Unterschriftensammlung und Offener Brief an den DGB: Stimme erheben und einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg fordern

„Gewerkschafter*innen sagen Nein zum Krieg! Nein zum sozialen Krieg!“, veröffentlicht von Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, Infomail 1245, 14. Februar 2024

Im Folgenden veröffentlichen wir den offenen Brief an den DGB und rufen zur Unterzeichnung des Briefes auf.

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter fordern vom DGB und seinen Einzelgewerkschaften zum Gaza-Krieg:

„Es ist an der Reihe der Arbeiterbewegung, ihre Stimme zu erheben und einen Waffenstillstand zu fordern“ (aus dem Aufruf von über 40 US-Gewerkschaften, unter ihnen die Internationale Automobilgewerkschaft UAW mit 600.000 Mitgliedern).

Nach 3 Monaten mörderischen Bombardierungen der palästinensischen Bevölkerung mit über 28.000 Toten und der gewaltsamen militärischen Besetzung des Gaza-Streifens durch die israelische Armee mit all ihren Folgen der Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen, von Hunger und der Obdachlosigkeit, sehen wir unsere Verantwortung als deutsche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter darin, uns an unsere Gewerkschaften, den DGB und seine Einzelgewerkschaften zu wenden, damit sie sich aktiv und sofort einsetzen für:

  • Für den sofortigen Abzug der israelischen Truppen!

  • Sofortiger Waffenstillstand! Stopp des Genozids an der palästinensischen Bevölkerung!

  • Sofortige Beendigung der Bombardierungen!

  • Sofortige Aufhebung der Blockade von Gaza – d.h. der Lieferungen von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten und Treibstoff!

Wir Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter erklären uns solidarisch mit dem „Offenen Brief von Gewerkschaftsjugendlichen an den DGB-Bundesjugendausschuss“, gegen die einseitige Unterstützung Israels und für einen sofortigen Waffenstillstand einzutreten.

Der DGB fordert in seinem Aufruf vom 22.10.2023 „Aufstehen gegen Hass, Terror und Antisemitismus – in Solidarität mit Israel“: „…weil jüdisches Leben angegriffen und gefährdet ist, stellen wir uns an die Seite von Israel“ (DGB). Was ist mit den über 20.000 Leben der palästinensischen Bevölkerung, die durch die Bombardierung und den Einmarsch der israelischen Truppen im Gaza vernichtet wurden?

Wir Gewerkschafter lehnen jede Form von Völkermord und ethnischen Säuberungen ab!!

Warum fordern unsere Gewerkschaften, der DGB und seine Einzelgewerkschaften, nicht ein sofortiges Ende der Bombardierungen, der Blockade und der Besatzung Palästinas?

Der DGB spricht davon, „extremes und radikalfundamentalistische Gedankengut nehmen wir nicht hin“ (DGB). Aber gleichzeitig wird –  unter dem Vorwand der Vernichtung der Hamas durch die israelische Regierung – der arabische Teil der Bevölkerung Israels und im Westjordanland durch ultraorthodoxe Siedlermilizen und ihre Parteien, verstärkt vertrieben!

Wo ist die Stellungnahme des DGB gegen die Verbote von Solidaritätsaktionen mit dem palästinensischen Volk durch die Regierungen, die von Gerichten als verfassungswidrig aufgehoben werden?

Erstunterzeichner: Britta Brandau (Mitglied ver.di Gewerkschaftsrat), Michael Altmann (Mitglied ver.di Landesbezirksvorstand Hessen), Sabine Pitz (ver.di Bezirksvorstand), Hemmati-O. (ver.d Bezirksfachbereichsvorstand), Karsten Drumm (ver.di UKF), Silvana Errico (ver.di BR BVZ), Mayumi LeaH Milanes (ver.di BVZ), Cornelia Omosigno (ver.di), Samina Syed (ver.di) Elisabeth Lutz (ver.di), Aksa Bayram (ver.di), Narges Yelayhi (ver.di), Lukas Hof (SDS.Linke), Friedhelm Winkel (ver.di, Friedensplattform Hanau), Steven Payne (GEW BVZ), Heiner Becker, (GEW Senioren Hessen), Lothar Ott (GEW AK Internationales), Jürgen Klausenitzer (GEW), Christiane Treffert (GEW), Friedhelm Spatz (IG Metall), Azimi Abul Hassan (IG Metall), Alexander Botte (Naturfreunde), Brigitte Klein-Schuster (GEW)  u.a..

Udo Eisner (IG Metall), Mario Kunze (ver.di, Betriebsrat), Britta Schubert (ver.di, Landesvorstand der Fachgruppe Bildende Kunst Berlin), Elisabeth Wissel (Fraktionsvorsitzende Die Linke in der BVV Tempelhof-Schöneberg), Carla Boulboullé (GEW), Sascha Kraft (ver.di, Betriebsrat), Charlotte Rutz-Sperling (ver.di, Mitglied im Landesbezirks-FB-Vorstand C Berlin-Brandenburg), Volker Prasuhn (ver.di, Mitglied im Bezirksvorstand), Gotthard Krupp (ver.di, Mitglied im Landesbezirksvorstand Berlin-Brandenburg), Wolfgang Mix (GEW); Detlef Bahr (ver.di); Birgit Schöller (ver.di); Axel Zutz (GEW) u.a.

Dunja DiMatteo-Görg (verdi), Sascha Görg (verdi), Birgit Simon, Maria Zohtes, Paola Niccolaioni (GEW), Francesca Casale (GEW), Henning Frey (Erw. Vorstand GEW Köln), Julian Gürster (Erw. Vorstand GEW Köln), Resi Maschke-Firmenich (verdi), Francis Byrne (verdi VL), Lino Krevert, Manfred Kern (IGM), Volkmar Kramkowski (verdi), Annette Harder (verdi), Leila Buron, Wolfgang Quambusch (verdi), Sophie Burgmann, Claus Ludwig (verdi, BR-Vors.), Riem Varieg, Reinhard Berkholz (GEW), Conrad Gocking, Eva Schröder, Mirko Oettershagen (verdi VL), Samuell Legall, Christiane Krause (IGBCE), Walburga Fichtner (verdi), Babara Skerath, Silvana Garafalo (verdi VL), Alaa Alshibli (verdi), Yassier Abu Nidhal, Thilo Nicklas (IG Bau), Axel Droppelmann (IG Bau), Peter Rohleder (verdi), Isabelle Casel (DFG-VK), Michael Kellner (Städtepartnerschaft Köln Bethlehem), B. Overdiek (verdi), Amira Zayed, Amal Hamad, Rebekka Thies (verdi), Friedrich Kullmann (verdi), Achim Lebrun (verdi), Jonas Kaltenbach, Ben Köchert, Songül Schlürscheid, Vera Homberger-Rachid (verdi VL), Jessica Engelen (verdi), Ina Fahl, Eva Gürster (verdi OV Köln Vorstandsmitglied), Ellen Engstfeld (verdi OV Köln Vorstand)

Gaza: Ich unterstütze den Offenen Brief an den DGB und seine Einzelgewerkschaften:

„Es ist an der Arbeiterbewegung, ihre Stimme zu erheben und einen Waffenstillstand zu fordern.“

Name:                                    Gewerkschaft/Funktion:                                     E-Mail-Adresse

Kontakt: michael.altmann@gmx.net, im Namen der „Gewerkschafter*innen sagen Nein zum Krieg! Nein zum sozialen Krieg!“ Frankfurt/Main, 7. Jan. 2024

Unterschriftenliste zum Ausdrucken:

USS Gew fordern zu Gaza-Krieg




Erklärung der VKG zur Bilanz der großen Tarifrunden

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, 19. Januar 2024, Neue Internationale 280, Februar 2024

Reallohnverlust trotz Kampfkraft und Mobilisierung – Die Lehren für kämpferische Gewerkschafter:innen

Die Tarifergebnisse seit Herbst 22 sind für alle großen Branchen sehr ähnlich. Als Gewerkschafter:innen müssen wir uns fragen, ob das Zufall ist. Wir müssen den Blick über den Tellerrand unserer Branche heben. Wir müssen uns fragen, ob die gewohnte Beurteilung von Tarifergebnissen so noch taugt.

Tarifforderungen orientieren sich immer hauptsächlich an der Inflation, in den Industriegewerkschaften auch an der Produktivitätssteigerung. Das Ergebnis wird daran gemessen, wie viele der Forderungen erfüllt worden sind. Innerhalb der jeweiligen Gewerkschaften geht es immer darum, ob mehr drin gewesen wäre. Von Seiten der kämpferischen Belegschaften und Mitglieder, genauso von der Gewerkschaftslinken gibt es seit Jahrzehnten die wiederkehrende Kritik, dass mehr hätte erreichen werden können, dass die Kampfkraft nicht ausgeschöpft worden sei.

Die übliche Argumentation der Tarifverantwortlichen und der Sekretär:innen war stets, dass nicht genug gekämpft worden sei, entweder von den Kritiker:innen oder von anderen Teilen der Mitgliedschaft oder auch von anderen Teilen des Gewerkschaftsapparates, der nicht so toll ist wie man selber. Letztlich gingen die Debatten immer darum, ob die fehlende Kampfkraft Schuld des Apparats oder der Kolleg:innen war.

Diese Art der Ergebnisdiskussion, die von allen Seiten die Frage der Kampfkraft ins Zentrum stellt, ist uns allen in Fleisch und Blut übergegangen, ja sie war im Grunde ein Teil des Tarifrituals geworden. Nach den letzten Tarifrunden müssen wir uns selbst eingestehen, dass wir als kämpferische Kolleg:innen oder als Gewerkschaftslinke darüber hinausgehen müssen, denn diese Tarifrunden waren einfach etwas anders.

Keine Diskussion der Forderungen …

Es gibt seit Jahren eine Entwicklung in den DGB-Gewerkschaften, dass die Basis aus dem Prozess der Forderungsdiskussion und -aufstellung herausgedrückt wird. Bei der IGM durften zum Beispiel  nur vorgegebene  Forderungsniveaus angekreuzt werden, wobei 8 % das Höchstmögliche war – zu dieser Zeit war das gerade die aktuelle Inflationsrate. Die Zeiten, als einfach jeder Vertrauensleutekörper seine Forderungen auf einer örtlichen Funktionärskonferenz präsentieren und diskutieren konnte, sind lange vorbei.

Beim TV-L wurde diesmal eine neue Qualität erreicht. In GEW und ver.di wurden Diskussionen über die Forderungen zugunsten einer „Befragung“ abgesagt/verhindert (??).  Die dann von der Führung aufgestellte Forderung wurde in dieser Befragung nicht erwähnt, dann aber als „deren Ergebnis“ verkündet.

Eine solche Art von gesteuerter „Diskussion“ erlaubte es der Führung, eine Forderung aufzustellen, die sie offensichtlich von vornherein beabsichtigt hatte. Warum aber haben die Spitzenbürokrat:innen nicht im Vorfeld offen für diese geworben? Die Argumente, mit denen sie diese Forderung rechtfertigten, hätten sie auch schon 2 Monate zuvor in einer demokratischen Debatte innerhalb der Gewerkschaften vorbringen können, nämlich dass der öffentliche Dienst doch eine Gemeinschaft sei, egal ob Bund, Länder oder Kommunen, dass die wirtschaftliche Lage ähnlich, die Inflation vielleicht sogar etwas zurückgegangen sei. Ganz offensichtlich sollte nicht nur genau diese Forderung durchgedrückt, sondern auch eine innergewerkschaftliche Debatte vermieden werden. [i]

Ergebnis abseits der Forderungen …

In den meisten anderen Branchen war das anders. Trotz aller Bemühungen der Führung, die Forderungen niedrig zu halten, hatte es bei Metall und Elektro, bei der Post, der Bahn oder dem TVöD eine lebhafte Debatte gegeben, angeheizt von der Inflation, den fetten Gewinnen in vielen Bereichen und den miesen Abschlüssen in den Jahren davor. Teilweise wurden die Forderungen sogar höher gedrückt. Aber im Rückblick war das vergeblich, denn offensichtlich waren für die Ergebnisse diese Forderungen nicht maßgebend.

Branche Gewerkschaft Laufzeit gefor-dert Laufzeit verein-bart 1. Tab.-Erhöh. nach x Monaten Einmal-zahlungen steuer- +abgabenfrei Tab.-Erhöhung Warnstreik, Streik , usw
Chemische Industrie IG BCE   27 14 1.500+1.500 3,25 %+3,25 % Fehlanzeige
Metall- und Elektroind. IG Metall 12 24 8 1.500+1.500 5,2 %+3 3 % Ca. 900.000 in Warnstreiks
Post Ver.di 12 24 14 In Summe 3.000 4,7 % 85,9 % für Streik in Urabstimmung, kein Streik
TVöD Ver.di 12 24 14 1.240+8*220 200+5,5 %(min 340 Euro) Starke Warnstreiks
Bahn EVG 12 25 9 2.850 200+210 2 halbe Tage Warnstreik Schlichtung 48 % gegen Schlichterspruch
TV-Länder Ver.di, GEW,.. 12 25 12 1.800+10*120 200+5,5 % Durchschnittlich 3 Tage Warnstreiks
Stahlindustrie IG Metall 12 22 14 1.500+10*150 5,5 % 18.000 in Warnstreiks, 30.000 in Tagesstreiks

Es ist nichts Neues, dass die Ergebnisse immer weniger mit den jeweiligen Forderungen vergleichbar sind. Andere Laufzeiten, die Vermengung von Festbeträgen, prozentualer Steigerung, Einmalzahlungen, Besserstellung einzelner Beschäftigtengruppen oder neue Sonderzahlungen wie bei der IGM haben einer Diskussion in der Mitgliedschaft schon die Grundlage weitgehend entzogen, die Ergebnisse mit den Forderungen wirklich zu vergleichen.

Die steuer- und abgabenfreien Einmalzahlungen („Inflationsausgleichsprämie“) als bestimmendes Element für das jeweils erste Jahr der Tariflaufzeit bringen noch eine neue Qualität hinzu: Sie wirken sich für jede/n individuell unterschiedlich aus.

Die Tatsache, dass aber in keiner Tarifrunde diese Einmalzahlungen gefordert oder bei der Forderungsaufstellung diskutiert wurden, obwohl gerade bei den Beschäftigten der Länder ja mit der Übernahme der Forderung von Bund+Kommunen klar war, dass die Übernahme des Ergebnisses angestrebt wird, zeigt noch mal mehr die tiefsitzende Verachtung der Gewerkschaftsführung für innergewerkschaftliche Demokratie.

Kampfkraft spielt offensichtlich keine Rolle

Aber nicht nur die Forderungsaufstellung hatte wenig Einfluss auf die Ergebnisse, auch der Verlauf der jeweiligen Tarifrunde. Ein Überblick über die großen Tarifrunden zeigt, dass sich die Ergebnisse sehr ähnlich sind, der Verlauf der Tarifrunden aber extrem unterschiedlich. Zum Zweiten enthalten alle steuer- und abgabenfreie Einmalzahlungen, meist in Summe von 3.000 Euro, etwas, was in keiner einzigen Tarifforderung auch nur ansatzweise aufgetaucht war. Drittens haben alle mit erheblich längerer Laufzeit als gefordert abgeschlossen.

Die Tarifkämpfe, in denen, für sich betrachtet, die gezeigte und entwickelbare Kampfkraft am wenigsten genutzt wurde, um einen Reallohnverlust zu verhindern, waren Metall- und Elektroindustrie, Post, TVöD, Bahn(EVG) und Stahlindustrie.

Die Tarifrunde TV-L, die erst im Herbst 2023 abgewickelt wurde, war also nicht diejenige, in der die Mobilisierung der Beschäftigten am krassesten einem schlechten Ergebnis gegenüberstand. Der TV-Länder leidet nach wie vor daran, dass die Belegschaften in den Flächenländern schlecht organisiert bzw. verbeamtet sind, im Unterschied zu den Stadtstaaten. Aber aus ihrem ganzen Verlauf wurde klar, dass sie nach dem Willen der Gewerkschaftsführung genau zu diesem Ergebnis führen sollte, das abgeschlossen wurde: Auf die Unterdrückung der Forderungsdiskussion folgte die diktierte Übernahme der Forderung für den TVöD, dann die Übernahme desselben Ergebnisses, bis auf 25 statt 24 Monate Laufzeit.

Mehr Kampfkraft alleine hätte also dieses Ergebnis nicht verbessert, sondern nur schneller erreicht; Mit weniger Kampfkraft wäre vielleicht noch eine Runde Warnstreiks mehr nötig gewesen. Es reicht also nicht, wenn wir weiter über Kampfkraft und ihre Entwicklung reden, ohne zu verstehen, warum und wie dieser offensichtliche Zielkorridor für die Tarifergebnisse zustande kam und welche Konsequenzen wir daraus ziehen müssen.

Konzertierte Aktion

Die Erklärung für den besonderen Verlauf der Tarifrunden finden wir in der Konzertierten Aktion, einem Treffen von Regierung, Arbeit„geber“:innen-Verbänden und Gewerkschaftsspitzen. Von 1967 bis 1977 fanden auf der Basis des „Stabilitätsgesetzes“ regelmäßig entsprechende Treffen statt. Im Sommer 2022 wurde das Modell wieder aus dem Hut gezaubert. Eigentlich hatten diese Treffen keine Regeln, sie sind freiwillig. Aber wer hingeht und selbst Vorschläge macht, macht dann auch beim Gesamtpaket mit. In mehreren Paketen wurden im Sommer und Herbst alle möglichen Entlastungen für die verschiedensten Teile der Bevölkerung vereinbart, die dann z. B. von der Regierung umgesetzt wurden. Was die Kapitalvertreter:innen forderten, kann man sich leicht vorstellen – das, was sie eh ständig und laut für sich reklamieren. Ob sie sich zu irgendwas verpflichteten, bleibt unklar. Auf jeden Fall bekamen sie etwas geschenkt, nämlich die Möglichkeit, jedem/r Beschäftigten 3.000 Euro steuer- und abgabenfrei als Inflationsausgleich zu zahlen – statt diesen die dringend nötigen und von diesen stark eingeforderten Lohn- und Gehaltserhöhungen zuzugestehen.

Die Gewerkschaftsspitzen haben das nicht nur zugelassen, sondern pro-aktiv unterstützt. Es gibt sogar Gerüchte aus der IG BCE, dass diese Idee von Seiten der IG Metall und IG BCE eingebracht worden sei. Auf jeden Fall war das erklärte Ziel der Konzertierten Aktion (K. A.), die „Inflation zu bekämpfen“, was für Kapital und Regierung nie heißt, die Preiserhöhungen zurückzunehmen. Schon gar nicht 2021 – 2022, wo in kurzer Zeit die Preise, vor allem die Verbraucherpreise hochschnellten und das, nachdem die Gewerkschaften schon in der Coronakrise praktisch keine Lohnerhöhungen hatten durchsetzen können.

Dennoch haben sich die Gewerkschaftsspitzen dieser Logik der K. A. unterworfen. Für ein angebliches Gesamtinteresse des Landes wurden ganz offensichtlich durchgehend flächendeckende Reallohnverluste vereinbart. Das ist eine Verschärfung der üblichen Sozialpartner:innenschaft, die sich vor allem in Unterordnung unter bestimmte Branchenbedingungen, unter konjunkturelle Erscheinungen oder unter die Krisen einzelner Betriebe zeigt. Das ist mehr als die gewohnte Zurückhaltung im Kampf, das war die geplante Akzeptanz und Umsetzung eines nationalen Krisenprogramms, das voll zugunsten der herrschenden Klasse geht:

  • Ökonomisch, denn sie konnten ihre Gewinne sichern, z. T. beispielsweise in der Autoindustrie auf neue Rekordhöhen steigern;

  • politisch, weil es eine notwendige Antwort der Klasse auf die verbundenen Angriffe auf sie verhinderte: eine Bewegung gegen die Inflation, die Sozialkürzungen und gegen die Aufrüstung.

Dieses Ausbleiben einer solchen Bewegung ist letztlich der Grund für die massive Rechtswende in der Gesellschaft und auch in großen Teilen der Arbeiter:innenklasse. Statt Konzertierter Aktion hätte es eine von den Gewerkschaften angeführte Bewegung für „Brot, Heizung, Frieden“ geben müssen, um den Namen eines kleinen Versuches in diese Richtung zu benutzen.

Letztlich müssen wir davon ausgehen, dass es für Regierung und Kapital bei der K. A. nicht nur um die Inflation ging, sondern darum, die Gewerkschaften in das Programm einzubinden, Deutschland in der globalen Konkurrenz mit den anderen Großmächten USA, Russland, China usw. neu und aggressiver aufzustellen, aufzurüsten und Kriege vorzubereiten. Ob sie das wollten oder nicht, die Gewerkschaften sind da mit reingezogen worden.

Die Mogelpackung

Das Instrument für dieses Manöver war die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung. Die Regierung hat legalisiert, was normalerweise als Steuerhinterziehung und Sozialversicherungsbetrug schwer bestraft wird. Die Bosse haben sich gefreut. Die Gewerkschaften haben den Deal mitgemacht: Reallohnverzicht und Streikvermeidung für eine Einmalzahlung, die kurzfristig eine Geldklemme löst, aber nicht in tarifliche Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) eingeht, zukünftige Renten mindert, die Finanznot des Gesundheitswesens verschärft und von Menschen, die in der Folge Arbeitslosen-, Eltern- oder Krankengeld beziehen, zu 60 bzw 66 % zurückgezahlt wird.

Die Komplizenschaft der Gewerkschaftsspitzen wird deutlich daran, dass es kein einziges Stück Text gibt, das sich mit den Folgen dieser Zahlung auseinandersetzt.

Unter den halbkritischen Funktionär:innen gibt es schon ein paar kritische Bemerkungen dazu, die aber mit der Aussage, dass diese Zahlung „obendrauf“, also zusätzlich zu einer Tabellenerhöhung okay gewesen wäre, relativiert wurden. Diese Ansicht ist eine bewusste oder unbewusste Verschleierung der Realität. Diese Zahlung war nur für eine bestimmte Zeit zulässig und nur für einen bestimmten politischen Zweck gedacht. Niemand konnte bislang in irgendeiner Tarifrunde herkommen und vollen Ausgleich der Inflation in den Tabellen und dann noch steuerfreie Sonderzahlungen „obendrauf“ verlangen und niemand wird es zukünftig tun können. Die Gewerkschaften konnten auch nicht bei diesen Tarifrunden „obendrauf“ vereinbaren, weil sie dem Gesamtpaket zur Eindämmung der Inflation zugestimmt haben. Die steuer- und abgabenfreie Sonderzahlung ist nicht irgendein materieller/ökonomischer optionaler Baustein, sondern war das Schmierfett für eine politische Weichenstellung für eine noch engere Form der Sozialpartner:innenschaft, der direkten Unterwerfung unter das Kriegs- und Krisenprogramm der deutschen Bourgeoisie.

Unsere Antwort

Wir haben als VKG die Konzertierte Aktion kritisiert, aber wir haben ihre politische Bedeutung unterschätzt. Spätestens in der Metalltarifrunde war klar, wie das Strickmuster aussehen würde, und in dieser Runde haben wir das auch thematisiert. Ab diesem Zeitpunkt hätten wir eine Kampagne über alle Branchen gebraucht unter dem Slogan: Tabelle statt Mogelpackung Einmalzahlung! Absage an die Konzertierte Aktion und ihre Ergebnisse! Verbunden mit einer breiten Aufklärungskampagne über die finanziellen Auswirkungen und Anträgen, Unterschriftensammlungen etc. gegen die Mogelpackung und für die Aufkündigung der Konzertierten Aktion. Wir hätten klarmachen müssen, dass eine erfolgreiche Tarifrunde nur möglich wird, wenn der Rahmen der K. A. durchbrochen wird. Sozialpartner:innenschaft hat einen sehr konkreten Inhalt gehabt und sehr konkrete Form angenommen. Sie war nicht ganz die Dimension der Zustimmung zur Agenda 2010, die uns einen massiven Niedriglohnsektor, Hartz IV/Bürgergeld und eine endlose Zersplitterung der Tariflandschaft beschert hat, aber eine deutliche Steigerung über das übliche Niveau der Konfliktvermeidung und Klassenkollaboration. Wir hätten sie viel konkreter bekämpfen können und müssen.

Das wäre zugleich eine gute Gelegenheit für uns als VKG gewesen, diese Vermittlung der Erfahrungen aus der Chemie- und Metallindustrie für die anderen Branchen zu leisten. Auch wenn das manche Kolleg:innen anfangs schockiert hätte, hätten wir mit der Voraussage, auf welcher Schiene die Niederlagen organisiert werden würden, uns viel Vertrauen einbringen können.

Auch in Zukunft müssen wir uns mit einer Tarifpolitik auseinandersetzen, die nicht nach den Strickmustern des überholten Tarifrituals – mehr Mobi bringt mehr Ergebnis – funktioniert, sondern politisch determiniert wird. Das kann andere konkrete Schritte gehen, aber die Fragen der innergewerkschaftlichen Demokratie und die konkreten Abläufe werden auf jeden Fall eine Rolle spielen.

Wir müssen schon zu Beginn die Erfahrungen aufnehmen und klarstellen:

  • Forderungsaufstellung ohne Vorgaben von oben durch demokratische Debatte unter Kontrolle der Mitglieder, Vertrauensleute und Betriebsgruppen.

  • Demokratische Wahl der Tarifkommissionen. Stimmberechtigung nur für diejenigen, die dem Tarifvertrag unterworfen sind – also nicht für Hauptamtliche.

  • Keine Verschwiegenheits-, sondern Rechenschaftspflicht. Jederzeitige Abwahl durch die Gewerkschaftsmitglieder des entsprechenden Bereiches.

  • Öffentliche Verhandlungen.

  • Beim Auftauchen von Themen, die nicht Bestandteil der beschlossenen Forderungspakete waren, erneute Diskussion von unten nach oben, ob das als Thema überhaupt zugelassen wird.

  • Demokratische Wahl von Aktions- und Streikkomitees.

  • Vollständige Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse vor der Beratung und Urabstimmung.

  • Ersatzlose Kündigung von Schlichtungsvereinbarungen, so vorhanden.

Diese Forderungen zur Demokratisierung der Tarifbewegungen sind nicht alle neu, aber das verschärft undemokratische Vorgehen der Gewerkschaftsführungen rückt sie für die Zukunft mehr ins Zentrum.

Aber entscheidend für den Erfolg in zukünftigen Tarifrunden wird sein, dass die politischen Ziele ge- und erklärt werden müssen. Wir werden niemandem/r Ultimaten stellen und verlangen, dass man gegen den Krieg sein müsse, um in der Tarifrunde richtig kämpfen zu können. Aber wir müssen mit aller Deutlichkeit erklären, dass wir diese Tarifrunden verlieren sollen, damit die Steuerentlastungen und Subventionen für das Kapital und die Aufrüstung der Bundeswehr finanziert werden können.

Wir wenden uns mit dieser Bilanz an alle, die sich mit Ergebnissen und Abläufen der letzten Tarifrunden und dem Geld, der Kampfkraft und der Motivation, die dabei geopfert wurden, nicht zufriedengeben wollen. Diskutiert mit uns, macht mit beim Aufbau einer Vernetzung von kämpferischen Kolleginnen und Kollegen! Nach der Tarifrunde ist vor der Tarifrunde, wir müssen sie vorbereitet angehen!

Anmerkung

[i] Diese rigide Politik bezüglich der Aufstellung der Forderung und der Durchsetzung des Ergebnisses steht bei ver.di durchaus einer offeneren Gestaltung der Tarifrunden gegenüber: Die Einrichtung von „Tarifbotschafter:innen“ und „Arbeitsstreiks“ erlaubt der Basis mehr Gestaltung bei der Durchführung von Aktionen. Das ist an sich positiv und wird auch von vielen Aktivist:innen so wahrgenommen. Aber gerade der krass undemokratische Gesamtrahmen zeigt, dass die Führung hier offensichtlich nur eine Spielwiese für Aktivist:innen und linke Gewerkschaftssekretär:innen aufmachen wollte oder auf Druck von unten aufmachen musste.




An die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften Israel-Gaza: Nein zu Krieg, Zerstörung und Terror!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, 26. Oktober 2023, zuerst veröffentlicht auf www.vernetzung.org, Infomail 1235, 29. Oktober 2023

Im Folgenden veröffentlichen wir die Erklärung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften. Auch wenn wir einzelne Formulierungen nicht teilen und für eine klare Unterstützung des palästinensischen Widerstandes eintreten, so halten wir es für einen wichtigen Schritt, dass sich Gewerkschafter:innen klar gegen die Unterstützung der imperialistischen und pro-zionistischen Politik der Bundesregierung und der Vorstände der DGB-Vorstände aussprechen. Vor allem aber halten wir es für wichtig, in den Betrieben und Gewerkschaften gemeinsam für die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Palästina-Solidarität und gegen alle Waffenlieferungen an Israel zu kämpfen.

An die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften Israel-Gaza: Nein zu Krieg, Zerstörung und Terror!

Wir kritisieren sehr deutlich die einseitigen offiziellen Erklärungen des DGB und der Einzelgewerkschaften der „Solidarität mit Israel“, die keinerlei Kritik am Vorgehen und der Politik des israelischen Staates gegen die palästinensische Bevölkerung und der aktuellen repressiven Politik durch die Bundesregierung enthalten. Aus der Ablehnung des Hamas-Angriffs, den auch wir verurteilen, wird ein Freibrief für die israelische Regierung. Das vernachlässigt wesentliche Ursachen des Krieges in Palästina/Israel.

Die tiefere Ursache für solche Ereignisse und selbst für die Existenz von Organisationen wie der arbeiter*innen- und frauenfeindlichen Hamas liegt in der jahrzehntelangen Besatzung und Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung durch den Staat Israel bzw. die Abriegelung und Belagerung des Gaza Streifens, immer neue Vertreibungen aus Jerusalem und im Westjordanland. Gaza wird zu recht von vielen als „Freiluft-Gefängnis“ bezeichnet. Bei unbewaffneten Protesten gegen die Errichtung der Mauer um dieses Gefängnis wurden über 50 Menschen vom israelischen Militär erschossen, darunter Sanitäter:innen und Journalist:innen. Laut Statistik der UNO wurden in der Zeit von 2008 bis vor den Angriff 308 Israelis und 6407 Palästinenser:innen getötet.

Die Reaktion der Hamas, auf Terror mit Terror zu reagieren, führt zu weiteren Opfern in der Zivilbevölkerung, zur Eskalation und verbaut den Weg, für den wir als Gewerkschafter:innen stehen: Für die Einheit aller Kolleg*innen – egal welcher Nationalität, Religion oder Geschlecht und gegen jede nationale oder rassistische Spaltung!.

Die Reaktion des Staats Israel – die völlige Abschottung des Gaza-Streifens, die Bombardierung und der zu erwartende Einmarsch der israelischen Armee – führt zu erneutem Leid der palästinensischen Bevölkerung, zu tausenden Toten, Vertreibung und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Wir fordern ein sofortiges Ende dieser Angriffe und ein Ende der Unterstützung durch die Bundesregierung. Wir sind entsetzt, dass die Bundesregierung sich sogar gegen eine Waffenruhe ausgesprochen hat.

Wir stehen an der Seite der Masse der Bevölkerung auf beiden Seiten, die um ihr Leben, ihre Sicherheit oder ihre Angehörigen bangen. Unsere Gedanken sind bei ihnen.

Wir fordern von unseren Gewerkschaften:

  • Kampf für die Aufhebung aller Verbote und demokratischer Rechte hierzulande, die sich gegen diejenigen richten, die ihre Stimme gegen das Töten der Zivilbevölkerung in Gaza erheben. Für Meinungs- und Versammlungsfreiheit!

  • Gewerkschaftliche Aktionen gegen jede Waffenlieferung!

  • Kampf gegen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus

  • Offene, demokratische und konstruktive Diskussion in den Gewerkschaften, keine Ausgrenzungen und Diskussionsverbote!

Die Gewerkschaften müssen alle Ansätze für demokratische Massenbewegungen in der Region gegen Krieg, Besatzung, Unterdrückung und Ausbeutung und den Aufbau gewerkschaftlicher Organisationen von Arbeiter*innen und Jugendlichen unterstützen. Diese können, indem sie zusammenkommen, die nationale Spaltung nur von unten und im Kampf für ihre gemeinsamen Interessen überwinden.

Die Welt gerät nicht nur im Nahen Osten in eine immer schlimmer werdende Spirale von Kriegen, Handelskriegen und multipler Krise. Die arbeitende Klasse verliert bei jedem dieser Kriege, egal welche Seite ihre Regierungen unterstützen. Sie braucht daher eine unabhängige Klassenposition in den Konflikten, die die gemeinsamen Interessen der Arbeiter*innen unabhängig von ihrer Nationalität und Religionszugehörigkeit zum Ausdruck bringt. Es ist auch nötig, eine gesellschaftliche Perspektive jenseits des auf Profitmaximierung und Konkurrenz basierenden Kapitalismus zu entwickeln, denn dieser schafft so immer wieder Unterdrückung und Kriege.




Schlechte Abschlüsse – nicht mit uns!

Was tun gegen Sozialpartner:innenschaft und Ausverkauf?

Gegenwehr! Betriebs- und Gewerkschaftsinfo der Gruppe Arbeiter:innenmacht, Mai 2023, Infomail 1222, 13. Mai 2023

Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst wie schon zuvor die bei Post und Metall haben Hoffnung gemacht. Hoffnung, dass nach Corona und trotz Krieg und Kriegshetze, trotz Krise oder gerade deswegen die Kampfbereitschaft an der Basis wieder steigt. Vor allem im Kampf um den TVöD hat sich gezeigt, dass eine Schicht neuer, junger und kämpferischer Kolleg:innen auf den Plan getreten ist. Es gab zehntausende Neueintritte.

Aber die Abschlüsse haben mehreres gemeinsam: Sie bringen einen massiven Reallohnverlust, das Kampfpotential wurde nicht ausgeschöpft und gerade die aktivsten Kolleg:innen wurden durch die Manöver der Gewerkschaftsspitzen frustiert. Ja, gerade dort, wo ungewohnte Aktionen wie der „Megastreiktag“ von ver.di und EVG das Mobilisierungs- und Machtpotential deutlich gemacht haben, ist der Frust am höchsten.

Wieso haben unsere Gewerkschaften solch nachteiligen Abschlüssen zugestimmt? An den historisch klammen Kassen der Bosse oder des Staates kann es nicht liegen, verzeichnen diese doch trotz Krisen starke Gewinne bzw. hohe Steuereinnahmen. Als klassenkämpferische Gewerkschafter:innen stellen wir uns die Frage, warum die Chancen nicht ergriffen worden sind, wirkliche Siege zu erringen und die Weichen für eine Umkehr des jahrzehntelangen Niedergangs zu stellen. Welche Rolle hat die Gewerkschaftsbürokratie bei diesen Abschlüssen gespielt und welche Lehren sollten wir für kommende Tarifauseinandersetzungen daraus ziehen?

Am Beispiel des öffentlichen Diensts können wir sehen, dass sich unsere Gewerkschafsführungen mit den Arbeit„geber“:innen aus Bund, Ländern und Kommunen auf unsere Kosten auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt haben: zahlreiche Nullmonate, überlange Laufzeit, steuerfreie Einmalzahlungen, obwohl diese lange und vehement als nicht akzeptabel abgelehnt wurden. Offiziell ist der Abschluss zwar nicht unterschrieben und die Gewerkschaftsmitglieder werden noch „befragt“. Dieses Votum ist aber nicht bindend, weder für den Vorstand noch für die Bundestarifkommission. Gleichzeitig findet es in einem Diskussionsklima statt, wo sich herbe Enttäuschung unter den Mitgliedern breitgemacht hat und unsere Führung ihre Positionen und Gesprächshoheit nutzt, um für die Annahme zu werben und den Abschluss als eine „historische Sensation“ darzustellen. Hierbei bedient sie sich auch billiger Rechentricks, um von ihrem Ausverkauf abzulenken.

Inflationsausgleich

Lange wurde uns gesagt, dass wir eine steuerfreie Inflationsausgleichszahlung nicht hinnehmen und nur tabellenwirksame Änderungen annehmen werden. Zwar hören sich für einige Kolleg:innen die 3.000 Euro gut an – vor allem in Verbindung mit der grassierenden, historisch hohen Inflation. Das Ergebnis bringt uns zwar kurzfristig mehr Geld, aber keine Punkte bei der Rente. Es gibt kein Urlaubs- oder Weihnachtsgeld darauf und diese Sonderzahlungen gehen nicht in die Berechnung von Arbeitslosen- und Elterngeld mit ein. Die Arbeit„geber“:innen sparen aber richtig und der Staat zahlt durch Steuerverzicht. Wen werden die daraus resultierenden Sparmaßnahmen treffen? Die Bundeswehr oder uns durch Streichungen von Sozialausgaben?

Konzertierte Aktion

Steuer- und abgabenfreie Lohnzahlungen sind eigentlich gesetzwidrig. Dass sie in den derzeit stattfindenden Tarifrunden überhaupt Anwendung finden können, haben wir den gemeinsamen Gesprächen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeit„geber“:innen im Sommer 2022 zu verdanken. Den Spitzen von ver.di, aber auch den restlichen DGB-Gewerkschaften war klar, auf was sie sich bei dieser Konzertierten Aktion eingelassen haben und wo die Haken sind. Sie wussten ebenfalls, dass dies nicht nur zum Spaß vereinbart wurde, sondern ihre Aufgabe darin bestand und besteht, es uns Kolleg:innen zu verkaufen oder zur Not am Ende durchzudrücken.

Warum wurden die Tarifrunden nun ausverkauft?

Ein eindrucksvolleres Bespiel für Sozialpartner:innenschaft kann es eigentlich nicht geben. Anstatt ihrer Mitgliedschaft voll und ganz den Rücken zu stärken und in ihrem Sinne die Verhandlungen zu führen und Tarifauseinandersetzungen mit der vollen Kampfkraft der Kolleg:innen zuzuspitzen, konzentrieren sich die Gewerkschaftsspitzen eher darauf, den „am ehesten machbaren“ Kompromiss herauszuholen. Dieser konzentriert sich dann darauf, was am ehesten für den Staat oder die Unternehmen zu verkraften ist und stellt somit die Interessen der Belegschaften hintenan. Hinzu kommt, dass in der aktuellen angespannten Weltlage eine monatelange Streikauseinandersetzung nicht nur den Arbeit„geber“:innen, sondern auch der Bundesregierung ein Dorn im Auge wäre.

Das heißt: Wie auch bei der Corona-Krise werden wir Beschäftigte nun aufgrund des Krieges mit Krümeln vertröstet. In Zeiten der Inflation, nach Kurzarbeit ist das für viele nicht mehr tragbar. Vor allem zeigt das aber eines: Es reicht nicht, nur kämpferischer zu sein und unsere Streikbereitschaft zu zeigen. Wenn wir nicht wollen, dass unsere Kämpfe mit Kompromissen beendet werden, dann müssen wir grundlegend in den Gewerkschaften selbst etwas ändern.

Dabei ist es zentral zu verstehen, dass es nicht ausreicht, einfach nur die Posten in der Bürokratie mit Träger:innen politisch linker Positionen zu besetzen oder andere Organisierungsmodelle einzusetzen. Denn auch wenn einige kämpferisch rangehen, muss es vielmehr unser Ziel sein, die Bürokratie als System abzuschaffen. Das Problem ist nämlich, dass sie durch ihre Funktion selbst – als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital – ein Eigeninteresse entwickelt hat, nicht „zu radikal“ aufzutreten. Auf der einen Seite muss das Interesse der Beschäftigten berücksichtigt werden, aber eben nur so weit, wie es den Arbeit„geber“:innen nicht wirklich wehtut. Erfüllt sie diese Rolle nicht, würde sie ihre eigene Lebensgrundlage verlieren. Deswegen ist es wichtig, dafür einzutreten, dass solche Posten zum einen immer rechenschaftspflichtig sind sowie wähl- und abwählbar und niemand mehr verdient als den Durchschnittslohn. Das allein ist keine Garantie für kämpferische Entscheidungen, jedoch bringt es uns Kontrolle darüber, wer beispielsweise Abläufe von Tarifrunden organisiert.

Kündigt die Schlichtungsvereinbarungen!

Einen ersten praktischen Schritt kann eine Kampagne gegen die Schlichtungsvereinbarung setzen. Schließlich müssen wir aus Fehlern lernen, um nicht noch mehr Kolleg:innen zu demotivieren. Denn dass es in der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst zu einem Schlichtungsverfahren gekommen ist, ist nicht weiter verwunderlich. Ver.di und der VKA trafen eine Vereinbarung, die eine der beiden Seiten dazu verpflichtet, einer Schlichtung zuzustimmen, wenn es die andere wünscht. Wie schon bei der Konzertierten Aktion spielte diese Vereinbarung in den Köpfen der ver.di-Verhandlungsführer:innen eine Rolle bei ihrer „Taktikfindung“. Gleichzeitig ermöglichte sie ihnen auch, sich rhetorisch bis zur Schlichtung kämpferischer darzustellen, um dann durch die Schlichtung den sozialpartner:innenschaftlichen Kompromiss auszuhandeln.

Weiterhin erfüllte die Schlichtung auch die Funktion, die Mobilisierungen der Kolleg:innen zu bremsen und die Diskussionen aus den Streikversammlungen/-cafés hin in die Schlichtungskommission zu lenken. Anstatt das Schlichtungsabkommen als in Stein gemeißelt anzuerkennen, hätte ver.di das Abkommen fristgerecht für diese Tarifrunde kündigen können. Hierzu wurden auch in unterschiedlichen Städten, z. B. in Berlin, Anträge in Streikversammlungen eingebracht und mit großer Mehrheit angenommen. Auch wenn diese Anträge für die Tarifkommission nicht bindend waren, konnten sie als Gradmesser verwendet werden, um die Stimmung der Kolleg:innen abzubilden sowie Druck auf die Tarifkommission und die ver.di-Führung auszuüben. Des Weiteren hätten die Verhandlungen als gescheitert erklärt werden sollen, um die Urabstimmung für einen unbefristeten Erzwingungsstreik für unsere Forderungen vorzubereiten und diesen auf den Weg zu bringen. Jetzt gilt es, uns zu organisieren und unter anderem dagegen aufzustellen, sodass sich das nicht erneut wiederholt!

Urabstimmung = Erzwingungsstreik?

Eine Urabstimmung wäre also der richtige nächste Schritt für die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst gewesen. Diesen hätten wir entgegen der Taktik des Vorstands und der Verhandlungsführer:innen von unten durchsetzen müssen. Aber hätte ein positives Ergebnis auch gleichzeitig bedeutet, dass es zu einem Erzwingungsstreik gekommen wäre? Hier lohnt es, auf die Tarifverhandlungen bei der Post zu schauen. Auch hier war die Streikbeteiligung sehr hoch und kämpferisch, die Urabstimmung wurde von der ver.di-Führung eingeleitet, dann aber trotz breiter Zustimmung der Beschäftigten nicht als Mandat für einen Erzwingungsstreik verwendet, sondern ganz in sozialpartner:innenschaftlicher Manier als „Verhandlungsmasse“ angesehen. Es wurde nicht gemäß dem Wunsch der Kolleg:innen gehandelt, sondern nur der „Druck“ auf die Arbeit„geber“:innenseite forciert, um das Angebot zu verbessern. Dass dadurch der Abschluss in keinster Weise besser ausfiel als das letzte Angebot vor der Urabstimmung, störte die ver.di-Führung nicht. Sie verkaufte es dennoch als Gewinn für die Kolleg:innen, die ohne das klare Statement in der Urabstimmung nicht zustande gekommen wäre. Auch hier zeigt sich wieder, dass die Gewerkschaftsführung ihrem Charakter nach in erster Linie auf Kompromisse aus ist und nicht die Interessen der Beschäftigten vertreten kann und möchte. Das macht verständlicherweise wütend! Lasst uns diese Wut nutzen, um nachhaltig was zu verändern. Statt Geheimniskrämerei und Pseudointegration brauchen wir deswegen:

  • Nein zu allen Gesprächen hinter verschlossenen Türen, keine Geheimhaltungspflicht für die Tarifkomissionen! Verhandlungen sollen öffentlich über das Internet übertragen werden!
  • Keine Abschlüsse ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Rechenschaftspflicht und Wahl der Tarifkommission durch die Basis!
  • Regelmäßige Streikversammlungen in allen Betrieben und Abteilungen! Wähl- und Abwählbarkeit der Streikleitungen durch die Mitglieder!
  • Für den Aufbau einer klassenkämpferischen Basisopposition in den Gewerkschaften! 

Wut im Bauch? Aufbau einer Basisopposition statt Austritt!

Die Forderungen, für die wir mobilisiert wurden und für welche wir neue Kolleg:innen für die Gewerkschaften gewonnen haben, wurden erneut von ver.di nicht ernst genommen. Die Mobilisierungen wurden ausgebremst und die Argumente der Gegenseite übernommen. Es ist völlig verständlich, wenn sich viele nun verraten fühlen und sich ihre Mitgliedschaft nochmal durch den Kopf gehen lassen. Was wir aus diesen Erfahrungen jedoch lernen sollten, ist nicht, dass eine Mitgliedschaft in den Gewerkschaften sinnlos ist. Ganz im Gegenteil, sie zeigen, dass es eine organisierte Opposition gegen die Führungen innerhalb der Gewerkschaften braucht, um sich gemeinsam zu vernetzen und gegen die Argumente von oben zu bewaffnen und zu koordinieren. Dafür arbeiten wir als Gruppe Arbeiter:innenmacht in der „Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG)“ mit und rufen alle Kolleg:innen und Strukturen mit dem gleichen Ziel dazu auf, sich daran zu beteiligen. (Werbung für Workshop der VKG auf der Konferenz)

Klassenkämpferische Basisbewegung und politische Alternative

Eine organisierte, antibürokratische Opposition in den Gewerkschaften muss unserer Meinung nach nicht nur, wie oben skizziert, für Arbeiter:innendemokratie und eine konsequente Tarifpolitik kämpfen. Sie muss auch eine politische Alternative zur Sozialpartner:innenschaft und zum Reformismus der Bürokratie verkörpern.

Das heißt, eine klassenkämpferische Opposition braucht ein Programm des Klassenkampfes, das nicht nur gewerkschaftliche und betriebliche Forderungen konsequent vertritt, sondern alle Fragen von Unterdrückung und Ausbeutung wie Krieg, Rassismus, Sexismus, Imperialismus und ökologische Zerstörung thematisiert. Es braucht ein Programm, das über den rein gewerkschaftlichen Rahmen hinausgeht, nicht nur für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten eintritt, sondern das System der Lohnarbeit, den Kapitalismus selbst in Frage stellt. Das heißt, wir müssen nicht nur den Aufbau eine Opposition in den Gewerkschaften diskutieren, sondern auch die Frage, welche politische Organisation wir brauchen, wie wir eine neue, revolutionären Arbeiter:innenpartei aufbauen können, welche Politik und welches Programm dazu notwendig sind.Mehr Demokratie?

Nach dem Streik ist vor dem Streik? Der TVöD/BK ist fast abgeschlossen und viele Kolleg:innen sind enttäuscht. Statt uns zu ärgern, den Kopf in den Sand zu stecken oder einfach auszutreten, wollen wir uns vernetzen und die Situation nutzen, um nachhaltig was zu verändern! Wenn du also Interesse hast, mit deinen Kolleg:innen die letzten Tarifrunden kritisch auszuwerten, dann komm vorbei! Unser Ziel ist, unsere Erfahrungen zu nutzen und unsere Kolleg:innen, bei denen Tarifverhandlungen direkt vor der Tür stehen, wie bei der EVG, direkt zu unterstützen. Denn die Probleme sind keinesfalls auf ver.di beschränkt, sondern haben System. Wenn wir also was verändern wollen, müssen wir uns zusammenschließen und gemeinsam für die Demokratisierung der Gewerkschaften kämpfen. Wie genau das aussehen kann und welche Initiative wir starten wollen, besprechen wir auf unserem Treffen!




Wunderwaffe Organizing?

Wilhelm Schulz, Neue Internationale 273, Mai 2023

Es geht ein Gespenst um in den Gewerkschaftshäusern – das Gespenst des Organizings. Doch es ist hohe Zeit, die Anschauungsweise, dessen Zwecke, Stärken und Schwächen darzulegen.

Einleitung

Den Gewerkschaften in Deutschland geht es im langfristigen Trend schlecht. Während 1994 9.768.378 Kolleg:innen Mitglieder einer DGB-Gewerkschaft waren, sind es 2022 nur noch 5.643.762. Dieser Trend ist nicht einzigartig, sondern reiht sich ein in die Entwicklung in den westlichen imperialistischen Staaten. Inmitten dieser ist ein Schlagwort präsenter geworden: gewerkschaftliche Erneuerung. Ein zentrales Standbein dessen ist das Organizing.

In diesem Beitrag wollen wir Organizing als Methode, aber auch als Programm beleuchten und einer solidarischen Kritik unterziehen. Denn es schafft es, beispielsweise mit der Krankenhausbewegung inmitten der sozialpartnerschaftlichen Tristesse Leuchttürme des Arbeitskampfes zu errichten, neue Generationen von Arbeiter:innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft zu begeistern, den Schulterschluss zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken, und vieles mehr. Zugleich verkörpert es ein Programm des (zumeist linken Teils des) Gewerkschaftsapparats, das seiner Stellung nicht gefährlich wird. Dabei ist es diese, die erst kürzlich trotz gigantischen Zuspruchs für den Vollstreik bei der Post den Ausverkauf des Arbeitskampfes eingeleitet hat. Und das ist nur ein Verrat unter vielen auf dem Kerbholz der Arbeiter:innenbürokratie.

In diesem Text werden wir uns in den Konkretisierungen im Wesentlichen auf Jane McAlevey beziehen, die in linken gewerkschaftlichen Kreisen und an den Schnittstellen zu sozialen Bewegungen aktuell die wirkmächtigsten Ansätze präsentiert. McAlevey ist die Strategin des US-amerikanischen Organizings und führender Kopf des internationalen Netzwerks „Organizing for Power“ (O4P) in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS). Das Netzwerk ist nach eigenen Angaben der RLS eine „der erfolgreichsten Online-Veranstaltungsreihen der weltweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung [ … ; mit] fast 27.000 Menschen aus 130 Ländern“[i], die daran teilnahmen.

Das Schwerste zuerst: ein Definitionsversuch

An dieser Stelle sollen zwei Definitionen aus den Debatten rund ums Organizing herangezogen werden. Britta Rehder, Professorin für Politikwissenschaft an der Ruhr-Uni Bochum, bezeichnet Organizing als strategischen Instrumentenkasten, der darauf abzielt, neue Ansätze für gewerkschaftliche Revitalisierungsversuche zu erarbeiten (vgl. Rehder 2014)[ii]. Dabei handelt es sich um ein Programm strategischer Planung durch die führenden Abteilungen der Gewerkschaften, das zumeist darauf ausgelegt ist, (traditionell) schwer organisierbare Berufsgruppen über offensive Mitgliedergewinnung zu erreichen.

Dieser Teil des Programms wird teilweise Strategic Unionising genannt. Es findet auf drei Ebenen statt: (1) die extensive Mobilisierung zur Rekrutierung neuer Mitglieder, (2) die intensive Mobilisierung zur Einbeziehung der eigenen Basis und (3) die Koalitionsbildung mit anderen politischen Akteur:innen.

Florian Wilde, wissenschaftlicher Referent für Gewerkschaftspolitik am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, schreibt im Vorwort der deutschen Ausgabe des neuesten Buchs von Jane McAlevey „Macht. Gemeinsame Sache.“, dass das „Organizing [ … ] Herangehensweisen und Werkzeuge [vereint], um Menschen zusammenzubringen und zu befähigen, mithilfe kollektiven Handelns ihre gemeinsamen Interessen zu vertreten.“ (McAlevey 2021, S. 11). Ziel ist es dabei, die Gewerkschaften als Institutionen zu stärken, um für eine gerechte (sic!) Verteilung von Reichtum und Macht zu sorgen. „Denn Macht, also die Möglichkeit oder Fähigkeit zu haben, etwas zu bewirken oder beeinflussen zu können, ist die Grundvoraussetzung, um Veränderungen zu schaffen.“ (ebd., S. 18).

Organizing ist also ein Konzept geschwächter (gewerkschaftlicher) Strukturen zum Organisationsaufbau, um (wieder) verhandlungsfähig zu werden. Darin steckt bereits ein Doppelspiel aus Strategie und Taktik. Taktiken sind in dem sogenannten Instrumenten- oder auch Werkzeugkasten zu suchen, seien es Eins-zu-eins-Gespräche, Abteilungsgänge, Stärketests, Telefonflashs, Petitionen, Flashmobs, Mehrheitsstreiks und vieles Weiteres als (un-)mittelbare Schritte, um die eigene Ausgangslage zu verbessern. Und zugleich die Zweckmäßigkeit, für die diese Mittel eingesetzt werden (Strategie), die in der (Wieder-)Erlangung von Verhandlungsmacht liegen. Organizing beruht auf der Annahme, dass sich Menschen organisieren, wenn sie die Möglichkeit sehen, dass Probleme, die ihre sind, durch kollektive Organisierung gelöst werden können.

Organizing als … Methodenwerkzeugkoffer

Im breitesten Sinne, also wenn Organizing bloß auf die verwendeten Formen begrenzt wird, handelt es sich um kein genuin progressives Konzept. Beispielsweise kann auch die Tea-Party-Bewegung als eine Organizinkampagne begriffen werden. Im breitesten Sinne ließen sich Organizing und Beteiligung fast synonym verwenden. Mit dieser Erkenntnis kann man aber genauso viel wie wenig anfangen. Ziel dieses Textes ist aber keine breite Auseinandersetzung mit allem, was unter der Klammer des Organizings auftreten könnte. Es geht hier um Aspekte des sogenannten transformativen Organizings, speziell in Bezug auf gewerkschaftliche Debatten.

Eric Mann hat den Begriff zu fassen versucht, wenn er schreibt: „Durch transformatives Organizing werden Massen von Menschen rekrutiert, um radikal für konkrete notwendige Forderungen zu kämpfen – um segregierte Einrichtungen allen zugänglich zu machen, Arbeitsplätze für Schwarze, das Ende der Militärrekrutierung auf dem Campus –, aber immer als Teil einer größeren Strategie, um die strukturellen Bedingungen in der Welt zu verändern: für ein Ende der Apartheid nach der Abschaffung der Sklaverei. Um einen Krieg zu beenden. Für den Aufbau einer wirkmächtigen, langlebigen Bewegung. Transformatives Organizing richtet sich auf eine Transformation des gesellschaftlichen Systems, des Bewusstseins der Menschen, die organisiert werden –, und im Verlauf auch des Bewusstseins der Organizer.“ (Mann 2011, S. 1f).[iii] Eine generelle Kritik der Transformationstheorien haben wir an anderer Stelle unternommen.[iv]

Durch die Fokussierung auf die gesellschaftliche Öffentlichkeit, beeinflusst durch das Community Organizing, stellt das gewerkschaftliche als Werkzeugkasten eine Art Anreicherung betrieblicher Kampfformen mit Einbindung der sozialen Netzwerke der Arbeiter:innen als bürgerliche Individuen dar. Wie Marx in der Deutschen Ideologie gezeigt hat, tritt im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung das Individuum doppelt in Erscheinung, als Klassenindividuum und als zufälliges oder persönliches (frei von allen ständischen und feudalen Bindungen).

Daher erscheinen sie auch in ihrem eigene Bewusstsein als freier als die Mitglieder früher Gesellschaftsformationen, obwohl sie realiter stärker unter die materiellen Verhältnisse (und damit auch unter ihre Klassenposition) subsumiert sind. Das Community Organizing spricht die Menschen – auch die Lohnabhängigen – letztlich als zufällige Subjekte an, also als Nachbar:innen, Kinder, Eltern, Freund:innen oder Bekannte. Sie sind in Vereinen aktiv, in sozialen Medien präsent, kennen lokale Politiker:innen, sind möglicherweise gläubig usw. Im Übrigen trifft genau das auch auf deren Umfeld zu.

Um dem Theorieteil etwas vorzugreifen, lässt sich sagen: Ihre Stellung ist nicht primär die sich dialektisch bedingender sozialer Klassen, sondern eine positiv bestimmbare Kategorie des Habens. Die Methoden des Organizings bewegen sich tendenziell mehr auf dieser Ebene, die der der Verteilung (Zirkulation) entspricht. Das Organizing im Gefolge von McAlevey nimmt nicht in Anspruch, erstmalig die einzelnen Konzepte (Werkzeuge) entdeckt, sondern sie zu einem System zusammengeführt zu haben.

Zentrale Methoden: der Strukturtest und die organischen Führungspersönlichkeiten

Organizing ist oftmals ein lange andauernder Prozess mit verschiedenen Phasen. In allen werden gewisse Ziele gesetzt (X Mitglieder bis dahin, Y Teilnehmer:innen auf einer Betriebsversammlung, Z Follower:innen auf der Instagramseite). Diese Ziele werden als Strukturtests bezeichnet und bestimmen den Kampagnenfahrplan, der zumeist als eine Art Mapping bei einem Workshop erstellt wurde und nach einem Strukturtest aktualisiert werden muss. Strukturtest bedeutet nicht prinzipiell der Aufbau betrieblicher Kampfstrukturen. Es stellt sich immer die Frage der Zweckmäßigkeit. Eine Urabstimmung über die Durchführung eines Arbeitskampfes oder über dessen Fortsetzung ist immer eine Frage der Kampfperspektive, mit der diese eingebracht wird. Auch die regelmäßigen „Strukturtests“ die beispielsweise die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im TV-G (Tarifvertrag-Gesundheitsschutz) bisher absolvierte, mit monatlichen Streiktagen ohne Verhandlungsfortschritt oder Veränderung der Streiktaktik können zur Schwächung statt zum Strukturaufbau führen.

Organische (An-)Führer:innen sind Kolleg:innen oder Teile einer Community, die eine zentrale Rolle in den jeweiligen Netzwerken spielen. Auch dies Konzept ist an und für sich nützlich. So schlägt McAlevey vor, sich nicht ausschließlich auf die etablierten Kontakte zu stützen, sondern auf sogenannte organische Führer:innen. Verkürzt gesagt, soll auf jene Kolleg:innen der Fokus gelegt werden, die Gehör unter den anderen finden, Vertrauen genießen, gewissermaßen beliebt sind anstatt der reinen Gewerkschaftsmitgliedschaft oder etwaiger Stellungen (bspw. Betriebsrat, Vertrauenskörpermitglied). In gewissem Sinne handelt es sich um die Suche nach charismatischen Führer:innen.

Der Begriff der charismatischen Führung ist jenem der charismatischen Herrschaft entlehnt. Er findet sich u. a. theoretisiert bei Max Weber. Bei ihm lautet es: „Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden.“ (Weber 2005, S. 38)[v]. Weber benennt darüber hinaus drei Formen der Herrschaft, die traditionale, die legale und die charismatische. Letztere ist eine Qualität der Persönlichkeit, steht und fällt aber auch mit ebenjener. Charismatische Führer:innen zu gewinnen, wird dabei in den ersten Phasen des Organizings als weitaus zentraler als der Aufbau von Strukturen oder die Gewinnung deutlich mehr neuer Gewerkschaftsmitgliedern betrachtet. Die lebendigen Beschreibungen, die McAlevey beispielsweise in ihrem Buch „Macht. Gemeinsame Sache. – Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie (sic!)“ liefert, zeigen, dass teilweise Versuche, gewerkschaftsfeindliche Kolleg:innen zu gewinnen, gelangen. Umgekehrt schafften es aber auch die professionellen Union-Busting-Unternehmen teilweise, gewerkschaftsnahe Kolleg:innen auf ihre Seite zu ziehen. In den USA treten Organizing- und Union-Busting-Firmen gewissermaßen als Zwillingsgesichter zweier gegensätzlicher Interessen auf, eine im Sinne der Gewerkschafts-, die andere im Sinne der Unternehmensführung.

All diese Beschreibungen sind hoch interessant, geben praktische Tipps für Organizer:innen, doch eine wichtige Frage werfen sie nicht auf. Organische Führer:innen zu sein, sagt noch wenig über den Inhalt der Führung aus. Die Auswahl der Führung durch vom Gewerkschaftsapparat angeheuerte Organizer:innen sagt aber zugleich etwas über deren tendenzielle Perspektive aus. Organische Führer:innen, die sich aus ihrer Opposition auf Betriebsversammlungen heraus bekanntmachen, die über Wochen, Monate und Jahre für die Durchsetzung von Streikzielen ringen, sind etwas anderes als charismatische Individuen, die von Gewerkschaftsbürokrat:innen beauftragt werden, Führer:innen zu sein.

Jedoch steht sich dies nicht prinzipiell entgegen. Was zusätzlich Einfluss nimmt, ist die Frage: Wem gegenüber besteht hier Rechenschaft oder auch wer ist Ross und wer Reiter:in? Durch Organizer:innen bestimmt zu werden, etwas aufzubauen, hat eine andere Wirkung, wenn eine Kolleg:in ausgewählt wird, weil sie eine bestimmte Kampfperspektive vertritt oder sich in einem Kampf gegen die Bosse bewährt hat. Beim aktuellen Organizing nimmt die Gefahr zu, dass die handverlesene organische Führer:in im Zweifel eher mit den Gewerkschaftsbürokrat:innen als gegen sie stimmt. An und für sich ist auch eine charismatische Führung nicht demokratisch legitimiert, wobei – und das wiederholen wir – sich Charisma und Legitimität nicht prinzipiell entgegenstehen müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass das Konzept der organischen Führung jenes der demokratischen Kontrolle tendenziell vermeidet.

Grenzen der Demokratie und politischen Ziele

Die Frage der Demokratie tritt jedoch nicht gänzlich in den Hintergrund. Die Kolleg:innen sollen die verschiedensten Phasen der sichtbaren Kampagne durch ihre Beteiligung und demokratische Mitbestimmung durchaus prägen. Dieses Vertrauensverhältnis, das das Organizingkonzept aufzubauen versucht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Fortschritt, denn es bezieht kämpfende Arbeiter:innen in die Entscheidungen besser ein. Die Krankenhausbewegung an den Unikliniken in NRW war hier ein gutes Beispiel. Der „Rat der 200“ war eine Art der demokratischen Entscheidungsstruktur des Arbeitskampfs durch die Belegschaft und ein Vorteil gegenüber jeder von oben eingesetzten Tarifkommission.[vi]

Aber die Demokratie hat ihre Grenzen im Konzept. Kritisch wird’s, wenn es um die Frage der Demokratisierung der Gewerkschaften auch über den Arbeitskampf hinaus geht oder wenn eine andere Richtung als jene des Apparates eingeschlagen werden soll. Denn schlussendlich handelt es sich nicht um gewerkschaftliche Basiseinheiten, die aufgebaut werden, die demokratische Kontrolle übernehmen könnten und sollten, sondern um eine Art befristeten, vom Apparat finanzierten und kontrollierten Projektes. Als zugespitzte Form dessen finden in den USA teilweise Pitchformate statt, bei denen Organizer:innen vor Gewerkschaftsbürokrat:innen in kurzer Zeit Potenziale dieser und jener Projektförderung darstellen, die nach Kosten und Möglichkeiten kalkuliert und dann aus der Gewerkschaft outgesourct abgehandelt werden – eine Form des New Public Managements in den Gewerkschaften.

McAlevey, aber auch andere Vertreter:innen dieser Neuausrichtung argumentieren nicht dafür, dass die organischen Führer:innen auch in den Gewerkschaften Fuß fassen sollen oder dass hier die strategische Erneuerung stattfinden solle. Denn das sei Aufgabe des Strategic Unionising, wofür hochprofessionelle (zumeist) Hauptamtliche nötig seien. Die Grenze zwischen Organizing und Strategic Unionising bildet gewissermaßen das Werkstor. Dafür soll eine Definition des Organizing von der ver.di-Sekretärin Agnes Schreieder exemplarisch dienen. Sie schrieb 2005 „Wir selbst bilden die Gewerkschaft im Betrieb“[vii]. Das Zitat spielt a das Betriebsverfassungsgesetz an (BetrVG). In diesem wird das sogenannte Zwei-Säulen-Modell von betrieblicher und tariflicher Autonomie der Mitbestimmung fixiert. Ersteres ist Aufgabe von Betriebsräten,Zweiteres von Gewerkschaften – eine Einmischung findet formal (!) nicht statt. Netter kann also nicht gesagt werden, dass jedwede Demokratie nicht prinzipiell auf die Gewerkschaft zurückwirkt. Die Debatte der gewerkschaftlichen Erneuerung muss aber über Programm, Rolle und Funktion der Gewerkschaftsbürokratie stattfinden.

Als Letztes wollen wir kurz den Mehrheitsstreik anschneiden. Demnach soll es erst in die Arbeitsniederlegung gehen, wenn eine Mehrheit der Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert ist. Schauen wir uns Deutschland an, so sind 2019 knapp 45,3 Millionen Menschen lohnabhängig gewesen. Mit dieser Zahl lässt sich zwar nicht hinreichend die Größe der Arbeiter:innenklasse verstehen, aber sie ist ein erster Indikator. Wir müssen uns ehrlich eingestehen, dass selbst in Deutschland, einem Land mit relativ großen Gewerkschaften, diese nie die Mehrheit der Klasse organisierten. Auch zeigt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst, dass sie (hier ver.di) in der Aktion einen Großteil ihrer Mitglieder gewinnen. Die Orientierung auf Mehrheitsstreiks mag in den USA eine Vorsichtsmaßnahme aufgrund der schlechteren Arbeitsrechte sein, jedoch spielt auch die Frage der Bündnisfähigkeit hier mit hinein, wofür die mächtigste Waffe, der Schock in der Wertschöpfung, zu einer Maxime wird.

Besonders problematisch wird der Maßstab des Mehrheitsstreiks jedoch, wenn wir über den Rahmen des gewerkschaftlichen Kampfes hinausgehen. Ein Organisationsgrad von 50 % der Klasse ist im Kapitalismus immer die Ausnahmeerscheinung. Demzufolge können politische Massen- oder Generalstreiks fast nie stattfinden – oder hätten faktisch unterlassen werden müssen. In Wirklichkeit zeigen sich hier besonders deutlich die politischen Grenzen des Organizingkonzepts, das nicht auf eine politische Konfrontation mit der herrschenden Klasse und deren Sturz, sondern auf bessere Bedingungen des ökonomischen Kampfes zielt. Das System der Lohnarbeit selbst wird nicht in Frage gestellt.

Wer ist eigentlich Organizer:in?

Wie wird man es und wichtiger, wie bleibt man es? „Wer erzieht die Erzieher:innen?“ Organizing übt eine gewisse natürliche Attraktivität aus. Es stellt zumeist für studierte Aktivist:innen, die bisher in betrieblichen und gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen wenig systematisch Fuß gefasst haben, eine Möglichkeit dar, gegenüber beispielsweise der Arbeiter:innenklasse und der strukturellen Krise ihrer größten Organisationen, der Gewerkschaften, aktiv zu werden. Dieses Verhältnis wird durch den Gewerkschaftsapparat eingeleitet und entspringt selten einer zuvor bestehenden Verknüpfung zu betrieblichen Aktiven. In seiner zugespitzten Form sind die Organizer:innen Vermittler:innen zwischen Gewerkschaft und ihrer (potenziellen) Mitgliedschaft im Interesse und materiell abhängig von Ersterer. Eine Untersuchung der Arbeit von Organizer:innen wäre eine eigene Aufgabe. Wir haben in der Vergangenheit schon Berichte gehört von überarbeiteten Organizer:innen, die faktisch als Leiharbeiter:innen durch Subunternehmen bei der Gewerkschaft beschäftigt und dort verheizt werden. Allein aus dieser Konstellation heraus ist es wenig verwunderlich, dass die dauerhafte lebendige Beziehung zwischen organischen Führer:innen und Gewerkschaften vielleicht noch aufrechterhalten bleibt, ob dies für die organizten demokratischen Entscheidungsstrukturen gilt, ist wohl ein seltener Glückswurf.

Organizing versus Mobilizing versus Advocacy

McAlevey skizziert drei verschiedene Ansätze im Kampf gegen ein soziales Problem bei ungleichen Machtverhältnissen: Advocacy, Mobilizing, Organizing. „Advocacy bezieht letztlich gar keine normalen Leute ein; stattdessen werden AnwältInnen, MeinungsforscherInnen, WissenschaftlerInnen und PR-Agenturen damit beauftragt, den Kampf zu führen.“ (McAlevey 2019, S. 34)[viii]. Ein Ansatz, der in dieser Debatte keine große Unterstützung findet, da er auf die Einbeziehung einer breiten Masse verzichtet. Es lässt sich auch klassisch als Stellvertreter:innenpolitik bezeichnen.

Der Mobilizingansatz bezieht hingegen große Menschenmassen in seine Aktionen mit ein, jedoch oftmals dieselben engagierten Aktivist:innen, die ohne großen Rückhalt in ihrem tagtäglichen Umfeld agieren und wie per Knopfdruck von Hauptamtlichen für einen kurzen Zeitpunkt abberufen werden (mobilisiert). Ein praktisches Beispiel wäre eine Antifaaktion in einer Gegend, in der keine Verankerung besteht. Dorthin wird mobilisiert, dann findet eine Aktion statt (bspw. Blockade eines Naziaufmarschs) und danach sind alle wieder weg. Zu guter Letzt das Organizing. McAlevey malt dieses natürlich in den hellsten Farben. Im Zentrum steht die Einbeziehung von Personen, die zuvor kaum oder überhaupt nicht aktiv waren. „Im Organizing-Ansatz bilden spezifische Ungerechtigkeiten und die Empörung darüber die unmittelbare Motivation zur Aktivierung, allerdings ist das letztendliche Ziel die Übertragung der Macht der Eliten auf die Mehrheit, von dem einen auf die 99 %.“ (ebd., S. 35).

Exkurs: Die populare Klasse

Mit 99 % stellt sich schnell die Frage des Subjekts. Schlussendlich ist das Organizing kein rein gewerkschaftliches Programm zum Organisationsaufbau, sondern entspringt dem US-amerikanischen Community-Organizing-Ansatz. In den verschiedensten Texten stolpert man dabei über den Begriff der popularen Klasse. Beispielsweise bei Thomas Goes, der für einen Machtblock von unten wirbt und zusammen mit Violetta Bock im Umfeld der Bewegungslinken oder der Kampagne Organisieren, Kämpfen, Gewinnen (OKG) Einfluss nimmt. Oder Jana Seppelt und Kalle Kunkel, beide (ehemalige) ver.di-Gewerkschaftssekretär:innen und an der Schnittstelle zu sozialen Bewegungen – Seppelt ist zusätzlich stellvertretende Parteivorsitzende der LINKEN. Die beiden schreiben in ihrem Aufsatz „Was Organizing (nicht) ist“ von massenhaften und kollektiven Aktionen als einer zentralen Machtressource der popularen Klassen (Vgl. Kunkel/Seppelt 2022)[ix]. Diese Öffnung des Klassenbegriffs von einem im Wesen des Kapitalismus verankerten Ausbeutungsverhältnis weg und hin zu einem in seiner Erscheinung auftretenden Unterdrückungsverhältnis als Begriff der Empörten eines Volkes ist dem Ansatz bereits eingeschrieben.

In den Debatten werden Organizing und das sogenannte Mobilizing oftmals entgegengestellt. Das entspringt einer Kritik an Saul Alinsky, einem Wegbereiter des Community Organizings. Alinsky, vor allem in Chicago tätig, war von zwei wesentlichen Einflüssen geprägt: der Chicagoer Schule (der Soziologie) speziell von Ernest Burgess und dessen Aufsatz „Can Neighboorhood Work Have a Scientific Basis?“ – eine Debatte, inwiefern der Communitybegriff als Ersatz für den der Klasse verwendet wird, wird hier ausgespart – und den Thesen des Gründers des Gewerkschaftsbundes CIO (Congress of Industrial Organizations) John L. Lewis. Die frühe CIO arbeite bereits mit Konzepten wie dem Mehrheitsstreik, organischen Führer:innen und Strukturtests. Jane McAlevey widmet der CIO, Lewis und Alinsky ein ganzes Kapitel in ihrem zweiten Buch „Keine halben Sachen“ (2019). Während sie Lewis die Entwicklung eines gewerkschaftlichen Organizingmodells attestiert, der angesichts des sich etablierenden Fordismus auf die Gewinnung un- und angelernter Arbeiter:innen setzte, wirft sie Alinsky dessen Entstellung vor. Dessen Organizing sei vor allem Mobilizing gewesen und in der Mehrheit der US-amerikanischen Gewerkschaften seien bis heute die Advocacy- und Mobilizing-Ansätze dominant. Alinsky entstelle das Organzingmodell der CIO an drei Punkten:

Erstens löse er die Organizingmethoden von den Motivationen der Organizer:innen ab und öffne sein Modell für „eine Eliten-zentrierte Machttheorie“ (McAlevey 2019, S. 67). Zweitens beschreibt sie ihn als Feind strategischer Bündnispolitik, da er sich alleinig auf die „Community“ der unqualifizierten Arbeiter:innen bezog und somit nicht auf die Betriebe, um dort den Schulterschluss mit angelernten und höherqualifizierten Arbeiter:innen zu suchen. Drittens ging das Konzept davon aus, dass die hauptamtlichen Organizer:innen prinzipiell ihren Basismitgliedern unterstellt seien und deswegen keine Rechenschaft über ihre Entscheidungen ablegen müssten, da sie sowieso dem Willen ihrer „Leaders“ (der Basis) folgten. In der Realität sah dies umgekehrt aus.

Warum der Exkurs? McAlevey unterstellt zwei Kräften eine Revitalisierung des Lewis-Alinsky’schen Ansatzes seit Mitte der 1990er Jahre, den Kräften rund um New Labour und den Demokrat:innen unter Obama und Hillary Clinton. Gegen diese beiden Richtungen versucht sie dementsprechend, in den Gewerkschaften und der Demokratischen Partei zu agieren. In Letzterer ist McAlevey im Übrigen Mitglied. Die in linken Kreisen bekannteste Organizingkampagne, die ihren Zielen eher entspricht, unter den Demokrat:innen ist die von Alexandria Ocasio-Cortez (AOC).

Organizing als … politisches Programm

Wichtig bleibt zu verstehen, dass das Organizing keine Perspektive für eine antibürokratische klassenkämpferische Gewerkschaftsopposition aus sich heraus darstellt. Pointiert formuliert ist Organizing ein Werkzeugkasten, mit dem sich linke Bürokrat:innen, die zumeist weitläufige Erfahrungen in sozialen Bewegungen statt betrieblichen Kämpfen aufwiesen, unter Beweis stellen können (Strukturtest), dass ihre Konzepte neue Mitglieder in die Gewerkschaften bringen können, ohne eine grundlegende Opposition gegenüber der Struktur der Gewerkschaften darzustellen. Revolutionäre Antibürokrat:innen dürfen daher nicht beim Organizing stehenbleiben. Sie müssen sich der hilfreichen Elemente bedienen und zugleich den Kampf um Demokratisierung weg von der Illusion einer demokratischen Mitbestimmung inmitten der Klassengesellschaft in einen der Demokratisierung der Kampforgane der Klasse umwandeln. In diesem Sinne können wir vom Organizing Kampfmethoden, angereichert durch technische Kniffe und die sogenannten Social Skills, erlernen. Doch Organizing als reine Form zu verstehen und dessen programmatischen Kern zu ignorieren, bedeutet immer auch eine Kapitulation vor der bestehenden Führung der Klasse und eine Blindheit vor den Sackgassen, in die sie uns führen.

Doch ist es die Gewerkschaftsbürokratie als Teil der Arbeiter:innenbürokratie, die ihr Ziel nicht in der Überwindung der Klassengesellschaft sieht, sondern in der Vermittlung gegensätzlicher Interessen, im „gerechten“ Ausgleich zwischen den Klassen. Daher ist sie materiell an den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat gebunden. Dies ist ein den objektiven, historischen Interessen der Arbeiter:innen fremdes und gilt, bekämpft zu werden. Das Organizing versucht zwar, unsere Klasse in Bewegung zu bringen. So weit, so gut! Doch zugleich bleibt diese Bewegung im Rahmen des Kapitalismus.

Dass McAlevey diese Frage nicht stellt, kann ihr nur bedingt vorgeworfen werden. Schlussendlich ist sie Teil der und Ideologin der Bürokratie. Das wird deutlich, wenn wir ihre Zieldefinition des Organizings lesen. So schreibt sie: „Wir stehen vor einer Wahl: Entweder gute Gewerkschaften aufbauen, robuste Tarifverhandlungen und Streiks möglich machen – oder aber uns von der Demokratie verabschieden.“ (McAlevey 2021, S. 8)[x].

Schlussendlich geht es dem Organizing nicht um den Untergang der herrschenden Ordnung, sondern um deren Verbesserung. Das Konzept läuft auf die Überzeugung oder bestenfalls Isolation des/r politischen Feind:in hinaus, jedoch nicht auf die Vernichtung seiner/ihrer gesellschaftlichen Grundlage (Schlagwort: Eigentum und Verfügung). Statt materielle Gewalt auszuüben mit dem Ziel des Erzwingens, ist hier die oberste Maxime der Appell als moralische Kategorie des gesunden Menschenverstandes.

Der Machtressourcenansatz: die Theorie hinter dem Organizing?

In den Ursprüngen des Organizing wurde ein doppelter Einfluss beschrieben, der einerseits den gewerkschaftlichen Debatten entsprang, die nach Konzepten für neue Herausforderungen suchten (damals: Fordismus, heute: gewerkschaftlicher Mitgliederverlust) und andererseits seine Bestätigung in den Konzepten sozialwissenschaftlicher Debatten suchte. Damals war dies die Chicagoer Schule, heute tritt zumindest in Deutschland der sog. Machtressourcenansatz an diese Stelle. Im Folgenden soll daher der Ansatz von Dr. Stefan Schmalz (Uni Erfurt) und Prof. Dr. Klaus Dörre (Uni Jena) beschrieben werden.[xi]

Vergleichbar mit der Chicagoer Schule pflegen auch diese Wissenschaftler:innen ein offenes, beratendes Verhältnis zu den praktischen Organizer:innen, wie die Machtressourcenkonferenz vom April 2022 zeigt. Diese wurde vom Bereich Arbeitssoziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert.[xii] Unter dem Einfluss dieser Konferenzen und ihrer Akteur:innen stehen die bisherig aufgezählten deutschsprachigen Autor:innen. Thomas Goes ist beispielsweise im Forschungsverbund von Dörre, Jana Seppelt war Sprecher:in auf der Konferenz.

Bevor der Ansatz vorgestellt wird, soll schemenhaft der Kapitalbegriff Pierre Bourdieus erwähnt werden. Der französische Soziologe gilt als poststrukturalistischer Neomarxist. Sein Kapitalbegriff ist jedoch grundsätzlich verschieden vom marxistischen. Bourdieu unterscheidet vier verschiedene Kapitalarten: ökonomisches, kulturelles, symbolisches und soziales Kapital. Sie sind ineinander transformierbar, wobei das ökonomische Kapital primär ist (vgl. Bourdieu 2016, S. 11)[xiii]. Er befasst sich jedoch weniger mit der Genese als mit der ungleichen Verteilung besagten Kapitals. Kapital wird bei Bourdieu zwar als akkumulierte Arbeit (ähnlich der geronnenen Arbeit bei Marx) bezeichnet, jedoch nicht prinzipiell aus einem Ausbeutungsverhältnis hergeleitet. Ähnlich wie bei anderen postmodernen Denker:innen seiner Zeit symbolisiert für ihn Kapital kein gesellschaftliches Verhältnis, sondern eine Kategorie von Macht. Um beispielsweise soziales Kapital zu reproduzieren, bedarf es der stetigen Pflege sozialer Beziehungen. Während der Marx’sche Kapitalbegriff auf der Ausbeutung fremder Arbeitskraft fußt, ist das Bourdieu’sche Kapital durch persönlichen Einsatz reproduzierbar. Kapital bei Marx ist also ein Ausbeutungsverhältnis, bei Bourdieu eine Ressource unter vielen. Bourdieus Kapitalbegriff ist faktisch primär in der Zirkulationssphäre und der Öffentlichkeit angesiedelt.

Mit diesem gewappnet gehen die Autor:innen vor, wenn sie dem Machtressourcenansatz anhängen. Sie entwickeln vier verschiedenen Formen: strukturelle, Organisationsmacht, institutionelle und, etwas quer dazu, gesellschaftliche Macht. Ausgangsthese ist, dass Lohnabhängige in Aushandlungen „durch kollektive Mobilisierungen von Machtressourcen ihre Interessen erfolgreich vertreten können“ (Schmalz/Dörre 2014, S. 211). In einer gewissermaßen linearen Reihenfolge stehen dabei die ersten drei Machtressourcen. Die strukturelle Macht entspringt der Stellung von Arbeiter:innen in der Produktion gesellschaftlichen Reichtums, die Organisationsmacht ist Ausdruck des kollektiven Zusammenschlusses in ihren Organisationen. Bis hierin erinnert das Konzept noch an Marx. Der grundlegende Unterschied wird jedoch deutlich, wenn es nun zur Frage der Zwecksetzung kommt.

An dieser Stelle kommt die institutionelle Macht ins Spiel. Diese zielt auf die Möglichkeit des zeitlichen Fortbestehens sozialer Kompromisse. In diesem Sinne muss Organizing als Aufbau von Organisationsmacht (Gewerkschaften), die aus der strukturellen Macht der Klasse folgt (Stellung im Wertschöpfungsprozess und der ständigen Herausforderung durch ihre sozialen Errungenschaften) mit dem Ziel der Aufrechterhaltung der institutionellen Macht (beispielsweise der Sozialpartner:innenschaft) verstanden werden.

Dieses Programm wird durch überhöhte Argumente für ein damit zusammenhängendes Gemeinwohl anstelle der Unvereinbarkeit widersprüchlicher Interessen begründet, also mit der Kategorie gesellschaftlicher Macht in ihren Unterformen der Kooperations- und Diskursmacht. Schauen wir uns, um plakativ zu sein, einmal die Slogans von Organizingkampagnen an: Krankenhausbewegung – Mehr von uns ist besser für alle; TV-Stud – Ohne uns läuft hier nix, gebt uns unsre Kohle fix; Service Employees International Union – Justice for Janitors.

Es geht darum, das eigene Interesse als ebenfalls legitim zu markieren und dafür breite (also klassenübergreifende) Bündnisse zu schmieden. Zumeist werden dafür die weiterreichenden Ziele aufgegeben (es muss realistisch sein). Unter der Überschrift eines gerechten Ausgleichs lassen sich verschiedene bürgerliche Ideologien zusammenfassen, sowohl solche, die in der Arbeiter:innenbewegung verankert sind (Reformismus) als auch bürgerlich liberale Konzeptionen (bspw. John Stuart Mills Lohnfonds). Und damit ist auch das Problem skizziert. (Transformative) Organizingansätze zielen auf die Erreichung eines Bewusstseins für einen gesellschaftlichen Kompromiss ab, dieser ist immer einer zwischen antagonistischen Klassen. Das Programm des Organizing stellt sich also nicht die Frage, inwiefern der ursprüngliche Kompromiss (die Sozialpartner:innenschaft in Deutschland) notwendig selbst zum Niedergang der eigenen Basis führen musste und auch bei den besten Organizingkampagnen wieder führen wird. In diesem Sinne ist Organizing ein gefährliches Amalgam aus bürgerlichen Ideologien.

Doch warum jetzt? Oder: Wann, wenn nicht wir?

Mit einer These hat der Text angefangen, konkret mit dem Schrumpfen der Organisationsmacht der Gewerkschaften in Deutschland (Mitgliederzahlen). Andererseits beobachten wir als Folge der Agenda 2010, aber auch beispielsweise der Digitalisierung der Arbeitswelt (Plattformökonomie usw.) eine Zunahme nicht gewerkschaftlich erschlossener Bereiche, während zugleich der Caresektor massiv und nicht erst seit der Pandemie an neuer Bedeutung gewonnen hat. Über Organizingkampagnen, aber auch außerhalb dieser konnten wir neue kampffähige Sektoren der Arbeiter:innenbewegung sehen, die nicht so einfach ins Ausland verlagert werden können. Zur selben Zeit erleben wir eine Tendenz der Deglobalisierung und des Umbaus ganzer Wertschöpfungsketten, teilweise zurück in die imperialistischen Zentren selbst. Die neuen Sektoren zu erschließen und für ein Programm des Klassenkampfes zu gewinnen, ist also das Gebot der Stunde.

Aber das Organizing gerade in seiner linken Form verbleibt dabei im Rahmen eines bürgerlich-reformistischen Verständnisses von Klassenbeziehungen und des -kampf. Es erkennt wie andere reformistische Kräfte den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital durchaus an. Aber es will nichts wissen von seiner revolutionären Aufhebung.

So sinnvoll daher auch einzelnen Organizingtechniken sind – so grundlegend müssen Revolutionär:innen dieses strategische Konzept und das damit verbundene gewerkschaftliche und reformistische Programm ablehnen. Es entspricht der Stellung und den Zielen der (linken) Bürokratie, linker reformerischer und populistischer Kräfte und findet daher auch seine Grenzen, wenn der politische Horizont bürgerlicher Reformpolitik überschritten werden soll.

Dann wendet sich die ganze Organizingprogrammatik letztlich gegen eine klassenkämpferische, demokratische und antibürokratische Erneuerung der Gewerkschaften und aller anderen Arbeiter:innenorganisationen. Der Aufbau eine klassenkämpferischen Basisbewegung und erst recht kommunistischer Fraktionen in den Gewerkschaften steht dem Gesamtkonzept diametral entgegen. Das wirkliche Gespenst, das nicht nur durch die Gewerkschaftshäuser geistert – bleibt das des Kommunismus.


Endnoten

[i] https://www.rosalux.de/o4p (abgerufen am 18.04.23)

[ii] Rehder, Britta (2014): Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung. In: Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch Gewerkschaften in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. S. 241-264.

[iii] Mann, Eric (2011): Transformatives Organizing. Praxistheorie und theoriegeleitete Praxis. https://www.rosalux.de/publikation/id/5259/transformatives-organizing (abgerufen am 18.04.23)

[iv] Suchanek, Martin (2016): Zur „Revolutionären Realpolitik“ der Linkspartei. Revolution oder Transformation. In: Neue Internationale 215. https://www.arbeitermacht.de/ni/ni215/luxemburg.htm (abgerufen am 18.04.23)

[v] Weber, Max (2005): Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie. Berlin: Zweitausendeins.

[vi] Hier ein Bilanzartikel von uns: https://arbeiterinnenmacht.de/2022/07/21/streik-der-unikliniken-nrw-beendet/

[vii] Schreieder, Agnes (2005): Organizing. Gewerkschaft als soziale Bewegung. Berlin: ver.di Eigenverlag.

[viii] McAlevey, Jane (2019): Keine halben Sachen. Machtaufbau durch Organizing. Hamburg: VSA Verlag.

[ix] Kunkel, Kalle und Seppelt, Jana (2022): Was Organizing (nicht) ist. https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/was-organizing-nicht-ist/ (abgerufen am 18.04.23)

[x] McAlevey, Jane (2021): Macht. Gemeinsame Sache. Gewerkschaften, Organizing und der Kampf um die Demokratie. Hamburg: VSA Verlag.

[xi] Schmalz, Stefan und Dörre, Klaus (2014): Der Machtressourcenansatz: Ein Instrument zur Analyse

gewerkschaftlichen Handlungsvermögens. In: Industrielle Beziehungen, 21(3). S. 217-237.

[xii] https://www.machtressourcen-konferenz.de/ (abgerufen am 18.04.23)

[xiii] Bourdieu, Pierre (2016): Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.




Ver.di: Vor einem Streikjahr?

Helga Müller, Neue Internationale 271, Februar 2023

In diesem Jahr stehen mindestens 5 größere Tarifrunden in Deutschland an! In diesem Frühjahr allein 3 wichtige Tarifrunden: bei der Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und im Nahverkehr Bayern. Es folgen die bei der Bahn und im Herbst im öffentlichen Dienst der Länder.

Und die Gehaltsforderungen lauten: bei der Post: 15 %, im öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr Bayern 10,5 % und mindestens 500 Euro Festgeld. Letzterer hat bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen. Sie verkörpern allesamt einen realen Ausgleich gegen die galoppierenden Inflation. Voraussetzung dafür wäre natürlich ihre volle Durchsetzung.  Dies ist nur möglich, wenn sich die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu entscheiden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Kampfstärke und Erfolgsaussichten

1. Alle Forderungen sind von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt worden. Bei der Post z. B. hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen bei einer Mitgliederbefragung für eine deutlich höhere Entgeltforderung als die von der Tarifkommission (TK) vorgeschlagenen 10 % ausgesprochen und 90 % derjenigen, die sich an der Befragung beteiligten, waren auch bereit, dafür Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin hatte sich die TK zu der Tarifforderung von 15 % durchgerungen und eine Erhöhung für die Azubis von 200 Euro beschlossen. Auch bei ver.di gab es deutlich höhere Forderungen aus den Reihen der Kolleg:innen – bis zu 19 % –, die sie auch gegenüber der TK vehement vertreten hatten. Gerade die Festgeldforderung von 500 Euro würde für viele von ihnen, die sich in den unteren Entgeltgruppen befinden und besonders hart unter der Preissteigerung leiden müssen, eine Erhöhung von bis zu 21 % bedeuten.

2. In vielen Bereichen existiert auch eine hohe Bereitschaft, dafür in den Streik zu gehen. Bei der Post sind die Voraussetzungen besonders günstig, der Organisationsgrad hier ist traditionell sehr hoch. Dieser liegt bei 70 % bundesweit – wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten liegt der Organisationsgrad unter 50 %. Alles in allem jedoch gute Voraussetzungen, um einen Durchsetzungsstreik auszuhalten. Auch die bisherigen Warnstreiks werden von den Kolleg:innen sehr gut befolgt. Sie werden trotz anstrengender Arbeit schlecht bezahlt, verdienen im Bundesdurchschnitt 1.000 Euro weniger als andere Beschäftigte im Monat und mussten dazu noch einen Reallohnverlust von 7 % im Jahr 2022 erleiden. Die Arbeitsbedingungen werden von Jahr zu Jahr schlechter z. B. über ständig wechselnde und größere Zustellungsgebiete, sodass viele sich eine andere Arbeit suchen. Allein 2021 haben 10.000 Beschäftigte den Konzern verlassen. Gleichzeitig hat er 8,4 Milliarden Euro Gewinn eingefahren – das beste Ergebnis aller Zeiten! Dies alles wird die Kampfmoral zusätzlich steigern.

Auch wenn der öffentliche Dienst insgesamt nicht so gut organisiert ist, gibt es dort durchaus Bereiche wie Müllabfuhr, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen und auch Belegschaften in einigen Krankenhäusern, die schon über viel Kampferfahrung verfügen. Zudem haben die dortigen Bewegungen in NRW und Berlin gezeigt, dass, wenn ein systematischer Mitgliederaufbau betrieben wird und die Kolleg:innen selbst über ihre Forderungen und die Vorgehensweise diskutieren und mitentscheiden können, auch wochenlange Durchsetzungsstreiks in diesen Bereichen möglich sind. Wie groß wäre erst wohl die Kampfstärke, wenn sie die komplette demokratische Kontrolle über den Kampf ausübten?

Im Nahverkehr sind die Kampferfahrungen hoch und selbst gut organisierte kurze Warnstreiks können sehr schnell den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, was den Druck auf die Kommunen erhöht. Hierbei muss gesagt werden, dass bundesweit betrachtet der Nahverkehr ein zerzauster Tarifflickenteppich ist. Während in Bayern dieses Jahr in der Runde des öffentlichen Dienstes mitverhandelt wird (aber auch hier nur bei den Betrieben, die in kommunaler Hand sind), sind andere erst nächstes Jahr dran. Zudem gibt es einige Betriebe mit Haustarifverträgen, z. B. die Berliner Verkehrsbetriebe oder die Hamburger Hochbahn. Das schwächt natürlich die Kampfkraft.

3. Zum anderen sind die Bedingungen auch deswegen günstig, da drei große Tarifrunden fast zeitgleich stattfinden: Die TK bei der Post verhandelt insgesamt für ca. 200.000 Beschäftigte (155.000 bei der Deutschen Post und 37.000 bei DHL), im öffentlichen Dienst für ca. 2,3 Mio. bei Bund und Kommunen und beim Nahverkehr Bayern für mehrere Tausend. Das sind über 2,5 Millionen Beschäftigte insgesamt!  Wenn diese in einer großen Tarifbewegung mit gemeinsamen Durchsetzungsstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen von den ver.di-Verantwortlichen zusammengeführt würden, wäre dies eine Kraft, die den Regierungen das Zittern beibrächte – ähnlich wie 1992 beim großen Streik im öffentlichen Dienst, bei dem auf dem Höhepunkt  sich zeitweilig mehr als 330.000 Arbeiter:innen und Angestellte im Ausstand befanden. Das wäre auch die Kraft, die eine Abwälzung der Krise auf die breiten Massen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, Rentner:innen, Jugendlichen und Migrant:innen verhindern könnte.

Die Kolleg:innen im Nahverkehr Bayern haben sehr bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen und sich für gemeinsame Aktionen und Arbeitskampfmaßnahmen ausgesprochen. Zu Anfang war das wohl auch der Wille der TK bei der Post. Mittlerweile haben aber die Mitglieder dort bereits die zweite Verhandlung hinter sich, in denen sich die Vertreter:innen der Post stur stellen und die Forderung nach wie vor ablehnen und für überzogen halten. Die 3. und vorerst letzte Tarifverhandlung findet dort am 8./9. Februar statt, im öffentlichen Dienst die erste Verhandlung erst am 24. Januar. Ob es nach einem letzten schlechten Angebot von Arbeit„geber“:innenseite dann tatsächlich zu einer anschließenden Mitgliederbefragung und Urabstimmung über einen unbefristeten Streik kommt, wissen bisher nur die Götter! Insofern stehen die Postkolleg:innen im Moment alleine da und entsprechend provokativ verhalten sich auch die Konzernverhandlungsführer:innen

4. Zum Vierten haben sich verschiedene Initiativen, darunter die Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) und die Berliner Krankenhausbewegung dazu entschieden, Solidaritätsaktionen bis hin zu einer Großdemo in Berlin am 25. März zu organisieren. Auch auf der Videokonferenz  von GiG zur Information über darüber mit den Postkolleg:innen am 12. Januar gab es verschiedene Ideen zur Unterstützung ihrer Tarifrunde. Alle dort Postler:innen betonten die Notwendigkeit der öffentlichen Unterstützung. Sei es einfach, dass man zu Kundgebungen und Streiks kommt und seine Solidarität bekundet oder einfach ein paar unterstützende Worte vorträgt bis dahin, ihre berechtigten Anliegen in der Öffentlichkeit klarzumachen. Denn bei den Verhandlungen versuchen die Vertreter:innen des Unternehmens, die Forderungen für vollkommen überzogen und realitätsfern hinzustellen. Um sich diesen Verunglimpfungen in den Weg zu stellen und damit auch die aktive Solidarität der Leute in den Stadtvierteln zu gewinnen, ist die Unterstützung von außen sehr wichtig, z. B. mit Flyern, in denen die Forderungen begründet werden und darauf hingewiesen wird, unter welch miserablen Bedingungen sie arbeiten müssen. Am 3./4. März will GiG eine bundesweite Aktionskonferenz in Halle (Saale) organisieren, auf der mögliche Unterstützungsaktionen für die Kolleg:innen in den anderen Tarifrunden besprochen werden.

Schulterschluss mit fortschrittlichen Bewegungen

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung und auch in dieser wird es zu gemeinsamen Aktionen mit ihr kommen! Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche.

Tarifrunde und Internationaler Frauenkampftag

Last but not least fällt der Tarifkampf – zumindest im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und evtl. auch bei  der Post, falls es nicht vorher zum Abschluss kommen sollte – auf den Internationalen Frauenkampftag am 8. März. Wie im letzten Jahr sollen Aktionen und Demonstrationen an diesem Tag zusammen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst und Nahverkehr gemeinsam durchgeführt werden. Doch bisher lehnt der ver.di-Bundesvorstand es ab, an diesem Tag zu Warnstreiks aufzurufen. Nichtsdestotrotz gibt es im Landesbezirk Baden-Württemberg eine Initiative, an diesem Tag ausgewählte Mitglieder zu Arbeitsstreiks aufzurufen, einer Art Vorstufe zu Warnstreiks. Bei der Krankenhausbewegung spielte das in Berlin und NRW eine Rolle zur Sammlung einiger Hundert führender Aktien in Vorbereitung auf einen größeren Arbeitskampf. Gegen diesen Beschluss sollten nichtsdestotrotz alle ver.di-Gliederungen Protestresolutionen verabschieden.

Kampfesführung

Das A und O dafür, dass die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, bleibt, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die TK als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein! Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwängen in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

Vorsicht Falle! Schlichtungsabkommen kündigen!

Eine gefährliche Bremse für die konsequente Führung des Arbeitskampfs bildet das Schlichtungsabkommen zwischen ver.di-Spitze und öffentlichen Dienstherr:innen. Die VKG schreibt:

„Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. Ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungsstreik erfolgen.“

Dem ist vollkommen beizupflichten und es ist rechtzeitig darauf zu drängen, dass der Gewerkschaftsvorstand es sofort kündigt, damit es ab April außer Kraft tritt. Diesbezügliche Petitionen sind zu verfassen, Mitglieder aus der VKG Berlin sind hier bereits mit gutem Beispiel in ihren jeweiligen Gewerkschaftsgliederungen vorangegangen. Unabhängig davon sollten alle Mitglieder sich nach Scheitern der Verhandlungen für die sofortige Einleitung der Urabstimmung einsetzen.




VKG-Konferenz – ein Schritt vorwärts

Stefan Katzer, Infomail 1201, 13. Oktober 2022

Ob Personalmangel, unzählige Überstunden, gescheiterte Transformationsprozesse oder Streichung von Arbeitsplätzen – all das wurde bei der Konferenz der VKG, der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, am letzten Wochenende, am 8./9. Oktober, diskutiert.

Rund 100 Menschen hatten sich in Frankfurt/Main versammelt, um eine Bilanz der letzten Jahre zu ziehen und diskutieren, wie der Kampf gegen Reallohnabbau und Inflation, gegen Arbeitsplatzvernichtung und Arbeitskräftemangel, gegen Krieg und imperialistische Kriegstreiberei erfolgreich gestaltet werden kann.

Neue Lage

Seit Januar 2020, als die VKG gegründet wurde, hat sich die Welt dramatisch verändert. Die Coronakrise und eine globale Rezession prägten die Zeit nach Gründung der Vernetzung. Auf einer kurzen Zwischenerholung folgten in diesem Jahr der Ukrainekrieg, Preissteigerungen und wird bald die nächste Rezession eintreten.

Die Angriffe auf die Lohnabhängigen werden heftiger. Während die Unternehmen alles daran setzen, die steigenden Preise weiterzugeben, klettert die Inflationsrate in Deutschland auf mittlerweile 10 %. Gleichzeitig möchte die Bundesregierung beim Kampf um die Neuaufteilung der Welt nicht zu kurz kommen und steckt mal eben 100 Milliarden Euro zusätzlich ins Militär, während für die Bereiche Gesundheit, Bildung und Klima angeblich kein Geld da ist. Was die „Zeitenwende“ konkret bedeutet, von der Olaf Scholz kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine gesprochen hat, wird somit immer deutlicher. Wir befinden uns am Anfang einer neuen Periode, die u. a.. durch weitere Blockbildung zwischen den konkurrierenden imperialistischen Mächten und Militarisierung einerseits, schwere Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen und Unterdrückten andererseits geprägt ist.

Angesichts dieser Entwicklungen sind eine Neuausrichtung der Gewerkschaftspolitik und eine Wiederbelebung des Klassenkampfes von unten dringend notwendig. Dem steht die Bürokratie innerhalb der Gewerkschaften weiterhin im Weg. Statt konsequent die volle Kampfkraft der Millionen Mitglieder für einen gemeinsamen Kampf gegen Krise und Inflation zu mobilisieren, beteiligt sich der DGB nur halbherzig an Mobilisierungen gegen die Abwälzung der Krisenkosten auf den Rücken der Lohnabhängigen und sitzt stattdessen weiterhin in der „konzertierten Aktion“ mit der Bundesregierung.

Wer daher an einer klassenkämpferischen Neuausrichtung der Gewerkschaften interessiert ist, muss einen konsequenten politischen Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie und ihr Programm der Sozialpartnerschaft innerhalb der Gewerkschaften führen.

Kein Wunder also, dass die Beiträge, Themen und Debatten bei der Konferenz am 8. und 9. Oktober darum kreisten, wie eine solche Alternative aufzubauen sei. Wie begreift die VKG eigentlich die Bürokratie und den Apparat? Geht es darum, den Apparat zu erobern oder das System der Bürokratie selbst in Frage zu stellen? Geht es vor allem darum, zu betrieblichen und gewerkschaftlichen Fragen zu mobilisieren, oder um einen politischen Kampf gegen die Krise und die damit verbundenen Fragen des Krieges und der drohenden ökologischen Katastrophe? Geht es darum, eine Vernetzung oder eine organisierte Opposition aufzubauen?

Bilanz

Selbstkritisch wurde dabei festgestellt, dass es der VKG in den letzten beiden Jahren nicht gelungen ist zu wachsen und größere Bekanntheit unter Gewerkschaftsmitgliedern zu erlangen. Um dies zu ändern, ist es notwendig, in den kommenden Tarifauseinandersetzungen deutlicher aufzutreten, um für die Kolleg:innen auf der Straße und im Betrieb sichtbar zu sein.

Es geht darum, eine wahrnehmbare Alternative zur Gewerkschaftsführung aufzubauen und einen klassenkämpferischen Pol innerhalb der Gewerkschaften zu formieren. So gesehen, muss die VKG über sich selbst hinauswachsen und zu mehr werden als eine bloße „Vernetzung“. Sie muss den Kampf gegen die Bürokratie innerhalb der Gewerkschaften anführen und diesen unter einem gemeinsamen Banner und Aktionsprogramm vereinheitlichen.

Kommende Tarifauseinandersetzungen

Um die kommenden Tarifauseinandersetzungen in der Metall- und Elektroindustrie sowie im öffentlichen Dienst im Interesse der Kolleg:innen zu gestalten und zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen, ist es zwingend erforderlich, den eingeschlagen antibürokratischen Kurs beizubehalten, ja zu verschärfen und unter den Kolleg:innen demokratische Kampfformen zu propagieren.

Zwar sieht sich die Gewerkschaftsführung mittlerweile offenbar gezwungen, Lohnforderungen im zweistelligen Bereich aufzustellen (10,5 % beträgt die Forderung für den öffentlichen Dienst). Die Frage ist nur: Wer von den Kolleg:innen glaubt wirklich, dass die Spitze die ganze Kampfkraft der Mitglieder zur vollen Umsetzung dieser Forderung (bei einer maximalen Laufzeit von einem Jahr) mobilisieren wird? Richtig: niemand! Es ist somit bereits jetzt absehbar, dass die Kolleg:innen im öffentlichen Dienst mit herben Reallohnverlusten rechnen müssen, sofern sie es der Gewerkschaftsführung erlauben, ihr übliches Tarifrundenritual durchzuziehen und sich am Ende entweder mit einer längeren Laufzeit oder deutlich niedrigeren Lohnerhöhung zufriedenzugeben. Am Ende sind es die Kolleg:innen, die mit dem Ergebnis leben müssen, während die Funktionär:innen in den Gewerkschaften mit ihren überdurchschnittlichen Gehältern sich weniger Gedanken über die Preisexplosionen machen müssen.

Für die VKG ist deshalb klar: Um einen möglichen Ausverkauf oder faule Kompromisse zu verhindern, müssen wir für die volle Kontrolle der Basis über die Kämpfe eintreten. Die Beschäftigen müssen selbst entscheiden können, wie, wofür und wie lange sie kämpfen möchten, um ihre Interessen durchzusetzen. Denn diese decken sich keineswegs mit jenen der Gewerkschaftsbürokratie. Das bürokratische System muss daher selbst in Frage gestellt werden und durch ein System direkter Verantwortlichkeit, d. h. durch jederzeit wähl- und abwählbare Vertreter:innen der Basis ersetzt werden, die nicht mehr als einen durchschnittlichen Lohn erhalten und gegenüber der Basis rechenschaftspflichtig sind.

Ansätze, wie sich eine solche demokratische Kontrolle der Kämpfe durch die Beschäftigten verwirklichen lässt, wurden auch auf der VKG-Konferenz diskutiert. Die Auseinandersetzungen im Gesundheitsbereich und insbesondere die Kämpfe um einen Tarifvertrag Entlastung in Berlin und NRW wurden hierbei ausführlicher behandelt. Insbesondere das System der Teamdelegierten, das sich während der Streiks in den Berliner Krankenhäusern herausgebildet hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig ist hierbei allerdings, dass es den Kolleg:innen gelingt, tatsächlich die Kontrolle über die Auseinandersetzungen auszuüben. Hierfür ist es notwendig, Streikausschüsse zu bilden, die dies leisten können. Die Erfahrungen in den Auseinandersetzungen im Gesundheitsbereich in Berlin und NRW haben zugleich deutlich gemacht, dass insbesondere die jederzeitige Wähl- und Abwählbarkeit der Delegierten zentral ist, um die Kontrolle der Kämpfe durch die Beschäftigten zu sichern. Dort wurde es zum Teil zu einem Problem, dass vor dem Streik gewählte Kolleg:innen während des Streiks passiv wurden und sich nicht weiter daran beteiligten. Um dies zu verhindern, muss es möglich sein, Delegierte jederzeit wieder abzuwählen.

Für die Gewerkschaftsmitglieder ist es extrem wichtig, aus den Fehlern, die begangen wurden, zu lernen, um diese in kommenden Auseinandersetzungen nicht zu wiederholen. So wurde etwa in Berlin die Spaltung der Belegschaft in jene, die direkt beim Mutterkonzern Vivantes angestellt sind, und in jene, die bereits zuvor in Tochterunternehmen ausgegliedert wurden, zu einem Problem, das man schon vorher hätte diskutieren können und müssen. Als die Verhandlungsführer:innen von ver.di für die Angestellten des Mutterkonzerns voreilig einen Abschluss erzielten, standen die ausgegliederten Kolleg:innen im Regen.

Um es Kolleg:innen aus anderen Krankenhäusern, aber auch Branchen zu ermöglichen, aus diesen Erfahrungen zu lernen, sollte die VKG Veranstaltungen organisieren bzw. unterstützen, auf denen von diesen berichtet und in einen direkten Austausch getreten werden kann. Darüber hinaus ist es sinnvoll, eine Konferenz speziell für die Kolleg:innen aus dem Gesundheitsbereich zu organisieren und dort eine bundesweite Kampagne für den Kampf um Entlastung anzustoßen. Denn die besprochenen Kämpfe verdeutlichen erneut die Notwendigkeit eines organisierten, bundesweiten Kampfes gegen die Profitlogik im Gesundheitsbereich und deren konkrete Ausgestaltungen (DRGs/ Fallpauschalen). Ein Kampf für eine bedarfsgerechte Finanzierung kann nicht von einzelnen Krankenhäusern geführt werden, sondern muss durch eine übergreifende Kampagne ergänzt werden und die Vereinheitlichung der Kämpfe (auch der Tarifauseinandersetzungen) zum Ziel haben.

Für einen heißen Herbst!

Um dies in Angriff zu nehmen, ist es notwendig, die klassenkämpferische Oppositionsarbeit nicht allein auf die Arbeit im Betrieb zu beschränken. Zwar ist der dort rund um ökonomische und Forderungen nach Verbesserung der Arbeitsbedingungen unerlässlich. Er ist jedoch keinesfalls ausreichend.

Darüber hinaus müssen die gewerkschaftlichen Kämpfe auch als politische geführt werden, d. h. die Gewerkschaften müssen sich aktiv an solchen beteiligen. Insbesondere in den aufkommenden Bewegungen und Bündnissen gegen die Inflation und Abwälzung der Kriegs- und Krisenkosten auf die Lohnabhängigen muss die VKG dies akut leisten. Diese stehen derzeit im Zentrum der Auseinandersetzungen. Gleichzeitig muss der Druck auf die Gewerkschaftsführung erhöht werden, ihrerseits aktiv zu werden und die Mitglieder zu mobilisieren. Es kann nicht sein, dass sich nur einzelne Mitgliedsgewerkschaften des DGB (GEW und ver.di) in die Kämpfe gegen die Inflation einbringen. Vielmehr muss der gesamte DGB zum Handeln aufgefordert werden.

Die VKG sollte Kolleg:innen dabei unterstützen, Druck auf die Gewerkschaftsführung aufzubauen, indem sie diesen etwa Musteranträge zur Verfügung stellt, in welchen eine Beteiligung der Gewerkschaften an Bündnissen und Mobilisierungen eingefordert wird. Wo immer möglich, sollte sich die VKG zudem selbst am Aufbau von Bündnissen gegen Krise und Inflation beteiligen. Nur, wenn wir selbst gegen die Krisenpolitik der Bundesregierung auf die Straße gehen und dabei auch ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, der Sanktionen fordern, die v. a. die lohnabhängige Bevölkerung treffen und den Krieg nicht beenden, können wir verhindern, dass die Rechten den Unmut für ihre nationalistische und rassistische Politik kanalisieren. Dass dies eine reale Gefahr darstellt, wurde am gleichen Wochenende, als die VKG in Frankfurt tagte, in Berlin deutlich. Dort gelang es der AfD, 10.000 Menschen für ihre reaktionäre und nationalistische Politik zu mobilisieren.

Unserer Meinung nach muss die VKG zu mehr, als ihr Name vermuten lässt, werden. Reine Vernetzung reicht nicht, denn der Kampf gegen die Sozialpartner:innenschaft und jene, die sie umsetzen, ist ein politischer. Um diesen erfolgreich zu führen, braucht es eine organisierte Opposition, die für eine klassenkämpferische Politik und den Bruch mit der Bürokratie kämpft!

Der Kampf gegen Inflation erfordert eine solche Ausrichtung geradezu – und sollte als Basis genutzt werden, eine breite Kampagne anzustoßen, Beschäftigte in die Aktivität zu bringen – nicht nur in ihrem Betrieb, sondern auch als aktive Opposition. Für eine Politik, die die Kämpfe aus unterschiedlichen Bereichen zusammenbringt, beispielsweise durch die Forderung der automatischen Anpassungen aller Löhne und Sozialleistungen an die Inflation! Für eine Politik, die klarmacht, dass keiner der kommenden Tarifverträge mit einem Reallohnverlust abgeschlossen werden darf!

Die VKG kann ein sichtbarer, aktiver Pol in den kommenden Auseinandersetzungen werden. Deswegen wollen wir bei den Mobilisierungen wie am 22. Oktober, wo ver.di und andere DGB-Gewerkschaften in 6 Städten mobilisieren, gemeinsam mit anderen klassenkämpferischen Kräften präsent sein und unsere Forderungen aktiv hereintragen. Das kann aber nicht alles sein: Wir müssen aktiv in Gewerkschaftsstrukturen intervenieren, unsere Forderungen verbreiten und das Gespräch mit Kolleg:innen suchen. Denn die  Preissteigerungen und Arbeitsplatzverluste werden wir nicht wegdemonstrieren können. Dazu brauchen wir politische Streiks und Besetzungen – und eine VKG, die gemeinsam mit anderen in den Gewerkschaften eine solche Politik durchzusetzen versucht.

Link: Abschlusserklärung der Konferenz: Nein zu Preisexplosion und Lohnverlusten: Die Gewerkschaften müssen die Gegenwehr organisieren!




Nein zu Preisexplosion und Lohnverlusten: Die Gewerkschaften müssen die Gegenwehr organisieren!

Konferenz der VKG am 9. Oktober 2022 (ursprünglich veröffentlicht auf vernetzung.org), Infomail 1201, 13. Oktober 2022

Die Inflation hat nicht gekannte Ausmaße erreicht. Die ersten Immobilienkonzerne haben die Warmmieten erhöht. 16 % der Bevölkerung verzichten bereits auf eine Mahlzeit am Tag. Viele Konzerne machen weiter Rekordprofite, deren Bosse kassieren Millionen. Die Masse der Lohnabhängigen wird zum Verzicht aufgefordert, dafür wird sogar das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale ausgepackt. Aber selten war so klar wie heute, dass es politische Entscheidungen, Aufrüstung, Krieg und die Zuspitzung zwischen den Großmächten sind, die die Krise befeuern.

Wir fordern die Gewerkschaftsvorstände auf, jetzt in den Betrieben und auf der Straße zu mobilisieren, um eine breite Bewegung aufzubauen. Die Beteiligung an der konzertierten Aktion mit Regierung und Unternehmern muss beendet werden.

Di anstehenden Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie sowie später in Bund und Kommunen bieten die Möglichkeit, gegen die drohenden Reallohnverluste zu kämpfen. Die Frage des Kampfes gegen die Teuerung dürfen w nicht den Rechten überlassen.

Metall

Wir fordern die führenden Gremien der IG Metall auf, für die volle Durchsetzung ihrer Forderungen zu mobilisieren und dafür eine Urabstimmung und Vollstreik vorzubereiten. Die üblichen Rituale werden dafür nicht reichen! Es darf keine Kompensation durch eine steuerfreie Abschlagzahlung und angesichts der unsicheren Lage keine Laufzeit über 12 Monaten geben!

Öffentlicher Dienst

Wir fordern die führenden Gremien von ver.di auf, die Beschlüsse in der Mitgliedschaft aufzugreifen: hier wurden auf mehreren Versammlungen Forderungen zwischen 400 und sogar 600 Euro monatliche Festgelderhöhung beschlossen, sowie Prozentforderungen zwischen 13 und 19 Prozent. Wichtiges Anliegen ist zudem eine maximale Laufzeit von 12 Monaten. Viele Kolleg*innen sind bereit, dafür auch in einen unbefristeten Streik zu treten.

Nachschlagforderungen

Wo Tarifverträge noch lange laufen, müssen jetzt Nachschläge gefordert werden.

Alle gemeinsam für die Verteidigung der Reallöhne!

In allen Betrieben sollten jetzt Versammlungen stattfinden, und für gemeinsame Proteste und eine bundesweite Demonstration mobilisiert werden. Tarifrunden sollten koordiniert werden, so dass gemeinsame Streikdemonstrationen stattfinden können. Eine solche Bewegung, hin zu gemeinsamen Streiks, ist nötig.

Diese Bewegung kann und soll auch alle einbeziehen, die nicht tariflich bezahlt werden, ebenso Rentner*innen und Beschäftigungslose. Die Preisexplosionen treffen sie oft mit besonderer Härte!

Zentrale Forderungen für eine gewerkschaftliche Kampagne sollten sein:

– Staatliche Preiskontrollen und -obergrenzen für Energie, Lebensmittel und Mieten!

– Gleitende Lohnskala: automatische Anpassung der Löhne, Renten und Sozialleistungen an die Inflation!

– In den Tarifrunden: Reallohnsteigerung bei Tarifabschlüssen durchsetzen! Keine Kompensation von nötigen Tabellenerhöhungen durch Einmalzahlungen u.a.! Tariflaufzeiten maximal 12 Monate!

– Nachschlagforderungen, wo lange Laufzeiten gelten!

– 100 Milliarden für Gesundheit, Soziales, Bildung und Klima statt für Rüstung!

– Reiche sollen zahlen: Steuern auf Profite und Vermögen!

– Statt rassistischer Lohndrückerei und prekärer Arbeit – gleiche Löhne und das Recht zu Arbeiten auch für Geflüchtete und MigrantInnen!

Wir setzen uns in den Gewerkschaften für ein Aktionsprogramm ein:

– Versammlungen in Betrieben und Gewerkschaften mit verbindlichen Entscheidungen auf allen Ebenen und Aktivenkonferenzen

– Mobilisierungsmaterial bereitstellen: Flugblätter, Plakate

– Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen

– Wöchentliche lokale Proteste, zu der Kolleg*innen in den Betrieben mobilisiert werden

– Bundesweite Großdemonstration als Schritt hin zu weiteren Mobilisierungen bis hin zu Arbeitsniederlegungen

– In den Tarifrunden: Urabstimmungen und Erzwingungsstreiks ernsthaft vorbereiten

– Gemeinsam kämpfen: Koordinierung von Protesten, Warnstreiks und Streiks

Die Unterzeichnenden rufen dazu auf, mit uns gemeinsam für diese Punkte in ihren Betrieben und Gewerkschaften aktiv zu werden. Wir werden uns weiter koordinieren, um den Druck aufzubauen, damit eine solche gewerkschaftliche Kampagne umgesetzt wird.

Alle Kolleginnen und Kollegen können selbst die Initiative ergreifen:

  • Bringt diese Forderungen in Gewerkschaftsgremien oder auf Betriebsversammlungen ein
  • Sucht dafür Kolleginnen und Kollegen, geht mit ihnen zu den Betriebsräten, zur Gewerkschaft und zu örtlichen Protestaktionen
  • Nehmt Kontakt mit uns auf, berichtet von euren Aktivitäten und nutzt gerne unser Material!
  • Bildet lokale oder betriebliche Gruppen der VKG und geht als gemeinsamer Block auf die Demos und Aktionen!

Nur wenn die Gewerkschaften wieder in Bewegung kommen, nur wenn sie unter die Kontrolle der Mitglieder kommen, können die Gewerkschaften auch wieder stark werden!

Diese Erklärung wurde auf der Konferenz der VKG am 9. Oktober 2022 einstimmig bei einer Enthaltung angenommen.

Erklärung zum Herunterladen:

https:/vernetzung.org/wp-content/uploads/2022/10/Erklaerung-VKG-Preisexplosion-Lohnverluste.pdf




VKG-Konferenz: Fünf Punkte für ihren Aufbau

Gruppe Arbeiter:innenmacht, Neue Internationale 268, Oktober 2022

Die Preise klettern wie wild in die Höhe – doch es passiert wenig dagegen. Anstatt flächendeckende Proteste gegen die Preistreiberei der Konzerne und die heftige Inflation zu organisieren, sitzen die Topbürokrat:innen des DGB in der „Konzertierten Aktion“ mit Kapital und Regierung an einem Tisch, betteln um Erleichterung aus Steuermitteln und passen zugleich auf, dass die Lohnforderungen in Tarifrunden nicht zu hoch sind und der Kampf für die Forderungen nicht effektiv geführt wird. Die IG Metall hat nur zugeschaut, als die Schließung von Großbetrieben wie Ford Saarlouis oder der Röhrenwerke von Vallourec (ehem Mannesmann) angekündigt wurde. Ausverkauf statt Widerstand!

Kurzum: Seit Gründung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) vor bald drei Jahren hat sich die Lage für die Arbeiter:innenklasse verschlechtert. Das Versagen der reformistischen Scheinlösungen und das harte Vorgehen der Bürokrat:innen gegen die Aktivst:innen in der Gewerkschaft führt zu Resignation und kann sogar Kolleg:innen nach rechts treiben. Gleichzeitig schafft die fehlende Initiative der Gewerkschaften hinsichtlich der aktuellen Preissteigerungen sowie Krise und zögerlichen Forderungen bei den Tarifrunden eine Lücke. Es ist Aufgabe der VKG, diese mit konkreten politischen Vorschlägen zu füllen!

Die aktuelle Lage bringt auch mehrere Möglichkeiten mit sich: Zum einen kann sie genutzt werden, bundesweit eine einheitliche Kampagne zu fahren, Kontakte zu knüpfen und zu wachsen. Zum anderen bietet sie Möglichkeiten für Auseinandersetzungen mit dem Gewerkschaftsapparat.

Dabei glauben wir, dass nicht nur die Dringlichkeit der Lage uns zum Handeln zwingt. Vielmehr werden die kommenden Monate entscheidend sein für zukünftige Relevanz und Existenz der VKG an sich.

Was konkret braucht es also, damit die VKG ihre Stagnation überwinden und zu einem sichtbaren klassenkämpferischen Pol in den Gewerkschaften werden kann?

1. Gemeinsame politische Forderungen und Intervention in die Tarifrunden

Für den Aufbau der VKG sollten wir uns zu möglichst vielen Tarifrunden positionieren, aber mit knappen, grundsätzlichen gemeinsamen Forderungen, die die Macht der Bürokratie infrage stellen. Mit diesen Forderungen sollten wir auf Streiks anwesend sein und uns auf die Suche nach den kämpferischen Kolleg:innen begeben, die mit der Bürokratie in Konflikt geraten, und ihnen anbieten, auf einer Streikversammlung die VKG vorzustellen.

2. Material, das Mehrwert erzeugt

Neben den bereits veröffentlichten Artikeln zur Inflation und diversen Stellungnahmen gilt es, Material zu erstellen, das von Kolleg:innen direkt genutzt werden kann. Wir müssen Musteranträge zur Verfügung stellen, die sich beispielsweise mit der Enough-is-Enough-Kampagne solidarisieren oder die die verbindliche Teilnahme sowie Mobilisierung an Demonstrationen und Bündnissen einfordern. Zur Unterstützung in der Diskussion mit der Bürokratie bieten sich Argumentationshilfen an, die aufzeigen, wie man nicht nur einzelne Gliederungen, sondern Gesamtstrukturen für Aktivitäten gewinnen kann.

Um Letzteres zu verstärken, müssen wir als VKG einen offenen Brief verfassen, der Aktivitäten wie Massendemonstrationen gegen die Preissteigerungen einfordert und Tarifabschlüsse über der Inflationsrate.

3. Interventionen in die Gewerkschaftsstrukturen

Eigene Veranstaltungen als VKG machen Sinn nach größeren Demonstrationen oder Streiks, wo interveniert wurde. Zentraler ist jedoch, in die Offensive zu gehen: Wir sollten das Angebot machen, als VKG Veranstaltungen bei Gliederungen zum Thema der Inflation und Kampf dagegen abzuhalten sowie zu Gewerkschaftstreffen zu gehen und dort das unter 2. erwähnte Material zu präsentieren und kommende Aktionen vorzustellen.

4. Präsenz in politischen Bündnissen

Positive Beispiele dafür sind in Berlin der klassenkämpferische Erste Mai gewesen sowie aktuell die Intervention in „Brot, Heizung, Frieden“. Alle beteiligten Organisationen sollten dafür einstehen, dass die VKG bei den Bündnissen, an denen sie sich beteiligt, Redemöglichkeiten bekommt. Dahinter steckt aber noch mehr: Die Beteiligung als VKG bei politischen Protesten greift die aktuelle Schwäche der Gewerkschaftsführung auf und zeigt, dass es praktisch anders gehen kann.

5. Klarheit der Gruppen

Aktuell ist die VKG nicht viel mehr als die Summe der beteiligten Gruppen. Streng genommen ist sie nicht mal das, da nicht alle gleichmäßig Ressourcen reinstecken. Auch wenn es nie der Fall sein wird, dass sich alle paritätisch gemessen an der Größe der eigenen Organisation beteiligen, braucht es klarere Vereinbarungen. Ziel sollte es sein, bei den kommenden Protesten Blöcke als VKG zu organisieren, statt als individuelle Gruppen verteilt herumzuspringen. Klar, eigenes Material und Fahnen sollte jede/r mitbringen. Hat die VKG aber keine reale Präsenz, wird sie es schwer schaffen, nur durch das Posten von Stellungnahmen Menschen anzuziehen.

Im Fokus: Kampf gegen die Bürokratie

Wir glauben, dass diese Schritte helfen, die Bekanntheit der VKG zu steigern. Darüber hinaus denken wir jedoch, dass Kernaufgabe der Kampf gegen die Gewerkschaftsführungen ist. Das passiert unserer Meinung nicht nur dadurch, dass man Linke in Gewerkschaftsfunktionen wählt, da diese Posten Ausdruck eines materiellen Interesses sind – dem zwischen dem „guten“ Standort des deutschen Imperialismus und dem berechtigten Interesse der Kolleg:innen.

Auch einfach nur mehr neue Mitglieder zu gewinnen oder selbst Arbeitskämpfe in den schlecht organisierten Bereichen zu führen, ist keine alleinige Perspektive. Die Schwäche in der Organisierung dieser Bereiche kann wesentlich einfacher aufgehoben werden, wenn man das Problem an der Wurzel anpackt: bei der Bürokratie, die diese Kämpfe oftmals blockiert oder mangelndes Interesse hegt, diese überhaupt zu führen.

Auch das Mittel der Veröffentlichung von Protest ist zwar sinnvoll, aber nicht ausreichend. Denn Empörung alleine zeigt keinen Weg zur Veränderung auf.

Vielmehr müssen wir unsere Ansätze damit verbinden, eine klassenkämpferische Basisopposition zum Apparat aufzubauen. Konkret bedeutet, das Kolleg:innen für die Idee zu gewinnen, nicht nur zu streiken, sondern selbst das Ruder in die Hand zu nehmen: abzustimmen, wofür, wann und wie lange gestreikt werden, an welchen Mobilisierungen teilgenommen werden soll etc.

Statt Gewerkschaftssekretär:innen, die in den Mühlen des Apparat untergehen und sich verselbstständigen, braucht es Gremien, die rechenschaftspflichtig sind, jederzeit wähl- und abwählbar und deren Mitglieder nicht mehr verdienen als das durchschnittliche Arbeiter:innengehalt. Schließlich kritisieren wir nicht nur die Arbeit der Bürokratie, wir wollen sie abschaffen! Längerfristig führt dieses Modell aber dazu, dass man nicht nur in Tarifauseinandersetzungen, sonder auch politischen Kämpfen besser agieren kann – was ein Ziel aller ernsthaften Unterstützer:innen der VKG sein sollte.




Statt Inflation, Krieg und Klimakatastrophe: Krisengewinner:innen zur Kasse! Gewerkschaften in die Offensive!

Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften, Infomail 1199, 29. September 2022

Kommt zur Demonstration „Heizung, Brot und Frieden“ am 3. Oktober ab 13 Uhr, Potsdamer Platz in den Block der VKG!

Der heiße Herbst nimmt langsam Fahrt auf. Bundesweit gehen immer wieder tausende Menschen auf die Straße – unter aktiver Beteiligung von gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen und ihren Strukturen. Auch in Berlin hat sich ein Bündnis „Heizung, Brot und Frieden“ gegründet, das von kämpferischen Gewerkschafter:innen unterstützt wird. Wir rufen alle Kolleg:innen auf, sich am Block der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften – VKG Berlin am 3.10. zu beteiligen.

Mit einer klassenkämpferischen und internationalistischen Ausrichtung wollen wir Druck auf die Unternehmen und die Regierung machen, die angesichts einer historischen, mehrfachen Krise des Kapitalismus nur eins im Sinn hat: die Gewinne einiger weniger Besitzender zu sichern, während sich die Masse der Beschäftigten im Winter entscheiden muss, ob sie sich Essen kauft, die Miete zahlt oder die Wohnung heizt, weil die Löhne nicht mehr zum Leben reichen.

Das Entlastungspaket hält nicht mehr als Brosamen für uns vor, während der Konzern Uniper jetzt auf unsere Kosten vom Staat aufgekauft werden soll – was insgesamt rund 30 Mrd. Euro kosten wird.

Das 100-Milliarden-Aufrüstungs-Paket der deutschen Bundesregierung ist Ausdruck einer beispiellosen Zeitenwende. Sie kündigt schärfere Konfrontationen zwischen den Großmächten an, die nicht nur zu mehr Krieg und Zerstörung, sondern auch zu schärferen sozialen Angriffen führen werden.

Von der sozialen Krise wollen rechte und nationalistische Kräfte profitieren. Doch ihre soziale Demagogie bedeutet in Wirklichkeit nichts anderes als die Verteidigung der Profite der deutschen Konzerne, während sie uns entlang nationaler, religiöser, geschlechtlicher usw. Linien spalten.

Es ist deshalb notwendig, einen gemeinsamen Kampf gegen die Auswirkungen von Inflation und Krise und gegen die militaristische Eskalation und die Klimakatastrophe zu führen. Stellen wir uns internationalistisch und solidarisch gegen Krise und Krieg – ohne uns auf die Seite Russlands oder der NATO zu stellen. Mit gewerkschaftlichen Mobilisierungen und Streiks für ein Notfallprogramm.

In Berlin wird die Demonstration am 3.10. bereits durch den Landesbezirksfachbereich A von ver.di Berlin-Brandenburg unterstützt. Das ist ein erster wichtiger Schritt in Richtung einer Verbindung von sozialen Bewegungen wie „Heizung, Brot und Frieden“ und den Gewerkschaften. Doch das reicht nicht aus – was fehlt, sind die anderen Fachbereiche und der DGB insgesamt. Die knapp sechs Millionen Kolleg:innen im DGB haben die Kraft eine Bewegung in Gang zu setzen, die bislang Unorganisierte einschließt und der Kahlschlagspolitik der Regierung Einhalt gebieten kann.

Dass es am 22.10. von ver.di einen bundesweiten Aktionstag in vielen Städten gemeinsam mit Sozialverbänden und Initiativen geben soll und später Aktivenkonferenzen, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Aber Slogans wie „Solidarisch durch die Krise“ bieten keine Antwort auf die drängenden Fragen der Mehrheit der Kolleg:innen, Rentner:innen, Jugendlichen, Geflüchteten usw.

Deshalb fordern wir unter anderem:

1. Preisstopp jetzt: kein Cent extra für Gas, Strom, Tanken, Nahrung, Miete! Nein zur Gasumlage!

Alle Preiserhöhungen müssen sofort gestoppt werden. Zwangsräumungen müssen gestoppt werden. Wir brauchen bezahlbaren Wohnraum für alle.

2. Löhne, Renten, Sozialleistungen, Bafög an die Inflation anpassen!

Während die Preise weiter steigen, stagnieren unsere Einkommen. Die Gewerkschaften müssen mit Streiks für Reallohnerhöhungen kämpfen und dafür sorgen, dass Löhne und staatliche Leistungen automatisch an die Inflation angepasst werden.

3. Krisengewinner:innen zur Kasse! Klimakatastrophe stoppen! Energiekonzerne enteignen!

Die angekündigte Verstaatlichung von Uniper bedeutet nichts anderes als Vergesellschaftung der Verluste, während die riesigen Gewinne der Energiekonzerne privat bleiben. Wir hingegen kämpfen für die entschädigungslose Enteignung aller Energiekonzerne unter Kontrolle der Beschäftigten und Verbraucher:innen. Das Energiesystem muss dem Profitstreben entzogen werden, um uns sozial und ökologisch zu versorgen. Dies kann nur ein erster Schritt sein für eine andere Wirtschaftsform, die mittels Gemeineigentum unter demokratischer Kontrolle nach den Bedürfnissen der großen Mehrheit der Gesellschaft ausgerichtet ist.

4. Schluss mit dem Krieg. Weder Putin noch NATO. Sanktionen und Waffenlieferungen beenden. Keine 100 Milliarden für Aufrüstung!

Mit Sanktionen und Waffenlieferungen will die Regierung nicht den Krieg beenden, sondern den deutschen Einfluss in der Welt ausbauen. Unsere Solidarität gehört weder den Regierungen in Moskau, Washington noch Berlin, sondern den Arbeiter:innen aller Länder. Die Bevölkerung der Ukraine hat weder unter Putin noch unter Selenskyj, EU oder NATO etwas zu gewinnen, sondern nur durch ihre unabhängige Mobilisierung. Der Krieg wird nicht durch die Waffen der NATO gestoppt, sondern dadurch, dass sich die Arbeiter:innen international zusammenschließen und gleichzeitig die Kriegslogistik der NATO und Russlands blockieren.

5. Aufnahme aller Geflüchteten! Stopp von Abschiebungen!

Rund 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, mehr als 10 Millionen flüchteten vor dem Krieg in der Ukraine. Wir fordern gleiche Rechte für alle Geflüchteten, bedingungslose Aufnahme, die Anerkennung aller Abschlüsse und volle Staatsbürger:innenrechte!

6. Vom Hafen über Metall bis zur Verwaltung: Streiks gegen Krieg und Krise!

Die Regierung und die Unternehmen werden diese Forderungen nicht freiwillig umsetzen. Höhere Löhne und ein Ende der Militarisierung müssen mit Streiks durchgesetzt werden. In den vergangenen Monaten streikten bspw. die Hafenbeschäftigten und Kolleg:innen der Flughäfen für einen Inflationsausgleich. Im Oktober folgt der Metallsektor und im kommenden Jahr der Öffentliche Dienst.

In den Betrieben braucht es jetzt Diskussionen in Betriebsgruppen und -versammlungen über die Auswirkungen der Krise und wie dagegen gekämpft werden kann. Die kommenden Tarifrunden sollten zu einer Mobilisierung aller Kräfte und Verbindung mit politischen Bewegungen genutzt werden. Nicht nur im öffentlichen Dienst muss die Frage beantwortet werden, wo das Geld herkommen soll: von den Besitzenden, bspw. mittels einer Millionärsabgabe, Vermögenssteuern usw.

Über einzelne Kämpfe hinaus braucht es Kampagnen, ausgehend von den gewerkschaftlichen Strukturen in Betrieben und Orten, die Kämpfe über die Branchen hinaus verbinden. Ein bundesweiter Aktionstag von ver.di ist ein Anfang, aber eine bundesweite Demonstration, die Vorbereitung gemeinsamer Streiks und die Verbindung und Koordinierung von Kämpfen sind notwendig Maßnahmen.

Streiks gehören in die Hände der Streikenden – kein Kampf darf abgebrochen, kein Ergebnis angenommen werden ohne vorherige Diskussion und mehrheitliche Entscheidung der Kolleg:innen.

Zugeständnisse werden von der Regierung nicht durch kluge Verhandlungen in der Konzertierten Aktion erreicht, sondern sie müssen erzwungen werden. Deshalb: Gewerkschaften raus aus dem Bündnis mit Unternehmen und Regierung – ran an die Betriebe, raus auf die Straße!

Wir treffen uns zum gemeinsamen Block am Banner der VKG „Gewerkschaften in die Offensive!“

Kommt am 12. Oktober 2022 zu unserem nächsten offenen Treffen, auf dem wir über weitere Aktionen im Heißen Herbst und die Bewegung in unseren Gewerkschaften gegen die Auswirkungen der Krise diskutieren werden.

Um 18.30 Uhr in der ver.di Mediengalerie, Dudenstr. 10, 10965 Berlin

Kontakt: berlin@vernetzung.org