiks und/oder Boykotte: Die Palette der Möglichkeit ist vielfältig.
Dabei muss auch deutlich werden, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Ob nun beim Kampf in Syrien gegen Assad, in Rojava gegen Erdogan oder in Kaschmir gegen die indische Besatzung – Solidarität mit diesen Bewegungen ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ein zentraler, notwendiger Schritt um das Gelingen der jeweiligen Befreiungskämpfe zu sichern.

2. These: Der Kampf für ein freies Palästina kann nur erfolgreich sein, wenn er sich gegen die imperialistische Machtinteressen richtet – und gegen die (ausländische wie einheimische) Bourgeoisie.

Die Geschichte hat bereits gezeigt, dass eine Zweistaatenlösung nicht möglich ist. Stetiger Kampf um Land sowie Ressourcen sorgt nicht nur für Vertreibung, sondern auch dafür, dass der Zugang zu gewissen Ressourcen für einen Teil limitiert bleiben muss, solange diese Verteilung unter kapitalistischen Verhältnisse stattfindet. So wie zwei Individuen nicht beide zur selben Zeit über exklusives Privateigentum an etwas Gleichem verfügen können, können auch nicht zwei Völker exklusives Eigentum an einem Territorium besitzen. Ebenso kann ein bürgerliches, kapitalistisches Palästina nur möglich sein, wenn sich eine imperialistische Macht dazu entscheidet, als Schutzmacht zu fungieren. Das bedeutet nicht nur Abhängigkeit und Ungewissheit, sondern Ausbeutung der palästinensischen Bevölkerung durch diese – sowie die nationale Kapitalist:innenklasse. Dass das keine Alternative sein kann, zeigen schon jetzt die Auswüchse der Korruption unter PNA (Palästinensische Autonomiebehörde)- und Hamas-Verwaltung.

Die einzige fortschrittliche Lösung ist deshalb das Gemeineigentum, also die Vergesellschaftung der wichtigsten Bestandteile der Wirtschaft. Das heißt: Wenn das Ziel ist, dass vorhandene Ressourcen in der Region unter allen, die dort leben, gleichmäßig aufgeteilt werden sollen, dann bedarf es einer Einstaatenlösung, bei der Produktionsmittel und Boden verstaatlicht werden und unter Kontrolle der Arbeiter:innen und Bäuerinnen/Bauern stehen. Der Kampf gegen Besatzung, Zionismus und Imperialismus muss also immer aktiv verbunden werden mit dem gegen Ausbeutung. Daraus resultiert, dass der Kampf für ein befreites Palästina einer für ein sozialistisches, für einen binationalen Arbeiter:innenstaat sein sollte – vor Ort und international.

3. These: Keine Befreiung ohne Revolution

Weder Besatzungsmacht noch Kapitalist:innen werden ihre Position friedfertig aufgeben. Das ist dem Großteil der sich im Widerstand befindenden Kräfte klar. Die Taktik des Guerillakriegs baut auf langfristigen Auseinandersetzungen mit einer militärischen Übermacht auf. Doch während die militärischen Anstrengungen vor Ort dafür sorgen können, die Kosten der Besatzung in die Höhe zu treiben – sie alleine können das Morden und systematische Unterdrückung nicht stoppen und limitieren gleichzeitig die eigenen Mittel des Widerstandes.
Statt darauf zu hoffen, dass andere arabische Staaten oder der Iran sich in den Krieg hineinziehen lassen, braucht es vielmehr den Aufbau einer internationalistischen Arbeiter:innenbewegung – die sich auch in ihrem eigenen Interesse aktiv dazu entscheidet, in den Konflikt einzugreifen.

Darüber hinaus hat die 1. Intifada gezeigt, dass Massenproteste der gesamten Bevölkerung das Mittel sind, am effektivsten den zionistischen Staat und seine scheinbare Allmacht erschüttern zu können. Angesichts des Landraubs im Westjordanland, der bewaffneten Siedler:innen, die willkürlich die palästinensischen Bewohner:innen drangsalieren und vertreiben, bedarf es einer revolutionären Massenbewegung, die in einem Massenaufstand mündet. Die Erfahrung zeigt dabei, dass alle großen Bewegungen wie Massenstreiks, Blockaden usw. bewaffneter Selbstverteidigungsorgane bedürfen, um sich gegen die israelische Armee und rassistische und faschistische bewaffnete Siedler:innen zur Wehr setzen zu können.

Eine revolutionäre Bewegung in Palästina und in den umliegenden arabischen Staaten ist zugleich auch entscheidend, um die klassenübergreifende Einheit im zionistischen Staat aufzubrechen. Je stärker der Kampf gegen die imperialistische Ordnung und Besetzung, umso eher werden Teil der jüdischen Arbeiter:innenklasse in Israel ihr Vertrauen in den rassistischen Staat verlieren und für den Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden. Dann hat die Stunde der Revolution geschlagen.

4. These: Eine revolutionäre Partei und Internationale sind notwendig

Um den gemeinsamen Kampf in den verschiedenen Bereichen koordiniert führen zu können, braucht es mehr als Bewegungen, Bündnisse, Kampagnen. Es braucht eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei und Internationale – in Palästina und weltweit. Eine revolutionäre Partei in Palästina würde sich dabei vor allem auf die palästinensischen Lohnabhängigen

stützen müssen. Sie müsste zugleich die antizionistischen Teile der jüdischen Intelligenz und der Arbeiter:innenklasse organisieren, enge Verbindungen zu revolutionären Parteien in den arabischen Staaten und auf der gesamten Welt aufbauen, um den Kampf zu koordinieren.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, gegen den Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der von der Hamas geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten der unterdrückenden Macht anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischen Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung erwächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende und jede Kollaboration mit der Besatzung. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei Erstere nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie die im Iran, in Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zu regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien. Dabei verfolgen wir auch eine Politik, jeden Bruch, jede Spaltung im zionistischen Lager auszunutzen, zu vertiefen und im besten Fall Lohnabhängige vom Zionismus zu brechen.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labourzionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hegt daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen. Die jüdisch-israelische Arbeiter:innenklasse wird sich – wie jede Klasse, die den Kolonialismus ihrer „eigenen“ Bourgeoisie unterstützt – nur befreien können, wenn sie mit diesem bricht und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennt.

2. Die Arbeiter:innenklasse im Nahen Osten

Eine zentrale Rolle im Kampf für die Befreiung Palästinas kommt den umliegenden Nachbarländern zu. Schon allein die Millionen palästinensischen Geflüchteten und die zentrale Rolle der Geflüchtetencamps in Jordanien oder im Libanon für den palästinensischen Befreiungskampf zeigen, dass dieser eng mit dem Schicksal der umliegenden Länder verbunden ist. So gab es im Zuge des Vergeltungsschlags Israels gegen die palästinensische Bevölkerung Gazas massive Protestwellen in den umliegenden Ländern. Im Irak, Iran, in Ägypten, Syrien und Jordanien sind Hunderttausende in Solidarität mit den Palästinenser:innen auf die Straße gegangen. Diese Proteste stellen Ansatzpunkte dar, die Arbeiter:innenklasse für revolutionäre Forderungen zu gewinnen.

a) Solidarität mit Palästina heißt Kampf dem Imperialismus!

Gleichzeitig hegen viele die Hoffnung, dass die dort Herrschenden Palästina befreien werden. Doch solchen Illusionen müssen wir entschieden entgegentreten. Weder Nasser oder Chomeini haben Palästina befreit, noch werden es El-Sisi oder Erdogan tun. Ihre Solidarität ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Sie zeigen sich vermeintlich an der Seite des palästinensischen Befreiungskampfes, um die eigene Bevölkerung zu besänftigen. Sie sind weder gewillt, in größerem Umfang palästinensische Geflüchtete aufzunehmen, noch eine wirkliche Konfrontation mit den imperialistischen Schutzmächten Israels zu suchen. Ihre zeitweilige zumindest verbale Konfrontation mit Israel liegt mehr in ihrer Konkurrenz um die Gunst der imperialistischen Länder begründet.

Außer den Huthis im Jemen hat kein Staat wirkliche Angriffe auf die imperialistische Präsenz unternommen. Doch nicht einmal zu einer Verurteilung der Angriffe auf den Jemen und die Huthis können sich sie meisten arabischen Regime durchringen. Ägypten könnte, wenn es denn wollte und bereit zur Konfrontation mit den USA und der EU wäre, den Suezkanal für den internationalen Warenverkehr sperren und so einen massiven wirtschaftlichen Druck auf die imperialistischen Staaten ausüben. Doch statt dessen bringt man sich lieber als „Vermittler“ und Verbündeter ins Geschäft.

Sie verraten den palästinensischen Befreiungskampf, sobald ihrer eigenen Stellung als Herrschende oder ihren wirtschaftlichen Beziehungen zu den imperialistischen Ländern Gefahr droht, denn ein wirklich befreites, sozialistisches Palästina würde selbstverständlich auch ihr eigenes Ende bedeuten. Daher ist es nicht verwunderlich, dass neben Ägypten und Jordanien in den letzten Jahren auch weitere Länder wie die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain die Beziehungen zu Israel normalisiert und es international anerkannt haben. Das heißt: Wir können wir uns im Kampf nur auf Organisationen der Arbeiter:innenklasse verlassen, welche die heuchlerische Solidarität der Herrschenden aufdecken muss.

Deswegen ist ein wichtiger Punkt, den Einfluss imperialistischer Kräfte wie USA, EU, Russland und China auf die Region zurückzudrängen. Während die US-Invasionen der Vergangenheit die heutige Realität maßgeblich prägen, so muss man auch gegen „das kleinere Übel“ kämpfen, wie den russischen Imperialismus, der das Assadregime stützt. Die Praxis zeigt: Russland und China vertreten ihre eigenen imperialistischen Interessen, auch ihre Solidarität mit Palästina kommt über reine Lippenbekenntnisse, um Handelsbeziehungen aufzubessern, nicht hinaus.

  • Stopp aller Wirtschaftsbeziehungen mit, aller Waffenlieferungen an Israel!

  • Für die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel!

  • Für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum!

  • Streiks, Blockaden und Arbeiter:innenboykott, um effektive Sanktionen gegen Israel durchzusetzen und strategische Versorgungsgüter für seine imperialistischen Unterstützer:innen zu blockieren.

b) Solidarität mit Palästina heißt Sturz der eigenen Regime!

Es muss der Zusammenhang aktiv dargestellt werden zwischen dem Leid der palästinensischen Bevölkerung und dem Elend vor Ort. Nicht nur, dass die Regierungen sich weigern, ernsthafte Maßnahmen im Interesse der Palästinenser:innen zu tätigen, sie tragen die Vorherrschaft und Ausbeutung seitens der imperialistischen Mächte aktiv mit – und sorgen so für eine Verelendung der Bevölkerung vor Ort. Doch wie? Ansatzpunkte für den Kampf können beispielsweise die Verschlechterung der Lebensqualität vor Ort und die aktuell sehr hohe Inflationsrate sein. Arbeiter:innen müssen in Protesten Forderungen, wie die gleitende Anpassung der Löhne an die Inflation, aufwerfen und diese mit Streiks durchsetzen.

Die Solidaritätsproteste müssen genutzt werden, aus der aktuellen Defensive zu kommen, die beispielsweise die Militärdiktaturen mit sich gebracht haben. Das schreibt sich leichter als getan, schließlich agieren Revolutionär:innen und Linke vor Ort unter halb- oder illegalen Umständen. Aber gleichzeitig bieten eben diese Proteste, die Möglichkeit, die Organisierungsarbeit wieder aufzunehmen.

Die gemeinsame Organisierung mit palästinensischen Geflüchteten erhöht die Kampfkraft. Diese muss mit der Forderung nach gleichen Löhnen und demokratischen Rechten für alle verbunden werden. Revolutionär:innen müssen dabei für die Öffnung der Grenzen zu Gaza und der Westbank kämpfen und eine Verbindung zum palästinensischen Befreiungskampf suchen.

  • Gegen Inflation! Für eine gleitende Lohnskala: 1 % Lohnzuwachs bei jedem Prozent Anstieg der Lebenshaltungskosten! Wahl von Vertreter:innen aus Betrieben, Elendsvierteln, Arbeiter:innenorganisationen, Frauen, Kleinhändler:innen und Verbraucher:innen zur Ermittlung eines Lebenshaltungskostenindexes für die Arbeiter:innen! Renten/Pensionen müssen gegen Inflation indexiert und vom Staat garantiert werden und dürfen nicht dem Auf und Ab der Aktienbörsen überlassen bleiben!

  • Kein Vertrauen in den kapitalistischen Staat und seinen Unterdrückungsapparat:

  • Abschaffung aller undemokratischen Elemente in kapitalistischen Verfassungen: Weg mit Monarchien, zweiten Kammern, Exekutivpräsident:innen, ungewählten Gerichten und Notstandsgesetzen!

c) Aus Fehlern lernen: Für einen zweiten Arabischen Frühling!

Dabei kann es jedoch nicht stehenbleiben. Es braucht das Aufflammen eines zweiten Arabischen Frühlings, in welchem sich die Arbeiter:innen in den umliegenden Ländern gegen ihre eigenen Unterdrücker:innen organisieren und die Bourgeoisie als herrschende Klasse stürzen. Das heißt auch, aus den existierenden Erfahrungen Lehren zu ziehen.

Nicht nur der Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfs ist in großem Maße davon abhängig, ob es das Proletariat der umliegenden Länder schafft, den Klassenkonflikt zuzuspitzen, eigene demokratische Organe aufzubauen, Industrien unter ihre Kontrolle zu stellen, das Kapital zu enteignen und die Macht zu übernehmen. Auch die eigenen Despot:innen aus ihren Machtpositionen zu jagen, hängt davon ab. Es ist  zentral, dass Arbeiter:innenstrukturen auf eine Doppelmachtsituation hinarbeiten und schließlich die Macht erkämpfen, damit die Aufstände nicht wieder in Militärputschen enden. Dabei müssen Revolutionär:innen die Verbindung der palästinensischen Befreiung mit dem Kampf der Arbeiter:innenklasse in den Nachbarländern aufzeigen und für Solidaritätsstreiks, also politische Streiks eintreten. Hier wird schnell deutlich, dass es nicht nur den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken braucht, sondern auch demokratische Selbstverteidigungsmilizen, um die Kämpfe zu verteidigen. Denn die Herrschenden werden weder massenhafte Aufstände noch Generalstreiks zur Umsetzung politischer Forderungen, geschweige denn den Aufbau von Arbeiter:innenräten in den Fabriken freiwillig dulden. Damit massenhafte Aufstände und revolutionäre Situationen nicht im Sande verlaufen oder durch konterrevolutionäre Bewegungen zunichtegemacht werden, braucht es die Kampfkraft der internationalen Arbeiter:innenklasse. Das heißt, auch wir in den imperialistischen Ländern müssen in Solidarität mit dem palästinensischen Widerstand auf die Straße gehen und den Klassenkampf vor Ort zuspitzen.

  • Für die organisierte Selbstverteidigung von Arbeiter:innen, nationalen Minderheiten und Jugendlichen! Enteignung des Großkapitals unter Arbeiter:innenkontrolle!

  • Für Regierungen der Arbeiter:innen und Bäuer:innen, die sich auf Räte und Milizen stützen und die Wirtschaft auf Grundlage demokratischer Planung reorganisieren. Für die permanente Revolution in Palästina und im Nahen Osten! Für revolutionär-kommunistische Parteien als Teil einer wiedergegründeten Internationale!

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Ob Belgien, Italien oder die Niederlande: Welche positive Rolle die Arbeiter:innenklasse in den westlichen Zentren spielen kann, haben bereits einige Vertreter:innen gezeigt. Sie sind dem Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften nicht nur mit warmen Worten begegnet, sondern mit Taten. Doch wie kann die Kriegstreiberei insgesamt gestoppt werden?

a) Schluss mit der Komplizenschaft: Stoppt die Waffenlieferungen und Unterstützung der Kriegsindustrie!

Der westlichen Arbeiter:innenklasse kommt insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie.

Gegen Repression und für mehr Druck ist es zentral, dass die bestehenden Bewegungen sich koordinieren und gemeinsame Aktionen, Forderungen und Slogans hervorbringen. Dabei stellen Blockaden seitens der Arbeiter:innenklasse ein Mittel dar. Es braucht aber eine politische Kampagne, die das Verbot jeglicher Waffenexporte und Unterstützung des Krieges in finanzieller Form fordert. Statt Waffen braucht es medizinische Soforthilfe, statt finanzieller Unterstützung der israelischen Kriegsindustrie Mittel zur sofortigen Versorgung der Bevölkerung und zum Wiederaufbau Gazas – unter Kontrolle der Palästinenser:innen selbst, nicht durch irgendwelche NGOs oder Statthalterregime.

  • Schluss mit Komplizenschaft: Für den sofortigen Stopp aller Waffenlieferungen nach und finanzieller Unterstützung an Israel! Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste! Für die Offenlegung aller Verträge!

  • Massive finanzielle Hilfe und Unterstützung ohne Auflagen für den Wiederaufbau der Infrastruktur, des Gesundheits- und Bildungssystems, einschließlich eines Impfprogramms, in Gaza und im Westjordanland, bezahlt von den imperialistischen Mächten!

b) Schluss mit Repression und antimuslimischer Hetze!

Eine weitere Aufgabe bildet der Kampf gegen massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze, die seit Oktober massiv zugenommen haben. Sie versuchen dabei nicht nur, den Widerstand der Palästinenser:innen zu diskreditieren, sondern helfen auch dem weiteren Erstarken von rechten Kräften in den westlichen Staaten. Das heißt: Wir müssen der Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisationen und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, entschlossen entgegentreten. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt. Ebenso müssen wir gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina einstehen. Wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Antiterrorlisten der EU und USA.

  • Volle demokratische Rechte für alle palästinensischen politischen Organisationen und Vereine! Abschaffung aller sogenannten Antiterrorlisten der USA, EU oder anderer Mächte!
  • Hände weg von der BDS-Kampagne und allen anderen Solidaritätskampagnen für Palästina!
  • Für offene Grenzen, sichere Fluchtwege und Staatsbürger:innenrechte für alle!

Revolutionäre Organisation ist notwendig

Der Aufbau einer Massenbewegung, die sich vernetzt und koordiniert, ist mehr als notwendig. Aber um Generalstreiks, Enteignung und die Zerschlagung bürgerlicher Staaten durchzusetzen, braucht es Kräfte innerhalb der Bewegung, die dafür argumentieren und bereit sind, den Kampf aktiv zuzuspitzen. Dies entsteht nicht aus reiner Spontanität. Die historischen Kämpfe der Arbeiter:innenklasse haben gezeigt, dass diese aus sich heraus eher reformistisches Bewusstsein tragen, sich demnach im Kampf spontan eher innerhalb der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse bewegen. Das Verständnis für die Notwendigkeit der Zerschlagung des Kapitalismus geht darüber hinaus und muss daher von außen in die Arbeiter:innenklasse hineingetragen werden. Dafür brauchen wir ein revolutionäres Programm, das eine dialektisch-materialistische Analyse der gesellschaftlichen Entwicklungen beinhaltet, vergangene und aktuelle Kräfteverhältnisse in den Blick nimmt und daraus entsprechende Strategien und Taktiken entwickelt. Forderungen und Grundannahmen dafür haben wir versucht zu skizzieren. Sie sollen uns Revolutionär:innen als gemeinsame Handlungsgrundlage dienen und als Vermittlung zwischen revolutionärer Theorie und Praxis fungieren. Wichtig dabei ist, dass sie an die spezifischen Situationen der verschiedenen internationalen Kämpfe angepasst werden und an den jeweiligen Gegebenheiten ansetzen. Sie müssen ein System von Übergangsforderungen darstellen, das die Brücke schlagen kann von Minimalforderungen, die theoretisch schon im Kapitalismus umgesetzt werden könnten, über die Grenzen kapitalistischer Herrschaft hinweg und dadurch die soziale Macht von der einen Klasse in die Hände der anderen überführen.

Für uns ist der palästinensische Befreiungskampf kein Selbstzweck. Das stetige Morden, die anhaltende brutale Unterdrückung mögen zeitweilig die Hoffnung rauben, aber die Geschichte ist nicht zu Ende geschrieben. Der Kampf für ein befreites, sozialistisches Palästina ist notwendig für alle Palästinenser:innen, die dort leben, für alle Palästinenser:innen, die zurückkehren wollen – und für all jene, die durch die Fesseln des Imperialismus erdrückt werden.




Keine Waffen für Völkermord: Wie organisieren wir Palästinasolidarität in deutschen Gewerkschaften?

Jaqueline Katharina Singh/Robert Teller, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die starke Einbindung Israels in den europäischen Wirtschaftsraum verschafft der Arbeiter:innenklasse hierzulande auch einen großen Hebel. Streiks, Boykotte von Warenlieferungen und vor allem Waffen können die Kriegsmaschinerie wirklich treffen. Doch wie kommen wir dazu? Wie durchbrechen wir die Unterstützung der Bundesregierung durch die Gewerkschaftsspitzen?

Welche unmittelbaren Kampfziele sinnvoll sind, hängt angesichts dieses Kräftverhältnisses sicher auch von den jeweiligen Umständen ab. In jedem Fall sollten sie aber mit den dringenden Forderungen der gesamten Bewegung in einen Zusammenhang gestellt werden: nach einem sofortigen Waffenstillstand, dem Ende des Kriegsverbrechens der vorsätzlichen Aushungerung und dem Rückzug des israelischen Militärs aus Gaza. Laut einer aktuellen Umfrage (Statista, 22.03.2024) halten 69 % der deutschen Wahlberechtigten das militärische Vorgehen Israels in Gaza für nicht gerechtfertigt – und es spricht wenig dafür, dass unter Lohnabhängigen oder Gewerkschaftsmitgliedern die Verhältnisse grundlegend anders sind.

Doch eine von dieser Mehrheit getragene Bewegung gibt es derzeit nicht. Um diese aufzubauen, reicht es offenbar nicht, an weitverbreitete Sympathie und Mitgefühl mit den Palästinenser:innen anzuknüpfen, wenn zugleich das gesamte „demokratische Spektrum“ mit schweren moralischen Geschützen aus allen Rohren auf alles schießt, was nur nach Palästinasolidarität riecht. Mit einer starken gewerkschaftlichen Palästinasolidarität wäre es möglich, über den symbolischen Protest auf der Straße hinaus die israelische Kriegsmaschine zu behindern – durch Blockade von militärischen Gütern, die auf dem See- oder Luftweg transportiert werden, Lahmlegung von Produktionsketten, die für Israel produzieren, aber auch Druck auf Universitäten oder Unternehmen, die über Kooperationen mit Israel indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser:innen beteiligt sind. Doch in Deutschland scheinen wir davon weit entfernt.

Deutsche Gewerkschaften und Palästina

Entgegen manchen Aktionen internationaler Gewerkschaften veröffentlichte der DGB am 10. Oktober eine Solidaritätsbekundung und offenen Brief an Arnon Bar-David, den Vorsitzenden der Histadrut, unter dem Titel „Solidarität mit Israel“. Dort heißt es unter anderem: „Jede Form von Terrorismus, willkürlichen Tötungen und Verschwindenlassen ist inakzeptabel und wird auf unseren entschlossenen Widerstand stoßen. Die letzten Tage haben uns gezeigt, wie tief Antisemitismus in den Gesellschaften der Welt verwurzelt ist. Wir sind schockiert und besorgt, wie brutal der Antisemitismus auch hier in Deutschland zu Werke ging. ‚Nie wieder’ ist für uns kein leeres Bekenntnis – im Gegenteil. Es ist unsere feste Überzeugung. Wir bekämpfen Antisemitismus hier in Deutschland, aber auch in unseren weltweiten Gewerkschaftsorganisationen. Seien Sie versichert, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun werden, um Sie in Ihrem Kampf zu unterstützen, wir stehen eng an Ihrer Seite.“

Dieses Schreiben wirkt noch gemäßigt im Vergleich mit dem der DGB-Jugend, welches am 18.10. verabschiedet wurde. Der Titel „Solidarität mit unseren Freund*innen in Israel“ sagt  alles. Dabei erweist sich diese Linie der Solidarität mit dem israelischen Staat seither als das, was sie immer schon war: die Unterstützung eines Kriegs gegen die Bevölkerung von Gaza unter dem Vorwand der „Terrorismusbekämpfung“.

Damit nicht genug. Als Gewerkschafter:innen offen die Demonstration „Gaza: Die Waffen müssen schweigen!“ im Januar in Köln unterstützten, war der Apparat bedacht, sehr schnell eine Pressemitteilung herauszugeben und klarzumachen: Der DGB ruft nicht dazu auf. Stattdessen beteilige man sich an der Aktion „Aufstehen gegen Terror, Hass und Antisemitismus – in Solidarität und Mitgefühl mit Israel“. Zwar wird in diversen Stellungnahmen immer mal wieder erwähnt, dass man auch für die Zweistaatenlösung eintrete. Aber darin erschöpft sich schon die „Kritik“ an der israelischen Regierung. Wenige Worte sind für die Situation der Palästinenser:innen reserviert, noch weniger für praktische Initiativen, um wenigstens deren Leid zu lindern. Der Grundton ist klar: Der 7. Oktober sei ein isoliertes, kontextloses Ereignis, dass sich gegen Jüdinnen und Juden richtet – und die Verbrechen der israelischen Besatzung – ob illegaler Siedlungsbau, stetige Gewalt oder Gazablockade werden davon isoliert –, weil schon die Kontextualisierung des 7. Oktober als „Relativierung“ gilt.

Solidarität mit Israel – schon vor dem 7. Oktober

Die einseitigen Stellungnahmen und das aktuelle Schweigen zur Lage der palästinensischen Bevölkerung sind allerdings keine Überraschung. Bereits vor dem 7. Oktober wurden antizionistische Positionen mit aller Kraft in deutschen Gewerkschaften bekämpft: Unter der Schirmherrschaft der Präsidentin des Deutschen Bundestages, Bärbel Bas (SPD), hat der DGB-Jugendausschuss das erste Mal im März 2023 eine Sitzung in Israel abgehalten – und die Resolution „Solidarity forever – Deklaration zur Zusammenarbeit der DGB-Jugend und Histadrut“ verabschiedet. 2021 wurde das Palästinakomittee in Stuttgart vom „Festival gegen Rassismus“ der DGB-Jugend ausgeschlossen. 2017 kam bei der Bundesjugendkonferenz des DGB der Antrag „Boykotte boykottieren“ durch, der sich gegen die Zusammenarbeit mit der BDS-Kampagne und Gruppe FOR Palestine (For One State and Return) richtete. Hinzu kommen regelmäßige Austauschprogramme, wo Gewerkschaftsvertreter:innen Israel besuchen können – während auf die Situation der Palästinenser:innen wenig eingegangen wird. Das sind keine Einzelfälle, sondern eine politische Linie. Aber woher kommt diese?

a) Sozialpartnerschaft und mangelnde Basisstrukturen/Kontrolle

Ein Faktor ist die Sozialpartnerschaft, also die Politik der institutionalisierten Mitverwaltung des Kapitalismus zugunsten kleiner Verbesserungen für die Arbeitenden insgesamt. Deutlich spürbar bei Tarifrunden wie zum TVöD 2023 oder der Politik der Gewerkschaften während der Coronapandemie, führt sie letzten Endes zur Befriedigung von Konflikten. Denn es geht der Gewerkschaftsbürokratie darum, ihre eigene Position als Vermittlung zwischen Kapital und Arbeit aufrechtzuerhalten – und damit des Kapitalismus. Ein Resultat davon ist ebenfalls – um die eigene Position wahren zu können –, den bürgerlichen Staat und die Außenpolitik des deutschen Imperialismus zu stützen.

Sichtbar wurde dies im Zuge des Ukrainekriegs, als Massenmobilisierungen gegen die im Zuge des Krieges stattfindende Aufrüstung und parallel laufende Einkommensverluste ausblieben. Ein zusätzlicher Faktor, der den Beschluss solcher Resolutionen begünstigt, ist der Aufbau und die Struktur der Bürokratie selbst. Statt Rechenschaftspflicht sowie direkte Wähl- und Abwählbarkeit können sich einmal gewählte oder eingestellte Bürokrat:innen für mehrere Jahre an ihre Posten klammern – ungeachtet ihrer politischen Positionen. Doch beide Punkte alleine reichen nicht aus, um die Situation in Deutschland zu verstehen. Schließlich finden wir sowohl Elemente der Sozialpartner:innenschaft als auch von der Basis losgelöste Strukturen ebenso in anderen Gewerkschaften – die jedoch weitaus progressivere Positionen bezüglich Palästina einnehmen.

b) Rolle der SPD und Zionismus der deutschen Linken

Eine Schlüsselrolle spielt hierbei die SPD. Nach über 150 Jahren Klassenverrat könnte man hoffen, dass der Einfluss der Sozialdemokratie aus den Gewerkschaften verschwunden sei. Doch ist das letztlich nur eine Hoffnung und nicht Realität. Als bürgerliche Arbeiter:innenpartei ist sie vor allem in der Bürokratie und den Funktionärsschichten vertreten – und prägt auch ideologisch die internationale Politik der Gewerkschaften. Die SPD verteidigte schon früh die Gründung Israels. Neben der außenpolitischen Unterstützung der USA und der Westintegration kam als verstärkendes Moment die Verbindung zum Labourzionismus und zur Kibbuzbewegung hinzu, die als sozialistisches Modell idealisiert wurde. Wenn die SPD in den 1970er Jahren auch mit Vertreter:innen der PLO Beziehungen aufnahm, so standen sie sowie von ihr kontrollierte Jugendorganisationen schon seit den 1960er Jahren für eine starke politisch-ideologische Unterstützung des Zionismus.

c) Unterstützung der USA und Westintegration

Es überrascht also nicht, dass die staatstragenden Spitzen der DGB-Gewerkschaften – fest eingebunden in die als „Sozialpartnerschaft“ institutionalisierte Klassenzusammenarbeit – auch außenpolitisch Patriot:innen sind und ins Horn der Staatsräson tuten. Den gewerkschaftlichen Initiativen für einen Waffenstillstand schlägt daher nicht nur staatliche Repression und mediale Stimmungsmache entgegen, sondern auch der Apparat der eigenen Gewerkschaft. Die meisten Initiativen haben sich daher bislang darauf beschränkt, durch offene Briefe Öffentlichkeit zu schaffen. Oft knüpften sie an einen Solidaritätsaufruf palästinensischer Gewerkschaften vom 16. Oktober an oder nahmen auf andere internationale Initiativen Bezug. Das alles könnte einen dazu veranlassen, den Kampf in den Gewerkschaften für sinnlos zu betrachten. Doch auch wenn dies verständlich ist – richtig ist diese Position keinesfalls.

Eine Solidaritätsbewegung mit Palästina ist erfolgreicher, wenn sie Streik als Mittel einsetzen kann, um den Krieg zu beenden. Zum einen baut Streik ökonomischen Druck auf – was Regierungen wesentlich stärker unter Druck setzt als einfache Demonstrationen. Zudem haben italienische oder belgische Arbeiter:innen gezeigt, dass Waffenblockaden so einfacher durchzusetzen sind. Mehrfach gab es Streikaufrufe, die sich an die Allgemeinheit gerichtet haben. Es ist zwar nachvollziehbar, sich an alle zu richten, gleichzeitig sind sie in der Leere verpufft. Es braucht konkrete Organisationen, die ihre Mitgliedschaft mobilisieren, um das existierende Potenzial zu bündeln. Gleichzeitig ist man so viel mehr gegen Repression geschützt. Der Kampf richtet sich gegen die Interessen des deutschen Imperialismus und seine Sozialpartnerschaft. Bei der Frage einzuknicken, weil „der Gegenwind zu scharf ist“, sorgt dafür, dass dessen Stellung gestärkt wird – was sich negativ auf andere gewerkschaftliche Kämpfe auswirkt. Denn der Kampf gegen Standortborniertheit findet auch an anderen Stellen statt, nicht nur wenn es um internationale Solidarität mit Kämpfen geht.

1. Bundesweite Vernetzung

Wenn die Solidaritätsbewegung mit Palästina erfolgreich sein soll, müssen wir also dafür eintreten, das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu ändern. Um handlungsfähig zu sein, ist es wichtig, dass die bereits Aktiven sich bundesweit vernetzen und Teil von Basisstrukturen werden. Ziel muss sein, die bisherigen Aktivitäten nicht nur zu bündeln, sondern auch gemeinsam nächste Schritte anzugehen. Wie genau das passieren kann, wollen wir im Folgenden klären:

2. Breite politische Aufklärungskampagne

Die ständige Verwendung des Antisemitismusvorwurfs gegen propalästinensische Stimmen etwa entfaltet ihre Wirkung nicht nur durch Angst, selbst zur Zielscheibe von Repression zu werden, sondern in der breiten Masse vor allem dadurch, dass die meisten Menschen verständlicherweise eben keine Antisemit:innen sein wollen. Diese Unsicherheit lässt sich nur durch eine bewusste politische Auseinandersetzung auflösen. Die Kolleg:innen müssen selbst verstehen, was Antisemitismus ist (und was nicht), um gegen ungerechtfertigte Angriffe gerüstet zu sein. Hierfür bräuchte es eine politische Aufklärungskampagne. Das heißt: Es braucht verständlich geschriebenes Material, das über die aktuelle Situation aufklärt und gleichzeitig auf die häufigsten Kritikpunkte, die in der Debatte kommen, Gegenargumente liefern. Dieses Material kann ein Ergebnis einer bundesweiten Vernetzung sein.

Hilfreich ist dabei etwa ein Blick unter die Oberfläche der selbstverliebten deutschen bürgerlich-nationalistischen „Erinnerungskultur“, die es erst ermöglicht, die eigenen Verbrechen der Vergangenheit als Legitimation für neue Massaker zu instrumentalisieren. Vermitteln sollten wir auch, dass das Konzept des „jüdischen Schutzraums“ selbst einen rassistischen Charakter trägt, es im Gegensatz steht zur traditionellen Position der Arbeiter:innenbewegung, für die Gleichberechtigung aller Ethnien und Nationen einzutreten und für deren kollektive Verteidigung gegen Angriffe, wo immer sie leben. Keinesfalls sollte die Tatsache, dass es Antisemitismus gibt, verschwiegen oder kleingeredet werden – sondern wir sollten erklären, dass wir dessen Instrumentalisierung für die außenpolitischen Interessen des deutschen Imperialismus ablehnen und daher auch keine Illusionen in den deutschen Staat schüren, dass dieser den Antisemitismus ernsthaft bekämpft.

Ebenso notwendig ist es, Klarheit zu schaffen über die Kräfte des palästinensischen Widerstandes wie der Hamas. Wir sollten die dämonisierende Hetze gegen diese (und auch gegen den 7. Oktober) als das offenlegen, was sie ist: Chauvinismus, der einen Genozid rechtfertigen soll. Dabei sollten wir aber die politischen Schwächen der palästinensischen Bewegung und unsere Kritik am reaktionären Charakter der Hamas nicht verschweigen, denn dies würde gerade nicht dazu führen, dass Kolleg:innen ihre Position in einem politisch repressiven Klima selbstständig verteidigen können. Um eine gewerkschaftliche Verankerung der Palästinasolidarität zu schaffen, ist es daher auch notwendig, eine breite und offene Debatte um deren Ziele zu führen, um den Charakter des Krieges und um die Interessen, die der eigene Imperialismus hier verfolgt. Dann ist es auch möglich, die Palästinasolidarität auf eine allgemeinere Grundlage der Klassensolidarität zu stellen: Jeder israelische Sieg in Gaza macht auch den deutschen Imperialismus selbstbewusster und aggressiver – nach außen und innen. Er verschärft den Rassismus, schränkt demokratische Rechte ein (und damit auch die politischen Handlungsmöglichkeiten der Arbeiter:innenklasse insgesamt) und bereitet seine eigenen Kriege vor.

Umgekehrt schwächt ein erfolgreicher Widerstand der Unterdrückten gegen ihre Vertreibung, gegen das Morden nicht nur ihren Kampf für nationale Selbstbestimmung. Er schwächt nicht nur den zionistischen Unterdrückerstaat, sondern auch die imperialistische Ordnung im Nahen Osten und weltweit, weil er Mächten wie den USA oder auch der BRD und ihren herrschenden Klassen Paroli bietet und allen Ausgebeuteten und Unterdrückten weltweit zeigt, dass scheinbar unbesiegbare Staaten nicht unverletztlich sind.

3. Konkrete Beschlüsse erkämpfen

Um eine gewerkschaftliche Solidarität aufzubauen, sollten wir uns auch an positiven Beispielen orientieren. Gerade wenn man unter schwierigen Bedingungen kämpft, ist es motivierend zu sehen, was in anderen Ländern erreicht wurde: etwa das „National Labor Network for Ceasefire“, dem über 200 US-Gewerkschaften angehören, oder der Aufruf von 14 spanischen Gewerkschaften, den Waffenhandel mit Israel zu beenden.

Ziel muss es sein, in den lokalen Gliederungen konkrete Beschlüsse zu verabschieden. Inhalt dieser sollte sein: die Ablehnung, deutsche Waffen nach Israel zu schicken sowie den Krieg finanziell zu unterstützen, gegen die Beteiligung deutscher Unternehmen am illegalen Siedlungsbau (wie beispielsweise durch Axel Springer) und stattdessen für eine sofortige, permanente Waffenruhe. Einen entsprechenden Vorschlag findet ihr am Ende des Textes. Die Landesdelegiertenversammlung der GEW Berlin hat beispielsweise Ende November zwei Statements verabschiedet. In einem heißt es: „Ebenso verurteilen wir die unverhältnismäßigen Angriffe der israelischen Luftwaffe auf Gaza, die bereits Tausende zivile Opfer gefordert haben, die Vertreibung der Bevölkerung und die Blockade des Gazastreifens. Wir fordern die Beendigung der Luftangriffe und der Blockade sowie den Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazstreifen. Ein Krieg mit dem Ziel der ‚Vernichtung der Hamas’ (Benjamin Netanjahu) würde viele Tausende Tote unter den Palästinensern in Gaza fordern. Als erster Schritt wäre eine sofortige Waffenruhe erforderlich.“

Die internationalen Aktionen und Aufrufe können nicht nur als positive Beispiele genutzt werden. Es sollte auch in den Debatten aufgezeigt werden, dass der DGB internationale Beschlüsse hat, die er nicht umsetzt und konkret dagegen arbeitet. Wichtig ist dabei, dass es nicht nur darum geht, viele Forderungen oder möglichst lange Texte zu verabschieden, sondern dass man die Kolleg:innen dafür gewinnt, sich in der jeweiligen Gliederung öffentlich zu positionieren und auch aktiv werden zu können.

4. Gemeinsam in Aktion treten

Ob Infoveranstaltungen mit Gewerkschafter:innen aus anderen Ländern, Blöcke auf Palästinasolidaritätsdemonstrationen, Proteste vor Gewerkschaftszentralen oder Betriebsversammlungen zum Thema: Die Palette ist breit, wenn es darum geht, was alles getan werden kann. Ziel ist es, an dieser Stelle mit Kolleg:innen ins Gespräch zu kommen, aber zeitgleich auch eine klare Kante zur bisherigen Politik des Gewerkschaftsapparates zu zeigen –  mit dem Ziel, diesen unter Druck zu setzen, sich zu positionieren und bestenfalls die Mobilisierungen zu unterstützen.

Widersprüche aushalten, Druck ausüben

Wir wollen ehrlich sein: Das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften zu verändern. wird nicht einfach sein. Für Aktivist:innen ist es zentral zu verstehen, dass die Aktivitäten im Wechselspiel zueinander stehen. Einzelne Beschlüsse alleine werden das Kräfteverhältnis in den Gewerkschaften nicht kippen. Deswegen müssen die Aktivitäten Teil einer gesamtgesellschaftlichen, politischen Solidaritätskampagne sein. Ohne diese wird es schwer, etwas in Gang zu setzen. Auf der anderen Seite kann eine Solidaritätskampagne nur schlagkräftig werden können, wenn es uns gelingt, einen Teil der Gewerkschaftsaktivist:innen für eine internationalistische, fortschrittliche Politik zu gewinnen.

Deswegen muss die Kampagne bewusst Druck auf die Gewerkschaften ausüben und aufzeigen, was die Konsequenzen des Schweigens und der Billigung des Krieges gegen die Palästinenser:innen sind. Sich abzuwenden oder auf den Konflikt nicht einzugehen, führt dazu, der Politik des Burgfriedens das Feld zu überlassen – und schwächt die Bewegung sowie die Arbeiter:innenklasse. Schließlich hat die Berichterstattung im Zuge des 7. Oktober sowohl zum Erstarken des antimuslimischen Rassismus als auch Antisemitismus geführt und droht auf lange Sicht, insbesondere rechte, reaktionäre Kräfte wie die AfD zu stärken.

Für uns als Marxist:innen ist der Kampf in den Gewerkschaften deswegen unerlässlich. Gleichzeitig geht er für uns damit einher, dauerhaftere Strukturen gegen die Politik der Gewerkschaftsbürokratie aufzubauen – eine klassenkämpferische Basisbewegung, die nicht nur versucht, Posten in der Bürokratie abzugreifen und „links“ zu besetzen, sondern eine kämpferische Opposition gegen diese bildet. Wir halten dies für zentral, nicht nur im Kampf in Solidarität mit Palästina, sondern auch in allen internationalistischen Kämpfen – sei es, um Solidaritätsstreiks zu organisieren für Bewegungen wie im Kongo, Frankreich oder Pakistan, sei es, um politische Angriffe abzuwehren, wie eine Verschärfung des Streikrechts oder den immer weiter voranschreitenden Rechtsruck oder schlicht und einfach, Reallohnverluste bei einfachen Tarifauseinandersetzungen hinzunehmen. Doch so etwas entsteht nicht von heute auf morgen. Lasst uns deswegen gemeinsam Widerstand aufbauen – nicht nur gegen den Krieg in Gaza, sondern gegen die imperialistische Politik, die das ermöglicht und überall auf der Welt tagtäglich ihre Opfer fordert!

Vorschlag: Stopp aller Waffenlieferungen an Israel – sofort!

Die Angriffe der IDF und die Politik der israelischen Regierung haben über 40.000 Menschen in Gaza das Leben gekostet, Hunderttausende obdachlos gemacht und vertrieben, Zehntausenden droht der Tod durch Verhungern. Der drohende Angriff auf Rafah wird diese Katastrophe verschärfen. Vor unseren Augen vollzieht sich ein Genozid am palästinensischen Volk.

Dazu dürfen wir Lohnabhängige, dürfen wir Gewerkschafter:innen nicht schweigen. Wir müssen aktiv werden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um das Morden zu stoppen, einen sofortigen Waffenstillstand, den Rückzug der israelischen Armee, die Öffnung der Grenzen für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu gewährleisten.

Damit das Morden gestoppt wird, kämpfen wir dafür, dass sämtliche Unterstützung für den Genozid durch Deutschland unterbleibt – das heißt vor allem sofortiger Stopp von Waffenlieferungen an Israel!

Als Gewerkschafter:innen können und müssen wir zusammen mit Schüler:innen und Studierenden die Solidaritätsbewegung auf der Straße unterstützen. Wir müssen aber auch die Solidarität in die Betriebe, in die Abteilungen und Büros tragen. Wir werden gemeinsame Anträge in gewerkschaftliche und betriebliche Gremien einbringen, die folgende Positionen und Forderungen an die DGB-Gewerkschaften beinhalten:

Wir brauchen eine Kursumkehr in den DGB-Gewerkschaften! Wir treten für die Durchführung von Solidaritätsdiskussionen ein, wie sie von den palästinensischen Gewerkschaften seit Monaten gefordert werden.

  • Kein weiteres Schweigen zum Genozid! Schluss mit der Politik der Unterstützung für Bundesregierung und Krieg!

  • Offene und demokratische Diskussion in den Gewerkschaften und Betrieben, wie das Morden gestoppt werden kann!

  • Veröffentlichung, Verbreitung und Einhaltung der Resolutionen der internationalen Gewerkschaftsverbände gegen Krieg, Hunger und Waffenlieferungen durch die Vorstände der deutschen Gewerkschaften!

Wir schlagen gewerkschaftliche und betriebliche Mobilisierungen um folgende grundlegende Forderungen vor:

  • Sofortiger Waffenstillstand, Rückzug der IDF, Öffnung der Grenzen für Hilfslieferungen an die Bevölkerung!

  • Stopp aller Waffenlieferungen an Israel! Abzug aller deutschen Truppen aus dem Nahen Osten!

  • Entkriminalisierung der Palästinasolidarität und aller palästinensischen Organisationen!

  • Verhinderung von Waffentransporten nach Israel durch Massendemonstrationen, Arbeitsniederlegungen, Streiks und Blockaden!



Die strategische Krise der palästinensischen Linken

Martin Suchanek, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Seit Jahrzehnten bildet die palästinensische Linke eine zentrale Kraft des Befreiungskampfs gegen die zionistische Vertreibung, die Kolonisierung und imperialistische Ordnung. Ihren Höhepunkt erlebte sie in den 1960er und 1970er Jahren; auch in der ersten Intifada 1987 – 1993 spielte sie eine bedeutende, teilweise führende Rolle.

Doch seither ging ihr Einfluss unter den palästinensischen Massen zurück. Die Krise praktisch aller organisierten Strömungen ist seit Jahrzehnten unleugbar. Die Faktoren für diesen Niedergang sind vielfältig.

Etliche Gruppierungen der palästinensischen Linken passten sich Anfang der 1990er Jahre der PLO-Führung an und unterstützten mehr oder weniger das Osloer Abkommen mit Israel. Im Gegenzug erhielten sie einen, wenn auch kleineren, Anteil an den Pfründen der Autonomiebehörde. Politisch diskreditierten sich aber, weil sie letztlich zu politischen Helfershelfer:innen eben dieser Behörde und ihrer Politik verkamen.

Andere Organisationen des Widerstandes – vor allem die PFLP und auch die Mehrheit der DFLP – lehnten das reaktionäre Osloabkommen, das zu einer Befriedung unter Anerkennung des Siedlerkolonialismus und eines schon 1993 kaum lebensfähigen Palästinenserstaates hätte führen sollen, zu Recht von Beginn an ab. Ihre Kritik am Ausverkauf an Imperialismus und Zionismus sollte sich innerhalb nur weniger Jahre als historisch und politisch richtig erweisen. Dennoch verloren auch diese Strömungen an Einfluss.

Zweifellos waren diese konsequent antizionistischen Teile der palästinensischen Linken wie auch oppositionelle Kräfte um die Fatah viel stärker der Repression durch die Besatzungstruppen ausgeliefert (und zeitweise auch durch die Autonomiebehörde). Doch dies erklärt letztlich nicht, warum beispielsweise PFLP und DFLP nicht vom immer offensichtlicheren Scheitern der Politik der PLO-Mehrheit und der Fatah profitieren konnten, sondern selbst durch den Antagonismus zwischen Fatah und Hamas an den politischen Rand des Geschehens gedrückt wurden.

Hinzu kam auch, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion große Teile der palästinensischen Linken in eine ideologische Konfusion stürzte, teilweise auch in eine finanzielle Krise. Neben der UdSSR brachen „antiwestliche“ reaktionäre arabische Regime , die bisher einen gewissen Schutz für die palästinensische Linke darstellten (und an die sich diese opportunistisch angepasst hatte), entweder zusammen oder vollzogen einen mehr oder weniger spektakulären Kurswechsel, um so ihre Haut zu retten. Selbst Syrien, das der einzige konstante Rückzugspunkt für die Auslandsführungen der palästinensischen Linken blieb, vollzog eine Wende zur USA und unterstützte diese 1991 im ersten Irakkrieg mit rund 17.000 Soldat:innen.

Diese Faktoren stellen eine wichtige, aber letztlich nicht die entscheidende Ursache für die Krise der palästinensischen Linken dar. Zweifellos spielte eine wichtige Rolle für diese, dass sie sich als unfähig erwies, ihre Strategie und Politik den veränderten Bedingungen des Befreiungskampfes nach der ersten Intifada anzupassen. Diese vollzog sie eher empirisch-taktisch, nicht jedoch, indem sie ihre eigentliche politische Strategie, die in den 1960er Jahren entwickelt worden war, selbst auf den Prüfstand stellte.

Das betrifft insbesondere auf die PFLP zu, auf deren Strategie, Taktik und Programmatik wir uns im folgenden Artikel aus mehreren Gründen konzentrieren werden. Erstens war sie über Jahrzehnte die größte und in vieler Hinsicht maßgebliche Organisation der palästinensischen Linken, die für einen konsequenten Kampf gegen die zionistische Besatzung und für die Befreiung ganz Palästinas mit revolutionären Mitteln eintrat.

Zweitens – und damit verbunden – entwickelte sie eine eigene Konzeption der Revolution in Palästina. Das 1969 auf ihrem zweiten Kongress angenommene Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“[i] legt umfassend ihre Analyse und politischen Schlussfolgerungen dar. Eine kritische Beschäftigung und Bewertung ist für Revolutionär:innen unerlässlich, die zur Ausarbeitung einer revolutionären Strategie und Programmatik für den Befreiungskampf beitragen wollen. Das Dokument legt eine Linie und Einschätzung nicht nur für die Vergangenheit fest, sondern die PFLP verweist in der Einleitung zur Veröffentlichung des Textes im Jahr 2017 selbst darauf, dass „dieses Dokument die grundlegenden Auffassungen und Analysen der PFLP in Bezug auf die Kolonialisierung Palästinas, die Kräfte der Revolution und die gegen das palästinensische Volk gerichteten Kräfte darlegt.“[ii]

Auch wenn seit 1969 viele wichtige Veränderungen stattgefunden haben, hält die Organisation fest: „ … die hier dargelegte grundlegende Analyse bleibt der leitende politische Rahmen für einen linken, revolutionären Ansatz zur Befreiung Palästinas – ein Ansatz, den wir als grundlegend notwendig betrachten, um den Sieg und die Befreiung in Palästina zu erreichen.“[iii]

Von der Nakba zur Dominanz des panarabischen Nationalismus

Bevor wir uns diesem Dokument und der Politik der PFLP zuwenden, wollen wir kurz verschiedene Stadien des Befreiungskampfes seit der Nakba (Katastrophe) 1948 bis zur Gründung der PFLP skizzieren, um so den Hintergrund für die Entwicklung der palästinensischen Linken darzulegen. Nach einer Behandlung dieses Dokumentes werden wir uns mit der weiteren Entwicklung des Kampfes und der Politik der PFLP beschäftigen.

Die Gründung Israel geht bekanntlich mit der Vertreibung von rund 750.000 bis 800.000 Palästinenser:innen, mehr als der Hälfe des Volkes zu diesem Zeitpunkt, einher. Diese Katastrophe stellt nicht nur eine historische Niederlage dar und ein zentrales Ereignis für die Etablierung einer neuen, imperialistischen Ordnung des Nahen Ostens. Die schmachvolle Niederlage der arabischen Staaten und ihrer militärischen Kräfte, der Arabischen Legion, warf auch die Frage nach deren Ursachen auf. Insbesondere an der Universität von Beirut entwickelte und vertiefte das eine kritische Diskussion, der zufolge man auch als Ursachen für die Niederlage die Schwächen der arabischen Staaten und ihrer Führungen in den Blick nehmen müsse.

Die Uneinheit und Zersplitterung des Nahen Ostens in zahlreiche arabische Staaten sowie deren ökonomische und soziale Rückständigkeit wären verantwortlich für die Niederlage. Notwendig wären Einheit und Modernisierung der arabischen Gesellschaften. Auch wenn diese Punkte auf die Klassenbasis der jeweiligen Regime verweisen, so waren die Diskurse unter den arabischen Intellektuellen der 1950er Jahre im Grunde von einem radikalen bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Nationalismus bestimmt.

Zugleich jedoch verschoben sich die Verhältnisse in den arabischen Staaten selbst mit dem Erstarken des panarabischen Nationalismus. 1952 bringt der Putsch der „Freien Offiziere“ in Ägypten Nasser an die Macht. Er verbreitert über eine Landreform seine soziale Basis über Schichten der Intelligenz, der Offizierskaste und der Mittelschichten hinaus und etabliert ein bonapartistisches Regime.

Im Kampf gegen den britischen Imperialismus um die Kontrolle des Suezkanals nähert sich der Nasserismus stärker der Sowjetunion an. Der Bau des Assuanstaudamms, die Verstaatlichung des Suezkanals und weitere staatskapitalistische Reformen spitzen den Konflikt mit dem Imperialismus zu.

In der Suezkrise 1956 – 1957 geht Ägypten als Sieger gegen Britannien, Frankreich und Israel hervor, die von den USA nicht unterstützt wurden, weil diese eine Großkonfrontation mit Sowjetunion vermeiden wollte. Dieser politische Erfolg steigert das Prestige des Nasserismus enorm. Der panarabische Nationalismus ergreift Syrien, den Irak und andere Länder und wird zu einer mächtigen politisch-ideologischen Strömung. Zugleich vertieft sich auch die Spaltung des arabischen Lagers, wo die Golfmonarchien stramm aufseiten der USA stehen.

BdAN und Fatah

In dieser Phase werden zwei für den palästinensischen Befreiungskampf wesentliche Organisationen gegründet. Um das Jahr 1952 formierte sich der Bund der Arabischen Nationalist:innen (BdAN), der vor allem in Jordanien stark anwuchs und rasch in anderen Staaten Ableger gründete. Der BdAN war zu Beginn eine bürgerlich-nationalistische Organisation, die sich jedoch unter dem Einfluss des Nasserismus nach links bewegte und von Beginn an eine Form der Etappentheorie der Revolution vertrat. In den späten 1950er Jahren und im Laufe der 1960er Jahre entwickelte er sich unter dem Einfluss von jüngeren Militanten wie George Habasch und Nayef Hawatmeh nach links, hin zum „Marxismus-Leninismus“, wenn auch in stalinistischer und maoistischer Prägung.

Die andere Organisation, die schon ab 1965 eine führende Rolle in der PLO übernehmen sollte, war Fatah, die 1957 in Kuwait gegründet worden war. Anders als der Panarabismus, der die palästinensische Revolution als Teil der gesamten arabischen Revolution begriff, vertrat Fatah früh das Primat des Kampfes um Palästina. Dieser sollte sich auf die eigene Nation konzentrieren und sich aus den inneren Kämpfen aller arabischen Staaten heraushalten (so wie diese im Gegenzug aus den politischen Auseinandersetzungen der Palästinenser:innen). Politisch war Fatah eine bürgerlich-nationalistische Befreiungsorganisation, die jedoch von Beginn an alle möglichen ideologischen Strömungen einschloss (inklusive solcher, die sich als marxistisch betrachteten). Sie setzte früher als andere auf den Guerillakrieg gegen den zionistischen Staat, was ihr enormes Prestige unter der palästinensischen Jugend einbrachte, einen massiven Zulauf an Kämpfer:innen und politische Unterstützung. Der Heroismus der Fatahkämpfer:innen bei der Schlacht um Karame am 21. März 1968 führte endgültig dazu, dass sich die Gruppierung  als populärste und stärkste Kraft im Widerstand etablierte, so dass sie 1968 die Führung der PLO übernehmen konnte.

Die Niederlage der arabischen Staaten im Sechstagekrieg 1967 markierte einen weiteren politischen Wendepunkt. Israel besetzte die Golanhöhen, die Westbank und die Halbinsel Sinai. Das stellte jedoch nicht nur militärisch, sondern vor allem politisch eine vernichtende Niederlage für Panarabismus und Nasserismus dar. Auch wenn die Allianz aus Ägypten, Syrien und anderen arabischen Staaten 1973 im Jom-Kippur-Krieg anfängliche Erfolge erzielen konnte, so drängte die israelischen Armee die syrischen Streitkräfte wieder zurück und konnte den Vormarsch ägyptischer Truppen stoppen. Dies erlaubte im Gegensatz zu 1967 eine „ehrenvolle“ Aufnahme von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und ebnete letztlich den Weg für einen Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten und die Rückgabe Sinais.

Die Niederlage im Sechstagekrieg führte auch dazu, dass der BdAN unter den Palästinenser:innen gegenüber der Fatah politisch weit ins Hintertreffen geriet. Die Gründung der PFLP 1968 (u. a. aus Teilen des BdAN) war eine Reaktion sowohl auf das Scheitern Ägyptens und Syriens wie auch auf die politische Dominanz von Fatah.

Bevor wir uns jedoch deren Strategie im Detail zuwenden, wollen wir mit unserer Skizze des Befreiungskampfes fortfahren.

Guerillakampf als Hauptform

Die späten 1960er Jahre und die 1970er Jahre waren von der Dominanz des Guerillakampfes bestimmt. Auch wenn einzelne Gruppierungen wie die 1982 aus der jordanischen KP hervorgegangene Palästinensische Kommunistische Partei (heute Palästinensische Volkspartei) immer den bewaffneten Kampf ablehnten, so fristeten diese ein reformistisches Dasein, zumal die israelische Besatzung und Militärherrschaft den legalen und damit auch gewerkschaftlichen Spielraum in den besetzten Gebieten extrem einschränkten, da alle palästinensischen Organisationen verboten waren.

Doch die Konzentration auf den Guerillakampf hatte für die Befreiungsbewegung wie die Linke weitreichende Folgen. Erstens bildet faktisch nur die Bevölkerung in den Flüchtlingslagern außerhalb der von Israel kontrollierten Gebiete – und das hieß nach dem verlorenen Sechstagekrieg auch außerhalb von Westbank und Gaza – das Rekrutierungsfeld für den Widerstand, die im Kampf aktive Basis. Die Guerillastrategie führte zudem bei allen – Fatah wie Linken – zu einer weiteren Verengung der eigentlich kämpfenden Kräfte, nämlich auf jene, die sich für die Guerilla, also für einen professionellen bewaffneten Kampf, rekrutieren ließen.

Die „restliche“ Bevölkerung, also die große Mehrheit der vertriebenen oder unter Besatzung lebenden Arbeiter:innen und Bäuer:innen fungierte letztlich als passive Unterstützer:innen des Kampfes, die ihm bloß materiell, moralisch und politisch Hilfe leisten konnten.

Auch wenn Leninist:innen keine Kampfform per se ausschließen, wie Lenin selbst in „Der Partisanenkrieg“[iv] darlegt, so muss dieser immer nur als eine letztlich untergeordnete Form im Zusammenspiel mit anderen Formen des Klassenkampfes begriffen werden.

Die bürgerliche Führung um Arafat wie auch die palästinensische Linke erklärten sie jedoch – durchaus auch aufgrund einer berechtigten Abgrenzung zum Legalismus und Mechanismus der meisten stalinistischen KPen im arabischen Raum – zur Hauptform des Kampfes um Befreiung. Die Überlegenheit der „marxistisch-leninistischen“ Partei würde sich demzufolge daran erweisen, dass sie den Guerillakampf entschiedener und entschlossener als bürgerliche oder kleinbürgerliche Kräfte führen würde und daher zur Führung der Revolution berufen sei.

Dies führt auch dazu, dass neben den Guerillakampf, also bewaffneten Angriffen auf israelische Einheiten aus angrenzenden Staaten (vor allem Libanon, Syrien und bis zum schwarzen September Jordanien), bei der palästinensischen Linken vor allem am Beginn der 1970er Jahre der individuelle Terrorismus als Kampfform trat, mit allen schon von Lenin und Trotzki kategorisch kritisierten Folgen. Eine bestand darin, dass bis in die 1980er Jahre die Organisierungsarbeit in den besetzten Gebieten vernachlässigt wurde, obwohl es auch dort immer wieder zu Massenprotesten gegen die Siedlungspolitik, Steuererhöhung, Raub von Land und Ressourcen (v. a. Wasser) kam. Doch diese hätte andere Kampfmethoden erfordert als die Fokussierung auf die Rekrutierung für kleine, illegale Guerillaeinheiten.

Analyse und Strategie der PFLP

Das Grundproblem der palästinensischen Linken bestand darin, dass sie ironischer Weise mit der Fatah einig war bezüglich des Charakters der Revolution, nämlich dass diese eine national-demokratische wäre. Daher könne ihr Ziel nur in der Errichtung eines einheitlichen, demokratischen Staates Palästina bestehen. Dieser würde durch ein Bündnis aus Arbeiter:innenklasse, Bäuer:innenschaft und Kleinbürger:innentum erreicht werden, als dessen politische Repräsentation die PLO-Führung betrachtet wurde.

In ihrem zentralen Dokument „Strategy for the Liberation of Palestine“ (1969) hält die PFLP zu Recht fest, dass Revolutionär:innen ein klares Verständnis des Charakters der Revolution, der verschiedenen Klassen, ihrer Ziele, Feind:innen, Verbündeten brauchen und dies selbst nur auf Basis des wissenschaftlichen Sozialismus, einer revolutionären Theorie möglich ist.

Dieser Anspruch stellt zweifellos einen richtigen Ausgangspunkt dar, der die PFLP (wie auch andere „traditionelle“ Organisationen der palästinensischen Linken) wohltuend von aktuellen, „postmarxistischen“ oder postmodern inspirierten letztlich kleinbürgerlichen politischen Strömungen unterscheidet. Wir teilen auch grundsätzlich die Position, dass jede Revolution, will sie erfolgreich sein, einer revolutionären politischen Führung, einer Partei bedarf, die auf dieser Grundlage handelt (und natürlich diese Konzeption im Lichte der Erfahrung des Klassenkampfes selbst immer wieder einer Prüfung unterzieht).

Doch der Marxismus der PFLP – und damit auch ihre Strategie, ihr Programm und ihre Vorstellung von revolutionärer Partei – ist wie der des Großteils der palästinensischen Linken vom Stalinismus und besonders auch vom Maoismus geprägt.

Etappentheorie

Von diesen übernimmt sie die Etappentheorie der Revolution, der zufolge sich die palästinensische im national-demokratischen Stadium befände. Dabei polemisiert die PFLP zwar gegen die falsche Auffassung, dass der nationale Befreiungskampf kein Klassenkampf sei, aber sie hält daran fest, dass die aktuelle Phase keine sozialistische sei.

„Die Behauptung, wir befänden uns in einer Phase der nationalen Befreiung und nicht der sozialistischen Revolution, bezieht sich auf die Frage, welche Klassen in den Kampf verwickelt sind, welche von ihnen für und welche gegen die Revolution in jeder ihrer Phasen sind, beseitigt aber nicht die Klassenfrage oder die Frage nach dem Klassenkampf.

Nationale Befreiungskämpfe sind auch Klassenkämpfe. Sie sind Kämpfe zwischen dem Kolonialismus und der feudalen und kapitalistischen Klasse, deren Interessen mit denen der Kolonialisten verbunden sind, auf der einen Seite und den anderen Klassen des Volkes, die den größten Teil der Nation repräsentieren, auf der anderen Seite.“[v]

Und weiter: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Klassensicht auf die Kräfte der palästinensischen Revolution den besonderen Charakter der Klassensituation in unterentwickelten Gesellschaften und die Tatsache, dass unser Kampf ein Kampf der nationalen Befreiung ist, sowie den besonderen Charakter der zionistischen Gefahr berücksichtigen muss.“[vi]

Die Aufgabe der revolutionären Kräfte bestünde daher darin, den nationalen Befreiungskampf ins Zentrum zu stellen. Diese Etappe muss zuerst abgeschlossen werden, um dann zur sozialistischen Revolution voranzuschreiten.

Für die PFLP bedeutet dies jedoch keinesfalls, dass alle Klassen gleichermaßen für die Revolution kämpfen oder deren Rückgrat stellen. Die Arbeiter:innenklasse ist für sie die letztlich revolutionäre Klasse. Aber im Stadium der nationalen Revolution sind ihre Interessen deckungsgleich mit jenen der Bäuer:innenschaft. Daher tauchen in ihrer strategischen Orientierung auch immer Arbeiter:innen und Bäuerinnen und Bauern, die Klasse der Lohnabhängigen und von Land besitzenden oder landlosen Kleineigentümer:innen an Produktionsmitteln als die zentrale Kraft der Revolution auf. In den Worten der PFLP:

„Das Material der palästinensischen Revolution, ihre Hauptstütze und ihre grundlegenden Kräfte sind die Arbeiter und Bauern. Diese Klassen bilden die Mehrheit des palästinensischen Volkes und füllen physisch alle Lager, Dörfer und armen Stadtviertel.

Hier liegen die Kräfte der Revolution … die Kräfte der Veränderung.“[vii]

Der PFLP ist also sehr wohl bewusst, dass es sich bei Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern um zwei verschiedene Klassen mit unterschiedlichen Klasseninteressen handelt. Allein in der demokratischen Etappe der Revolution treten diese nicht hervor. Folglich ist die revolutionären Kraft der Befreiung, als die sich die PFLP selbst vorstellt, auch keine Organisation oder Partei der Arbeiter:innenklasse, sondern eine revolutionäre  Arbeiter:innen- und Bäuer:innenpartei.

Diese Sicht wird von Anhänger:innen der Etappentheorie bis heute verteidigt, indem sie einen qualitativen Unterschied des Charakters und der Aufgaben der Revolution in den entwickelten kapitalistischen (imperialistischen) Ländern und der halbkolonialen oder kolonisierten Welt behaupten. So Samar Al-Saleh in ihrer Verteidigung der PFLP-Strategy unter dem Titel „The Palestinian Left Will Not Be Hijacked – A Critique of Palestine: A Socialist Introduction“[viii]: „Der verstorbene marxistisch-leninistische Philosoph Domenico Losurdo relativiert die in nationalen Befreiungskämpfen verfolgte frontale Strategie, indem er schreibt: ‚Während das Proletariat der Träger des emanzipatorischen Prozesses ist, der die Ketten der kapitalistischen Herrschaft sprengt, ist das Bündnis, das erforderlich ist, um die Fesseln der nationalen Unterdrückung zu sprengen, breiter angelegt.’“[ix]

Mit dieser und ähnlichen Formulierungen ist keineswegs nur gemeint, dass die Arbeiter:innenklasse versuchen muss, möglich breite Schichten des ländlichen und städtischen Kleinbürger:innentums als führende revolutionären Kraft für sich zu gewinnen. Vielmehr geht es um eine strategische Allianz der „revolutionären Klassen“ mit allen Kräften, die sich dem Kolonialismus und Imperialismus entgegenstellen. Dies umfasst vor allem das städtische Kleinbürger:innentum und die Mittelschichten, aber ggf. auch jene Teile der kapitalistischen Klasse, deren Interessen nicht mit denen der Kolonialist:innen/Imperialist:innen verbunden sind.

Am deutlichsten wird das, wenn wir uns die Frage stellen, welche Produktionsweise, welche Klasse unter einem Regime herrschen würde, das eine solche nationale Revolution an die Macht bringt. Es kann nur eine kapitalistische Produktionsweise sein. Auch wenn das Personal eines solchen Regimes weitgehend aus dem Kleinbürger:Innentum, den Mittelschichten käme, so würde es doch eine Herrschaftsform des Kapitals, nicht der Arbeiter:innen darstellen. Dazu müsste es nämlich über die bloß demokratische Revolution hinausgehen, das Kapital enteignen, für Schlüsselsektoren der Ökonomie eine demokratische Planwirtschaft errichten usw.

Es ist dies keine Seltenheit in der Geschichte der bürgerlichen Revolutionen, dass ihre entschlossensten Vorkämpfer:innen nur aus einer Minderheit der bürgerlichen Klasse stammten und sich oft aus dem Kleinbürger:innentum (v. a. aus der Intelligenz) rekrutierten. Einmal an der Macht müssen sie aber zwangsläufig ein bürgerliches Regime – in welcher politischen Form (Bonapartismus, Demokratie, Theokratie …) errichten –, weil eine kleinbürgerliche Produktionsweise nie die vorherrschende sein kann.

Diese Frage des Klassencharakters des Regimes, das eine Revolution hervorbringen wird, bleibt bei der PFLP jedoch entweder vage oder wird ganz im Sinne der Etappentheorie so beantwortet, dass der Kampf um eine sozialistische Umwälzung erst nach erfolgreicher antikolonialer oder nationaler Revolution in den Vordergrund treten kann.

Daher braucht es auch keine gesonderte Arbeiter:innenpartei, sondern die Volksfront kann sich auf zwei Klassen mit verschiedenen Interessen stützen. Die revolutionäre Partei, die jetzt gebildet werden soll, ist selbst eine klassenübergreifende, weil die unterschiedlichen Interessen von Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft in der demokratischen Revolution keine entscheidende Rolle spielten.

Auch wenn die Ideologie der PFLP ein Stück weit an die falsche Vorstellung vom Charakter der Russischen Revolution 1905 als demokratischer Revolution anknüpft, so fällt sie weit hinter diesen frühen Bolschewismus zurück. Dieser hatte immer jeden Versuch entschieden bekämpft, eine gemeinsame Partei der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu schaffen, sondern diesen vielmehr als Aufgabe des Klassenstandpunkts in der demokratischen Revolution kritisiert. Eine solche klassenübergreifende Partei wäre nämlich nur möglich, wenn die Arbeiter:innenklasse die Verfolgung ihrer eigenen spezifischen Klasseninteressen – sowohl ihrer unmittelbaren ökonomischen wie vor allem ihrer historischen, langfristigen – hinanstellt. Und da die Vertreter:innen der Bourgeoisie, aber auch des Kleinbürger:innentums, mögen sie ansonsten auch noch so borniert und kurzsichtig sein, über einen verlässlichen Klasseninstinkt bezüglich der Eigentumsfrage verfügen, werden sie von den Vertreter:innen des Proletariats nicht nur verbale Versicherungen, sondern auch Taten einfordern, die beweisen, dass sie keine radikale Arbeiter:innenpolitik betreiben.

Eine gemeinsame Partei von Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern stellt also notwendigerweise eine Fessel für das Proletariat dar – aber sie erscheint nicht als solche, wenn man Revolution gegen Zionismus und Imperialismus im Sinne der Etappentheorie begreift. In Wirklichkeit muss sie wie die gesamte Etappentheorie jedoch zur politischen Unterordnung des Proletariats führen und dazu, dass dieses nicht zur hegemonialen Kraft im Befreiungskampf werden kann.

Strategische und taktische Bündnisse

Ganz im Sinne der Etappentheorie befürwortet die PFLP ein strategisches Bündnis mit dem Kleinbürger:innentum. „Strategy for the Liberation of Palestine“ analysiert nicht nur Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innenschaft, sondern auch die anderen Klassen der palästinensischen Gesellschaft:

Die Bourgeoisie stellt nicht nur einen sehr kleinen Teil der palästinensischen Nation dar (0,5 – 1 % der Gemeinschaft), sondern lebt auch unter ganz anderen Bedingungen. Auch wenn einzelne von ihnen den bewaffneten Kampf unterstützen mögen, so hat die Bourgeoisie, die vorwiegend im Exil und dort auch nicht in den Flüchtlingslagern lebt, zum größten Teil ihren Frieden mit dem Zionismus, Imperialismus und mit reaktionären Regimen gemacht. So sei z. B. die palästinensische Bourgeoisie in Jordanien, wie die PFLP in späteren Analysen durchaus treffend hervorhebt, zu einem untergeordneten Teil der dortigen Kapitalist:innenklasse geworden.

Faktisch, so die PFLP, könne die palästinensische Bourgeoisie für die Revolution abgeschrieben werden.

Anders das Kleinbürger:innentum. Dieses stelle wie in anderen Halbkolonien eine recht große, heterogene Klasse dar: Kleinunternehmer:innen, Handwerker:innen, Studierende, Lehrer:innen, Anwält:innen, Ingenieur:innen, Mediziner:innen und viele andere Vertreter:innen der „gebildeten Schichten“.

Auch wenn es unter gänzlich anderen, privilegierten Bedingungen als die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern lebe, so stelle es trotz seiner Schwankungen einen strategischen Verbündeten in der Revolution dar.

Die Fatah repräsentiert bis zu den Osloer Verträgen dieses kämpfende, wenn auch schwankende Kleinbürger:innentum, die PLO die gemeinsame Befreiungsfront oder Organisation. Das Verhältnis zur PLO-Führung gestaltete sich für die PFLP allerdings auch vor dem Osloabkommen immer wieder konflikthaft, bis hin zur Formierung eigener „linker“ Bündnisse, um Druck auf sie auszuüben (z. B. die Nationale Rettungsfront in den 1980er Jahren). Aber der Kampf um die Einheit der PLO bildete immer eine Konstante der PFLP-Politik, der verhindern sollte, dass die schwankende Fatah ins Feindeslager überläuft oder zu viele Zugeständnisse macht. So machte George Habasch 1985 in einem Interview deutlich, dass es gegenüber rechten Kräften in der PLO darum gehe, diese auf Kurs zu halten:

„Kurz gesagt, wir verlassen uns auf die historische und strategische Allianz der Revolution.“[x] Und im selben Interview: „In dieser Hinsicht gehen wir von der starken Überzeugung in die Notwendigkeit aus, dass die PLO zu ihrer nationalen Linie zurückkehrt, so dass sie ein Rahmen für die Einheit des palästinensischen Volkes bleibt und als deren einziger legitimer Repräsentant agiert.“[xi]

Diese Einheit bedeutet aber, selbst wenn sie durchgesetzt wird, nur die auf Basis des Programms der PLO und ihrer führenden Organisation. Für die Fatah bedeutet Einheit immer auch offen die Einheit aller Klassen der palästinensischen Nation. Ideologisiert wurde dies zeitweise auch durch die Vorstellung, dass Nakba und israelische Besatzung auch alle Klassenunterschiede nivelliert hätten. Diese Sicht bildet letztlich nur den ideellen Kitt dafür, dass Fatah – und damit der von ihr dominierten PLO – immer ein bürgerliches, kapitalistisches, demokratisches Palästina vorschwebt, also eines, in dem die palästinensische Bourgeoisie herrschen würde.

Wenn die PFLP davon spricht, dass die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die führende Kräfte der Revolution wären, so heißt das nur, dass sie die nationale Befreiung konsequent führen, am entschiedensten kämpfen würden, während die Bourgeoisie im Voraus verrät und kleinbürgerliche Kräfte schwanken. Das heißt, die Frage, welche Klasse, die Revolution führen soll, beschränkt sich auf die, welche am entschiedensten den Kampf für ein bürgerlich-demokratisches Palästina vonantreibt. Auf sozioökonomischem Gebiet, hinsichtlich der Gesellschaftsordnung erkennt die PFLP im Voraus die Unvermeidlichkeit eines kapitalistischen Entwicklungsstadiums Palästinas nach der Revolution an. Das heißt aber, es für unvermeidlich zu halten, dass die Revolution die Kapitalist:innenklassen an die Macht bringt und den Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern eine untergeordnete Stellung als ausgebeutete Klasse zuweist.

Dies ist das unvermeidliche Resultat jeder Etappentheorie – zumal wenn man an ihr, wie die PFLP, sehr konsequent festhält.

Guerillastrategie, Nationalismus und internationale Politik

Für die PFLP stellt bis zur ersten Intifada der bewaffnete Kampf, genauer der Guerillakampf, das entscheidende, strategische Mittel gegen Zionismus und Imperialismus dar. Bis Ende der 1980er Jahre befindet sie sich darin, wenn auch mit einer anderen theoretischen Begründung, in grundsätzlicher Übereinstimmung mit der PLO-Charta und der Fatah.

Für die PFLP bildeten im Unterschied zur Fatah jedoch die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern die zentrale Kraft des bewaffneten Kampfes, genauer die Fedajin in den Flüchtlingslagern in Jordanien (bis Anfang der 1970er Jahre), in Syrien und im Libanon.

Die Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern in Israel bzw. in den besetzten Gebieten bildeten bis zur 1. Intifada keine zentrale Kraft der Revolution. Die israelische Militärherrschaft (und nach dem Schwarzen September 1970 die jordanische Armee) verunmöglichten dort faktisch den Guerillakampf, so dass der Fokus auf die Rekrutierung auf Libanon und Syrien lag, wo die PFLP eine reale Basis aufbauen konnte. Als zweitgrößte Fraktion in der PLO hatte sie außerdem auch immer einen gewissen ideologisch-politischen Einfluss unter den Palästinenser:innen sowohl in den besetzten Gebieten wie in der Diaspora.

Da die PFLP (und auch die meisten anderen Strömungen der palästinensischen Linken) keine andere Zielsetzung der palästinensischen Revolution in ihrer national-demokratischen Etappe verfolgen als die Fatah, konnte sie sich nur auf dem Gebiet des bewaffneten Kampfes als die eigentlich zur Führung des Volkes berufene Kraft erweisen.

Das stellte sich jedoch von Beginn an als Unmöglichkeit heraus. Die Fatah hatte den Guerillakampf früher als BdAN und PFLP begonnen. Sie verfügte über größere finanzielle Mittel zur Ausbildung und Bewaffnung der Guerilla und nach der Schlacht um Karame über eine enormes Prestige.

Die PFLP – und andere Organisationen – versuchten das, durch eine Wende zum individuellen Terrorismus (den allerdings auch die PLO selbst mit professionelleren Mitteln vollzog), zu Anschlägen und Entführungen auszugleichen. Diese bis ca. 1972 dauernde Wende zeitigte zwar alle Nachteile des individuellen Terrorismus, brachte die PFLP (wie andere Organisationen, die weit länger an dieser Kampfmethode festhielten und diese komplett fetischisierten) in ihrer Konkurrenz zur Fatah nicht weiter.

Vielmehr erwies sich in den 1970er und 1980er Jahren die Guerillastrategie faktisch immer mehr als Sackgasse. Es wurde immer klarer, dass die Befreiung Palästinas durch einen noch so aufopfernden Guerillakampf, der sich auf die Rekrut:innen aus den Lagern stützte, Israel zwar in Aufregung versetzen, aber keineswegs den Zionismus stürzen konnte. Hinzu kam, dass die arabischen Regime nach 1967 militärisch eine Katastrophe erlitten und nach 1973 mehr und mehr dazu übergingen, ihren Frieden mit Israel zu machen.

Vor allem aber zeigte die Guerillastrategie von Beginn an ihre Grenzen hinsichtlich der aktiven Basis der Revolution. Letztlich kämpfen in der Guerilla nur jene, die sich für ein Leben als professionelle, bewaffneten Kämpfer:innen entscheiden bzw. dafür rekrutiert werden. Die Masse der Arbeiter:innen, des städtischen und ländlichen Kleinbürger:innentums und der Mittelschichten sind an der proklamierten (oder auch faktischen) Hauptform des Kampfes nicht beteiligt, sondern vielmehr in die Rolle von passiven Unterstützer:innen gedrängt.

Hier liegt auch der entscheidende Unterschied zur leninistischen Position zum Partisanenkampf oder zur Guerilla. Wie Lenin zeigt, kann diese vom Marxismus unter bestimmten Bedingungen als eine Kampfform nicht ausgeschlossen werden, ja sogar einen Aufschwung von Massenaktionen (z. B. der Bäuerinnen und Bauern) signalisieren. Aber seine Rolle muss vor dem Hintergrund der Gesamtbewegung des Klassenkampfes verstanden werden, als letztlich untergeordnetes Moment.

Die Erhebung des Guerillakampfes zum strategischen Hauptmittel hingegen reflektiert im Grunde den Klassencharakter der führenden Kräfte des palästinensischen Befreiungskampfes der 1960er bis 1980er Jahre – des revolutionären kleinbürgerlichen oder bürgerlichen Nationalismus. Die Fatah steht für den bürgerlichen, die PFLP für den radikal-kleinbürgerlichen Flügel der Bewegung.

Nationalismus und Marxismus

Dies drückt sich auch im Verhältnis der PFLP zum Nationalismus aus. Für sie besteht kein Widerspruch zwischen Marxismus und Nationalismus. Oder in George Habaschs Worten: „Ich sehe keinen Widerspruch darin, ein arabischer Nationalist und ein echter Sozialist zu sein.“[xii]

Dies ist keine zufällige Differenz zur marxistischen Position, wie sie z. B. Lenin in „Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage“ betont:

„Der Marxismus ist unvereinbar mit dem Nationalismus, mag dieser noch so ‚gerecht’, ‚sauber’, verfeinert und zivilisiert sein. Der Marxismus setzt an die Stelle jeglichen Nationalismus den Internationalismus, (…)“[xiii]

Gerade weil der Nationalismus untrennbar mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist, muss der Marxismus ihn als grundlegendes Phänomen verstehen und begreifen. Dazu gehört auch das Begreifen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und die Unterstützung des berechtigen Kampfes gegen nationale Unterdrückung. Nur durch das konsequente Vertreten dieser bürgerlich-demokratischen Forderung kann das Programm der sozialistischen Revolution – Verschmelzung der Nationen zu eine höheren Einheit – dereinst Realität werden. Um diesem Ziel den Weg zu bereiten, muss die Arbeiter:innenklasse bedingungslos das Selbstbestimmungsrecht der unterdrückten Nation anerkennen, daher muss ihre Arbeiter:innenklasse diese Forderung in ihr Programm aufnehmen, ja unter bestimmten Bedingungen um die Führung kämpfen, versuchen, selbst zur hegemonialen Kraft zu werden. Doch genau deshalb dürfen die Revolutionär:innen der unterdrückten Nation selbst niemals auf den Standpunkt des Nationalismus herabsinken, wie Lenin betont: „Kampf gegen jede nationale Unterdrückung – unbedingt ja. Kampf für jede nationale Entwicklung, für die ‚nationale Kultur’ schlechthin – unbedingt nein.“[xiv]

Im Grunde reflektiert die falsche Auffassung von Habasch und der PFLP zur Nation ihre Vorstellung vom demokratischen Charakter der Revolution und strategischen Bündnis mit der Fatah in Form der PLO.

Internationale Strategie?

Doch damit nicht genug, die PFLP verfolgt von Beginn an auch eine problematische internationale Strategie. Dabei kritisiert sie zu Recht die Weigerung der Fatah, die untrennbare Verbindung des palästinensischen Befreiungskampfs mit der antiimperialistischen Revolution in den arabischen Staaten anzuerkennen. Dies führe dazu, dass die Führung um Arafat immer wieder nach falschen Verbündeten im imperialistischen Lage suche und eine opportunistische Politik der „Nichteinmischung“ gegenüber den reaktionären arabischen Regimen betrieben hat, wie z. B. Saudi-Arabien oder Ägypten unter Sadat.

Dem hält die PFLP ein Bündnis der „revolutionären Kräfte“ im globalen Maßstab entgegen. Doch wer sind diese? Die Arbeiter:innenklasse, die armen Bäuerinnen und Bauern weltweit? Nein. Vielmehr spricht „The Strategy for the Liberation of Palestine“ von der VR China, der UdSSR, Kuba und den anderen „sozialististischen Staaten“, also bürokratisch degenerierten Arbeiter:innenstaaten. Auch wenn der PFLP natürlich bewusst ist, dass die UdSSR die Gründung Israels noch vor den westlichen Staaten anerkannte und keinesfalls immer konsequent handelte, so wird sie letztlich nicht nur als Verbündete, sondern als die führende Kraft im Kampf der „revolutionären Kräfte“ bezeichnet.[xv]

Neben den „sozialistischen Staaten“ gehörten dazu auch sog. progressive, antiimperialistische oder patriotische arabische Regime – vor allem Ägypten unter Nasser, Nordjemen und Syrien. Mit dem Zusammenbruch des Stalinismus, der Volksrepublik Jemen und dem Überlaufen Ägyptens ins US-Lager, blieb über die Jahre nur Syrien als enger Verbündeter übrig, dem die PFLP unter Assad auch während der syrischen Revolution treu blieb. Hinzu kommt heute außerdem der Iran.

Im gesamten geostrategischen Denken der PFLP, im Kampf im Weltmaßstab stehen einander letztlich nicht zwei Klassen, nicht Bourgeoisie und Proletariat, gegenüber, sondern zwei „Lager“. Auch wenn die PFLP häufig vom Internationalismus spricht, so unterscheidet sich ihre Politik grundlegend vom proletarischem Internationalismus. Dieser geht nämlich vom Klassenkampf als internationalem aus – und damit von der Einheit der Arbeiter:innenklasse. Natürlich ist diese nie spontan gegeben – und kann es auch gar nicht sein – sondern sie muss vielmehr durch die bewusste Tat, das bewusste, theoretisch und programmatisch geleitete Eingreifen von Revolutionär:innen errungen werden, indem aus durchaus vorhandenen spontanen Tendenzen eine bewusste Bewegung wird. Deren höchster und für die internationale Revolution auch unerlässlicher Ausdruck ist die revolutionäre Arbeiter:inneninternationale – nicht eine Sammlung von nationalrevolutionären Bewegungen und staatskapitalistischen, bonapartistischen Regimen!

Diese stellt das direkte Gegenteil einer Arbeiter:inneninternationale dar, was sich besonders tragisch zeigt, wenn sich Arbeiter:innenklasse und Bauern-/Bäuerinnenschaft dieser Länder gegen deren angeblich „progressiven“ Regime erheben. Die PFLP steht dann vor der Frage, sich entweder gegen die vorgeblich antiimperialistischen Regime zu wenden – oder diese und damit die konterrevolutionäre Unterdrückung der Arbeiter:innen, Bäuerinnen und Bauern zu unterstützen.

Ihre eigene strategische Konzeption verweist genau in diese Richtung. Die Anpassung an die bonapartischen, kapitalistischen Regime zieht sich daher wie ein roter Faden durch die Geschichte der PFLP. Sie folgt logisch aus einer falschen Analyse und Strategie, der Etappentheorie.

Die 1. Intifada

Doch mehr noch als alles andere hat im Grunde der bisherige Höhepunkt des Kampfes der palästinensischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel die Politik der PFLP wie aller palästinensischen Organisationen auf den Prüfstand gestellt.

Die 1. Intifada brach Ende 1987 aus, nachdem die israelischen Streitkräfte vier Jugendliche im Flüchtlingslager Dschabaliya in Gaza ermordet hatten. Zweifellos trug sie – wie alle Massenerhebungen – Züge eines spontanen Aufstandes, einer Massenrevolution, die alle Beteiligten in ihrem Umfang überraschte.

Doch es wäre eine verkürzte Analyse, die Intifada als Ausdruck „reiner Spontaneität“ zu begreifen. Erstens erschütterten seit 1967 immer wieder massive Aufstände, Streiks von Arbeiter:innen und Ladenbesitzer:innen die Westbank und Gaza. Zweitens wandte sich die Befreiungsbewegung schon vor der Intifada stärker der Bevölkerung in diesen Gebieten zu, auch weil die Guerillastrategie faktisch an ihre Grenzen stieß. Die  hatte als erste verstärkt illegale und halblegale Arbeit unter den Massen begonnen. Doch auch die PLO-Organisationen (Fatah, PFLP, DFPL) wandten sich dieser Arbeit schon vor der Intifada stärker zu.[xvi]

„Spätestens 1987 existierte überall in den besetzten Gebieten ein ganzes Netzwerk lokaler Organisationen, die in ihrer Gesamtheit eine komplette Infrastruktur bildeten: Gewerkschaften, Studentenbewegung, Frauenkomitees, medizinische Hilfskomitees etc. Alle PLO-Organisationen waren beteiligt. In der Frauen- und Arbeiterbewegung waren DFLP, PFLP und  führend, während Fatah ihren Schwerpunkt eindeutig auf die Shabiba-Bewegung (eine Jugendbewegung) gelegt hatte. Offensichtlich gab es 1987 kaum ein Dorf, Lager oder Stadtviertel, wo die Shabiba nicht vertreten war.“[xvii]

Sowohl die Fatah als auch PFLP, DFLP und  genossen eine massive Unterstützung unter der aufständischen Bevölkerung. Deren Kader wurden von Beginn als deren Führung anerkannt. Im Januar 1988 bildeten diese vier Organisationen die „Vereinigte Nationale Führung der Intifada“ (VNFI), die in den folgenden Jahren die koordinierende, leitende Rolle übernahm.

Allerdings hatten die in den besetzten Gebieten arbeitenden Kräfte der PFLP (wie auch der DFLP, tw. auch der Fatah) einen weit größeren Spielraum gegenüber ihren Exilführungen. Auch die VNFI darf man sich keineswegs als „von außen“, also der PLO-Führung komplett gesteuert vorstellen. Die erste Intifada und die vorbereitende Organisationsarbeit brachten nicht nur Massenorganisationen hervor, sondern auch eine Führung der Bewegung, die zwar mit viel Respekt auf die Exilführungen blickte, aber auch einen gewissen Grad an Unabhängigkeit besaß.

Hinzu kam, dass sich in der ersten Intifada auch Komitees in verschiedenen Bereichen bildeten, die Aktionen koordinierten, aber auch die Versorgung der Bevölkerung während der Generalstreiks und Ausstände sicherstellen sollten und so embryonale alternative staatliche Strukturen darstellten. Die Illegalisierung aller dieser Strukturen durch die israelische Besetzung im August 1988 stellte zweifellos einen bedeutenden Schlag gegen diese dar.

Im Grunde trug die Intifada alle Kennzeichen einer revolutionären Situation, sie war ein revolutionärer Massenaufstand. Doch es zeigten sich zugleich auch die politischen Schwächen der palästinensischen Linken.

Auch wenn PFLP (und DFLP) in den besetzten Gebieten wichtige Organisationsarbeit geleistet hatte, so widersprach die Intifada dem Revolutionsschema dieser Organisationen, die die Guerilla zur Hauptform des Kampfes erklärt hatten. Im Gegensatz dazu stellte die Intifada eine Bewegung dar, die alle Schichten der Bevölkerung – und auch die palästinensischen Arbeiter:innen in Israel – im Kampf vereinte. Diese Tatsache erkannte im Nachhinein auch die PFLP-Führung selbst.

„Was den bewaffneten Kampf betrifft, so hat die PFLP ihn bis zur Intifada befürwortet. Beim bewaffneten Kampf sind es die Fedajin, die kämpfen, aber bei der Intifada ist es das ganze palästinensische Volk – Kinder, Frauen, Künstler, alle. Mit der Intifada hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es möglich ist, in einem Teil Palästinas Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen.“[xviii]

Habasch bringt hier eigentlich eine der realen Grenzen der Guerillastrategie – die Verengung der Basis der Kämpfenden – auf den Punkt. Aber er und die PFLP bleiben beim Konstatieren der Fakten und einer Einstellung des Guerillakampfes stehen. Sie unterziehen jedoch die Gesamtstrategie der Organisation keiner kritischen Überprüfung und verzichten daher auf eine wirkliche Neubestimmung ihre Politik bis heute.

Verschärft wird dieses Problem durch das Festhalten an der Etappentheorie durch alle Strömungen der stalinistisch geprägten palästinensischen Linken hindurch, egal ob sie nun den bewaffneten Kampf führten oder nicht. In der Intifada treten deren politisch entwaffnende Konsequenzen besonders deutlich hervor. Die Bewegung eint ein Ziel, das Ende der israelischen Besetzung von Gaza, Westbank und Ostjerusalem.

Doch dieses wirft nicht nur die Frage auf, in welchem Verhältnis es zur Befreiung ganz Palästinas steht, sondern auch, welche Klasse in diesen befreiten Gebieten die Macht übernimmt, sollte der Abzug der zionistischen Besatzung erzwungen werden. Für die Fatah war die Frage immer klar. Es würde sich um ein bürgerliches Regime handeln und die Fatah hat auch seit Beginn der 1980er Jahre das besitzende Kleinbürger:innentum und die Kleinbourgeoisie aus den besetzten Gebieten erfolgreich für sich gewonnen.

Hinsichtlich des Klassencharakters des Regimes eines zukünftigen Palästina hatten PFLP, DFLP und  der Fatah jedoch nichts entgegenzusetzen, erklärten sie doch selbst, dass sich die Revolution zuerst auf die Lösung der nationalen Frage zu konzentrieren hätte, der alle anderen untergeordnet wären.

Daher verabsäumte es die palästinensische Linke, obwohl sie über Massenrückhalt und eine gut organisierte Bewegung verfügte, eine eigenständige Klassenpolitik in der Intifada zu verfolgen. Damit das Proletariat nämlich zur führenden Klasse werden kann, hätte es seine spezifischen Klasseninteressen offen verfolgen und vor allem darauf vorbereitet werden müssen, die Machtfrage in seinem Sinne durch die Errichtung einer revolutionären Arbeiter:innen- und Bäuer:innenregierung zu lösen. Ob diese in ganz Palästina oder zuerst nur in einzelnen Teilen möglich ist, ist dabei eine Frage des Kräfteverhältnisses, ebenso, wie prekär eine solche Form angesichts der Besatzung auch hätte sein mögen.

Doch die palästinensische Linke lehnte bewusst die direkte Verbindung des Kampfes um nationale Befreiung mit dem für ein sozialistisches Palästina ab, hielt an der Etappentheorie fest, statt sich ein Programm der permanenten Revolution zu eigen zu machen.

Diese führte auch mit dazu, dass sie schlecht auf den historischen Verrat der PLO-Führung unter Arafat vorbereitet war. Die  unterstützte das Osloer Abkommen, die DFLP spaltete sich entlang diese Frage. Die PFLP lehnte es korrekterweise von Beginn ab. Aber sie verfolgte selbst auch keine alternative politische Zielsetzung.

Das Osloer Abkommen und seine Folgen

So endet die erste Intifada schließlich im politischen Ausverkauf. Das erste Osloer Abkommen wurde 1993 vom damaligen PLO-Außenminister Abbas (nicht von der PLO selbst) ratifiziert. Es enthält die allgemeine, aber unkonkrete Vereinbarung, dass die Palästinenser:innen Westjordanland und Gaza als Staat übertragen kriegen sollten im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Der Status Jerusalems blieb ungeklärt und die Frage der Rückkehr der Vertriebenen sowie der Siedlungen im Westjordanland sollte bei zukünftigen Verhandlungen geklärt werden.

1995 folgte das zweite Osloer Abkommen, dem zufolge das Westjordanland in verschiedene Stufen der „Autonomie“ aufgeteilt wird, ins sog. A-Gebiet unter Kontrolle der palästinensischen Autonomiebehörde, in B-Gebiete mit geteilter Kontrolle und C-Gebiete, die weiter direkt von der israelischen Besatzung kontrolliert werden.

Das Abkommen erwies sich schon in den 1990er Jahren als politisches Desaster. Die zionistische Rechte machte mit der Ermordung Rabins deutlich, dass sie selbst einen von Israel abhängigen, selbstständig nicht überlebensfähigen Reststaat Palästina nicht akzeptieren will. Die zionistische Regierung deckte den Siedlungsbau und Landraub weiter. Allein bis 2000 entstanden rund 200.000 weitere Siedlungen in der Westbank.

Von 2000 bis 2005 folgte als Reaktion auf diese Entwicklung und Provokationen durch Sharon die 2. Intifada, die jedoch ohne sichtbares Resultat für die Palästinenser:innen endete. Am Aufstand beteiligen sich PFLP, DFLP, der linke Flügel der Fatah (al-Aqsa-Märtyrerbrigaden) sowie Hamas und Islamischer Dschihad, die Fatahmehrheit und die Autonomiebehörde hingegen nicht. Faktisch gerieten sie zu einem verlängerten Arm der Besatzung und des Imperialismus.

Vom strategischen Bündnis mit Fatah zum Bündnis mit Hamas

Doch die Jahre brachten auch eine massive Verschiebung des Kräfteverhältnisses unter den Palästinenser:innen mit sich, wie die Wahlen 2006 deutlich machten. Die islamistische Hamas erringt dort eine Mehrheit von 74 der 132 Sitze, Fatah 45. Die palästinensische Linke erleidet ebenfalls eine Niederlage, die PFLP erhält 3 Sitze (4,2 % der Stimmen), das Bündnis aus DFLP, PVP (Palästinensische Volkspartei; ehemals: PKP) und FIDA (Palästinensische Demokratische Union) 2 Sitze.

Die Linke wird in der Polarisierung zwischen Fatah und Hamas faktisch an den Rand gedrängt – und das ändert sich auch nach 2006, nach der faktischen Spaltung zwischen Westbank und Gaza nicht. Die Hamas gelangt aber zur führenden Kraft des nationalen Widerstandes.

Auf diese Entwicklung reagiert die PFLP (und im Grund auch die DFLP) durch eine Neuadjustierung der Etappentheorie und eines strategischen Bündnisses mit dem „Kleinbürger:innentum“. Während die Fatah weitgehend für den Befreiungskampf ausfällt (auch wenn die PFLP weiter in der Fatah-geführten PLO bleibt), tritt nun die Hamas als strategische Partnerin ins Rampenlicht. Seit über einem Jahrzehnt befindet sich die PFLP in einem, wie sie es selbst nennt, „strategischen Bündnis“ mit der Hamas.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Die Ablehnungsfront ist dabei keineswegs nur auf Organisationen in Palästina beschränkt. Sie erstreckt sich auch seit Jahren auf ein Bündnis mit den „antiimperialistischen“ Regimen in Damaskus und Teheran. Darin wird das islamistische Regime zu einem verlässlichen Verbündeten im Befreiungskampf verklärt, z. B. bei einem Treffen von PFLP und Hamas mit Vertreter:innen des Iran im Jahr 2017:

„Während viele Länder der Region versuchen, ihre Beziehungen zum zionistischen Regime zu normalisieren, ist der Iran der Vorkämpfer im Kampf gegen Israel und für die Befreiung Palästinas.“[xix]

Die PFLP und die DFPL bilden seit Jahren mit Iran, Syrien, Hamas und libanesischer Hisbollah die sog. „Achse des Widerstandes“. Am Beginn der syrischen Revolution bröckelte diese, da sich die Hamas auf die Seite der Aufständischen gegen Assad stellte. Nicht so die palästinensische Linke, sie hielt ihren Verbündeten die Treue und denunzierte die syrische Revolution als zionististische Verschwörung.

„Die linken und nationalistischen Strömungen der palästinensischen politischen Elite – wie die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) – hielten an ihrer Unterstützung für Damaskus fest und erklärten, die syrische Revolution sei eine zionistische Verschwörung.“[xx]

Dementsprechend begrüßte die PFLP auch die Eroberung Aleppos durch die Truppen des Assadregimes als „bedeutenden Sieg“. Gegenüber The New Arab erklärte das Mitglied des PFLP-Politbüros, Kayed al-Ghoul, die Position seiner Organisation folgendermaßen: „Syrien zu unterstützen und die Ereignisse in Aleppo und anderen Städten als Teil einer Verschwörung zur Zersplitterung des syrischen Staates zu betrachten.“[xxi]

Diese Position stellt ohne Zweifel einen, wenn nicht den politischen Tiefpunkt der Politik der PFLP dar. Die willfährige Unterstützung der syrischen Konterrevolution folgt jedoch nicht nur einer obskuren Verschwörungstheorie, sondern auch der reaktionären Logik, die globale Auseinandersetzung als Kampf von „Lagern“ und nicht als internationalen Klassenkampf zu begreifen.

So wichtig und notwendig es daher ist, sich mit den Kämpfer:innen der PFLP und der gesamten Befreiungsbewegung gegen den zionistischen Staat zu solidarisieren und gegen ihre Kriminalisierung zu kämpfen, so unabdingbar ist aber auch eine marxistische, revolutionäre Kritik ihrer politischen Analyse, ihrer Programmatik, ihrer Strategie und Taktik. Nur ein Bruch mit der Etappentheorie und eine Politik, die sich auf Theorie und Programm der permanenten Revolution stützt, kann einen Ausweg weisen aus der Führungskrise der palästinensischen Arbeiter:innenklasse.


Endnoten

[i] PFLP, The Strategy for the Liberation of Palestine, Foreign Language Press, 1917, Utrecht, ISBN 9781545142660

[ii] Ebenda, S. 7

[iii] Ebenda, S. 10

[iv] Lenin, Der Partisanenkrieg, in: LW 11, Seite S. 202 – 213

[v] Strategy, S. 44

[vi] Ebenda, S. 45

[vii] Ebenda, S. 47

[viii] https://viewpointmag.com/2021/12/11/the-palestinian-left-will-not-be-hijacked-a-critique-of-palestine-a-socialist-introduction/

[ix] Ebenda

[x] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 6

[xi] Ebenda, S. 8

[xii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 92

[xiii] Lenin, Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: Lenin, Werke, Bd. 20, S. 19

[xiv] Ebenda, S. 20

[xv] George Habasch: The Future of the Palestinian National Movement, in: Journal of Palestine Studies, 14. Mai, 1985, S. 5

[xvi] Siehe dazu auch Helga Baumgarten, Befreiung in den Staat. Palästinensische Nationalbewegung seit 1948, Frankfurt/Main 1991, S. 270 – 310

[xvii] Ebenda, S. 289

[xviii] Taking Stock, Interview with George Habasch, in Journal of Palestine Studies XXVIII, no.1 (Autumn 1998), S. 93

[xix] https://en.irna.ir/news/82617068/Hamas-PFLP-thank-Iran-for-supporting-Palestinian-cause

[xx] https://www.aljazeera.com/opinions/2018/10/20/how-do-palestinians-see-the-syrian-war

[xxi] https://www.newarab.com/opinion/divisions-exposed-pro-hizballah-leftist-palestinians-hail-assads-victory




Zum Missbrauch der IHRA-Definition von Antisemitismus

Dave Stockton / Markus Lehner, Vom Widerstand zur Befreiung. Für ein sekulares, demokratisches, sozialistisches Palästina, Arbeiter:innenmacht-Broschüre, April 2024

Die Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) wurde 2016 eingeführt und in mehreren europäischen und nordamerikanischen Staaten verwendet, um propalästinensische Aktivist:innen, einschließlich der wachsenden Zahl antizionistischer Jüdinnen und Juden, als „Antisemit:innen“ zu diffamieren. Sie wurde eingesetzt, um die freie Meinungsäußerung über das Wesen und die Handlungen des Staates Israel zu unterdrücken. Sie wurde auch benutzt, um propalästinensische Redner:innen und Veranstaltungen auf dem Universitätsgelände zu verbieten, darunter auch Proteste gegen Israels aktuelle Verbrechen in Gaza und den anderen besetzten Gebieten.

Grund dafür sind einfach die wachsenden Proteste gegen Aktionen des israelischen Staates innerhalb der Länder, deren Regierungen diesen seit Langem mit Waffen unterstützen und ihn auch wirtschaftlich stark fördern. Ein wichtiger Faktor für diesen Wandel sind die wiederholten Angriffe Israels auf den Gazastreifen von 2006 bis heute, die Ausweitung der Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem. Ein subjektiver Faktor ist jedoch das Aufkommen der Boykott-, Desinvestitions- und Sanktionsbewegung (BDS). Sie wurde im Juli 2005 von Omar Barghouti und Ramy Shaath und einer Vielzahl von palästinensischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und NGOs gegründet. Sie hat sich international ausgebreitet und mit der wachsenden Zahl jüdischer antizionistischer Gruppen sowie mit den älteren Palästinasolidaritätsbewegungen verbunden.

BDS mobilisiert mit dem Argument, dass es sich bei Israel um einen Apartheidstaat handelt, der mit Südafrika vor dem Untergang der weißen Herrschaft vergleichbar ist, weil es sich in seiner Verfassung zum Staat nur von Juden/Jüdinnen und zur Verkörperung nur ihres Selbstbestimmungsrechts erklärt hat. Darüber hinaus rechtfertigen das Fehlen gleicher Bürgerrechte und die Sicherheitsmauer (die BDS als „Apartheidmauer“ bezeichnet hat) tatsächlich Vergleiche mit Südafrika, obwohl es natürlich wichtige Unterschiede gibt (Südafrika musste z. B. die Arbeitskraft der schwarzen Mehrheit nutzen und konnte sie nicht verdrängen).

BDS setzt sich nicht nur für den Boykott von Unternehmen ein, die Waffen liefern und wirtschaftliche Unterstützung für die Siedlungsprojekte im Westjordanland leisten, sondern auch für das Rückkehrrecht der sechs Millionen Flüchtlinge in der weltweiten Diaspora und der Binnenvertriebenen in den besetzten Gebieten.

Obwohl BDS eine Bewegung ist, die auf der utopischen Idee basiert, dass friedliche Proteste und das Aufzeigen von Parallelen zur südafrikanischen Apartheid zu einem grundsätzlichen Wandel führen werden, wird Israels Anspruch, der einzige demokratische Staat im Nahen Osten zu sein, dadurch angegriffen. Damit wurde ein gewisser Rechtfertigungsdruck erzeugt und zumindest die Frage einer Zweistaatenregelung wieder auf den Tisch gebracht. Die Behauptung verschiedener Regierungen und Parlamente, BDS sei antisemitisch, ist lächerlich – es sei denn, Antisemitismus wird neu definiert als Kritik am israelischen Staat und Schaden, den dieser den Palästinenser:innen sowohl innerhalb seiner Grenzen als auch den Millionen darüber hinaus vertriebenen zufügt.

Was Israel mehr fürchtet als jede tatsächliche oder wahrscheinliche Beeinträchtigung, die ihm durch die BDS-Aktivitäten entsteht, ist die Bewegung der öffentlichen Meinung, insbesondere in den westlichen imperialistischen Staaten, die Israel sponsern und schützen, Resolutionen im UN-Sicherheitsrat blockieren und seine Kriege und die Räumung palästinensischen Landes entschuldigen. Daher hat es einen Gegenangriff gestartet, indem es Aktivist:innen, die sich mit Palästina solidarisieren, pauschal des Antisemitismus bezichtigt. Dabei hat sich die Förderung einer Theorie des „neuen Antisemitismus“, in Gestalt der IHRA-Definition und ihr beigefügten sogenannten Beispiele, als nützliche Waffe erwiesen.

Antisemitismus und Antizionismus

Revolutionäre Sozialist:innen haben schon immer alle Ausdrucksformen des Jüdinnen- und Judenhasses angeprangert, alle Stereotypen über ihre angebliche Macht und ihren Reichtum, die Kontrolle der Medien, des Rechts usw. sowie Verschwörungstheorien (Protokolle der Weisen von Zion) und die Leugnung des Holocausts. Der Kampf gegen diese giftige Hetze ist ein zentraler Bestandteil unseres antirassistischen Programms und der Herausbildung des revolutionären Bewusstseins der Arbeiter:innenklasse.

Revolutionär:innen haben den Holocaust nie heruntergespielt, geschweige denn geleugnet, seine schreckliche Natur und die Tatsache, dass er aufgrund des vorsätzlichen Ziels des Nationalsozialismus, alle europäischen Juden und Jüdinnen auszurotten, eine besondere Bedeutung trägt – durch die systematische industrielle Massentötung, der sechs Millionen jüdischstämmige Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber es ist deshalb keine „Relativierung“, wenn man feststellt, dass Völkermord nicht nur an Juden und Jüdinnen verübt wird – es gibt und gab auch andere Völkermordversuche in der Neuzeit. Auf jeden Fall schmälert dies nicht die enorme Bedeutung des Holocausts, denn es macht ihn nicht weniger relevant, sondern mehr. Er zeigt, wohin die Dämonisierung vieler rassisch, national und geschlechtlich definierter Gruppen führen kann. Diese Sensibilisierung hat zu Recht Sympathie und Unterstützung für das jüdische Volk und diese anderen Betroffenen geweckt.

Der Antisemitismus spielt in der rechten und faschistischen Ideologie nach wie vor eine besonders wichtige Rolle, da er eine falsche „antikapitalistische“ Ideologie liefert, um die klassenunbewussten Schichten der Arbeiter:innenklasse und des Kleinbürger:innentums zu mobilisieren und ihre Wut von der Kapitalist:innenklasse abzulenken.

Der Aufstieg der extremen Rechten in Europa, den USA und in vielen anderen Ländern der Welt in den letzten Jahrzehnten ist ein Produkt der tiefen Krisenbedingungen des modernen Kapitalismus und der Zunahme der Rivalitäten nicht nur zwischen den imperialistischen Großmächten (USA, EU, China, Russland usw.), sondern auch zwischen aufstrebenden regionalen Mächten (Indien, Iran, Türkei, Saudi-Arabien usw.). Die Nazis und ihr Holocaust waren auch das Ergebnis solcher Bedingungen (mit Zuspitzung in den1930er Jahren) und des Versagens der Arbeiter:innenbewegung, sie aufzuhalten und zu besiegen und eine sozialistische Revolution herbeizuführen.

Heute ist der Übergang vom rassistischen Rechtspopulismus zum offenen Faschismus eine reale Möglichkeit und obwohl viele dieser Kräfte heute Israel unterstützen, haben einige (z. B. Viktor Orbáns Ungarn) bereits prominente jüdische Persönlichkeiten wie George Soros im Visier. Kampagnen gegen echten Antisemitismus sind für die Erziehung neuer Generationen gegen alle Formen von Rassenvorurteilen und -hass unerlässlich. Aber ihn mit der Opposition gegen Israels eigene völkermörderische Aktionen in Gaza zu verwechseln, wird bei dieser Aufgabe nicht helfen.

Eine wichtige Rolle bei der Verwirrung der Opposition gegen Israel und seine rassistische Politik und Aktionen besteht darin, neu zu definieren, was Antisemitismus bedeutet. Dazu hat die Theorie des so genannten „neuen“ Antisemitismus beigetragen. Irwin Cotler, kanadischer Rechtsprofessor und ehemaliger Justizminister in der liberalen Regierung Paul Martins von 2003 – 2006, definiert ihn so:

„Mit einem Wort: Der klassische Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht der Juden, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft zu leben, in der sie leben. Der neue Antisemitismus ist die Diskriminierung, die Verweigerung oder der Angriff auf das Recht des jüdischen Volkes, als gleichberechtigtes Mitglied der Familie der Nationen zu leben, mit Israel als dem anvisierten ,kollektiven Juden unter den Nationen’.“

Dieser Wandel kann nur echten Hass gegen Juden und Jüdinnen mit der Ablehnung der Handlungen des israelischen Staates verwechseln.

Die IHRA-Definition

Die sogenannte Arbeitsdefinition des Antisemitismus, die 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA-Definition) verabschiedet und von der Europäischen Union und der Europäischen Kommission angenommen wurde, übernimmt diesen Paradigmenwechsel von der Feindseligkeit gegenüber Juden und Jüdinnen aufgrund imaginärer Verbrechen zu der gegenüber Israel aufgrund realer. Ihre Kerndefinition lautet:

„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegen Juden äußern kann. Rhetorische und physische Manifestationen des Antisemitismus richten sich gegen jüdische oder nichtjüdische Personen und/oder deren Eigentum, gegen jüdische Gemeinschaftseinrichtungen und religiöse Einrichtungen.“

Viele haben eingewandt, dass dies eine wortreiche Erweiterung einer reinen Wörterbuchdefinition ist, nämlich dass Antisemitismus verbal oder physisch zum Ausdruck gebrachter Hass auf Juden und Jüdinnen ist.

Wenn man dies bedenkt, wird klar, dass drei der elf „Beispiele“, die der IHRA-Definition beigefügt sind und von denen sieben den Staat Israel erwähnen, einen ganz anderen Zweck verfolgen, nämlich die Kritik an diesem Staat zu minimieren und den Einsatz für die Rechte der Palästinenser:innen zu behindern. Das siebte dieser Beispiele für Antisemitismus lautet: 

„dem jüdischen Volk das Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen, z. B. durch die Behauptung, die Existenz eines Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“.

Damit wird das „Recht“ der zionistischen Bewegung und des von ihr 1948 mit Waffengewalt geschaffenen Staates auf „Selbstbestimmung“ als unanfechtbar akzeptiert, ohne dass dieses Recht der arabischsprachigen Bevölkerung Palästinas, die bis dahin die Mehrheit bildete, anerkannt wird. Das Selbstbestimmungsrecht war ihnen seit 1917 von den britischen Besatzer:innen verweigert worden, und diese Verweigerung wurde und wird vom israelischen Staat weiterhin aufrechterhalten.

Auch wenn die vor den Schrecken des Holocausts nach Palästina ausgewanderten Menschen jedes Recht auf ein geschütztes und selbstbestimmtes Leben hatten, so wurde aus dem Projekt der Gründung eines neuen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebietes gleichzeitig ein neokoloniales Gebilde, das sich für die imperialistischen Großmächte als wichtiges Element ihrer postkolonialen Beherrschung der wichtigen „Nahostregion“ eignete – unter völliger Missachtung der arabischen Bevölkerungen ebendieser im Allgemeinen und in Palästina im Speziellen. Die völlige Entkopplung der „Selbstbestimmung des jüdischen Volkes“ in der Region Palästina vom Kontext der postkolonialen Geschichte und Realität der Region führt zu einer völlig aberwitzigen, ahistorischen Neudefinition des Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie für eine Form des postkolonialen Neoimperialismus.

Das zehnte Beispiel ist definiert als „Vergleiche der gegenwärtigen israelischen Politik mit der der Nazis“. Da es nicht unüblich ist, die Unterdrückung und unmenschlichen Handlungen verschiedener Staaten, einschließlich der oben genannten, mit den Nazis zu vergleichen, gibt es keinen Grund, Israel von einer solchen Kritik auszuschließen, insbesondere nach den letzten sechs Monaten.

Auch wenn man wie wir die spezielle historische Bedeutung des Holocausts anerkennt – so ist er vor allem eines: Kennzeichen der Tiefe der Krise der „westlichen Moderne“. Die Verbrechen des Kolonialismus und ihre Fortführung in den brutalen Repressionsakten der postkolonialen Weltordnung gehören jedoch zu den Grundlagen der „westlichen Moderne“ – zur Absicherung der ökonomischen, politischen und militärischen Ordnung, die zugunsten der privilegierten Schichten und Klassen in den imperialistischen Zentren erfolgt. Die Verbrechen, die beides hervorbringt, sind alle systembedingt grausam und müssen in solcher Weise auch benannt werden können.

Die achte ist ein Beispiel dafür, dass „mit zweierlei Maß gemessen wird, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder verlangt wird“.

Die Behauptung einer selektiven Kritik an Israel ist wirklich lächerlich, da die meisten Kritiker:innen der Handlungen Israels, und vor allem die extreme Linke, nicht nur Staaten wie Putins Russland für seine völkermörderischen Handlungen (in Tschetschenien) kritisiert haben, sondern auch Großbritannien und die USA für ihre schrecklichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Irak, ganz zu schweigen von Vietnam, Frankreichs Massaker in Algerien und Großbritanniens Wüten in Kenia, im Jemen usw. All diesen Fällen liegt dasselbe zugrunde – Imperialismus.

Außerdem kann Israel in seiner jetzigen Konstruktion als rein jüdischer Staat angesichts einer Masse davon Ausgeschlossener im eigenen, im besetzten Land und in der palästinensischen Diaspora Lebender keine „demokratische Nation“ sein. In welcher Form auch immer das Zusammenleben von jüdischen und palästinensischen Menschen in Zukunft vernünftig geregelt werden kann – in seiner jetzigen Form ist Israel ein in seinem Kern rassistisches Konstrukt, das Juden/Jüdinnen wie Palästinenser:innen keine wirklich sichere und gemeinsame Perspektive bietet.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gründe für die Verleumdung und Verfolgung der Verteidiger:innen des arabischen Teils der Bevölkerung Palästinas aus der Sicht Israels ganz einfach darin liegen, die Vollendung ihrer Zerstörung als nationale Gemeinschaft „vom Fluss bis zum Meer“ zu erreichen.  Die Arbeiter:innenklasse, die antiimperialistische und demokratische Bewegung weltweit sowie die Standhaftigkeit ihres Volkes werden dies niemals zulassen.




„Zwei Staaten“ in Palästina: Geschichte einer reaktionären Idee

Robert Teller, Infomail 1239, 14. Dezember 2023

Dass „Zwei Staaten“ in Palästina niemals Wirklichkeit werden, bedeutet nicht, dass die Idee nicht auch einen eigenen Zweck erfüllen kann. Während Israels Bombenteppiche in Gaza Wohnviertel, Bäckereien, Justiz- und Regierungsgebäude in Schutt und Asche legen – und damit nebenbei auch jeden realen Ansatz palästinensischer Staatlichkeit pulverisieren – geistert die „Zweistaatenlösung“ wieder durch die Köpfe vor allem jener unter den Freund:innen Israels, die es für moralisch geboten halten, auch an eine „Zeit nach dem Krieg“ zu denken.

UN-Teilungsplan und Nakba

Ursprung der „Zweistaatenlösung“ ist der Teilungsplan von 1947, der nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung aufgrund des von Britannien angestrebten Rückzugs aus Palästina durch eine eingesetzte Kommission erarbeitet wurde. Obwohl damals bereits die Schaffung eines einzigen föderalen und demokratischen Staates in ganz Palästina diskutiert wurde, entschied sich die Kommission schließlich für einen Teilungsplan, der mehr als die Hälfte der Fläche Palästinas für einen „jüdischen“ Staat vorsah, während Jerusalem unter UN-Verwaltung gestellt werden und auf der verbleidenden Fläche ein „arabischer“ Staat geschaffen werden sollte. Beide Staaten sollten politisch souverän, jedoch in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum verbunden sein.

Diese Aufteilung des Landes stand bereits damals in keinem Verhältnis zur demographischen und territorialen Realität der 32 % jüdischen Einwander:innen. Die große palästinensische Bevölkerungsmehrheit erstreckte sich auch auf etwa 400 palästinensische Dörfer innerhalb der vorgeschlagenen Grenzen eines „jüdischen“ Staates. Die Palästinenser:innen lehnten die Abtretung von Territorien an eine koloniale Siedler:innenbewegung ab, was nicht überrascht. Der Teilungsplan enthielt auch von Beginn an einen Verstoß gegen den Souveränitätsgedanken, mit dessen Anspruch die UNO gegründet wurde.

Der durch nichts demokratisch legitimierte Teilungsplan trug nicht dazu bei, die Spannungen zwischen einer kolonialen Siedler:innenbewegung und der indigenen Bevölkerung Palästinas zu entschärfen. Vielmehr verlieh er 1948 der gewaltsamen Vertreibung von 700.000 (und Ermordung von Tausenden) Palästinenser:innen politische und moralische Rückendeckung. Die Nakba endete in der militärischen Eroberung eines deutlich über den Teilungsplan hinausgehenden Territoriums und dessen ethnischer Säuberung. Diese gewaltsam geschaffenen Grenzen wurden 1949 durch Waffenstillstandsabkommen und die Aufnahme Israels in die UNO international anerkannt. Der in UN-Resolution 194 auferlegten Pflicht, allen palästinensischen Flüchtlingen die Rückkehr zu ermöglichen, kam Israel bekanntlich nie nach – und dies stand auch bei den vielen Verhandlungsrunden des „Friedensprozesses“, der zu einer Zweistaatenlösung hätte führen sollen, nie ernsthaft zur Debatte. Vielmehr war deren Voraussetzung gerade die Anerkennung der 1948 geschaffenen Verhältnisse, die seither Generationen von Palästinenser:innen zu Flüchtlingen im eigenen Land oder in den Nachbarstaaten machen.

Folgen des Sechstagekriegs

In die politische Debatte kam die „Zweistaatenlösung“ erst Jahrzehnte später wieder – und zwar nicht als Lösung für die nationale Frage Palästinas, sondern für das israelische „Problem“ der 1967 neu eroberten Gebiete, die sich für den zionistischen Staat als zweischneidiges Schwert herausstellten. Nach den Erfahrungen, die die Palästinenser:innen (und die Weltöffentlichkeit) 1948 gemacht hatten, konnten die Westbank und Gaza nicht in der gleichen Weise ethnisch gesäubert werden, um sie den Expansionsbestrebungen Israels zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der dort verbliebenen großen palästinensischen Bevölkerung konnte sich Israel diese Gebiete weder einfach einverleiben noch an die unterlegenen arabischen Staaten abtreten oder gar eine palästinensische Selbstverwaltung zulassen, die es der PLO erlaubt hätte, sich entlang der Grenzen von 1948 zu formieren. Die „Lösung“ eines dauerhaften Besatzungsregimes erwies sich mit Beginn der ersten Intifada 1988 als nicht nachhaltig. Kollektive Kampfformen der Palästinenser:innen wie Streiks, Kauf- und Steuerboykott versetzten der israelischen Ökonomie schwere Schläge. Die nach 1967 verfolgte Strategie einer ökonomischen Integration und Entwicklung der eroberten Gebiete – bei gleichzeitiger Vorenthaltung jeglicher demokratischer Rechte – erwies sich als Bedrohung für das zionistische Projekt.

Oslo-Prozess

Das zentrale Versprechen der Osloer Abkommen 1993 beinhaltete Israels Rückzug aus der Westbank und dem Gazastreifen. Dies sollte jedoch erst als Endergebnis in einem Friedensabkommen vereinbart werden, als Abschluss eines 5 Jahre langen Prozesses, der in kleinen Schritten Verantwortung hin zur neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde verlagern würde. Bis dahin sollte die palästinensische Seite unter Bewährung stehen und demonstrieren, dass sie „zum Frieden bereit“ sei.

Auf Seite Israels lag ein wichtiger Gesichtspunkt darin, die Armee zunehmend von ihrer Funktion als Polizei der besetzten Gebiete zu entbinden, also ihre militärischen Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Im zionistischen Lager umstritten war die Frage der ökonomischen Integration. Die alleinige Kontrolle der Grenzen und des Außenhandels durch Israel seit 1967 ermöglichten der israelischen Ökonomie Extraprofite durch Überausbeutung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse und durch Zölle und Handelsprofite. Obwohl die Wirtschaftsunion und auch die Bewegungsfreiheit für palästinensische Arbeiter:innen in den Osloer Abkommen vertraglich vereinbart wurde, setzte sich in Israel letztlich der Flügel im Sicherheitsapparat durch, der einen gemeinsamen jüdisch-palästinensischen Wirtschaftsraum als inakzeptable „Sicherheitsbedrohung“ sah. Die zunehmende Abriegelung der Westbank und des Gazastreifens war ein klarer Verstoß gegen den Wortlaut des Oslo-Abkommens, aber Israel betrieb diese aus genau der Logik heraus, mit der es in die „Friedensverhandlungen“ gegangen war: der angestrebten Minimierung der „Gefahr“, die mit der Verantwortung für das besetzte Volk einhergeht. Die Bewegungsfreiheit der Palästinenser:innen nach 1967 war zwar seit Beginn der Besatzung dem israelischen Militärregime in den Gebieten unterworfen, doch erst Mitte der 1990er Jahre wurde die Abriegelung von Dörfern, Städten bzw. der gesamten Westbank oder die Verhängung von Ausgangssperren durch militärischen Befehl ein alltäglicher Normalzustand.

Eine weitere wichtige Folge des Oslo-Abkommens war die Zerstückelung der Westbank in einen Flickenteppich mit abgestufter Aufgabenteilung zwischen dem israelischen Militär und der Autonomiebehörde. Dem anfänglichen Versprechen nach sollte der israelische Rückzug aus den A- und B-Gebieten nur der erste Schritt hin zu einer wachsenden palästinensischen Selbstbestimmung werden, und bis Ende 1999 sollte die gesamte Westbank der Autonomiebehörde übergeben werden. Umgesetzt wurde letztlich nur der Abzug aus den großen palästinensischen Bevölkerungszentren der Westbank (A- und B-Gebiete), die seither großteils Enklaven unter Verwaltung einer Israel treu ergebenen palästinensischen Hilfspolizei darstellen. Selbst hier behält sich Israel das Recht auf militärische Interventionen vor, die ggfs. höchstens durch die Auslieferung von Israel gesuchter Personen durch die palästinensische Polizei verhindert werden können. In Einzelvereinbarungen setzte Israel in jedem Teilrückzug Konditionen durch, die dem langfristigen Ziel der Kolonisierung der Westbank Rechnung tragen. So wurde etwa beim israelischen Abzug aus Hebron 1997 eine verbleibende dauerhafte Militärpräsenz zum „Schutz“ der damals 400 israelischen Siedler:innen vereinbart. Eine Folge dieses Abkommens ist, dass in der israelisch besetzten H2-Zone dieser Stadt seither 20.000 Palästinenser:innen ihr Leben den militärischen Bedürfnissen der innerstädtischen Siedler:innenkolonie unterordnen müssen. Die daraus entstandene Lebensrealität von Ausgangssperren, „sterilisierten“ (d. h. ethnisch gesäuberten) Straßen, Checkpoints und elektronischer Überwachung wurde zum Paradebeispiel des von Israel errichteten Apartheidsystems.

Die „Zweistaatenlösung“ der 1990er setzte auf Seiten der PLO zwei Bedingungen voraus: Einerseits die Anerkennung allen vor 1967 begangenen Unrechts als unverrückbare Tatsache, andererseits die Demobilisierung der Intifada und Entwaffnung der PLO. Damit wurden Fakten zugunsten Israels geschaffen. Die interessanten Fragen hingegen wurden vielsagend auf ein „endgültiges“ Abkommen in unbestimmter Zukunft vertagt – wie die des Rückkehrrechts, der israelischen Siedlungen, der Außenbeziehungen des palästinensischen Staates und des zukünftigen Status von Jerusalem (welches 1980 von Israel völkerrechtswidrig annektiert worden war). So unbestimmt das Abkommen in allen wesentlichen Fragen war – den Palästinenser:innen forderte es nicht nur handfeste Zugeständnisse ab. Es sollte auch in der Folgezeit dazu dienen, die Äußerung jeder nur denkbaren palästinensischen Forderung als „Sabotage des Friedensprozesses“ zu delegitimieren. Die palästinensische Seite war in der Pflicht, sich als „Partnerin“ Israels zu bewähren, bevor sie einer „echten“ Einigung würdig war.

Die israelische Seite hingegen interpretierte die getroffenen Abkommen so, dass sie jeden kleinen Schritt hin zur palästinensischen Unabhängigkeit unter Verweis auf „Sicherheitsbedenken“ blockieren konnte, während die palästinensischen Zugeständnisse – insbesondere die territoriale Aufteilung der Westbank – aber endgültig blieben. Als diskussionswürdig gilt seitdem nur noch die Rückgabe einzelner Landfetzen der Westbank, auf die Israel selbst nach Meinung seiner westlichen Schutzmächte keinen territorialen Anspruch besitzt. Die Souveränität über Grenzen, Luftraum und Küstengewässer, ja selbst das Recht palästinensischer Flüchtlinge aus den Nachbarländern auf Rückkehr in diese palästinensischen Bantustans – all das verletzt kategorisch israelische „Sicherheitsinteressen“.

Spätestens mit Beginn der 2. Intifada im Jahr 2000 war klar, dass eine endgültige Vereinbarung über Israels Abzug aus der Westbank unerreichbar ist. Die von einer politisch gebrochenen PLO unter Jassir Arafat unterzeichneten Abkommen dienen seither als politische Legitimation für die zeitlich unbegrenzte Besatzung der C-Gebiete und den massiven Transfer von Siedler:innen dorthin als menschliche Schutzschilde der Besatzung. Statt eine begrenzte palästinensische Selbstbestimmung zu erreichen, wurden die Palästinenser:innen zu Fremden in einem Gebiet, das sich vom israelischen Kernland nur durch die umfassenden Privilegien unterscheidet, mit denen der israelische Staat die Siedler:innen für ihre Funktion als zivile Besatzer:innen belohnt. Durch diese De-facto-Annexion der C-Gebiete wird vermieden, die israelische Verantwortung für die Palästinenser:innen (rassistisch als „demographische Gefahr“ bezeichnet) zu vergrößern.

Für die Unterstützer:innen des Staates Israel legitimiert eine angenommene Bedrohung der Siedler:innen jede denkbare Schikane gegen Palästinenser:innen. Ungeachtet der v. a. im Westen verbreiteten scheinheiligen Hoffnung, nach Oslo irgendwie mit den palästinensischen Forderungen abschließen zu können – reale Folge der Abkommen war ihre systematische Einzäunung durch eine nun tödliche Sperranlage um Gaza und ein System von Mauern, Checkpoints und Apartheidstraßen, das die Westbank durchzieht und eingrenzt. Der einzige palästinensische Flughafen, der ein Symbol für neu gewonnene Freiheiten der Palästinenser:innen sein sollte, wurde nur drei Jahre nach Eröffnung durch die israelische Luftwaffe zerstört. Die Autonomiebehörde sollte nach der Abnabelung Israels zur lokalen Verwalterin des Status quo der Besatzung werden. Außerdem bietet der von ausländischen „Hilfsgeldern“ abhängige Apparat allen möglichen „Freund:innen der Palästinenser:innen“ die Möglichkeit, ihre Komplizenschaft mit Israel finanziell zu kompensieren.

Obwohl es in Folge der Oslo-Abkommen einen Rechtsruck in Israel gab, der jede Illusion über die Möglichkeit einer friedlichen Lösung zerstreute – die für die Palästinenser:innen desaströsen Folgen des „Friedensprozesses“ liegen nicht in dessen Scheitern begründet, sondern wohnen diesem von Beginn an inne. Der nach seiner Ermordung 1995 vielfach zum Friedensstifter verklärte Premierminister Jitzchak Rabin ließ selbst keinen Zweifel daran, dass die von ihm ausgearbeiteten Abkommen keine palästinensische Souveränität zur Folge haben sollten und die „Sicherheitsgrenze“ Israels immer am Fluss Jordan liegen würde.

Eine weitere wichtige Erkenntnis aus Oslo ist aber, dass auch die vollständige politische Kapitulation der einst selbstbewussten PLO nicht ausreichte, um die palästinensische Frage ad acta zu legen. Die Zweite Intifada ab 2000 bewies, dass die Palästinenser:innen weiterhin zu massenhaftem Widerstand fähig waren. Die Reaktion Israels – der erneute militärische Vorstoß in die A- und B-Gebiete, die Belagerung von Jassir Arafats Hauptquartier in Ramallah und die Zerstörung der bis dahin aufgebauten zivilen palästinensischen Verwaltung in der Westbank, die routinemäßige Verhängung von Kollektivstrafen wie Ausgangssperren, Abriegelungen oder Hauszerstörungen – führte auch vor Augen, dass der Kern des Konflikts eben nicht der Unwille zum friedlichen Ausgleich ist, sondern die Fähigkeit und der Wille Israels, gewaltsam den Status der Palästinenser:innen als Vertriebene und Rechtlose durchzusetzen.

Die Intentionen der israelischen Regierung wurden vor dem israelischen Rückzug aus Gaza 2005 sehr klar durch Dov Weissglass, damals Berater von Premierminister Ariel Scharon, formuliert:

„Die Bedeutung des Rückzugsplans liegt darin, dass wir den Friedensprozess einfrieren. Und wenn man diesen Prozess einfriert, verhindert man die Gründung eines palästinensischen Staates und verhindert eine Diskussion über die Flüchtlinge, die Grenzen und Jerusalem. Das ganze Paket namens palästinensischer Staat mit allem, was es mit sich bringt, wurde auf unbestimmte Zeit von unserer Tagesordnung gestrichen.“

Wie bei jedem Einsatz militärischer Mittel ist das real herrschende Gewaltverhältnis der Maßstab für jeden „Friedensplan“. Die 2002 von den USA neu aufgelegte „Roadmap for Peace“ machte der israelischen Seite erhebliche Zugeständnisse. Von Israel wurde die Roadmap so interpretiert, dass als ihre Vorbedingung ein Ende der Intifada, die Entwaffnung des palästinensischen Sicherheitsapparates und die politische Entmachtung von Jassir Arafat erfolgen müsse. Die Roadmap hatte daher für Israel die Funktion, die Niederschlagung der Intifada mit politischer Legitimität zu versehen.

Deal of the Century

Der Trump-Plan von 2019 („Deal of the Century“) war letztlich für fast alle Beobachter:innen nur der Versuch, die Realität zu legalisieren und in eine dauerhafte Rechtsform zu gießen. Teil des Plans war die einseitige Annexion aller Siedlungen in der Westbank sowie des Jordantals, die lediglich von den USA „bewilligt“ werden müsste. Der palästinensische „Staat“ dürfte keinerlei bewaffneten Organe unterhalten, müsste alle rechtlichen Schritte gegen Israel vor internationalen Tribunalen unterlassen und dürfte nicht in eigener Verantwortung internationalen Organisationen beitreten. Bei Verstoß gegen irgendwelche Vereinbarungen würde Israel automatisch das Recht auf militärische Intervention erhalten, vorbehaltlich nur der Zustimmung durch die US-Administration. Der Plan enthält die Möglichkeit der Ausbürgerung von Palästinenser:innen mit israelischem Pass und die weitergehende Annexion von Gebieten der Westbank im „Tausch“ gegen Gebiete in der Negev-Wüste. Die Annexion Jerusalems würde unverrückbar anerkannt, alle Grenzen würden ausschließlich von Israel kontrolliert und die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge selbst in diesen „Staat“ Palästina würde unter den Vorbehalt israelischer Zustimmung gestellt. Durch die „Hilfe“ von Investor:innen aus den Golfstaaten sollten die palästinensischen Kantone zu einer florierenden Sonderwirtschaftszone ausgebaut werden. Der Rest der Welt sollte auf diese Weise von der finanziellen Last befreit werden, einen Großteil der palästinensischen Bevölkerung über das UNRWA-Hilfswerk mit dem Nötigsten zu versorgen, was seit 1948 eine zentrale Voraussetzung der dauerhaften Ghettoisierung der palästinensischen Flüchtlinge und damit der israelischen „Sicherheitsinteressen“ ist.

Die „Zweistaatenlösung“ hat für Israel ihren Zweck erfüllt – die politische Unterwerfung der PLO. Zugleich hat sie 3 Jahrzehnte lang deutschen, US-amerikanischen und anderen Regierungen als Feigenblatt gedient, um ihre fortgesetzte Rückendeckung für den Kolonialstaat Israel politisch zu flankieren. Das erklärt auch, dass sie nicht so einfach aus den Köpfen verschwinden wird, wie es der zionistischen Rechten in Israel lieb wäre.

Resultat der Oslo-Abkommen ist auch der Apparat der Autonomiebehörde, der als Auftragnehmer des Besatzungsregimes für Israel unverzichtbar geworden ist. Dies unterstreicht auch die von Präsident Abbas und Premierminister Schtajjeh demonstrierte Bereitschaft, nach Ende von Israels Krieg in Gaza dort als Statthalter über die Trümmerwüste einzuspringen. Dass dies von Israel bislang ausgeschlossen wird, erklärt sich gerade aus der wichtigen Funktion, die die Behörde für Israel besitzt. Es ist nicht nur fraglich, woher diese die notwendige Autorität für die Neuordnung Gazas nehmen soll. Die politische Vereinigung von Gaza mit der Westbank würde auch den palästinensischen Massen die längst diskreditierte Autonomiebehörde als gemeinsame Gegnerin präsentieren und den Widerstand gegen deren Herrschaft als gesamtpalästinensische Frage, als zentralen Aspekt des Kampfes gegen Besatzung und Unterdrückung überhaupt, aufwerfen.

Für einen binationalen, säkularen, sozialistischen Staat!

Die Sackgasse in der Diskussion um die Zweistaatenlösung zeigt schlichtweg auf, dass die Lösung der palästinensischen Frage im Widerspruch steht zum Fortbestand eines kolonialen, ethnisch gesäuberten Staates Israel – in welchen Grenzen auch immer. Seine revolutionäre Überwindung ist die Voraussetzung für die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts beider Nationen, der palästinensischen und der jüdisch-israelischen. Dies erfordert neben der völligen rechtlichen Gleichstellung der Nationalitäten, der Anerkennung aller gesprochenen Sprachen als gleichberechtigt, der Anerkennung des Rückkehrrechts für alle palästinensischen Flüchtlinge weltweit und ihrem Anspruch auf Entschädigung auch, die ideologische Bindung der israelischen Massen an das zionistische Projekt zu durchbrechen. Solange die jüdisch-israelische Selbstbestimmung fälschlich mit der Aufrechterhaltung militärisch abgesicherter Völkerreservate gleichgesetzt wird, bleibt eine „gerechte Lösung“ eine Unmöglichkeit. Dieses Wegbrechen der israelischen Massen vom Zionismus kann jedoch keine Vorbedingung für den palästinensischen Befreiungskampf sein. Vielmehr wird jeder Schlag, den die Palästinenser:innen und die internationale Solidaritätsbewegung dem Staat Israel versetzen, auch die Grundlage dieser ideologischen Bindung schwächen, die auf dem chauvinistischen Glauben an die Unbesiegbarkeit Israels fußt.

Auch wenn heute der Kampf gegen den Siedlungsbau und den alltäglichen Versuch der Vertreibung von Palästinenser:innen in der Westbank auf der Tagesordnung steht, muss dieser auf die Anerkennung der jüdisch-israelischen Nation unter vollständiger Abschaffung sämtlicher Privilegien abzielen. Dieses Ziel ist unvereinbar mit der Existenz zweier Staaten. Die Zweistaatenlösung würde unweigerlich beinhalten, einen Grenzverlauf festzuschreiben, der durch koloniale Gewalt aufgezwungen ist – und mit diesem auch die Vertreibungen von 1948, von 1967, die der vergangenen Jahrzehnte und die mit allem verbundene Enteignung palästinensischen Eigentums unwiderruflich machen. Eng damit verknüpft ist die Aneignung von Wasser, landwirtschaftlicher Nutzfläche und anderer natürlicher Ressourcen durch den Siedlerkolonialismus und die Kontrolle der Außengrenzen. Status quo ist die Existenz eines einzigen souveränen Staates, der eine echte Teilung seiner Souveränität kategorisch ausschließt. Es ist eine Utopie, diesen Staat derart zu bändigen, dass neben ihm Platz für einen zweiten existiert. Voraussetzung für jede gerechte Lösung ist seine revolutionäre Zerschlagung und die Schaffung eines neuen binationalen Staates.

Obwohl Marxist:innen für unterdrückte Nationen das Recht auf Lostrennung und auf einen eigenen Staat fordern, kann diese Forderung keinesfalls unterschiedslos, ohne Berücksichtigung der spezifischen Umstände der Unterdrückung aufgestellt werden.

Ein palästinensischer „Staat“ neben Israel würde nicht nur vergangenes Unrecht legitimieren, sondern auch die derzeit vollzogenen ethnischen Säuberungen in der Westbank als endgültig hinnehmen müssen. Die Festlegung eines Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten würde höchstwahrscheinlich eine neue Vertreibungswelle nach sich ziehen, die auf die Ausweisung eines möglichst großen Teils der Palästinenser:innen in den Grenzen von 1948 abzielt. Solche Szenarien werden u. a. von der ultrarechten zionistischen Partei „Jisra’el Beitenu“ (Unser Zuhause Israel) vertreten. Der reaktionäre Gehalt der „Zwei-Staaten“-Idee wird daran deutlich, dass ihr Ziel letztlich die Schaffung eines ethnisch homogenen Staates Israel ist, also der Abschluss der historischen Mission des Siedlerkolonialismus – wenn auch mit ggfs. geringfügig reduzierter territorialer Ausdehnung. Solange die Existenz eines Siedler:innenstaates auf der Basis ethnischer Exklusivität akzeptiert wird, kann der historische Zweck der Zweistaatenlösung nur in dessen Vollendung liegen – unabhängig davon, welche Hoffnungen einige Palästinenser:innen mit der Aussicht auf einen eigenen Staat neben Israel verbinden mögen. Ein unter den heutigen Bedingungen irgendwie vorstellbarer palästinensischer Staat – der seiner staatlichen Souveränität und wichtigsten sozialen Errungenschaft, des Rückkehrrechts, beraubt wäre – würde die palästinensische Frage nicht lösen, sondern die Unterdrückung mit umfassender politischer Legitimität ausstatten. Ein solcher „Deal“ würde auch auf die „Normalisierung“ Israels durch die Abraham Accords von 2020 aufbauen. Im schlimmsten Fall könnte dabei das ägyptische Regime gezwungen werden, einer Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza und deren Ansiedlung auf dem Sinai zuzustimmen.

Revolutionär:innen sollten daher unmissverständlich für eine „Einstaatenlösung“ eintreten. Natürlich zieht diese Position auch die Frage des Klassencharakters des zu erkämpfenden Staates nach sich. Die Schaffung eines gerechten Ausgleichs beider Nationalitäten erfordert den massiven Transfer von Ressourcen zur Entschädigung und Wiederansiedlung der Vertriebenen. Die Beseitigung des Apartheidcharakters, der bereits im Städtebau und in Straßenverläufen einbetoniert worden ist, ist nur auf Grundlage gemeinschaftlichen Eigentums an Land, Wohnraum, Industrie und Bodenschätzen möglich. Sie fällt also der Arbeiter:innenklasse zu, die diese Ressourcen enteignen und einer gesamtgesellschaftlichen Planung des binationalen Staates zugänglich machen würde. Die Verknüpfung der demokratischen mit der sozialistischen Revolution stellt daher den programmatischen Kern der revolutionären Strategie zur Befreiung Palästinas dar.




Resolution zum Krieg gegen Gaza

Internationales Exekutivkomitee der Liga für die Fünfte International, Infomail 1235, 26. Oktober 2023

Israel führt Krieg gegen Gaza. Als Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober droht es mit blutiger Rache. Seit über 14 Tagen fliegt die Armee massive Angriffe gegen Gaza, aber auch auf Stellungen im Libanon und Syrien. In der Westbank wurden Palästinenser:innen, die sich mit Gaza solidarisieren, umgebracht – bisher über 100. Bei den Einsätzen der israelischen Luftwaffe und mit Raketen sind bisher über 6.000 Menschen in Gaza getötet worden. Rund eine Million Palästinenser:innen – die Hälfte der Bewohner:innen der Gazastreifens – befindet sich auf der Flucht nach Süden. Israel hat tagelang die Versorgung mit Wasser, Medikamenten und Energie unterbrochen. Die begrenzte Zahl LKWs, die den Grenzübergang Rafah passieren dürfen, ist lt. UNO total unangemessen niedrig. Die Bevölkerung Gazas wird faktisch ausgehungert und Krankenhäusern die Stromlieferung verweigert, die für Operationen an einer zunehmenden Zahl von Opfern benötigt wird. Eine humanitäre Katastrophe findet vor den Augen der Weltöffentlichkeit statt.

Dabei stehen wir erst am Beginn dessen, was droht. Eine Bodeninvasion der IDF steht bevor. Die israelische Regierung und der Generalstab verkündeten die größte Mobilisierung der Armee in der Geschichte des Landes. 360.000 Reservist:innen wurden einberufen. Ihre Aufgabe: Hamas vernichten, Gaza von „Terrorist:innen“ und allen, die Widerstand leisten, „säubern“. Ganzen Städten und der Infrastruktur droht Zerstörung. Hunderte Panzer und Artilleriefahrzeuge, Zehntausende Soldat:innen machen sich zum Sturm auf Gaza bereit, dessen Norden schon jetzt weitgehend dem Erdboden gleichgemacht wurde.

Angesichts dieser nationalistischen Mobilisierung treten die Differenzen zwischen Regierung und Opposition im zionistischen Lager zurück. Der Regierung der nationalen Einheit und einem fünfköpfigen Kriegskabinett aus Vertreter:innen von Regierung und Opposition wurden weitgehend unbeschränkte Vollmachten eingeräumt.

Israels Kriegsziele und deren Widersprüche

Die israelische Strategie zielt auf die „Säuberung“ und Vernichtung des gesamten palästinensischen Widerstandes in Gaza. Die Hamas, aber auch sämtliche andere Organisationen, die sich zur Wehr gesetzt haben und setzen (Islamischer Dschihad, PFLP, DFLP), sollen ausradiert werden. Um dafür den Boden vorzubereiten, werden Städte und Infrastruktur systematisch zerstört und große Teile der Bevölkerung vertrieben. Diese sollen den Norden Gazas verlassen oder es drohen „verheerende humanitäre Konsequenzen“ – mit anderen Worten der Mord an Tausenden und Abertausenden. Danach sollen die Bodentruppen folgen und der Süden des Landes „gesäubert“ werden.

Ältere Menschen und Schwerkranke werden nicht in der Lage sein zu gehen.  Die Krankenhausbehörden sagen, dass es unmöglich sein wird, ihre Patient:innen und die Opfer der anhaltenden Bombardierung über die verkraterten und durch Ruinen blockierten Straßen zu transportieren, die immer noch unter Luftangriffen stehen. Die Verdoppelung der Bevölkerungsdichte in einem Gebiet, das ohnehin schon am stärksten überbevölkert ist und in dem es weder Ersatzunterkünfte noch Wasser- oder Treibstoffvorräte gibt, ist zumindest eine kollektive Bestrafung. Wenn sie in vollem Umfang durchgeführt wird, wäre es korrekter, dies als Völkermord zu bezeichnen.

Rücksicht auf die Zivilbevölkerung wird von Seiten der Notstandskabinetts und der Armee nur genommen, um das Gewissen der „demokratischen“ Öffentlichkeit im Westen zu beruhigen und Brüche in der Front der Unterstützer:innen im Inneren zu vermeiden. Die internationalen Unterstützer:innen Israels, allen voran die USA, Britannien und die führenden EU-Mächte, Deutschland und Frankreich, fürchten zudem, dass eine lange, extrem barbarische Kampagne gegen die Bevölkerung Gazas im gesamten Nahen Osten einen Flächenbrand entfachen könnte. Sie fürchten, dass die reaktionären Verbündeten in den arabischen Staaten (Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfölmonarchien) ihre faktische Tolerierung der israelischen Politik der letzten Jahre nicht mehr aufrechterhalten könnten und der westliche imperialistische Einfluss weiter geschwächt werden würde.

Israel und seine Verbündeten, allen voran alle westlichen imperialistischen Regierungen, rechtfertigen den Krieg als „Akt der Selbstverteidigung“ gegen den „Terrorismus“ der Hamas. Sie erklären ihre „bedingungslose Solidarität“ mit Israel. Die USA entsenden zwei Flugzeugträger mit Einsatzkräften ins östliche Mittelmeer. Frankreich, Deutschland, die EU und Britannien versprechen Extrawaffenlieferungen und materielle Hilfe. Zugleich mahnen Biden, Scholz und die anderen Staats- und Regierungschef:innen der westlichen Welt die Einhaltung des Völker- und Kriegsrechts ein, weil sie fürchten, dass eine zu rücksichtslose Misshandlung auch die ohnedies angeschlagene westliche imperialistische Dominanz im Nahen Osten weiter schwächen könnte.

Die Vorstellung, dass es sich bei dem Angriff Israels um einen Krieg zur Selbstverteidigung handle, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Es geht nicht nur um die Vernichtung der Hamas und aller bewaffneten, Widerstand leistenden palästinensischen Gruppierungen. Es geht darum, den Widerstandswillen und die Widerstandsfähigkeit der ganzen palästinensischen Nation zu brechen. Nur zu gut wissen die Vertreter:innen des zionistischen Regimes und dessen imperialistischen Verbündete, dass Jahrzehnte der Repression, von Bombardements, Militäroperationen diesen nicht zu brechen vermochten, auch wenn sie die Lage der Palästinenser:innen immer mehr verschlechterten, diese immer mehr marginalisierten und die Vertreibung der Bevölkerung seit Gründung des Staates Israel fortsetzen.

Daher drängt extrem rechte Flügel der israelischen Führung auf die Vertreibung der Bevölkerung Gazas, auf die „vollständige Säuberung“, auf Massenexodus – und ist dafür bereit, den Tod Tausender und Abertausender, ja ein Pogrom an der gesamten Bevölkerung in Kauf zu nehmen. Die Notstandsregierung und die Armeeführung haben sich zumindest teilweise diese Rhetorik zu eigen gemacht. Sie entmenschlichen die Palästinenser:innen rassistisch als „menschliche Tiere“, die wie wilde Tiere behandelt werden müssen. Allen, die nicht flüchten, drohen sie mit „verheerenden humanitären Konsequenzen“. Gaza soll lt. Ihren Aussagen nach der Militäroperation nicht mehr wieder entstehen, wie es einmal war.

Unklar ist jedoch, wie das genau geschehen soll. Eine Bodeninvasion und ein unter Umständen langwieriger Guerillakampf gegen die von Hamas geführten Kämpfer:innen werden die kommenden Tage, Wochen, wenn nicht Monate andauern. Die israelische Regierung hat erklärt, dass sie beabsichtigt, den Gazastreifen vollständig vom übrigen Palästina abzuschneiden. Wie dieser Kampf endet, welche Seite politisch siegt und welche „Ordnung“ in Gaza errichtet, hängt natürlich auch von der Entschlossenheit des Widerstandes wie auch von der Rücksichtslosigkeit des zionistischen Angriffs ab. Geht es nach der israelischen Rechten und großen Teilen des Kabinetts, die sich auf sie stützen, so kann es dort bis zur Massenvernichtung an den Palästinenser:innen gehen. Im Moment gehen die Äußerungen der Notstandsregierung in diese Richtung, aber das darf nicht drüber hinwegtäuschen, dass es keine Einheitlichkeit im zionistischen Lager bezüglich der längerfristigen Kriegsziele und der zukünftigen „Neuordnung“ Gazas gibt.

Daher werden der israelischen Rechten auch Grenzen im Inneren gesetzt. Ein Flügel im zionistischen Lager will einen gewissen Restbestand der „demokratischen“ Herrschaftsform in Israel sichern (und zwar nicht nur gegenüber Netanjahu), sondern auch palästinensische Kräfte wie die Fatah und die PNA (Palästinensische Nationalbehörde) in Zukunft als ihren verlängerten Arm integrieren.

Vor allem aber drängen die internationalen Verbündeten Israels darauf, dass es zu keiner dauerhaften Besetzung Gazas kommt, dessen zukünftige Verwaltung formell von palästinensischen Kräften übernommen werden soll. Diese Bedingungen sind zugleich auch wichtig, um Saudi-Arabien, Ägypten und andere arabische Staaten als Verbündete zu halten und auch für eine etwaige Wiederaufnahme von Gesprächen am Ende der Gazaoperation mit zu gewinnen. Das setzt aber zumindest voraus, eine Scheinlösung der „Palästinafrage“ zu verkaufen, obwohl Israels unerbittlicher Ausbau der Siedlungen dies praktisch unmöglich gemacht hat.

Auswirkungen und Ursachen des Angriffs

Der Angriff der von Hamas geführten palästinensischen Kräfte aus Gaza hat die Palästinafrage wieder ins Zentrum der Politik im Nahen Osten und auch der internationalen Politik gerückt.

Die US-Strategie seit Trump, die der israelischen Regierung unter Netanjahu wie auch von Armeeführung und Geheimdienst setzten auf eine „Friedenslösung“ im Nahen Osten ohne Einbeziehung der Palästinenser:innen. Diesbezüglich wurde die Politik Trumps unter Biden fortgesetzt und die EU und deren führende Mächte folgten dabei den USA. Die Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, die Verhandlungen mit Saudi-Arabien und anderen Staaten zur längerfristigen „Normalisierung“ mit Israel schienen diese Strategie zu bestätigen.

Der israelische Staat ging im Grunde davon aus, dass er die Palästinenser:innen weiter ohne wirksamen Widerstand und großen internationalen Aufschrei marginalisieren könnte, Siedlungsbau und Landraub in der Westbank weiter voranschreiten würden und Gaza abgeriegelt und seine Bevölkerung weiter ausgehungert würde. Die Ermordung von über 300 Palästinenser:innen in der Westbank und der weitere Landraub bis zum Oktober 2023 schienen das auch zu bestätigen. Die Proteste des Iran und seiner Verbündeten waren einkalkuliert vorsichtig. Weder das Regime in Teheran noch die Hisbollah hatten ein Interesse an einer wirklichen militärischen Konfrontation.

Die meisten Staaten des Nahen Ostens haben in den letzten Jahren den Weg Ägyptens und Jordaniens beschritten und faktisch ihren Frieden mit Israel gemacht. Das Schicksal der Palästinenser:innen stellte kein Hindernis für eine Intensivierung des wirtschaftlichen Austauschs dar. Auch in geostrategischer Sicht haben z. B. Israel und die Türkei als wichtige Waffenlieferant:innen und Unterstützer:innen Aserbaidschans bei der Vertreibung der Armenier:innen aus Bergkarabach (Arzach) kooperiert. Kein Wunder also, dass die ersten Erklärungen der Arabischen Liga zum Angriff der Hamas auf Israel und zum angedrohten Vergeltungsschlag sehr vorsichtig ausfielen. Bis heute rufen Ägypten, Saudi-Arabien oder Jordanien zur „Mäßigung auf allen Seiten“ oder zu einer Waffenruhe auf. Allerdings hat Saudi-Arabien die Verhandlungen mit Israel ausgesetzt.

Auch wenn zur Zeit die arabischen Staaten kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit Israel hegen, so hat der Angriff der Hamas der zuletzt verfolgten Nahoststrategie des US-Imperialismus und seiner Verbündeten einen schweren Schlag versetzt. Die Vorstellung, den Nahen Osten unter Ausschluss der Palästinenser:innen zu befrieden, entpuppte sich als reaktionäre Illusion. Sie ist gescheitert.

Der Angriff der Hamas war sicherlich durch mehrere Faktoren motiviert und auch Resultat einer Entscheidung des militärischen Flügel gegen den politischen, der in Katar sitzt. Dieser fürchtete die absehbare vernichtende Reaktion Israels. Doch die immer größere Marginalisierung der Palästinenser:innen in der Westbank und in Gaza in den letzten Jahren stellte die Hamas wie den gesamten Widerstand auch vor die prekäre Alternative, entweder immer mehr mit dem Rücken an die Wand gedrückt zu werden oder einen Ausbruch aus dem Freiluftgefängnis Gaza zu wagen, wohl wissend, dass der Zionismus in jedem Fall mit massiven Angriffen reagieren würde. Der Ausbruch war also wesentlich eine Reaktion auf die immer größere Isolierung und den drohenden Wegfall vorgeblicher Verbündeter der Palästinenser:innen wie Saudi-Arabien.

Insgesamt hat der Krieg gegen Gaza die Lage im Nahen Osten grundlegend verändert und ihn zu einem Zentrum der Instabilität gemacht. Während auf der einen Seite eine konterrevolutionäre, barbarische Vertreibung aus Gaza und eine Vernichtung des palästinensischen Widerstandes drohen, können auf der anderen die Unterdrückten die aktuelle Lage auch zu ihren Gunsten wenden, wenn sie die inneren Widersprüche im Lager des Zionismus und der imperialistischen Reaktion nutzen. Das erfordert wiederum, dass die Arbeiter:innenklasse als selbstständige, führende Kraft in der Solidarität mit Palästina, und damit verbunden auch in Palästina, in Erscheinung tritt.

Nur, wenn sie angesichts der Angriffe des Zionismus bedingungslos auf Seiten der Unterdrückten steht, den Widerstand trotz dessen reaktionärer politischer  Führung unterstützt und gegen die Regierungen im Westen mobilmacht, mit der Unterstützung Israels bricht und sich mit ihren Klassenbrüdern und Schwestern im globalen Süden zusammenschließt, kann sie auch als verlässliche Verbündete des palästinensischen Volkes in Erscheinung treten.

Nur dann werden die palästinensischen Massen erkennen können, dass die reaktionären arabischen und islamistischen Regime nicht ihre Verbündeten sind, wohl aber deren Arbeiter:innen und Jugend, und es eine wirkliche Alternative zur Politik und Strategie von Hamas und Fatah gibt – eine Politik, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem für die sozialistische Revolution verbindet. Nur so wird es möglich sein, dass die palästinensische Arbeiter:innenklasse auch zur führenden Kraft des Befreiungskampfes werden kann. Und schließlich wird es nur unter der Bedingung eines massiven Widerstandes und der weltweiten Unterstützung Palästinas möglich sein, die israelische Arbeiter:innenklasse vorm Zionismus zu retten, so dass nicht nur einer politisch fortgeschrittenen antizionistischen Minderheit, sondern auch der Masse der Lohnabhängigen klar wird, dass sie der Zionismus nicht nur zu Kompliz:innen der Unterdrückung macht, sondern dass ihre Freiheit und Sicherheit unter einem Regime, das auf der Unterdrückung einer anderen Nation aufbaut, letztlich eine Schimäre ist.

Die internationale Reaktion

Die internationalen Reaktionen auf den Ausbruch der Hamas und auf den Krieg gegen Gaza könnten nicht unterschiedlicher ausgefallen sein. Während die USA, Britannien, Japan und die EU-Mächte Israel unterstützen, rufen die imperialistischen Rivalen Russland und China ebenso wie die meisten Staaten des globalen Südens zum Waffenstillstand und zu humanitärer Hilfe auf. Natürlich verurteilen auch sie mehr oder weniger offen Hamas und den palästinensischen Widerstand. Sie wollen zum Vorkriegszustand zurückkehren.

Natürlich hat die Politik Moskaus oder Peking nichts mit Solidarität mit Palästina zu tun. Sie verfolgen nur eigene, dem Westen entgegengesetzte imperialistische Interessen und hoffen so, ihre geostrategischen Positionen zu stärken. Die verschiedenen Regionalmächte in der Region lehnen den Angriff Israels offener oder verdeckter ab, rufen zu „Mäßigung“ auf, weil sie damit sowohl eigene Interessen verfolgen, aber auch weil sie eine Destabilisierung in ihren eigenen Ländern und damit ihrer eigenen Herrschaft fürchten. Reaktionäre islamistische Regime wie der Iran oder reaktionäre islamistische Bewegungen inszenieren sich außerdem als einzig konsequente Verbündete der Palästinenser:innen. Dass dabei offen Antisemitismus propagieren, muss ebenso entlarvt werden wie ihr Versuch, von ihrer eigenen Diktatur und der Unterstützung konterrevolutionärer Regime z. B. in Syrien demagogisch abzulenken.

Doch diese vorgeblichen reaktionären „Freund:innen“ oder „Unterstützer:innen“ Palästinas dürfen den Blick nicht darauf verstellen, dass die Sympathie der Massen in den meisten Ländern der Welt dem palästinensischen Volk und seinem Befreiungskampf gilt. Die Masse der Arbeiter:innen, Bauern/Bäuerinnen und der Jugend in den halbkolonialen Ländern durchschaut sehr genau, dass die Darstellung des Krieges als eines zwischen israelischer „Demokratie“ gegen „islamistischen Terror“ seine Ursachen und seinen Charakter verschleiert, dass es sich um einen Krieg eines Unterdrückerstaates gegen die Unterdrückten handelt. Genau das wissen auch die palästinensischen und arabischen Migrant:innen in den westlichen Ländern sowie die große Mehrzahl der rassistisch unterdrückten Bevölkerung.

Daher gehen seit Wochen Massen auf die Straße, folgen dem Aufruf zu Großdemonstrationen und globalen Aktionstagen. Die Straßen im globalen Süden füllen sich – und daraus kann und soll eine internationale Massenbewegung der Solidarität mit Palästina werden. Selbst in den westlichen Staaten ist die öffentliche Meinung nicht so eindeutig für Israel ausgerichtet, wie die Regierungen uns gern glauben machen möchten.

In London beteiligten sich 150.000 am 14. Oktober an einer Demonstration in Solidarität mit Palästina und 300.000 am 21. Während in Britannien das Demonstrationsrecht noch anerkannt ist, greifen andere europäische Länder wie Deutschland und, in geringerem Maße Frankreich, zu extremen rassistischen und antidemokratischen Maßnahmen, verbieten Kundgebungen in Solidarität mit Gaza regelmäßig, nehmen hunderte Menschen fest, die sich den Verboten nicht beugen wollen und kriminalisieren alle Organisationen des palästinensischen Widerstandes.

Zur Legitimierung diese Maßnahmen greifen sie auf die Lüge zurück, dass Antizionismus, ja fast jede Israelkritik antisemitisch sei. Selbst der Verweis auf die Ursachen des gegenwärtigen Konflikts gilt schon als „Relativierung“ des „islamistischen Terrors“. Diese Hetze verknüpft sich mit einer dramatischen Zunahme des antimuslimischen Rassismus und soll die Bevölkerung der „demokratischen“ Staaten auf die weitere Aushebelung demokratischer Rechte vorbereiten und darauf einschwören, mit Israel auch dann solidarisch zu bleiben, wenn immer mehr Bilder über die Massaker und Kriegsverbrechen seitens der israelischen Armee öffentlich werden.

Der extreme Kontrast zwischen der Lage in den halbkolonialen und westlichen imperialistischen Ländern zeigt auch, was von der Behauptung zu halten ist, dass die ganze Welt hinter Israel stände. Unter der Welt werden vor allem die Länder Nordamerikas und Europas verstanden, die gerade einmal 12 % der Weltbevölkerung beheimaten – und auch dort ist die öffentliche Meinung vor allem die, die von den auf die imperialistische Staatsräson getrimmten Medien veröffentlicht wird, die sich in der Hand der westlichen Staaten oder der Monopolkonzerne im Medienbereich befinden.

Diese spiegeln vor allem die Interessen der imperialistischen Regierungen und Bourgeoisien wider. Sie können sich aber auch auf die Führungen der bürokratisierten Gewerkschaften und der meisten reformistischen Parteien stützen – sei es die SPD in Deutschland, Labour in Britannien oder die schwindsüchtige PS in Frankreich. Auch die Mehrzahl der europäischen Linksparteien solidarisiert sich uneingeschränkt oder verdeckt mit Israel oder nimmt eine „neutrale“ Haltung im Kampf zwischen Unterdrückten und Unterdrücker:innen ein. Dies verdeutlich einmal mehr den sozialchauvinistischen und proimperialistischen Charakter dieser Parteien und bürokratisierten Gewerkschaftsapparate.

Während sie sich über den „Terror“ der Hamas empören und die Tötung unschuldiger Zivilist:innen anprangern, versichern sie den israelischen Angriffen auf Gaza ihre Unterstützung, denen Tausende unschuldige palästinensische Zivilist:innen zum Opfer gefallen sind und weiter fallen werden. Statt die Seite der Arbeiter:innen und Unterdrückten in Gaza zu ergreifen, statt die palästinensischen und arabischen Migrant:innen gegen Rassismus und Repression zu verteidigen, unterstützen diese Berufsverräter:innen die Unterdrückung.

Der Aufbau einer Solidaritätsbewegung mit Palästina ist unmöglich ohne einen entschlossenen Kampf gegen diese chauvinistischen und proimperialistischen Irreführer:innen der Arbeiter:innenklasse. Die notwendige und berechtige Kritik an den Führungen des palästinensischen Befreiungskampfes, an Hamas, Dschihad, aber auch den militanten Kräften der Fatah, der PFLP und der DFLP hat nur dann einen revolutionären und fortschrittlichen Wert, wenn sie auf der Grundlage der Unterstützung des Befreiungskampfes formuliert wird. Ansonsten bleibt sie im gegenwärtigen Krieg bestenfalls nur eine beredte Form der Passivität oder wie bei den reformistischen Führungen eine der Unterstützung der zionistischen und imperialistischen Aggression.

Aufgaben der Arbeiter:innenbewegung

Die erste und vordringliche Aufgabe der Linken und Arbeiter:innenbewegung auf der ganzen Welt besteht darin, den palästinensischen Befreiungskampf zu unterstützen. Wir treten für die Niederlage Israels ein und solidarisieren uns mit dem Widerstand in Gaza und ganz Palästina. Zugleich verschweigen wir unsere grundlegenden Differenzen mit der reaktionären Hamas, mit Dschihad, aber auch mit der palästinensischen Linken nicht. Wir unterstützen den Befreiungskampf trotz seiner Führung und ihrer falschen Strategie, Politik und Programmatik.

Die Stellung des zionistischen Staates im Nahen Osten, seine zentrale Rolle als Statthalter westlicher imperialistischer Interessen, die enorme Hochrüstung der israelischen Armee und das Ausmaß westlicher Unterstützung bedeuten auch, dass der palästinensische Widerstand internationale Unterstützung braucht. Daher bedarf es einer internationalen Strategie, um den Kampf zum Sieg zu führen.

1. Widerstand und Befreiungskampf in Palästina

Im gegenwärtigen Krieg, im Angriff auf Gaza unterstützen wir den bewaffneten palästinensischen Widerstand. Je länger sich dieser der IDF entgegenstellen kann, desto höher wird der politische und materielle Preis für den Angriff und die Invasion.

Der Ausbruch der Hamas-geführten Kräfte aus Gaza verkörperte selbst einen legitimen Akt im nationalen Befreiungskampf. Unterdrückte haben das Recht, aus einem Territorium auszubrechen, in dem sie vom unterdrückenden Staat über Jahre inhaftiert werden, ihre Versorgung von diesem blockiert und rationiert wird, ein großer Teil der Bevölkerung zur Arbeitslosigkeit verurteilt ist, wo immer wieder Infrastruktur, Wohnungen, Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zerstört werden.

Es ist im Kampf gegen nationale Unterdrückung natürlich legitim, die militärischen Institutionen und Einheiten des/r Unterdrücker:in anzugreifen, auf Raketenbeschuss mit Raketen zu antworten. In allen Kriegen sind zivile Opfer unvermeidlich, obwohl mutwillige Grausamkeit gegenüber Zivilist:innen nicht nur den Opfern schadet, sondern als Rechtfertigung für die weitaus größere Grausamkeit der Unterdrücker:innen erscheint.

In Wirklichkeit ist auch nicht die Hamas Verursacherin solch Blutvergießens und Schreckens. Es ist vielmehr der zionistische Staat Israel, der auf der rassistischen, kolonialistischen Vertreibung der Palästinenser:innen basiert. Auf dieser Basis ist jede demokratische und fortschrittliche Lösung unmöglich. Solange dieser herrscht, Palästina kontrolliert, Gaza und die Westbank als innere Kolonien „verwaltet“, die Bevölkerung permanent vertreibt, enteignet, ghettoisiert, kann es keinen Frieden und keine Gerechtigkeit geben.

Letztlich wird Gaza auch nicht von der Hamas oder irgendeiner anderen dort aktiven politischen Kraft beherrscht, sondern vom israelischen Staat – ganz so wie Gefängnisse nicht von den Gefangenen kontrolliert werden, selbst wenn sie sich innerhalb der Gefängnismauern „frei“ bewegen dürfen.

Als revolutionäre Marxist:innen stehen wir in entschiedener Feindschaft zur Strategie und Politik der Hamas (wie aller islamistischer Kräfte) und ihrem politischen Regime. Ebenso lehnen wir die willkürliche Tötung von oder Massaker an israelischen Zivilist:innen ab. Diese erleichtern es Zionismus und Imperialismus offenkundig, ihren Großangriff auf Gaza auch in den Augen vieler Arbeiter:innen als „Selbstverteidigung“ hinzustellen.

Es greift darüber hinaus viel zu kurz, willkürliche Tötungen von Zivilist:innen nur der Hamas oder dem Islamismus anzulasten. Sie sind auch Ausdruck der viel umfassenderen, Jahrzehnte andauernden Unterdrückung, der täglichen Erfahrung des Elends, Hungers, der Entmenschlichung in Gaza durch die israelische Abriegelung. Aus der nationalen Unterdrückung wächst der Hass auf den Staat der Unterdrücker:innen und alle, die diesen mittragen oder offen unterstützen – und dazu gehört auch die große Mehrheit der israelischen Bevölkerung und der israelischen Arbeiter:innenklasse.

Der politische Kampf gegen die religiöse Rechte im Lager des palästinensischen Widerstands und die Kritik an politisch falschen oder kontraproduktiven Aktionsformen dürfen keineswegs zu einer Abwendung vom Kampf gegen die Unterdrückung führen. Heute, wo die westliche Propaganda die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, müssen wir klar zwischen der Gewalt der Unterdrückten und der Unterdrücker:innen unterscheiden. Nur wenn die revolutionäre Linke und die Arbeiter:innenklasse den Kampf um nationale Befreiung gegen den Zionismus und „demokratischen“ Imperialismus unterstützen, werden sie in der Lage sein, eine politische Alternative zu islamistischen Kräften aufzubauen. Nur so werden sie eine revolutionäre Partei bilden können, die den Kampf um nationale Befreiung mit dem um eine sozialistische Revolution verbindet.

Dies beinhaltet notwendig auch die Beteiligung am Befreiungskampf und militärisch koordinierte gemeinsame Aktionen. Es inkludiert eine Politik der antiimperialistischen Einheitsfront mit allen Kräften des Widerstandes. In der Westbank und Israel unterstützen wir Solidaritätsaktionen mit der Bevölkerung Gazas. Wir unterstützen Massenprotest und Streiks gegen die Besatzung. Wir verurteilen und bekämpfen die weiter erfolgenden Angriffe und Morde an Palästinenser:innen durch die israelischen Sicherheitskräfte und durch bewaffnete Siedler:innen.

Wir verurteilen insbesondere auch den Einsatz von Kräften der PNA gegen Protestierende. Diese reaktionären Angriffe auf die eigene Bevölkerung müssen enden, die Kräfte der PNA müssen mit ihrer Rolle als Hilfspolizei des Zionismus brechen. Sie und ihre Waffen müssen Aktionsausschüssen des palästinensischen Widerstandes unterstellt werden. Eine neue Massenintifada ist angesagt.

Doch in Palästina ist nicht nur ein gemeinsamer Kampf nötig. Die Führungen des Befreiungskampfes verfügen selbst über keine Strategie, die eine revolutionäre Lösung bringen kann. Hamas und Islamischer Dschihad sind kleinbürgerlich-reaktionäre, islamistische Kräfte, wobei die Hamas nicht nur aufgrund ihrer militärischen Fähigkeiten, sondern auch aufgrund ihrer Wohlfahrtsprogramme eine Massenbasis besitzt. Beide Organisationen verfolgen das reaktionäre Ziel einer Theokratie in Palästina, beide verbinden Antizionismus mit Antisemitismus. Beide betrachten nicht die Arbeiter:innenklasse als führende Klasse im Befreiungskampf, sondern ordnen diese und ihre Klasseninteressen jenen des Kleinbürger:innentums und der Bourgeoisie unter dem Deckmantel „islamischer Einheit“ unter. Es ist daher auch kein Zufall, dass ihre wirklichen internationalen Verbündeten und Unterstützer:innen nicht die arabischen Massen, sondern reaktionäre islamistische Regime wie Iran, Katar und Saudi-Arabien oder Bewegungen wie die Hisbollah sind.

Die palästinensische Linke (PFLP und DFLP) ordnet sich faktisch der Führung der Hamas politisch unter – ganz so, wie sie sich zu Zeiten der PLO der Fatah untergeordnet hatte. Die „Ablehnungsfront“ gegen das Osloer Abkommen, die die palästinensische Linke mit Hamas, Dschihad und anderen Gruppen gebildet hat, ist kein bloß zeitweiliges militärisches Abkommen, keine Form der antiimperialistischen Einheitsfront, sondern im Grunde ein strategisches Bündnis, das einer Unterordnung der palästinensischen Arbeiter:innenklasse gleichkommt.

Den bürgerlichen Programmen und der Etappentheorie, die die palästinensische Linke vertritt, stellen wir ein Programm der permanenten Revolution entgegen. Wir treten für einen gemeinsamen, binationalen, sozialistischen Staat in Palästina ein, der Palästinenser:innen wie Juden und Jüdinnen gleiche Rechte gewährt, der allen vertriebenen Palästinenser:innen das Rückkehrrecht garantiert und auf der Basis des Gemeineigentums an Land und großen Produktionsmitteln in der Lage ist, die Ansprüche zweier Nationen gerecht und demokratisch zur regeln. Ein solcher Kampf wird nicht durch Reformen erreicht werden können, sondern nur durch den revolutionären Sturz des zionistischen Staates.

In Israel und Palästina treten wir auch für die möglichst enge Einheit im Kampf mit den antizionistischen Kräften der israelischen Linken und Arbeiter:innenbewegung ein. Nur wenn die Arbeiter:innenklasse mit dem Zionismus bricht, kann sie sich auch selbst befreien.

Uns ist jedoch bewusst, dass die israelischen Lohnabhängigen über Jahrzehnte nicht nur an der Unterdrückung, Vertreibung und Überausbeutung der palästinensischen Massen teilhatten, sondern dass der Labour Zionismus wie auch die „liberalen“ Zionist:innen selbst aktiv an der Vertreibung und Unterdrückung beteiligt waren und sind.

So wichtig und richtig es ist, Spaltungen und Brüche im zionistischen Lager auszunutzen und zu befördern, so dürfen wir uns keinen Illusionen über die Tiefe der Bindung der israelischen Arbeiter:innen an den Zionismus hingeben. Wir müssen uns vielmehr darüber klar sein, dass deren Masse wahrscheinlich erst unter dem Eindruck einer tiefen Krise des zionistischen kolonialistischen Projekts für einen Bruch mit dem Zionismus gewonnen werden kann. Daher ist die Stärke des palästinensischen Befreiungskampfes selbst ein zentraler Motor, um überhaupt Risse im Zionismus zu vertiefen. Die antizionistische Linke in Israel hat daher jedes Interesse am Erfolg des palästinensischen Befreiungskampfes und muss diesen bedingungslos unterstützen.

2. Die Massen im Nahen Osten

In den arabischen Ländern, in der Türkei, im Iran wie in der gesamten Region muss die Arbeiter:innenklasse mit ihren Kräften die Mobilisierungen gegen Israel in Solidarität mit Palästina unterstützen. Sie muss sich dabei zugleich von reaktionären oder gänzlich verlogenen staatlichen Institutionen abgrenzen, die die Palästinafrage für reaktionäre Zwecke oder eigene geostrategische Interessen missbrauchen (z. B. Erdogan in der Türkei).

Daher müssen die Gewerkschaften und die Linke nicht nur unter eigenem Banner und mit eigenen Aktionen mobilisieren. Sie müssen auch über Demonstrationen und Protestkundgebungen hinausgehen. So sollten Transportarbeiter:innen alle Exporte nach Israel blockieren, indem sie z. B. das Beladen von Schiffen oder Flugzeugen verweigern oder deren Abflug oder Auslaufen verhindern.

Sie müssen die Offenlegung aller wirtschaftlichen und militärischen Abkommen sowie aller Geheimverträge mit Israel fordern, um so die wirkliche Kooperation ihrer angeblich propalästinensischen Regierungen offenzulegen und den Stopp diese Kooperation erzwingen. Sie müssen für die Schließung der Militärbasen der USA und ihrer Verbündeten in der Türkei und im gesamten arabischen Raum eintreten.

Dieser Kampf gegen die verschiedenen reaktionären Regierungen muss mit dem Kampf gegen die soziale und ökonomische Krise wie gegen die mehr oder weniger unverhüllten Diktaturen verbinden werden, um so einen zweiten Arabischen Frühling einzuläuten – einen Arabischen Frühling, dessen linke und proletarische Kräfte die Lehren aus dem Scheitern des ersten Anlaufs ziehen, indem sie von Beginn an die Notwendigkeit anerkennen, eine solche Revolution permanent zu machen und nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Dies erfordert, in diesen Bewegungen revolutionäre Arbeiter:innenparteien aufzubauen, die für ein Programm der permanenten Revolution kämpfen und für Vereinigte Sozialistische Staaten des Nahen Ostens.

3. Die Arbeiter:innenklasse im Westen

Die Solidarität mit Palästina stellt eine Aufgabe der gesamten globalen Arbeiter:innenklasse dar. Im Krieg gegen Gaza sollten die Lohnabhängigen in allen Ländern auf die Straße gehen, ihre Solidarität zum Ausdruck bringen und jede materielle und militärische Unterstützung Israels durch betriebliche und gewerkschaftliche Aktionen stoppen.

Dabei kommt der Arbeiter:innenklasse in den imperialistischen Zentren Nordamerikas und Europas jedoch insofern eine Schlüsselrolle zu, als diese Staaten auch die wichtigsten wirtschaftlichen und militärischen Unterstützer und Verbündeten Israels sind. Gewerkschaften sollen ihre Mitglieder dazu aufrufen, Waffenlieferungen an Israel zu blockieren. Lohnabhängige in aller Welt sollten den gesamten Handel mit Israel auf dem Land-, See- und Luftweg boykottieren. Versuche, solche Aktionen oder Kundgebungen zur Unterstützung Palästinas als antisemitisch zu bezeichnen, müssen zurückgewiesen und entlarvt werden. Auf den Aufruf der palästinensischen Gewerkschaften darf nicht nur mit warmen Worten, sondern muss mit Taten reagiert werden.

In diesen Staaten kämpfen wir gegen jede weitere militärische, finanzielle und ökonomische Unterstützung des zionistischen Staates und seiner Angriffsmaschinerie. Wir fordern die Offenlegung aller Verträge, wir kämpfen für den Stopp aller Rüstungsexporte und den Rückzug aller entsandten Streitkräfte aus dem Nahen Osten und von der Mittelmeerküste, die als Rückendeckung für Israel gegenüber der Hisbollah oder anderen dienen.

In diesen Ländern kämpfen wir gegen die massive rassistische antipalästinensische und antimuslimische Hetze. Wir kämpfen gegen die Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina, wir fordern die Entkriminalisierung aller palästinensischen Organisationen und Vereine und die Streichung der sog. Terrorlisten der EU und USA.

Die Solidarität mit Palästina erfordert in allen westlichen Ländern auch einen Kampf, um die Arbeiter:innenklasse über die Lügen aufzuklären und die wahren Ursachen des Krieges und die Berechtigung des Befreiungskampfes darzulegen.

Die berechtigte Trauer und das Mitgefühl mit den zivilen jüdischen Opfern des Angriffs aus Gaza werden zur ideologischen Vorbereitung auf die Unterstützung eines Krieges gegen die dortige Bevölkerung missbraucht, der zur Vernichtung jeden Widerstandes und zur Massenvertreibung führen soll. Daher auch die gebetsmühlenartige Beteuerung, dass die „Solidarität mit Israel“ auch dann nicht nachlassen dürfe, wenn „andere Bilder“ aus Gaza kommen. Ganz nebenbei erklärt der Deutsche Bundestag auch gleich seine Unterstützung für Militärschläge im Libanon oder Syrien und verstärkten Druck gegen den Iran.

Dieser Hetze und Kriegstreiberei, der offiziellen „öffentlichen“ Meinung, der sich fast alle politischen Parteien der „Mitte“ – Konservative, Liberale, Grüne, Sozialdemokratie – wie auch jene der extremen Rechten, aber selbst die meisten linksreformistischen Organisation und die Führungen der Gewerkschaften anschließen, müssen wir entschlossen entgegentreten.

Dies ist ein notwendiger Teil des Kampfes für eine breite, auch von der Arbeiter:innenklasse in Europa und Nordamerika unterstützte Solidaritätsbewegung mit Palästina, die ihren Ursprung in Nahost fand. Auch den Herrschenden ist bewusst, dass selbst in den Ländern, wo eine proisraelische Stimmungslage vorherrscht, diese nicht ewig anhalten wird. Denn in den kommenden Wochen werden trotz medialer Entstellung auch immer wieder und immer mehr Horrorbilder über die Auswirkung der israelischen Bombardements mit Tausenden Toten und die Ausweglosigkeit für Hunderttausende Flüchtlinge in Gaza zeugen.

Daher müssen wir schon heute daran arbeiten, die Lügen der Herrschenden zu entlarven, um einen Stimmungsumschwung in der Arbeiter:innenklasse, insbesondere in den Gewerkschaften herbeizuführen. Das wird nur möglich sein, wenn wir der Hetze durch die Medien, aber auch der sozialchauvinistischen Politik der Führungen von Gewerkschaften, SPD und Linkspartei offen entgegentreten und ihre Unterstützung der Angriffe auf Gaza anprangern. Nur so – wenn wir Solidarität mit Palästina und den Kampf gegen den Chauvinismus und Rassismus der Führungen der Arbeiter:innenbewegung miteinander verbinden – kann und wird es möglich sein, eine gemeinsame Solidaritätsbewegung für Palästina aufzubauen, die sich auf die Migrant:innen und auf die fortschrittlichen und internationalistischen Teile der Arbeiter:innenklasse stützt.

  • Sofortige Einstellung der israelischen Bombardierung und der IDF-Tötungen im Westjordanland!

  • Öffnung der Grenzübergänge nach Gaza für Treibstoff, Lebensmittel, Wasser, medizinische Hilfe und die Medien!

  • Ein Ende der westlichen Waffenlieferungen an Israel, Abzug der Kriegsschiffe aus der Region!

  • Arbeiter:innenaktionen zur Beendigung der wirtschaftlichen und militärischen Hilfe für Israel!

  • Sieg des palästinensischen Widerstands!

  • Für ein vereinigtes, säkulares, sozialistisches Palästina mit Gleichheit für alle seine Bürger:innen, israelische wie palästinensische, als Teil einer sozialistischen Föderation des Nahen Ostens!



Zweite Runde des Volksbegehrens erfolgreich abschließen! Und wie dann weiter?

Lucien Jaros, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Seit letzten Sommer hat es DWE nicht nur geschafft, eine große SammlerInnenstruktur mit ca. 1.600 Personen aufzubauen, was zahlreiche „Solidarische Orte“, lokale Kiez- und Hochschulgruppen einschließt, sondern auch die Zustimmung großer BündnispartnerInnen wie des Berliner Mietervereins und ver.dis, der GEW, IG Metall , IG-BAU- und DGB-Jugend sowie der Berliner Jusos gewonnen. Es gibt Gespräche mit verschiedenen linken Bezirksverbänden und Abgeordneten der Grünen und der SPD. Die Linkspartei unterstützt das Volksbegehren ebenso wie zahlreiche andere linke Initiativen, Vereine, Interessenvertretungen und politische Gruppierungen.

Zusätzlich wurde die Kampagne geographisch erweitert:

  • Eine bundesweite Enteignungsvernetzung hat begonnen mit UnterstützerInnen in Aachen, Aschaffenburg, Bremen, Darmstadt, Dortmund, Düsseldorf, Frankfurt, Freiburg, Göttingen, Halle, Hamburg, Hannover, Jena, Kiel, Köln, Leipzig, Mannheim, Marburg, Nürnberg, Potsdam, Stuttgart und Tübingen (bundesweit@dwenteignen.de).
  • Mit der (Unter-)Kampagne „Right to the City“ wurde das Sammeln rechtlich ungültiger, aber politisch unterstützender Unterschriften von Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft zusammen mit verschiedenen MigrantInnenorganisationen (wie bspw. DIDF, der kurdischen und arabischen Community) geplant, um auf den Umstand ungleicher Rechte aufmerksam zu machen. Dafür wurden Materialien in englischer, türkischer, arabischer und russischer Sprache produziert. Wir sind der Meinung: Wer Miete zahlt, dessen Unterschrift soll auch gezählt werden.
  • Damit hat die Kampagne nicht nur eine starke personelle Ausstattung, sondern eine bis dahin nicht bekannte gesellschaftliche Reichweite in stark unterschiedlichen Milieus und in der organisierten ArbeiterInnenklasse entwickelt.

Mobilmachung der Gegenseite

Aber auch die Gegenseite macht mobil: Eine Woche vor Start der zweiten Phase schikanierte die Polizei mehrere SammlerInnen, beschlagnahmte Material, erstattete Anzeigen wegen Plakatierens ohne Erlaubnis und Sachbeschädigung oder wurde in Treptow ertappt, wie sie selbst Plakate (bspw. in der Baumschulenstraße) entfernte. Innensenator Geisel berät weitere Schritte wegen Verstößen gegen das Infektionsschutzgesetz. Derselbe Innensenator, der 441 Tage für die Freigabe des Volksbegehrens gebraucht hat, beeilt sich anscheinend, jetzt die Kampagne zu stören. Dabei ist politische Werbung zum Zwecke von Volksbegehren nach § 2 Abs. 5, Nr. 2 der Covid-Verordnung ausdrücklich erlaubt. Geisel ist dem rechten und der Immobilienlobby nahen Flügel der SPD zuzurechnen und bereits zuvor mit einer feindlichen Haltung gegenüber diversen Volksbegehren aufgefallen. Die Rate konservativer und neoliberaler Internettrolle steigt an und spammt die Kommentarspalten unter den Artikeln bürgerlicher Zeitungen zu. Und nicht zuletzt will der Immobilienlobbyverband GdW (Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen) 1,6 Millionen Euro für eine öffentliche Gegenkampagne bereitstellen, die durch Spenden der Mitgliedsverbände wie beispielsweise des Verbands Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmen (BBU) und Sonderbeiträge der von der Vergesellschaftung betroffenen Immobilienkonzerne finanziert wird, und damit durch die Mieten der einfachen BerlinerInnen.

(Mehr zum Thema im Artikel „Wenn die Immobilienhaie rufen, kommt die Polizei“).

Das alles war zu erwarten und zeigt sehr gut, dass Vergesellschaftung zwar in Form des Volksbegehrens eine demokratische Frage ist, aber im Kern eine soziale mit klaren Klassenlinien und Lagern.

Stand des Volksbegehrens

Aktuell läuft das Volksbegehren zufriedenstellend. In der 10. von insgesamt 18 Wochen wurden ca. 100.000 gültige Unterschriften von 175.000 benötigten abgegeben. Eine leichte Steigerung der Unterschriften ist in den letzten Wochen wahrscheinlich, da Einzelpersonen und Organisationen ihre am Ende gesammelt abgeben. Jedoch ist der Erfolg nicht sicher und es kommt bis zum Ende auf jede Unterschrift an. Daher:

  • Installiert die DWE-App auf Euer Handy, wo Ihr über Sammelaktionen, Infoveranstaltungen und Kundgebungen sowie Orte informiert werdet, wo Ihr abstimmen könnt sowie Materialien und Unterschriften bekommt!
  • Werdet aktiv bei einem der vielen lokalen Kiezteams, der Hochschulvernetzung oder in der DWE-Gruppe Eurer Hochschule und tretet der entsprechenden Telegram-Gruppe bei (eine Liste findet Ihr unter www.dwenteignen.de/mitmachen/)!
  • Nehmt teil am zweiwöchigen Plenum der Kampagne! Schickt dazu eine Mail an mitmachen@dwenteignen.de!
  • Sprecht mit FreundInnen, KollegInnen und Familie über DWE, holt Euch Unterschriftenlisten von einem der „Solidarischen Orte“, reicht diese weiter und sammelt selbst! Das zentrale DWE-Büro befindet sich in der Graefestraße 14 in Kreuzberg. Eine Karte, wo Du unterschreiben oder Deine Unterschriftsbögen abgeben kannst, findest Du in der DWE-App.

Volksbegehren und Internationalismus

Die Quote der „ungültigen“ Unterschriften liegt bei ca. 25 %. Hauptgrund ist die fehlende deutsche Staatsbürgerschaft. Dieser Sachverhalt zeigt einerseits deutlich, dass sich das Interesse an einer sozialen Wohnpolitik und dem Volksbegehren über die nationalen Milieus hinaus und entlang den Klassenlinien ausbreitet und damit die Trennung der ArbeiterInnenklasse entlang Sprach- und Kulturbarrieren überwunden werden kann. Und das ist ein Fortschritt im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten.

Andererseits sind migrantische ArbeiterInnen ohne Staatsbürgerschaft trotz ihrer Bereitschaft, die Berliner Wohnpolitik mitzubestimmen, von der politischen Willensbildung ausgeschlossen. Daher ist die Right-to-the-City-Kampagne und die Zusammenarbeit mit migrantischen Milieus und ihren Kämpfen wichtig und auszubauen, um gemeinsam für gleiche Rechte für alle zu kämpfen. Im Gegensatz zu linksliberalen Intellektuellen sind MigrantInnen im Vergleich zu anderen mehr von Armut betroffen und stellen daher viel solidere und langfristige BündnispartnerInnen dar. Der Erste Mai hatte das Potenzial dieser Zusammenarbeit verstärkt. Dieses wurde aber leider bisher nicht genutzt. Ein Teil von DWE hofft nämlich, dem Druck der feindlichen bürgerlichen Medien und der Wohnungsbaulobby ausweichen zu können, indem eine klare Positionierung zu diesen Fragen umgangen wird. In Wirklichkeit wird durch diese Anpassung versäumt, sich an solchen strategischen Milieus zu orientieren.

Man muss migrantische ArbeiterInnen und Jugendliche hier unterstützen und zwar genau dort, wo sie ihre Kämpfe führen, sei es im Betrieb, aber auch auf der Straße und auch, wenn es der Erste Mai ist. Der Erste Mai ist schließlich der internationale Kampftag der gesamten ArbeiterInnenklasse und nicht nur der Tag der deutschen Gewerkschaftsbürokratie. Als breite Kampagne muss DWE alle linken politischen Spektren und alle sozialen Milieus der lohnabhängigen Mittelschichten und ArbeiterInnenklasse, insbesondere aber die am meisten ausgebeuteten Schichten, ansprechen und als aktive MitstreiterInnen gewinnen.

Volksbegehren und Klassenkampf

Bei allen guten Entwicklungen und optimistischen Aussichten ist das Ziel der Vergesellschaftung jedoch nicht sicher. Erstens weil das Volksbegehren letztlich alle Hoffnungen auf einen legalistischen Prozess setzt, der beim Gesetzgebungsverfahren eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus voraussetzt, also von der Unterstützung von Grünen, SPD und Linkspartei abhängt. Zweitens weil das Bündnis keine anderen Wege zur Vergesellschaftung aufzeigt, die im Falle einer Niederlage die Kampagne auffangen und umorientieren könnten. Die extrem einseitige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Mietendeckel im Interesse der Immobilienkonzerne zeigt trotz des Umstandes, dass ein Berliner Vergesellschaftungsgesetz formal rechtssicherer wäre, eine Bedrohung auf und beweist, dass man kein Vertrauen in bürgerliche Staatsorgane hegen darf.

Daher ist eine freie politische Diskussion über zusätzliche und alternative Wege und eine Strategie, vonnöten die mittels demokratischer Fragen Massen mobilisiert und organisiert. Das Volksbegehren ist erfolgreich, viele Menschen zu aktivieren, orientiert sie aber strategisch nicht über den institutionellen Rahmen hinaus. Sie müsste aber vielmehr ihre UnterstützerInnen nicht auf das Maß eines reinen Druckmittels auf die etablierte Politik reduzieren, sondern als entscheidendes Subjekt formieren, indem versucht wird, die Entscheidungsebene weg von Organen des bürgerlichen Staates (wie den Regierungsparteien, dem Abgeordnetenhaus und den Gerichten) auf eine (Klassen-)Ebene und auf das soziale Milieu der ArbeiterInnen und MieterInnen zu verschieben, wo DWE tatsächlich eine größere Hebelwirkung und Verankerung hat. Dieses Milieu muss sich durch Betriebsversammlungen, Gewerkschaften, lokale MieterInnenräte formieren und ihre Kämpfe auf  den Ebenen der Straße, des Mietboykotts und politischer Streiks führen.

Als Motor und demokratisches Vehikel ist das Volksbegehren sehr gut geeignet und die Unterstützung durch die Gewerkschaften zeigt das. Unabhängig davon, wie der Kampf ausgeht, hat die Strategie ihr Potential verdeutlicht, eine demokratische Frage in eine soziale Massenmobilisierung zu transformieren. Wie der weitere Weg aussehen soll und sich das Volksbegehren in eine Gesamtstrategie in der Wohnungsfrage einbettet, muss offen diskutiert werden. Trotz der Schwerpunktlegung auf das aktuelle Sammeln, muss diese Diskussion um Alternativen und mögliche Negativszenarien geführt werden, denn davon hängt der nachhaltige Erfolg der Vergesellschaftung ab.

Denn die erfolgreiche zweite Phase wäre nicht nur ein Sieg für 300.000 MieterInnen. Es gibt das Potenzial, Bündnisse um die Losung der Enteignung, Überführung in Gemeineigentum und demokratische Kontrolle über die Wohnungsfrage hinaus aufzubauen. Die Veranstaltung und anschließende gemeinsame Erklärung zu „Gemeinwirtschaft statt Marktradikalismus“ im September 2020, die Stadtversammlung und der Enteignungsblock im April 2021 sind gute Ansätze für größere breitere Bündnisse. Dies muss jedoch ausgebaut werden. Damit könnten die Linke und die ArbeiterInnenklasse nicht nur nach Jahrzehnten des politischen Rückzugs endlich wieder in die Offensive kommen, sondern auch in Zeiten von Corona, Klimawandel und der kommenden Wirtschaftskrise dringende Sofortmaßnahmen und ein langfristiges Programm auf eine Grundlage stellen, von der die Masse der Menschen profitiert und damit ihr Überleben sichert.

  • Volle Unterstützung für DWE! Sammelt Unterschriften und unterstützt die Kampagne bei der Abstimmung im September! Mobilisierung gegen jede Verwässerung und Hinhaltetaktik durch Senat, bürgerliche Opposition und Immobilienlobby!
  • Für eine AöR unter Kontrolle der MieterInnen und ArbeiterInnen! Mitbestimmung durch MieterInnen, Beschäftigte und Gewerkschaften statt durch reiche BerlinerInnen als Teil der Stadtgesellschaft und den bürgerlichen Staat!
  • Für unabhängige MieterInnenräte zur Kontrolle der Mietpreise, Gewährung von energetischen Sanierungen, Sicherung diskriminierungsfreier Wohnungsvergabe in der AöR!
  • Für echte MieterInnenräte auf Basis jederzeitigen Abwählbarkeit, Rechenschaftspflicht und imperativem Mandat statt Mietparlamentarismus!
  • Wiedereinsetzung der Wohngemeinnützigkeit und deren Anwendung auf AöR, kommunale Wohnungsunternehmen und Wohnungsgenossenschaften!
  • Für ein öffentlich gefördertes, demokratisch kontrolliertes und unbefristet sozialgebundenes Neubauprogramm und Verwaltung dieser Bestände durch die AöR.
  • Für die Vergesellschaftung aller freien privaten Bodenflächen und Vergabe dieser nur an kommunale, genossenschaftliche oder gemeinwirtschaftliche Bauinitiativen!
  • Verbot der Umlegung der Grundsteuer auf die MieterInnen und Besteuerung allen privaten Eigentums zwecks Finanzierung des sozialen Wohnungsneubaus!
  • Entzug des Eigentums bei Mietwucher und Überführung aller beschlagnahmten Wohnungen in die AöR!
  • Für einen bundesweiten Mietstopp und Kontrolle des Mietpreises durch unabhängige Organe von MieterInnen, Mietvereinen und Gewerkschaften!
  • Entschädigungslose Enteignung der Immobilienkonzerne unter Kontrolle der MieterInnen und Beschäftigten!

Perspektive

Bürgerliche Wohnungs- und Bodenreformpolitik richtet sich lediglich gegen „spekulative Auswüchse“, nicht gegen das auch der Wohnungsfrage zugrunde liegende Besitz- und Kapitalverhältnis. Die Stärke des DWE-Volksbegehren besteht hier darin, mit dieser Politik im Ansatz zu brechen und den markt- und preisbestimmenden Immobilienkonzernen und damit dem Markt Wohnungen zu entziehen und sie in Gemeineigentum umzuwandeln. Zusammen mit der demokratischen Kontrolle durch MieterInnenräte will DWE zentrale Ansätze einer proletarischen Wohnungspolitik verwirklichen, bleibt hier aber auf halbem Weg stecken, da die Nachhaltigkeit der Errungenschaft vergesellschafteten und demokratisierten Wohnraums von der Systemfrage abgekoppelt wird. Ob sich eine soziale Insel im Meer des Kapitalismus langfristig halten kann, ist nämlich fraglich.

Die Entwicklung der Wohnungsgenossenschaften und ihre heutige Politik bezüglich Mietendeckel und Vergesellschaftung ist ein Indikator dafür, was passiert, wenn man die Kampagne programmatisch sozialdemokratisch ausrichtet und demokratisches Gemeineigentum oder andere Formen der demokratischen Gemeinwirtschaft langfristig im Kapitalismus einrichten will. Daher muss für eine konsequente soziale Wohnpolitik und Nachhaltigkeit der DWE-Forderungen der unabhängige Klassencharakter weiterentwickelt  und der Anspruch erhoben werden, kommunales und öffentlich-rechtliches Eigentum und Demokratisierung über die eigenen Bestände und über Wohnpolitik hinaus auszudehnen. Denn auch wenn man für Reformen und Teilverbesserungen kämpfen muss, ist jeder Erfolg durch die Existenz des Marktes und des bürgerlichen Staates bedroht. Daher ist die Lösung der Wohnungsfrage untrennbar  mit der Ablösung der Marktwirtschaft verbunden.




Bundesverfassungsgericht kassiert Berliner Mietendeckel, aber der Kampf geht weiter

Karl-Heinz Hermann/Martin Suchanek, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Das Kapital weiß Siege zu feiern. Mit dem Urteil von Karlsruhe verbesserte sich nicht nur die Laue der ImmobilienbesitzerInnen, sondern auch der Aktienkurs von Deutsche Wohnen und Co. Mit einem satten Plus von 2,72 Prozent war der Konzern nicht nur Gewinner vor dem Verfassungsgericht, sondern auch an der Frankfurter Börse.

Kapital in Feierlaune

Der Präsident des Bundesverbands freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen jubelt ob der nunmehr erreichten „Rechtssicherheit“. Nun können Mieten wieder „marktgerecht“ erhöht, erhoben, nachgefordert werden, wie es sich in der freien Marktwirtschaft eben gehört. Die SiegerInnen feiern nicht nur das Verfassungsgericht, das endlich für Recht und Ordnung gesorgt habe, sondern geben den Besiegten vom Berliner Senat und den 1,5 Millionen MieterInnen, denen massive Nachzahlungen drohen, auch noch eine Gratis-Lehrstunde in Sachen Angebot und Nachfrage. Wer gegen dieses heilige, für kapitalistische Freiheit so grundlegende Gesetz verstoße, bräuchte sich über eine Niederlage vor Gericht nicht zu wundern. Diese wäre schließlich nur eine gerechte Strafe für den Versuch, eine zum Naturgesetz verklärte angebliche Spielregel des Marktes aushebeln zu wollen. So betrachtet, erscheint die gesamte Wohnungsnot nicht als Resultat des Wirkens der Gesetze des Kapitalismus, sondern eines Verstoßes gegen diese.

Großzügig stellen einige SiegerInnen von Karlsruhe sogar in Aussicht, auf die Nachzahlung der gedeckelten Miete ganz oder teilweise verzichten zu wollen. So erklärt die Vonovia, mit 42.000 Wohnungen immerhin zweigrößter privater Immobilienkonzern in Berlin, auf eine Nachzahlung der gedeckelten Miete großzügig verzichten zu wollen, dass den MieterInnen „keine finanziellen Nachteile aufgrund getroffener politischer Entscheidungen“ erwachsen sollen. Die „Kosten“ für die soziale Beruhigungspille und Werbemaßnahme in eigener Sache werden 10 Millionen Euro veranschlagt und sind wohl schon bei zukünftigen Mietpreiserhöhungen einkalkuliert. Weniger spendabel gibt sich der Berliner Marktführer Deutsche Wohnen, dem über 100.000 Wohnungen in der Stadt gehören. Auf eine Nachforderung könne man leider nicht verzichten – schließlich würde das „unseren Verpflichtungen gegenüber dem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und Eigentümern nicht gerecht werden“.

Altehrwürdiges Gericht

Folgt man den Klagenden in Karlsruhe, so hätte also nicht nur ein Kapitalinteresse, sondern auch gleich die Gerechtigkeit an sich gesiegt.

Zurück geht der Entscheid des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) auf eine Klage von 284 Abgeordneten der Bundestagsfraktionen von Union und FDP. Sie hatten vor geraumer Zeit eine Normenkontrollklage gegen das „Gesetz zur Mietbegrenzung im Wohnungswesen“ des Landes Berlin angestrengt. Die Karlsruher RichterInnen durften auch die formale Frage klären, ob Bundesländer überhaupt Mieten regulieren dürfen oder dies allein dem Bund vorbehalten ist – ein Punkt, der auf den Bundesbauminister Horst Seehofer zurückgeht.

Bemerkenswert war schon, dass über das wichtige sozialpolitische Projekt vom Gericht alles andere als üblich ohne Anhörung entschieden wurde. VerfahrensbeobachterInnen fragen sich außerdem, ob das Prozedere im Einklang mit dem Ersten Senat des Gerichts erfolgte, der als Erstes mit dem Thema befasst war, bevor der als konservativer geltende Zweite Senat übernahm. Auch dies verdeutlicht nur, dass es sich bei dem Verfahren auch um eine wichtige Klassenfrage handelte.

Das Urteil verkörpert eine krachende Niederlage für den Berliner Senat, aber v. a. für die MieterInnen von rund 1,5 Millionen Wohnungen in der Bundeshauptstadt, die unter das Gesetz fallen. Demnach ist der Mietendeckel grundsätzlich illegal, eine irgendwie geartete Mietpreisbremse alleinige Bundessache. Juristische Hoffnungen der AnhängerInnen des Gesetzes richteten sich zum einen auf einen Schiedsspruch des Verwaltungsgerichts Berlin, das den Eilantrag eines Vermieters zurückgewiesen hatte, dem das Bezirksamt Pankow eine Mieterhöhung untersagt hatte. Der Mietstopp liege einerseits durchaus in der Gesetzgebungskompetenz des Bundeslandes, andererseits sei eine politisch festgesetzte Preisgrenze eine Ausnahmeregelung, die zeitweilig die Vorschriften des bürgerlichen Rechts überlagere. Wegen ihrer zeitlichen Befristung sei sie aber mit dem Eigentumsgrundrecht vereinbar und den VermieterInnen zuzumuten.

Zum anderen hatte der zuständige Berichterstatter des Zweiten Senats, Peter M. Huber, vor seiner Wahl zum Verfassungsrichter ein Jahr lang CDU-Innenminister in Thüringen, beim Deutschen Juristentag 2004 sich in der damaligen Föderalismusdebatte dafür ausgesprochen, den Ländern die Zuständigkeit fürs Wohnungswesen zu gewähren. Dies sei aufgrund regionaler Unterschiede in diesem Sektor geboten.

Zum Dritten hatte der Erste Senat im März 2020 einen Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung der Bußgeldvorschriften abgelehnt und zumindest keine grundsätzlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Landesgesetzes geäußert.

Diese auf juristische Spitzfindigkeiten gegründeten Hoffnungen sind nun so gründlich zerstoben wie das Laub im Herbststurm: April, April – das BVerfG macht, was es will!

Der Mietendeckel

Das Vertrauen in Justiz und Staat bei der Verteidigung von Reformen erwies sich einmal mehr als naiv und kurzsichtig. Einen Plan B zur Durchsetzung des Gesetzes haben der Berliner Senat und seine Parteien, ob SPD, Grüne oder Linkspartei allesamt nicht vorzuweisen, es sei denn, man hält die Forderung, dass nun „der Bund“ also die Bundesregierung oder eine Parlamentsmehrheit, die gerade die Klage in Karlsruhe unterstützt hatte, für einen Plan.

Wir haben schon im Artikel „Berliner Mietendeckel: Mietenbremse oder Trostpflaster?“ dargelegt, worin die Grenzen und Schwächen des gesamten Reformvorhabens bestanden.

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen sind seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, darf höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 dürfen die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren. Das nennt sich „atmender“ Mietendeckel.

Ausgenommen vom Gesetz sind Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Neben den o. a. Ausnahmen stellt das individuelle Antragsverfahren ein weiteres Loch im Deckel dar, denn natürlich erfolgt der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen – das wäre ja für diesen BeamtInnenstaat zu einfach.

Bei allen Mängeln hat der Deckel natürlich eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlastung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

MieterInnen brauchen eine Perspektive – jetzt!

Diese MieterInnen müssen nun die Folgen des Schandurteils von Karlsruhe ausbaden. Sie müssen nicht nur wieder höhere Mieten zahlen, sondern evtl. auch noch Rückzahlungen in Höhe der Differenz leisten müssen, die den VermieterInnen durch das Berliner Gesetz entstanden sind. Die durchschnittliche Höhe dieser Nachzahlungen wird auf 1000,- Euro pro MieterIn geschätzt. Im schlimmsten Fall verlieren sie die eigene Wohnung aufgrund dieser Forderungen oder überhöhten Preisen. Schätzungen zufolge droht in den kommenden Monaten rund 40.000 Personen die Kündigung.

Der Berliner Senat verspricht zwar Hilfe für alle, die von Nachzahlungen betroffen sein werden. Doch selbst wenn diese unbürokratisch und in vollem Ausmaß erfolgen sollte, stellt sie bestenfalls ein zeitlich befristetes soziales Trostpflaster dar. Mieterhöhung und Preissteigerungen müssen die MieterInnen ab jetzt zu 100 % selbst zahlen.

Angesichts der massiven Wut, die Hunderttausende in Berlin verspüren, angesichts des sozialen Skandals werden wohl Zehntausende mehr die Forderung nach Enteignen von Deutsche Wohnen und Co. unterstützen. Ein Ja zum Volksentscheid im September wäre eine richtige Quittung für die Wohnungsbaulobby, für CDU, FDP und AfD, aber auch alle Volksbegehrens-BlockerInnen im Senat, allen voran die SPD-Rechte.

Die 1,5 Millionen MieterInnen können und sollen aber nicht bis zu den Bundestagswahlen warten. Sie können sich auch nicht auf die Rechtssicherheit einer etwaigen Mehrheit bei einer Volksabstimmung verlassen. Auch ein Volksentscheid in Berlin kann in Karlsruhe kassiert werden, auch wenn es tausende Rechtsgutachten gibt, die ihn für „verfassungssicher“ halten. Es braucht also, nebenbei bemerkt, auch DWE  einen Plan B, will es nicht dasselbe Schicksal wie der Senat erleiden.

Das Urteil von Karlsruhe zeigt nämlich eines. Letztlich sind Fragen wie die Durchsetzung des Mietendeckels oder der Enteignung keine bloß juristischen. Im Rechtsstreit treten soziale und Klassenfragen vielmehr selbst schon in einer für die bürgerliche Gesellschaft regulierten, im Rahmen der Marktwirtschaft verbleibenden Form auf.

Diese können, wie jede errungene soziale Reform verdeutlicht, zeitweilig durchaus zugunsten der Lohnabhängigen, der Masse der MieterInnen verschoben werden. Aber die juristische Auseinandersetzung ist dabei letztlich nur Beiwerk.

Entscheidend ist es, den Konflikt mit den Mitteln des Klassenkampfes auszutragen. Die riesige Demonstration nur wenige Stunden nach dem Urteil von Karlruhe, als sich in Berlin gut 25.000 Menschen versammelten, verdeutlicht, dass das Potential und die Wut für einen solchen Kampf vorhanden sind. Doch um daraus eine Bewegung zu machen, braucht es jetzt klare Schritte im Kampf und zur Organisierung.

Verteidigt den Mietendeckel!

Karlsruhe hat den Mietendeckel zwar kassiert, er sollte aber nicht kampflos aufgegeben werden. Wir schlagen vielmehr vor:

  • Alle MieterInneninitiativen wie Mietenwahnsinn stoppen, Deutsche Wohnen und Co. enteignen, die Berliner MieterInnenverbände, Bündnisse wie Hände Weg vom Wedding, aber auch die Gewerkschaften, Linkspartei und SPD-Verbände fordern wir auf, sich zu einem Aktionsbündnis zur Verteidigung des Mietendeckels und dessen Durchsetzung zusammenzuschließen.
  • Ein solches Aktionsbündnis darf nicht auf Vereinbarungen von SpitzenvertreterInnen der verschiedenen Parteien und Organisationen beschränkt sein, es muss sich vielmehr auf deren Basis, die Masse der MieterInnen in Betrieben, an Unis, Schulen und vor allem auch in den Wohnhäusern stützen. Erst recht  darf die Bildung eines solchen Bündnisses davon abhängig gemacht werden, ob auch die lahmsten Senatsmitglieder oder VertreterInnen der Senatparteien mitmachen oder ob ihnen die Aktionsformen eines solchen Bündnisse harm- und wirkungslos genug erscheinen.
  • Dazu müssen Massenversammlungen in den Stadtteilen und Betrieben organisiert, örtliche oder betriebliche Aktionsbündnissen und Strukturen gebildet, die auf Landesebene gebündelt und koordiniert werden. Daher sollte auch rasch eine Aktionskonferenz einberufen werden, um diese Vorschläge zu diskutieren, lokale Initiativen sowie stadtweite Bündnisse zu koordinieren und zusammenzufassen.
  • Ein Aktionsbündnis sollte um die einfache Forderung gegründet werden: Verteidigt den Mietendeckel! Keinen Cent mehr für die WohnungsbesitzerInnen!
  • Die Nachzahlung und Erhöhungen der Mieten sollten verweigert werden durch einen kollektiven und organisierten Boykott. Von den Senatsparteien ist einzufordern, dass sie eine solche Bewegung für ihren Mietendeckel verteidigen und gegen sie nicht repressiv vorgehen.
  • Auch wenn von SPD, Linkspartei, Grünen gefordert werden muss, dass sie keine Zwangsräumungen durchführen und gegen eine solche Bewegung nicht vorgehen, so dürfen wir uns nicht darauf verlassen. Die Bewegung muss Strukturen und Mobilisierungen gegen Zwangsräumungen, Pfändungen von MieterInnen usw. aufbauen.
  • Dazu muss sie sich auf eigene Strukturen und Aktionen wie Massendemonstrationen stützen. Von den Gewerkschaften im öffentlichen Dienst und in der Privatwirtschaft muss sie die Organisierung politischer Streiks zur Verteidigung des Mietendeckels und im Kampf gegen jede Repression einfordern.

Eine solche Perspektive ist ohne eine Radikalisierung der Bewegung und den Aufbau von Kampforganen ebendieser nicht zu haben. Wir sind uns im Klaren, dass nicht nur die bürgerlichen Grünen, die rechtssozialdemokratische SPD oder die Gewerkschaftsapparate alles tun werden, um die Entstehung einer solchen Bewegung zu blockieren oder ihr die Spitze zu nehmen. Das trifft letztlich auch auf die Führungen der Linkspartei oder vieler MieterInnenverbände zu.

Aber um eine Massenbewegung aufzubauen, ist es unerlässlich, diese Organisationen und ihre Mitglieder, WählerInnen und AnhängerInnen in Bewegung zu bringen – und das schließt auch ein, Forderungen an sie und ihre Führungen zu stellen, um sie dem Praxistest auch in den Augen ihrer UnterstützerInnen zu unterziehen. Nur im Rahmen realer Kämpfe und deren Radikalisierung wird es möglich sein, diese Bewegung selbst so weit zu treiben, dass sie in der Praxis über die Hoffnung auf Gerichte und bürgerliches Recht hinausgeht. So kann die Verteidigung des Mietendeckels zu einem Schritt werden im Kampf um die entschädigungslose Enteignung der Wohnbaugesellschaften und Immobilienhaie unter Kontrolle der MieterInnen und der ArbeiterInnenklasse!




Gesetze zur Mietenbegrenzung: Von löchrigen Deckeln und zaghaften Bremsen

Lucien Jaros/Jürgen Roth, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Egal ob Mietpreisbremse, Milieuschutz, Wohnraumversorgungsgesetz oder Mietendeckel: Die Mieten in der Hauptstadt sind in den letzten Jahren trotzdem explodiert. Dass die Idee eines Mietendeckels konkrete Formen annahm, war sicher erstmal ein Erfolg, weniger einer sozialen Politik der Regierungsparteien (SPD, Linke, Grüne), sondern des Druckes der MieterInnenbewegung und Projekte wie des Volksbegehrens zur Vergesellschaftung der größten Wohnkonzerne in Berlin (Deutsche Wohnen & Co. Enteignen) auf diese Parteien.

Bevor der jüngst vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kassierte Landesmietendeckel überhaupt in Kraft trat, hatte der Bund im April 2015 durch das landläufig als Mietpreisbremse bezeichnete Mietrechtsnovellierungsgesetz 3 neue Paragraphen (556d, e und f) in das BGB eingefügt.

Mietpreisbremse, Kappungsgrenze, Wohnraumoffensive

Demnach konnten die Landesregierungen bis 2020 „Gebiete mit angespannten Wohnungsmärkten“ für die Dauer von höchstens 5 Jahren festlegen. Dort darf bei Abschluss eines neuen Vertrags der Mietpreis die ortsübliche Vergleichsmiete um max. 10 % übersteigen, falls nicht mit dem/r VormieterIn ein Jahr vor Ende des Mietvertrags eine höhere Miete vereinbart war, die dann die Obergrenze markiert. Die Mietpreisbremse gilt in ca. 300 Gemeinden bzw. Teilen davon, jedoch nicht in allen Bundesländern. MieterInnen müssen gegen eine überhöhte Miete zur Not klagen und eine Senkung beantragen. Oft fehlen ihnen aber schon die Informationen über die Höhe der Vor- oder ortsüblichen Vergleichsmiete. Mehrere Studien belegen, dass die Bremswirkung schwach ist. In Gebieten mit angespannten Wohnungsmärkten wurde bei 60 bis über 90 % der Neuvermietungen der Richtsatz überschritten. Neubauten (ab Oktober 2014) und Modernisierungen blieben zudem ausgenommen.

Am 1.1.2019 trat ein neues Mietrechtsanpassungsgesetz in Kraft mit geringfügigen Verbesserungen: Die Mietpreisbremse wurde bis 2025 verlängert; VermieterInnen müssen Auskunft geben, wenn die Vergleichsmiete um mehr als 10 % überschritten wird; die Modernisierungsumlage wurde auf 8 % (statt 11 %) pro Jahr gesenkt; nach Modernisierung darf die Miete binnen 6 Jahren um max. 3 Euro/m2 erhöht werden; MieterInnen können auf Antrag zu viel gezahlte Miete zurückfordern; in die ortsübliche Vergleichsmiete fließen die letzten 6 (statt 4) Jahre ein.

Die Bundesländer haben mit der Kappungsgrenze ein weiteres schwaches Mittel in der Hand. Sie können Gebiete benennen, in denen Mieterhöhungen binnen 3 Jahren nicht mehr als 15 % betragen dürfen (das BGB erlaubt 20 %). Auch dieses Instrument wird nur in wenigen Bundesländern angewandt und die Gemeinden dürfen es nicht selbstständig beschließen. Es soll zudem in NRW und Schleswig-Holstein wieder abgeschafft werden. Auch hier müssen MieterInnen Anträge stellen. Darüber hinaus gilt die Kappungsgrenze wie die Mietpreisbremse auch nur für Bestandsmieten und diese müssen schon deutlich unter der Vergleichsmiete liegen, weil diese eh nicht überschritten werden darf.

2018 wiederum startete die Bundesregierung eine Wohnraumoffensive mit den Zielen: Fertigstellung von 1,5 Millionen Wohnungen im Lauf dieser Legislaturperiode; Maßnahmen zur altersgerechten und energetischen Sanierung; neue Sozialwohnungen; Stärkung der MieterInnenrechte. Die Gewerkschaft BAU rechnet mit max. 1,2 Millionen Neubauwohnungen bis Ende 2021. Die Zahlen würden außerdem durch einen statistischen Trick aufgehübscht, weil Baugenehmigungen und unfertige Bauten mitzählten. Mit den in der Legislaturperiode ausgegebenen 5 Milliarden Euro für Baukindergeld, von dem nur EigenheimbesitzerInnen profitieren, könnten eigentlich 115.000 Sozialwohnungen errichtet werden. Sozialverband VdK und BAU beklagen außerdem völlig zu Recht, dass Bauen allein nicht reicht. Die Mieten gingen durch die Decke, während alle 12 Minuten eine Sozialwohnung durch Fristablauf aus der staatlich begrenzten Mietpreisbindung herausfiele (60.000 pro Jahr). Zwischen 2002 und 2019 seien 1,2 Millionen Sozialwohnungen verloren gegangen, also die Hälfte des Bestandes seit Anfang des Jahrtausends.

In Memoriam: Berliner Mietendeckel

Die Mieten in ca. 1,5 Millionen Wohnungen waren während der Gültigkeit des Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin – vom Volksmund Mietendeckel getauft – seit Ende Februar 2020 für 5 Jahre auf dem Stand vom 18. Juni 2019 eingefroren, dem Tag der Verabschiedung des Gesetzes. Bei Mietverträgen, die nach diesem Stichtag abgeschlossen wurden, durfte höchstens die Vormiete derselben Wohnungen bzw. die niedrigere Mietobergrenze verlangt werden oder im Falle, dass die Vormiete darunter lag, die Obergrenze. Ab 2022 hätten die VermieterInnen jährlich 1,3 % mehr kassieren dürfen. Das nannte sich dann „atmender“ Mietendeckel.

Kern des Gesetzes war entsprechend eine Tabelle mit Obergrenzen, die sich von Baujahr und Ausstattungsmerkmalen ableiteten und deren Basis der Mietspiegel von 2013 war, als die Mieten schon deutlich anzogen. Die Obergrenzen umfassten dabei lediglich Neuvermietungen in vor 2014 bezugsfertigen Häusern und ließen auch immer noch gewisse Erhöhungen zu. Ein genereller Mietenstopp war der Deckel also nie.

Ausgenommen vom Gesetz waren Neubauwohnungen, die nach dem Jahr 2014 gebaut wurden und Sozialwohnungen, die besonders bezuschusst werden. Seit vergangenem Herbst durften in einer 2. Stufe sogar überhöhte Mieten abgesenkt werden. Ein weiteres klaffendes Loch im Deckel stellte das individuelle Antragsverfahren bei zu hoher Miete dar, denn natürlich erfolgte der Preisstopp nicht automatisch und von Amts wegen.

Das im Gesetz enthaltene Verbot von Möblierungszuschlägen wurde von manchen VermieterInnen umgangen, indem sie die Einrichtung an das Start-up mbly über eine monatliche Ratenzahlung verkauften, das wiederum einen Vertrag mit dem/r MieterIn über das Mobiliar abschloss. Die Berliner Stadtentwicklungsverwaltung beschloss eine neue Ausführungsverordnung im Februar 2021, die solche Praktiken unterbinden sollte.

Dass die Begrenzung der Modernisierungszulage nichts brachte, zeigte die Praxis Vonovias, als diese z.B. den Ersatz 30 bis 50 Jahre alter Fenster, die ohnehin ausgetauscht werden müssten, also eine nicht umlagefähige Instandhaltung, als Modernisierung mit entsprechendem Aufschlag berechneten.

Was dem Deckel völlig fehlte war, dass Obdachlosigkeit durch Verlust des Wohnraums in Folge von Mietpreissteigerung ausgeschlossen wird. Eine Pflicht, einen Teil der Wohnungen für besonders Bedürftige (Obdachlose, Geflüchtete, sexuell Unterdrückte und Jugendliche) bereitzustellen und leicht zugänglich zu machen, fehlte ebenso.

Vergangenheit

Bei allen Mängeln stellte der Deckel natürlich eine deutliche Verbesserung ggü. den bisherigen und immer noch in Kraft stehenden Bundesregelungen dar und hat eine, wenn auch viel zu geringe finanzielle Entlassung von immerhin 1,5 Millionen Menschen gebracht.

Doch selbst dies ist nun Vergangenheit. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Nichtigkeit des Deckels ging dieser in die Geschichtsbücher über – Deckel auf den Deckel, Klappe zu, die Länder hätten im Mietrecht nichts zu entscheiden.

Und was lernen wir daraus? Dass es fatal ist, den Kampf der MieterInnenbewegung auf rein rechtlicher Ebene zu führen, um Gesetze und Parlamentsbeschlüsse, so wichtig diese in Teilen auch sein mögen. Aber ohne die direkte demokratische Kontrolle über den Wohnraum durch MieterInnen und die ArbeiterInnenklasse selbst, z.B. durch Wohnhauskomitees oder Stadtteilräte wird auch der dichteste Deckel durch Staat und Immobilienkonzerne mit Leichtigkeit vom Topf gehoben…

  • Mietenstopp mit absoluten Obergrenzen statt einen löchrigen Mietensieb!
  • Obergrenzen müssen für alle Mietwohnungsarten gelten (auch für öffentlich geförderte, Wohnheime, Sozialwohnungen, WBS-Mieten)!
  • Mietsenkung auf 30 % des Haushaltseinkommens, wenn diese Schwelle trotz Obergrenze überschritten wird!
  • Kontrolle der Mietpreise und diskriminierungfreie Mietvergabe durch Kontrolle durch unabhängige demokratische Organe der MieterInnen und Gewerkschaften!
  • Verwaltung vergesellschafteten Wohnraums und einer Anstalt des öffentlichen Rechts durch MieterInnenräte und VertreterInnen der Beschäftigten!
  • Anpassung der Löhne an die Mietpreiserhöhungen und steigende Lebenshaltungskosten!



Gegen das Berliner Mietenmonopoly!

Jürgen Roth/Christine Schneider, Wem gehört die Stadt? ArbeiterInnenmacht-Broschüre, Mai 2021

Nachdem die erste Stufe in Richtung des geplanten Volksentscheids des Bündnisses (bzw. der Initiative) Deutsche Wohnen & Co. enteignen (DWE)  schon im vorletzten Jahr weit mehr als die erforderlichen Unterschriften erreicht hatte mit dem Ziel, der Berliner Senat möge ein Gesetz zur Enteignung der Deutsche Wohnen und anderer großer Immobilienkonzerne mit mind. 3.000 Mietwohnungen beschließen, prüfte der Berliner Senat über Gebühr lang dessen Rechtmäßigkeit. Seit Ende Februar 2021 sammelt das Bündnis die dafür in der zweiten Stufe (Volksbegehren) nötigen 170.000 gültigen Unterschriften.

Erwähnenswert ist, dass DWE auch separate Unterschriftenlisten führt, wo sich UnterstützerInnen eintragen können, die das Ziel des Volksbegehrens teilen, obwohl sie mangels Wohnsitzes in Berlin oder deutschen Passes über keine gültige Stimme verfügen. Völlig berechtigt ist das dahinter stehende Bestreben, die Meinung dieser zahlenmäßig nicht unbedeutenden Gemeinde zu dokumentieren, auch ihr eine Öffentlichkeit zu verleihen.

Wir unterstützen die Unterschriftenkampagne nach besten Kräften und wünschen ihr viel Erfolg. Um nichtsdestotrotz sowohl unsere solidarisch-kritische Haltung zum Kurs des DWE wie auch den Unterschied zum jetzigen Volksbegehren zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick zurück auf die Erfahrungen mit einem früheren Anlauf zum Mietenvolksentscheid werfen.

Volksentscheid

Im Jahr 2015 scheiterte die „Initiative für soziales Wohnen“ mit einem Berliner Mietenvolksentscheid über einen von ihr ausgearbeiteten Entwurf eines Wohnraumversorgungsgesetzes. Dieses hätte zeitgleich mit den Landtagswahlen im September 2016 zur Abstimmung stehen sollen, wurde jedoch juristisch gekippt. Der neue rot-rot-grüne Senat sah sich nun jedoch gezwungen, ein paar Brosamen aus dem gescheiterten Gesetzesentwurf aufzunehmen.

Der Wohnraumversorgungsgesetzentwurf sah vor: eine Umwandlung der Landeswohnungsunternehmen von bestehenden privaten Rechtsformen (AG, GmbH) in Anstalten öffentlichen Rechts (AöR); Senkung der Mieten in den öffentlich geförderten Wohnungsbeständen mittels Richtsätzen; Förderung von Wohnungsneubau, Wohnungsmodernisierung und Wohnungsankauf durch einen staatlichen Fonds zur Zweckbindung und Kontinuität im sozialen Wohnungsbau (Finanzierung der landeseigenen Gesellschaften, Mietkappungen in geförderten Wohnungen).

An der realen Verschärfung und Verschlechterung der Lage in Berlin haben diese halbherzigen Initiativen des Senats jedoch nichts zu verändern vermocht. Im Gegenteil: Die Mieten steigen in der Bundeshauptstadt im Rekordtempo. Die „sozialen Maßnahmen“ der Landesregierung bleiben demgegenüber Makulatur.

Weder die Maßnahmen zur Mietentlastung in bestehenden Sozialwohnungen noch die Einrichtung eines Wohnraumförderfonds eignen sich, das fortlaufende Abschmelzen des Sozialwohnungsbestands aufzufangen. Pro Jahr sollen 5.000 gebaut werden, davon 3.000 von 6.000 Neubauwohnungen bei den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften. Jährlich entfallen aber 8.000 aus der Sozialbindung. Die Erhöhung der Mietzahlungsfähigkeit durch Subjektförderung von SozialmieterInnen sichert zugleich unverändert die Renditen der Immobilienwirtschaft, anstatt sie zu beschränken.

Deutsche Wohnen & Co. enteignen!

Das Berliner mietpolitische Bündnis hat sich die Enteignung  der „Deutsche Wohnen & Co.“ (im Folgenden nur noch DW genannt) zum Ziel gesetzt und fordert dazu einen Volksentscheid. Das Bündnis setzt sich bisher aus Einzelpersonen, betroffenen MieterInnen sowie Mitgliedern linker Gruppierungen zusammen. Eine Erweiterung des Bündnisses wird angestrebt.

Es nimmt im Gegensatz zu 2015 die größten Immobilienkonzerne aufs Korn statt der landeseigenen Wohnungsgesellschaften – und damit die größten MietpreistreiberInnen. Ein weiterer Fortschritt besteht darin, dass die Losung der Enteignung wieder populär gemacht werden konnte. Außerdem bildet DWE auch so etwas wie einen Kristallisationspunkt für die bislang nach Kiezen zersplitterte Szene von MieterInneninitiativen. Schließlich muss man ihm zugutehalten, dass es auch eine aktive Rolle in der bundesweiten Vernetzung dieser Initiativen spielt.

Im Unterschied zu 2015 sollte kein eigener Gesetzentwurf zur Abstimmung gestellt werden, sondern der Senat wird aufgefordert, die bundes- wie landesverfassungsrechtlichen Mittel dazu auszuschöpfen. Laut Grundgesetz und Landesverfassung ist eine entschädigungslose Enteignung aber ausgeschlossen. Diese soll jedoch möglichst gering ausfallen. Das Bündnis sah sich aber gezwungen, in diesen sauren Apfel zu beißen, um die Möglichkeiten eines Volksentscheides überhaupt zur Mobilisierung nutzen zu können.

Warum die DW?

Der Konzern ist der größte private Vermieter mit rund 110.000 Wohnungen in Berlin und der zweitgrößte in der BRD. Die DW erzielte im Jahr 2017 einen Gewinn von 1,7 Milliarden Euro. Zu den größten InvestorInnen zählen das BlackRock-Assetmanagement und der staatliche norwegische Staatspensionsfonds.

Die Summe allein verrät schon, dass dieser große Gewinn und der Druck der AktionärInnen auf dem Rücken der MieterInnen erzielt und ausgetragen werden. Eine der besten Methoden zur Profitmaximierung heißt „energetische Modernisierung“ nach § 559 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Dieser Paragraf besagte, dass 11 % der Modernisierungskosten jährlich auf die Miete draufgeschlagen werden können. Nach 9 Jahren wäre die Modernisierung vom/von der MieterIn abbezahlt, aber die höhere Miete bleibt und das Unternehmen macht mit der Modernisierung zusätzlichen Gewinn. Ab 2019 wurde mit der Bundesmietpreisbremse die Umlage auf 8 % gesenkt und bei energetisch notwendigen Sanierungen in Berlin zur Zeit der Gültigkeit des Mietendeckels der Aufschlag auf 1–1,4 Euro/m2 gekappt. Damit geraten die VermieterInnen lediglich später in die Zusatzgewinnzone.

Ziel des Ganzen soll angeblich sein, dass MieterInnen die Mieterhöhung durch geringere Energiekosten wieder einsparen – was sich in der Praxis nicht beweisen lässt. In vielen Fällen erweist sich die Sanierung gar als schädlich für die Bausubstanz, da sie durch die außen angebrachten Dämmplatten nicht mehr richtig atmen (Schimmelbildung) und sich im Fall der Benutzung von Styropor als Material sogar die Brandgefahr erhöhen kann. Der ganze Spaß wird von der Bundesregierung durch die KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau) noch gefördert.

In der Praxis der DW sieht das so aus, dass oft jahrelang notwendige Reparaturen und Sanierungen nicht durchgeführt werden, für die eigentlich der/die VermieterIn aufkommen müsste. Beschwerden von MieterInnen werden ignoriert, auf lange Warteschlangen im Callcenter abgewälzt, oder es wird gar die Schuld an den Reparaturen auf die MieterInnen geschoben. Die notwendigen Reparaturen werden dann im Zuge der „energetischen Modernisierung“ mitgemacht und zu 100 % auf die MieterInnen abgewälzt. Eine weitere Methode der Profitmaximierung besteht darin, den Berliner Mietspiegel juristisch anzugreifen und somit die eigene Vorstellung von zulässigen Mietgrenzen per Gericht durchzusetzen. Ähnliche Machenschaften finden auch bei den nächst größten Konzernen am Berliner Wohnungsmarkt, Vonovia und Akelius, statt.

Das Bündnis hat sich zum Ziel gesetzt, einen Volksentscheid zur Enteignung der DW durchzuführen und diese in kommunales Eigentum in Form einer Anstalt des öffentlichen Rechts überzuleiten, die ohne Gewinnabsichten und mit besonderem Mieterschutz betrieben werden soll. Diese Enteignung soll über die §§ 14 und 15 des Grundgesetzes und die §§ 23 und 24 der Berliner Landesverfassung erfolgen. Diese beinhalten eine Entschädigungszahlung nach Verfahrenswert. Die Idee des Bündnisses ist es nun, die Entschädigung über den Sachwert laufen zu lassen. Der Beschluss des Volksentscheides soll kein Gesetzesentwurf sein, sondern eine Handlungsanweisung mit Verpflichtungsklausel für den Senat. Neben der Enteignung soll sie Berlin verpflichten, dass es keine privaten WohnungseigentümerInnen mit mehr als 3.000 Wohnungen mehr geben darf.

Im Laufe der Kampagne ließ sich DWE jedoch dazu hinreißen, einen konkreten Gesetzentwurf auszuarbeiten. Das kann als Gradmesser für ein im Erfolgsfall zustande kommendes Landesgesetz durchaus richtig sein. Doch müsste dann das Bündnis der Öffentlichkeit erklären, dass es sich um einen solchen handelt, einen Prüfstein, ein Kontrollinstrument und nicht um eine juristische Hilfestellung für den (zukünftigen) Senat. DWE bleibt hier jedoch algebraisch. Dies passt zu ihrer grundlegend blauäugigen Herangehensweise an die Auswirkung eines Volksentscheids, selbst im Erfolgsfall. Dieser verpflichtet Abgeordnete und Parlament nämlich zu gar nichts. So wurde vor ca. 15 Jahren das Hamburger Hafenkrankenhaus geschlossen, obwohl sich über 75 % im Entscheid dagegen ausgesprochen hatten. Dieser lammfromme Legalismus setzte sich fort in der inhaltlichen Ablehnung unseres Antrags von Anfang 2020, die Entschädigungssumme auf den symbolischen Betrag von 1 Euro zu beziffern. Das war schon ein Zugeständnis, da laut Grundgesetz und Landesverfassung die Forderung nach entschädigungsloser Enteignung, die wir eigentlich vertreten, formalrechtlich ungültig ist. Die überwältigende Mehrheit lehnte dies als zu niedrig ab. In der Unterschriftsliste hält DWE eine Entschädigungssumme zwischen 7,3 und 13,7 Milliarden Euro für 200.000 Wohnungen für angemessen. 240.000 Wohnungen sollten aber von der Enteignung betroffen sein. Der Senat redet von deutlich höheren ca. 30 Milliarden Euro Entschädigung. Aber die vom Bündnis vorgeschlagene Zahl ist kein Pappenstiel: Pro Wohnung (berechnet auf 240.000) beliefe sie sich auf 31.000–57.000 Euro, pro EinwohnerIn Berlins auf 2.100–3.900 Euro.

Ein Pappenstiel stellte dagegen die Verschleuderung des Bestands öffentlicher Wohnungen in der Hauptstadt zwischen 1989 und 2010 dar: Seit dem Mauerfall wurden mehr als 310.000 Wohnungen durch den Verkauf von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften privatisiert, mehr als die Hälfte der ehemals 585.000 kommunalen Wohnungen, davon 150.000 ab 2002 unter dem rot-roten Senat (SPD/DIE LINKE). So wurde 2004 die GSW mit einem Bestand von 65.000 Wohnungen an ein internationales Konsortium zum Preis von 405 Millionen Euro verkauft, also für 6.230,77 Euro pro Wohnung!!! Wer enteignet(e) hier eigentlich wen?

Volksentscheid:  Realistisch? Illusorisch?

Wie sind die Erfolgsaussichten eines solchen Volksentscheids? Schwer zu sagen. Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht. Die GegnerInnen sind ökonomisch mächtig und politisch einflussreich. Und es wird mit allen Mitteln gearbeitet werden: Einschüchterungen, Verleumdungen, Lächerlich–Machen,  Spaltungsversuche, Lockangebote, juristische Tricksereien usw. werden an der Tagesordnung sein, und die bürgerlichen Medien werden sicherlich „auf Linie“ gebracht  werden.

Schließlich warnen wir wie bei jedem Volksentscheid vor Illusionen in den bürgerlichen Staat. Ergebnisse von Volksentscheiden verpflichten die Regierung und den Staat ja zu nichts.

Aber dem steht ein gemeinsames Interesse hunderttausender Berliner MieterInnen gegenüber: Wohnraum darf keine Ware bzw. Kapitalanlage sein.

Bei allen grundsätzlichen Grenzen und Schwächen von Volksentscheiden hat die Initiative das Potenzial, eine Massenbewegung zu einem der entscheidenden politischen Themen in Berlin und zahlreichen anderen Städten zu entfachen, die außerdem die Wohnungs- mit der Eigentumsfrage direkt verknüpft. Wir unterstützen daher die Initiative und werden uns nach Kräften an ihr beteiligen.

Insbesondere ist es wichtig, die Gewerkschaften mit ins Boot zu holen. Schließlich hat die Miethöhe unmittelbaren Einfluss darauf, was einem/r vom Lohn bleibt, und damit auch auf  den Verlauf von Tarifkämpfen.

Sollte die MieterInnenbewegung sich zu einer organisierten Massenbewegung entwickeln, ergäben sich daraus auch die Mittel zur Kontrolle der Durchsetzung der Volksentscheidsforderung im Falle seiner Annahme. Im Falle seiner Ablehnung hätten wir noch eine Rechnung offen und sollten dann für deren Begleichung sorgen.

Mit Differenzen leben

Nur wenn wir die Kampagne in unserem Selbstverständnis als ein Aktionsbündnis führen, können wir auch mit inneren politischen Differenzen leben. Solche sollen nicht unter den Teppich gekehrt werden, aber sie brauchen das gemeinsame Aktionsziel nicht zu gefährden. Wir, und sicherlich auch andere, lehnen z. B. eine Entschädigung der enteigneten Immobilienkonzerne ab, sehen das aber nicht als Hindernis, die Kampagne mitzutragen.

Auch über die politische Reichweite des Mietenkampfes gibt es sicherlich unterschiedliche Sichtweisen. Während für die einen (z. B. für uns) der Kampf gegen Wohnraum als Kapital oder Ware langfristig nur erfolgreich  sein kann, wenn er ausgeweitet wird auf die Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel der Großunternehmen, sehen andere ihr Ziel mit der Enteignung der Immobilienkonzerne als erreicht an. Darüber darf und muss gestritten werden, wenn wir unser gemeinsames Aktionsziel dabei nicht aus den Augen verlieren: „Deutsche Wohnen & Co. Enteignen“.

Unsere Haltung ist also sowohl solidarisch wie kritisch. Aus der Volksentscheidskampagne heraus streben wir an, eine Massenbewegung für Enteignung und Kontrolle über die Umsetzung des Ergebnisses aufzubauen, die Staat, Parlament und Gerichten grundsätzlich misstrauisch gegenüberstehen soll. Über die begrenzten Mittel einer BürgerInneninitiative in den 3 Stufen des Volksentscheids hinaus muss sich der proletarische Charakter – die überwältigende Mehrzahl der MieterInnen ist ja lohnabhängig – auch in Form der Anwendung von Mitteln des Klassenkampfes ausdrücken: politische Streiks für Enteignung, Lohntarifforderungen bei Mieterhöhungen, Mietpreiskontrollkomitees und MieterInnenvereinigungen für Mietstopps und -boykotte der Erhöhungen.

Nur solche Methoden und Organisationsformen können eine kontrollierende Gegenmacht auf dem Wohnungsmarkt ausüben und schließlich die Enteignung der Immobilienhaie zugunsten der ArbeiterInnenklasse bewerkstelligen, ohne hintenrum wieder aus eigener Tasche für sie aufzukommen. Letztlich hat das jüngste Inkasso des Berliner Mietendeckels, der schärfere Einschnitte in die Mietpreise als die gleichnamige Bremse der Bundesregierung vorsah und trotzdem noch genug Schlupflöcher enthielt, durch den Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts gezeigt, dass DWE über seine Kampagne hinaus gebraucht wird, um den Startschuss zu dessen Wiederinkraftsetzung, Verteidigung zu inszenieren.