Erneuerung der Gewerkschaften – oder des Apparats?

Mattis Molde, Neue Internationale 274, Juni 2023

Es war die fünfte Konferenz dieser Reihe und von der Teilnehmer:innenzahl, die bei weitem größte. “Gewerkschaftliche Erneuerung“ ist ihr Titel. Die erste dieser Art 2011 in Stuttgart hatte noch „Erneuerung durch Streik“ als Perspektive. Das wäre aber etwas zu dick aufgetragen gewesen, angesichts der Tatsache, dass die IG Metall in der Metall- und Elektroindustrie, ver.di bei der Post und im Öffentlichen Dienst mit aller Macht Streiks verhinderten und Reallohnverluste für die nächsten Jahre vereinbart haben.

Abfeiern der Tarifrunden

1700 Teilnehmer:innen in Bochum belegen, dass ein Interesse am Austausch und an einer Diskussion der Zukunft der Gewerkschaften angesichts von Inflation, Krieg und Klimakatastrophe besteht.

Streiks, die mit Erfolgen enden, hätten die Gewerkschaften in Deutschland aber definitiv mehr in Bewegung gebracht, als diese Konferenz.

Bei den großen Tarifrunden im letzten halben Jahr waren Hunderttausende in Warnstreiks und ähnlichen Aktionen beteiligt. Erkämpfte Erfolge gegen die Inflation und Siege gegen Angriffe auf das Streikrecht wären eine reale „better practice“ der Gewerkschaften gewesen, als die vielen kleinen Beispiele von best practice, die in Bochum verklärt wurden. Eine realistische Bilanz der Tarifrunden kam mit ihren zentralen Fragestellungen in Bochum nicht oder kaum vor.

Beim Eröffnungsplenum kam weder bei Hans-Jürgen Urban vom IGM Vorstand, noch bei Heinz Bierbaum, dem Vorsitzenden der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS), das Wort Reallohnverlust oder – entwicklung vor. Eine „völlige Kompensation der Inflation“ sei zwar nicht gelungen, so zitierte Bierbaum in dem Beitrag „Gewerkschaftliche Kämpfe im Aufwind“ vor der Konferenz Kritiker:innen aus der IGM. Der folgenden Lobeshymne tat das aber keinen Abbruch:

„Die Resultate, die bislang in den Tarifrunden erreicht wurden, können sich sehen lassen. Den Anfang machte die IG BCE im Oktober letzten Jahres mit einem Abschluss von 6,5 Prozent und einer Ausgleichszahlung von 3.000 Euro mit einer Laufzeit von zwei Jahren. Etwas höher war der Abschluss der IG Metall im November 2022 mit einer Erhöhung von 8,5 Prozent bei einer zweijährigen Laufzeit und einer Zahlung von 3.000 Euro netto zum Ausgleich der Inflation. Allerdings gab es auch erheblich Kritik an diesem Abschluss. Trotz der massiven Warnstreiks sei die Mobilisierung unzureichend gewesen, so dass auch keine völlige Kompensation der Inflation gelungen sei. Auf der anderen Seite ist der Abschluss auf einen breiten Konsens der Beschäftigten gestoßen. Und man muss auch berücksichtigen, dass die Lage in der Metallindustrie äußerst schwierig ist, verursacht nicht nur durch die schwache Konjunktur, sondern besonders auch durch die tiefgreifenden Transformationsprozesse. Sehr bemerkenswert ist der Abschluss bei der Post, die bei einer Forderung von 15 Prozent neben beträchtlichen Einmalzahlungen mit einer Lohnerhöhung von 340 Euro im Schnitt eine Erhöhung um 11 Prozent erreicht hat, die sogar bei den untersten Lohngruppen noch deutlich höher ausfällt. Offensichtlich haben die erfolgreiche Urabstimmung und die Entschlossenheit, auch zu streiken, ausgereicht, um zu diesem Abschluss zu kommen.“

Dasselbe Abfeiern der Tarifergebnisse gab es auch aus dem Munde von Thorsten Schulten vom WSI, dem Institut der Hans-Böckler-Stiftung in der AG „Tarifrunden in Zeiten von Inflation, sozialem Protest und konzertierter Aktion“. Auch die anderen Redner:innen bemühten sich darum, die Tarifergebnisse schönzureden, einzig Jana Kamischke, Vertrauensfrau und Betriebsrätin am Hamburger Hafen vertrat eine kritischere Position.

In einem solchen politischen Rahmen erhalten die an sich richtigen Aussagen, dass es in Tarifrunden insbesondere bei der Post und im Öffentlichen Dienst eine bemerkenswerte Beteiligung von neuen und jungen Kolleg:innen gegeben hatte, eine andere Bedeutung.

Denn das kritiklose Abfeiern der gestiegenen Aktivitäten bedeutet nichts weiter als eine politische Flankendeckung des Apparates. Und die weitgehende Akzeptanz dieser Politik auf der Bochumer Konferenz verdeutlichen leider, dass es bislang gelungen ist, auch diese gestiegene Kampfbereitschaft in die Bahnen der Kontrolle durch den Apparat zu halten. Die Organisator:innen der Konferenz, die selbst aus dem linken Apparat stammen und politisch den Gewerkschaftsflügel der Linkspartei ausmachen, vergaßen dabei nicht zu erwähnen, dass dies ihren „innovativen“ Methoden geschuldet sei und dass es folglich nötig sei, dass diese linken Apparatschiks eine größere Rolle brauchen für die Umsetzung der gemeinsamen Ziele mit rechten Bürokrat:innen.

Die „gewerkschaftliche Erneuerung“, so ließen viele Vertreter:innen der RLS und der verschiedenen Organizing-Initiativen verlauten, das sind „wir“. Und mit dem „wir“ meinen sie nicht die gewerkschaftliche Basis, sondern die hauptamtlichen Kräfte und die als Organizer:innen Angestellten, die letztlich den linken Flügel des Apparates, aber keine antibürokratische Kraft bilden.

Kritik an der Gewerkschaftsführung?

Nur in wenigen Beiträgen von den Podien schimmerte eine Kritik an der derzeitigen Orientierung der Gewerkschaften und ihrer Führung durch.

So kritisierte Frank Deppe im Themenseminar „Die Waffen nieder! Gewerkschaften in Kriegszeiten gestern und heute“ die sozialpatriotische Politik der Gewerkschaften und ihre faktische Unterstützung von NATO-Erweiterung und Aufrüstung offen und eine Reihe von Redner:innen forderte unter Applaus, dass diese Konferenz eine klare Positionierung gegen die Politik wie überhaupt eine Abschlussresolution verabschieden solle, die sich gegen Sozialpartner:innenschaft und nationalen Schulterschluss mit der Regierung wendet. Doch dabei blieb es auch. Die Organisator:innen der Konferenz hatten nie vorgesehen, dass am Ende der Veranstaltung eine politische Resolution stehen solle, die sie zu einem politischen Handeln verpflichten könnte.

Einigermaßen kritische Töne gegen den Apparat und dessen Legalismus gab es nach Abschluss der Konferenz durch Wolfgang Däubler, der auf die Notwendigkeit des Generalstreiks als politische Waffe gegen die aktuellen Angriffe hinwies.

Bezeichnenderweise hielten diese Beiträge nicht Vertreter:innen der Gewerkschaften, sondern emeritierte Professoren. Sie bildeten letztlich nicht mehr als die kritische Filmmusik zum selbstgefälligen Abfeiern der eigenen „Erneuerung“. So werden Beiträge, die eigentlich konkretisiert und gegen die Bürokratie gerichtet werden müssten, noch zum Beleg für die „Offenheit“ und „Selbstkritik“ der gesamten Veranstaltung.

Kritik an den Apparaten fand insgesamt kaum statt. Wurde in irgendeiner der vielen AGen die Aussage der DGB-Vorsitzenden Fahimi angesprochen, die vor einem halben Jahr gefordert hatte, dass auch Betriebe, die Staatsknete als Energie-Beihilfen erhalten, Boni und Dividenden ausschütten dürfen? Wurde der „Aktionstag“ von IGM, IGBCE und IGBAU skandalisiert, an dem die „bezahlbare Energie“ von der Regierung gefordert wurde – nicht für die Arbeitenden, sondern für die Großunternehmen der Stahl-, Alu und Chemieindustrie? Wo wurde die „Konzertierte Aktion“ angegriffen, als Ausdruck der prinzipiell falschen Sozialpartnerschaft, deren verhängnisvolle Rolle sich gerade in den Tarifkämpfen gezeigt hatte?

Schönreden der Klimapolitik

In der AG 4 „Abseits des Fossilen Pfades“, der tatsächlich noch eine Autobahn, eine Highway to hell ist, bemühte sich Stefan Lehndorf, auch noch jede Alibi-Aktion von Unternehmen, Regierung und IGM schönzureden. So gäbe es „Transformations.Workshops“ in den Betrieben, die durch die Produktumstellung von Arbeitsplatzabbau bedroht seien. Ist Transformation – oder Konversion, wie eine Vertreter der „Initiative Klassenkampf und Klimaschutz“ forderte – der Produktion ein gesellschaftliches Problem oder ein betriebliches? Müssten gerade Gewerkschaften, die sich als „Treiber der Transformation“ sehen (Lehndorf) nicht betriebsübergreifend eine Programmatik und Aktionsplanung haben, anstatt nur betrieblich dem Kapital alternative Produkte vorzuschlagen und es seiner Willkür zu überlassen, ob und wo diese produziert werden?

In dieser AG war immerhin – im Unterschied zu vielen anderen – Diskussion zugelassen, nicht nur Fragen, wie z. B. in der AG 16 (Gegen Betriebsschließungen) oder ergänzende Berichte, wie im Forum zu Tarifrunde Nahverkehr. Wo es mal Kritik gab, wurde diese mit Selbstzensur vortragen oder von den Adressat:innen übergangen.

Beispiel Borbet Solingen: Rund 15 Beschäftigte waren zur Konferenz nach Bochum gekommen und zeigten mit Sprechchören ihre Empörung. Auf dem Podium aber saß neben den neuen Belegschaftsvertretern und Aktivisten Alakus und Cankaya der Geschäftsführer der IGM Solingen-Remscheid, Röhrig, der nichts dazu sagte, warum die IG Metall den früheren Betriebsratsvorsitzenden unterstützt hatte, warum sie ein Jahr lang fruchtlose Verhandlungen mitgemacht hatte, ohne einen betrieblichen Widerstand aufzubauen.

„Lösung“ im Kleinformat

Grundsätzlich lag das politische Problem der Konferenz aber darin, dass der Blick auf die Probleme – und somit auf die möglichen Lösungen – selbst im voraus verengt wurde. Und dies ist kein Betriebsunfalls, sondern gewollt, ja erscheint geradezu als Erfolgsgarant. So heißt es im Artikel „Durch Erneuerung in die Offensive“ von Fanny Zeise und Florian Wilde:

„Zu den Erfolgsrezepten der Konferenzen gehört, dass sie nicht ideologisch-programmatische Fragen zum Ausgangspunkt nehmen, sondern die Herausforderungen der tagtäglichen Gewerkschaftsarbeit und das breit geteilte Bedürfnis nach einer Erneuerung der Gewerkschaften. Dadurch kann sie Anschlussfähigkeit über die klassischen linksgewerkschaftlichen Milieus hinaus erreichen sowie eine gewerkschafts- und generationenübergreifende Ausstrahlung entfalten. Wichtig ist dabei auch, dass kritische Positionen nicht sektiererisch und rückwärtsgewandt, sondern solidarisch, vorwärtsgewandt und im Sinne einer Stärkung der Gewerkschaften formuliert werden.“

Das aktive Verdrängen der „ideologisch-programmatischen“ Fragen ist nichts anderes als ein Codewort dafür, die Kritik an der Gewerkschaftsführung und das Herausarbeiten ihrer Ursachen zu tabuisieren. Die Abgrenzung von angeblichem Sektierer:innentum und Rückwärtsgewandtheit ist nur ein Codewort dafür, keine offene Bilanz der Tarifabschlüsse, von Sozialpartner:innenschaft, Standortpolitik und Klassenkollaboration zu ziehen. Die Gewerkschaftsbürokratie erscheint natürlich längst nicht mehr als Agent der herrschenden Klasse in der Arbeiter:innenbewegung, sondern allenfalls als etwas trägerer Mitstreiter.

Mit der Fokussierung auf „tägliche Gewerkschaftsarbeit“ wird die Praxis nicht nur verengt, die reale Politik, die reale Praxis der Gewerkschaften gerät aus dem Blick. Die gesamtgesellschaftlichten, internationalen politischen und ökonomischen Voraussetzungen des eigenen Handeln, aller betrieblichen wie gewerkschaftlichen Fragen erscheinen allenfalls Nebenfragen. Die Krise der Gewerkschaften erscheint im Grund nur noch als Frage der „kreativen“, dynamischen Umsetzung einer eigentlich richtigen Politik. Die Politik und Strategie der Bürokratie bildet kein zentrale Problem gewerkschaftlicher Erneuerung, sondern vielmehr deren Kritiker:innen, deren angebliches Sektierer:innentum und deren Insistierung politisch-ideologischen Fragen wie Krieg und Wirtschaftskrise, auf Kritik der Bürokratie und der Klassenzusammenarbeit.

Damit stehen die Protagonist:innen und die Organisator:innen der Konferenz real – unabhängig davon, was immer sie von sich glauben – fest auf dem Boden des Reformismus der Linkspartei, irgendwo zwischen Bewegungslinke und Regierungssozialist:innen. Politisch wurden die ganzen Trugbilder neu belebt, dass im Kapitalismus „Gute Arbeit-gutes Leben“ möglich bleibt, dass die „Transformation sozial und ökologisch“ vonstattengehen könne, und dass die Gewerkschaften wieder stärker werden, wenn sie nur besser „organized“ werden. Und das angesichts der „Polykrise des Kapitalismus“ (Urban).

Kämpferische Gewerkschaften wird es letztlich nur im Bruch mit Bürokratie und ihrer Politik zu haben geben. Das bleibt offensichtlich die Aufgabe von Linken Gewerkschafter:innen, die mit der Veranstaltung der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften einen der wenigen politischen Lichtblicke in Bochum veranstaltet haben.




Tarifkommissionen und Demokratie

Mattis Molde, Neue Internationale 273, Mai 2023

Selten sind Gewerkschaften so präsent wie in Tarifrunden. Gerade in Deutschland haben sie wenig Rechte gegenüber den Betriebs- und Personalräten, die Gewerkschaften an den Rand drücken oder hinter denen sich letztere verstecken können. Aber Tarife dürfen Betriebs- und Personalräte im Grundsatz nicht abschließen und schon gar nicht zu Arbeitskampfmaßnahmen aufrufen. Die undemokratische Rechtslage in Deutschland erlaubt faktisch, Streiks nur zum Zwecke von Tarifregelungen durchzuführen und nur gewerkschaftlich organisierte Arbeitskämpfe garantieren ihren Mitgliedern Schutz vor Repression durch die Unternehmen.

Plötzlich unterbricht also eine Tarifrunde das gewohnte Arbeitsleben, die alltägliche Ausbeutung, für die Beschäftigten und für die Gewerkschaftsverantwortlichen ebenso: Wenn sie als Berufsfunktionär:innen in ihren Büros agieren, haben sie fast null Kontakt mit der Mitgliedschaft. wenn sie im Betrieb angestellt, vielleicht auch im Betriebsrat sind, ist ihr Kontakt zur dortigen Führungsebene gerade in den Großbetrieben und in der öffentlichen Verwaltung oftmals deutlich intensiver als zur arbeitenden Mitgliedschaft. In einer Tarifrunde muss also eine direktere Kommunikation und eine andere Entscheidungsfindung her.

Tarifkommissionen und Apparat

Es gibt also Urabstimmungen und Tarifkommissionen, eher neu sind „Teamdelegierte“ und Ähnliches, die aber im Grunde die Rolle ausfüllen, die eigentlich Vertrauensleute spielen sollten. Diese gibt es in den meisten Unternehmen kaum noch. Sie sind der immer stärkeren Entfremdung zwischen Gewerkschaftsapparat und Basis zum Opfer gefallen. Ihre Tätigkeit erfordert Engagement, das selten belohnt wird und von dem sich die Bürokrat:innen und Betriebsratsfürst:innen überwiegend gestört fühlen. Umgekehrt können einzelne engagierte Basisaktivist:innen nur dann etwas bewirken, wenn sie sich vernetzen und aufbauen, um durchzuhalten, auch wenn sich die Bürokrat:innen sehr gestört fühlen.

Tarifkommissionen können zwar auch für einzelne Konflikte gebildet werden, für die bestehenden Tarifstrukturen – eine bestimmte Branche in einem bestimmten Tarifgebiet – sind sie aber sehr beständig, z. B. für die Metall- und Elektroindustrie Bayern. Sie diskutieren vor einer Tarifrunde die Forderungen und beschließen sie. Sie wählen eine Verhandlungskommission, debattieren die Angebote der Gegenseite und beraten das Vorgehen. Sie können Verhandlungen für gescheitert erklären und beim Gewerkschaftsvorstand die Einleitung von Arbeitskampfmaßnahmen, also Streiks, beantragen.

Sie könnten das Herzstück demokratischer, kollektiver Willensbildung im Kampf sein. Sie sind weit davon entfernt. Faktisch sind die meisten etablierten Tarifkommissionen eine von Führung und Bürokratie kontrollierte und sich selbst reproduzierende Struktur des Apparates und vom diesem ausgewählter Ehrenamtlicher.

Alle Gewerkschaften in der BRD regeln die Tarifkommissionen nicht in der Satzung, sondern in Richtlinien. Diese können von Vorständen oder Beiräten beschlossen werden, sie müssen nicht durch den Gewerkschaftstag. Damit ist einerseits sichergestellt, dass die Mitgliedschaft keine Rechte aus diesen Richtlinien erhält. Wegen des Verstoßes dagegen kann man zwar kaum jemanden ausschließen. Allerdings haben sich die Spitzen der Bürokratie abgesichert. Letztlich kommt in wohl keiner DGB-Gewerkschaft jemand in eine Tarifkommission gegen den Willen des Apparates.

Zur Illustration des Mechanismus nehmen wir kurz die Richtlinien der IG Metall zur Hand, wo es heißt: „Die Mitglieder der Tarifkommissionen werden von der Delegiertenversammlung gewählt. Die Vorschläge für die Wahl werden vom Ortsvorstand gemacht.“

Mit anderen Worten: Nur wer aus Sicht der lokalen Chef:innen geeignet ist, darf von den Delegierten gewählt werden – eine Wahl à la Volkskammer der DDR. Wer „falsch“ in der Tarifkommission abstimmt, riskiert seine „Wiederwahl“ beim nächsten Mal. Das erklärt die hohen „Zustimmungsraten“ zu schlechten Tarifverträgen. Andere Gewerkschaften haben ähnliche Richtlinien.

Die Sicherung der bürokratischen Kontrolle stellt daher auch den zentralen Zweck dar, warum Debatten und die Entscheidungsfindung der Tarifkommissionen geheim sind. Nur der Beschluss wird verkündet, meist ohne Abstimmungsergebnis. Welche Alternativen und Minderheitsmeinungen gab es? Welche Argumente dafür und dagegen? Wie hat mein/e Vertreter:in abgestimmt? Darüber erfährt die Mitgliedschaft nichts.

Die übliche Begründung für die Geheimhaltung ist, dass die Gegenseite ja nicht die Chance haben darf, auf einzelne Mitglieder der Tarifkommission Druck auszuüben. Die Bürokratie tut so, als ob sie die radikalen Basisvertreter:innen schütze. In Wirklichkeit kappt sie diese von ihrer Basis. Sie dürfen nichts berichten, schon gar nicht, dass sie möglicherweise einen Gegenvorschlag eingebracht haben, und mit welchen Argumenten und mit wessen Stimmen dieser abgelehnt worden ist. Der/die radikale Basisvertreter:in muss stattdessen die Meinung der Mehrheit präsentieren und verteidigen – nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern gegenüber der Basis, der damit jede Kontrolle und Einflussmöglichkeit auf die Entscheidungen genommen wird.

Verschwiegenheitspflicht

Die Logik der Verschwiegenheitspflicht ist „Einheit im Kampf“. Sie ist völlig richtig, wenn Gewerkschaften als Klassenorganisationen handeln und kämpfen. In den realen existierenden Gewerkschaften, die nicht nur hierzulande durch und durch von einer Bürokratie beherrscht werden, die bürgerliche Agent:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenbewegung sind, ist die Verschwiegenheitspflicht nur ein weiteres Mittel zur Kontrolle dieser Organisationen durch die reformistische Führung – ein Mittel, das sie gerade dort braucht, wo sie selbst am stärksten unter den Druck der Massen geraten kann. In einem Tarifkampf herrscht nicht die tägliche Gewerkschaftsroutine, wo es nur in Ausnahmefällen vorkommt, dass Massen sich spontan gegen die Zumutungen und Angriffe des Kapitals mobilisieren, und die Bürokratie nicht nur das Feld beherrscht, sondern sich auch als die Trägerin des Fortschritts und der gewerkschaftlichen Aktivität darstellen kann. Tarifkämpfe, erst recht in Streiks, können außer Kontrolle geraten – aus Sicht der Bourgeoisie und der Bürokratie, die hier dieselbe Sichtweise haben.

Die Rolle der Bürokratie aber ist eine besondere: Sie kann und soll sich nicht der Streikbewegung entgegenstellen wie so viele andere Agent:innen der Bourgeoisie in den Medien und ihren Parteien und natürlich deren Vertreter:innen selbst. Sie soll den Kampf kontrollieren und in ihrem Sinne lenken – von innen heraus. Deshalb braucht sie auch originäre Vertreter:innen des Kampfes in diesen Kommissionen. Einmal, um zu wissen, was die Avantgarde will, und zweitens, um deren Vertreter:innen möglichst gut einzubinden. Es hilft der reformistischen Gewerkschaftsführung nichts, wenn ein solches Organ nur mit eingesessenen Betriebsratsfürst:innen besetzt ist, die ihrerseits den Kontakt zur potentiell spontanen Basis verloren und bei dieser schon lange das Vertrauen verspielt haben.

Wie damit umgehen?

Die Verschwiegenheitspflicht muss bekämpft werden. Das ist ein wichtiger Bestandteil des gesamten Kampfes dafür, dass die Basis die Kontrolle über die gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen und die Gewerkschaften selbst bekommt. Bei Tarifkämpfen müssen sich alle Versammlungen das Recht nehmen, Beschlüsse und Aufträge zu erteilen: die Forderungshöhe, ihre Struktur, die Laufzeit, aber auch die Kampfmittel: Warnstreiks, Tagesstreiks, Vollstreiks. Für den Erfolg im Kampf – nicht nur in einer Tarifrunde, sondern in jedem Klassenkampf – ist es notwendig, dass die Klasse lernt, ihn selbst zu führen. Natürlich sind rein gewerkschaftliche Dispute noch weit davon entfernt, aber sie sind auch eine Form, in ihnen können nicht nur Selbstorganisation und -vertrauen der Lohnabhängigen massiv erhöht, sondern auch das Bewusstsein weiterentwickelt werden.

Gerade weil die Befreiung der Arbeiter:innen nur das Werk der Arbeiter:innen selbst sein kann, wäre es für revolutionäre Politik vollkommen unzulänglich, nur die Vertreter:innen in den Kommissionen (oder im Apparat und in den Vorständen) zu ersetzen. Revolutionäre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit bedeutet auch, für ein grundlegend anderes Verhältnis von Basis und Führung einzutreten. Selbst, wenn es keinen reformistischen Apparat in den Gewerkschaften gäbe, sondern einen revolutionären, müssten die Entscheidungen über die Kampfführung so direkt wie möglich in den Händen der Basis liegen, die diese Entscheidungen durch aktuell gewählte und jederzeitige abwählbare Delegierte koordiniert. Die Autorität der Führung müsste sich darauf stützen, überzeugende und klare Vorschläge bezüglich der Forderungen und der Kampftaktik vorzulegen und politische und gewerkschaftliche Kämpfe mit Umsicht, Klarheit und Entschlossenheit zu führen.

Die aufgestellten Forderungen und vergebenen Aufträge müssen stets auch verfolgt werden. Vorstände und Delegierte, gerade auch die Tarifkommission, müssen berichten, was damit passiert ist und wie sie sich dabei verhalten haben. Dieser Rechenschaftspflicht versuchen Bürokrat:innen gerne zu entkommen, vor allem, wenn ihnen die Aufträge und Beschlüsse missfallen.

Wenn linke Basisaktivist:innen selbst für eine Tarifkommission kandidieren oder vorgeschlagen werden, ist es wichtig, von vornherein zu erklären, dass sie Rechenschaft ablegen und berichten werden. Dabei ist es wichtig und günstig, das nicht bloß als individuelle held:innenhafte Aktion durchzuführen, sondern von Beginn an die Basis (also die Wähler:innen) in diese Vorgehensweise einzubinden. Die versammelten Streikaktivist:innen z. B. sollen abstimmen, ob sie einen Bericht wollen über die Debatte und Entscheidung der Tarifkommission. Damit wird auch deutlich, dass das „Brechen“ der Verschwiegenheit kein Akt einer Person ist, sondern dem Willen der Mitglieder entspricht.

Die führenden Bürokrat:innen vollführen einen oft geübten Trick: Sie erzählen den frisch Gewählten nach der ersten Sitzung der Tarifkommission, dass es aber Verschwiegenheitspflicht gebe und diese unbedingt eingehalten werden müsse – ein erster Test, ob diese Kolleg:innen empört zurücktreten oder das erste Mal kapitulieren. Beides ist für die Reformist:innen o. k. Was sie nicht wollen, ist eine strukturierte und bewusste Opposition.

Diese ist aber letztlich das, was die kämpferischen Basisaktivist:innen brauchen, wenn sie die – für die oppositionelle Basis – errungene Position verteidigen und dabei nicht kapitulieren wollen. Das Bewusstsein und die mentale Stärke der und des Einzelnen sind wichtig, aber entscheidend ist der Aufbau einer von der reformistischen Bürokratie unabhängigen Kraft. Nur damit kann dem organisierten bürokratischen Vorgehen etwas entgegengesetzt werden.

Eine organisierte oppositionelle Kraft kann auch taktisch das bürokratische Spiel durchbrechen. Immer wieder kommen einzelne Fakten auch aus den Tarifkommissionen ans Licht, die die Tricks und Kungelei des Apparates enthüllen. Denn die Bürokratie hält sich nicht an ihre eigenen Regeln. Sie selbst darf ihr Informationsmonopol nutzen, wenn sie es für opportun hält. Eine vernetzte Basis kann diese Infos sammeln und verbreiten.

Das gilt nicht nur für Tarifkommissionen. Eine beliebte Methode ist es, kritischen Versammlungen zu erklären, dass leider niemand außer ihnen das so sehe, vor allem nicht in anderen Bezirken. Also sollte, um überhaupt ernst genommen zu werden, die Forderung etwas moderater, die Kritik etwas entschärft werden. Auch dagegen ist Öffentlichkeit unersetzbar. Berichte und Beschlüsse aus anderen Gremien und Versammlungen müssen verbreitet werden, gerade damit sich die Mitglieder ein objektives Bild machen können und nicht aufs Informationsmonopol des Apparates angewiesen sind.

Um ernsthaft Tarifrunden unter die Kontrolle der Gewerkschaftsmitglieder zu bekommen, ist nicht nur eine massive Demokratisierung der Gewerkschaften nötig. Es braucht vor allem einen politischen Kampf gegen den Reformismus, die Unterordnung der Arbeiter:innenorganisationen unter die Bourgeoisie und ihren Staat. Für die Tarifkommissionen und Tarifrunden allgemein heißt das:

  • Recht jedes Mitgliedes zu kandidieren.
  • Nur von den Tarifverträgen Betroffene können gewählt werden. Hauptamtliche Gewerkschafter:innen haben also nur beratende Funktion.
  • Rechenschaftspflicht und jederzeitige Abwählbarkeit.
  • Keine Verschwiegenheitspflicht, gewerkschaftsinterne Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse.
  • Öffentliche Tarifverhandlungen, keine Abschlüsse ohne vorherige Diskussion und Beschlussfassung der Mitglieder.



Arbeiter:innenklasse, Gewerkschaftsbürokratie und Klassenbewusstsein

Mattis Molde, Neue Internationale 271, Februar 2023

Warum ziehen es die Gewerkschaften vor, sich mit Kanzler und Kapital an den Tisch zu setzen, statt auf der Strasse zu mobilisieren? Warum dürfen streikbereite Metaller:innen nicht streiken?

Die Krise der Gewerkschaften nahm in den letzten Jahren neue Dimensionen an. Sie erweisen sich hierzulande zunehmend als unfähig, die Reallöhne zu sichern. So führte die hohe Inflation im 3. Quartal 2022 zu einem Reallohnrückgang von durchschnittlich 5,7 %. Auch das gesamte Jahr war lt. Statistischem Bundesamt von einer solchen Entwicklung geprägt: 4. Quartal 2021: – 1,4 %, 1. Quartal 2022: – 1,8 %, 2. Quartal 2022: – 4,4 %.

Für 2020 (minus 1,1 %) und 2021 (- 0,1 %) weist das Bundesamt bereits einen Rückgang aus. Aber auch im Jahrzehnt davor bewegen sich die Reallohnzuwächse zwischen Stagnation und maximal 2 % (2015 und 2016).

Natürlich gab es nicht nur Niederlagen. In einzelnen Bereichen wie bei den Krankenhäusern oder auch in einzelnen Betrieben konnten durchaus vorzeigbare Teilerfolge verzeichnet werden. Aber an der allgemeinen Entwicklung ändert das leider nichts. Das betrifft nicht nur Löhne und Einkommen, sondern auch Arbeitsbedingungen, Schließungen und Personalabbau. Gerade wenn sie am meisten gebraucht werden, erweisen sich die Gewerkschaften als stumpfe Waffen.

Die Führungen der DGB-Gewerkschaften tragen dafür die politische Hauptverantwortung. Doch warum halten sie in Zeiten der Krise so verbissen an einer Politik der Sozialpartner:innenschaft, der Klassenzusammenarbeit und des Burgfriedens mit Kapital und Kabinett fest, die seit Jahrzehnten zu immer schlechteren Ergebnissen führt? Warum vermögen sie, weiter die Kontrolle über die Klasse aufrechtzuerhalten, ja teilweise sogar Zustimmung für ihre Politik zu organisieren?

Im Folgenden wollen wir zum Verständnis der Rolle der reformistischen Führungen und des bürokratischen Apparats beitragen, weil dies für revolutionäre Arbeit unerlässlich ist. Dazu ist  es notwendig, einige grundsätzliche Erwägungen über den Charakter des gewerkschaftlichen Kampfs selbst vorauszuschicken.

Gewerkschaftlicher Kampf

Der Kampf um die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft, um Löhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen (inklusive Versicherungen gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit, für Renten usw.) stellt eine grundlegende Form des Klassenkampfes zwischen Lohnarbeit und Kapital, einen „Kleinkrieg“ dar, ohne den die Lohnabhängigen nicht einmal in der Lage wären, ihre eigenen Existenzbedingungen zu sichern.

Mit dem Zusammenschluss zu Gewerkschaften macht die Arbeiter:innenklasse einen wichtigen Schritt vorwärts, wird nicht mehr zum reinen Ausbeutungsmaterial. Ihre Reaktion auf die Angriffe des Kapitals nimmt bewusstere, gezieltere Formen an.

Als Sammelpunkte des alltäglichen Widerstands leisten die Gewerkschaften auch praktische Dienste zur Entwicklung von elementarem, embryonalem Klassenbewusstsein. Dieses rein gewerkschaftliche Bewusstsein ist jedoch (ähnlich wie der Reformismus) kein proletarisches, revolutionäres Klassenbewusstsein, sondern letztlich eine Form bürgerlichen Bewusstseins.

Warum? Im Kapitalismus verschwindet die Realität der Ausbeutung, der Klassengesellschaft immer wieder hinter Formen der Gleichheit und Gerechtigkeit und es verbreitet sich ein Schein von Harmonie. Karl Marx erklärt in seiner Kritik der politischen Ökonomie nicht nur, wie Ausbeutung funktioniert, sondern auch, wie sie mit einer gewissen Zwangsläufigkeit unsichtbar gemacht und verschleiert wird. Der Kern dieser Verschleierung ist die Lohnform. Wir treten als freie und gleiche Warenbesitzer:innen auf den Arbeitsmarkt und verkaufen scheinbar unsere Arbeit. Dafür erhalte ich einen „gerechten“ Lohn. In Wirklichkeit, so Marx, habe ich aber meine Arbeitskraft, mein bloßes Vermögen, Arbeit zu verrichten, verkauft. Und der Wert dieser Ware wird wie der jeder anderen durch ihre Reproduktionskosten bestimmt. Ihr Gebrauchswert ist die lebendige Arbeit, das was ich unter den Anweisungen des/r Käufer:in meiner Ware tun muss – und aus diesem Gebrauchswert meiner Ware entspringt der Mehrwert.

Der Widerspruch von formaler Gleichheit und realer Ungleichheit in der bürgerlichen Gesellschaft basiert also auf den Gleichheits- und Freiheitsillusionen des Warentauschs. Schon der Begriff „Lohn“ enthält diese Verschleierung, weil der gesamte Arbeitstag als bezahlte Arbeit erscheint. Der rein gewerkschaftliche Kampf um den Preis der Ware Arbeitskraft bewegt sich im Rahmen dieses Verhältnisses und überwindet aus sich heraus notwendigerweise nicht bürgerliches Bewusstsein.

Revolutionäres Bewusstsein

Diese dem rein gewerkschaftlichen Kampf innewohnende Beschränktheit wird von vielen, ja den meisten Sozialist:innen und Kommunist:innen nicht beachtet, teilweise direkt negiert. Diese weigern sich daher anzuerkennen, dass der gewerkschaftliche Kampf an sich gar kein revolutionäres Bewusstsein hervorbringen kann. Das heißt jedoch keineswegs, dass dieser unbedeutend ist. So können siegreiche Kämpfe, die Erfahrung von Massenauseinandersetzungen überhaupt im Bewusstsein der Massen die Einsicht reifen lassen, dass sie eine gesellschaftliche Macht ausüben. Massive Konfrontationen um politische Fragen, Angriffe des Staates usw. werfen dabei auch über rein gewerkschaftliche Themen hinausgehende Fragen auf, bereiten den Boden dafür, dieses Bewusstsein auf eine höhere Stufe zu heben.

Das Falsche an der Erwartung, der gewerkschaftliche Kampf führe an sich zu sozialistischem Bewusstsein, beseht darin, dass dieser eben nicht das Lohnsystem selbst in Frage stellt. Lenin hat seinerzeit die Anhänger:innen dieses Irrtums in Russland als „Ökonomist:innen“ scharf kritisiert. Revolutionäres Bewusstsein, so weist Lenin nach, muss daher von einer revolutionären Organisation in die Klasse getragen werden.

Dieses Hineintragen sieht unterschiedlich aus, je nach Lage des Klassenkampfes und dem Verhältnis der revolutionären Kräfte zur Arbeiter:innenklasse. Wenn die Revolutionär:innen nur eine kleine Minderheit darstellen, geht es vor allem um die Gewinnung und Herausbildung von Kadern, auch solche, die keine Lohnarbeiter:innen sind. Der Unterschied ist der, dass die betrieblichen Kader auch dafür bewaffnet werden müssen, Vorschläge für gewerkschaftliche Kämpfe und Aktionen machen zu können, damit sie sich zumindest als Einzelne am Arbeitsplatz und in ihrer Gewerkschaft verankern können.

Dazu ist es unerlässlich, Politik in Betrieb und Gewerkschaft zu tragen, die generelle Politik der Bourgeoisie und ihres Staates mit der eigenen konkreten Ausbeutungslage zu verknüpfen, die Unterdrückung anzugreifen, die in Betrieb und Gesellschaft gegenüber national, rassistisch, sexuell Unterdrückten herrscht, und gegen die soziale Ungleichheit aufzutreten, in der sich diese ausdrückt.

Kampf, Erfahrung, Bewusstsein

Die Klasse selbst lernt natürlich am besten im Kampf. In der normalen Tretmühle stupider Ausbeutung ist es schwierig, sich politisches Wissen anzueignen, und je eintöniger und länger die Ausbeutung, desto schwerer. Auch dann, wenn der Kampf um das nackte Überleben ein alltäglicher ist, ist es schwer, sich mit der Weltlage zu befassen. Das ändert sich im Kampf, z. B. im Streik. Plötzlich wird der Kopf frei, alle müssen sich positionieren, es gibt keine Ausreden mehr und die Phrasen der Herrschenden entlarven sich schneller. Dann geht es für Revolutionär:innen auch darum, inmitten und anhand des Kampfes die Welt zu erklären und ihn so zu führen bzw. Vorschläge dafür zu machen, dass die Verhältnisse praktisch erfahrbar werden und der Weg, wie diese umgestürzt werden können.

Dies ist umso wichtiger, weil auch der erfolgreiche ökonomische Kampf zwar ein Moment der Stärkung und Radikalisierung des Bewusstseins enthält, zugleich aber seinem Wesen nach auf einen Kompromiss zielen muss. Ein guter (z. B. eine saftige Lohnerhöhung, die Verteidigung von Arbeitsplätzen, aber auch umfassende politische Reformen) stärkt daher nicht nur das Vertrauen in die Kraft der Klasse, sondern kann und wird oft auch Illusionen in die graduelle Verbesserbarkeit des Kapitalismus oder gar in dessen allmähliche, friedliche Überwindung bekräftigen.

Es sind diese Erfolge, die nicht nur die Basis für die Ausbreitung von (in Teilen durchaus kämpferischem) Gewerkschaftertum und Massengewerkschaften, sondern auch reformistischen Parteien legen. Das ist der „natürliche“ Reformismus der Arbeiter:innenklasse. Revolutionär:innen müssen also bewusst dafür arbeiten, dass ein kommunistischen Bewusstsein entsteht.

Historische Wurzeln

Die Gewerkschaftsbürokratie ist jedoch nicht bloß eine Verlängerung, Apparat gewordene Form des falschen, weil ungenügend entwickelten gewerkschaftlichen Bewusstseins. Sie ist zu einer Kaste entwickelt, die im Interesse der Kapitalist:innen in den Organisationen der Arbeiter:innenklasse wirkt. Als bürokratische Schicht entwickelt sie selbst ein materielles Interesse, ihre Rolle als Vermittlerin zwischen Lohnarbeit und Kapital zu verewigen – und damit auch, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu verteidigen.

Die Entstehung und Festigung einer solchen Bürokratie stellt jedoch selbst einen historischen Prozess dar. Nach dem Erstarken der Arbeiter:innenbewegung im 19. Jahrhundert musste die Bourgeoisie schon ihre Strategie ändern: Wo sie die Organisationen der ArbeiterInnenklasse nicht unterdrücken konnte, musste sie sie integrieren. Ihre Vertreter:innen bekamen Aufgaben in der Sozialversicherung, durften sich über Parlamente an der Verwaltung des bürgerlichen Staates beteiligen.

Kapitalist:innen korrumpieren aktiv Betriebsratsmitglieder, besonders die Vorsitzenden. Ihr Staat schafft gesetzliche Regeln, die die Herausbildung dieser Kaste begünstigen. So verfügen in Deutschland die Gewerkschaften über wenig Rechte im Betrieb, aber die Betriebsräte haben solche. Diese sind aber an das Betriebswohl gebunden und dürfen nicht zum Streik aufrufen. Ihre Rechte sind auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen ausgerichtet. Sie sollen Konflikte kontrollieren und nicht führen. Sie sollen die Beschäftigten vertreten, diese sich vertreten lassen, den Mund halten und Mehrwert produzieren.

Die Gewerkschaftsbürokratie ihrerseits beschränkt den Kampf bewusst auf ökonomische Ziele, auf die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Erhöhung der Löhne. In Deutschland nutzt sie das Betriebsverfassungsgesetz, das die Betriebsräte regelt, um die demokratischen Zugriffsmöglichkeiten der Gewerkschaftsmitglieder auf die Entscheidungen ihrer Organisationen auf ein Minimum zu reduzieren und ihre Macht als Kaste zu stärken.

Solche Gewerkschaften sind also nicht untauglich als „Schule für den Sozialismus“, weil sie unbeweglich, nicht spontan, unpolitisch, nationalborniert, männlich-chauvinistisch sind, sondern sie verinnerlichen diese Eigenschaften, weil sie von einer Kaste dominiert werden, deren politische Bestimmung es ist, die Gewerkschaften an das kapitalistische System zu binden und die Bedürfnisse der Arbeitenden denen der Ausbeuter:innen anzupassen und zu unterwerfen.

Es ist aber wesentlich zu verstehen, auf wen sich die Gewerkschaftsbürokratie, die obere Schicht der freigestellten Betriebs- und Personalräte in den Betrieben stützen und wie sie ihre Arbeit organisieren.

Weltmarkt und Arbeiter:innenaristokratie

Damit ein riesiger Apparat dauerhaft in das kapitalistische System eingebunden werden kann, muss dieses selbst eine gewisse Entwicklungsstufe erreicht haben. Mit der Entwicklung des Weltmarktes und der Herausbildung eines imperialistischen Weltsystems Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts entsteht erst die Grundlage dafür, dass in der Arbeiter:innenklasse selbst eine relativ privilegierte Schicht von Lohnabhängigen herausgebildet werden kann, die ihrerseits die soziale Stütze für Reformismus und Arbeiter:innenbürokratie darstellt.

Mit dem Imperialismus entsteht faktisch in allen entwickelten kapitalistischen Ländern eine Arbeiter:innenaristokratie, die große Teile der Klasse umfasst, die über längere Perioden relativ hohe Löhne, Arbeitsplatzsicherheit, also Reproduktionsbedingungen durchsetzen können oder zugestanden erhalten, die ihnen einen Arbeitslohn über den Reproduktionskosten sichern, ihren Konsumfonds erweitern und einen kleinbürgerlichen Lebensstil erlauben. In den Kernländern des Imperialismus können diese bis zu einem Drittel der Klasse ausmachen.

Möglich ist das nur, weil die Großkonzerne dieser Länder den Weltmarkt beherrschen. Sie beuten also nicht nur eine überaus produktive Arbeiter:innenklasse (inklusive einer Aristokratie mit sehr hoher Arbeitsproduktivität und damit trotz hoher Löhne überdurchschnittlichen Ausbeutungsrate) in ihren „Stammländern“ aus, sondern ziehen Extraprofite aus der Ausbeutung der Arbeitskraft der halbkolonialen Länder und den Weltmarktbeziehungen, die dem globalen Süden aufgezwungen werden. Diese ermöglichst einen Verteilungsspielraum für Zugeständnisse an die Arbeiter:innenaristokratie und in Phasen der expansiven Entwicklung sogar die Masse der Lohnabhängigen.

In den Halbkolonien, insbesondere in den ökonomisch entwickelteren, hat sich zwar auch eine Aristokratie herausgebildet, aber eine deutlich kleinere im Verhältnis zur Gesamtklasse. Wir können an dieser Stelle nicht auf die globale Entwicklung unserer Klasse eingehen. Entscheidend ist jedoch, dass die Bürokratie nicht nur organisatorisch die Klasse dominiert, eng an reformistische Parteien und auch an den bürgerlichen Staat gebunden ist sowie das spontane Bewusstsein der Klasse aufgreift. Sie verfügt auch über eine soziale, materielle Stütze in der Arbeiter:innenklasse. Diese wird zwar durch die aktuelle Entwicklung erschüttert, aber sie besteht letztlich, solange es den Imperialismus gibt.

Bürokratie und Aristokratie

Diese Schichten spielen für die Bürokratie in den Gewerkschaften eine besondere Rolle. Erstens sind diese zu einem hohen Anteil Gewerkschaftsmitglieder, sie wollen ja ihre hohen Löhne und guten Arbeitsbedingungen verteidigen oder verbessern. Zweitens sind sie empfänglich für alle Aspekte der reformistischen Ideologie: dass doch ein „gutes Leben“ auch im Kapitalismus möglich sei, es für dieses gute Leben auch „meiner“ Firma gutgehen müsse und ich deshalb auch noch einen Jahresbonus kriegen sollte, dass weiterhin viele Autos aus Deutschland exportiert werden müssen …Die Bürokratie findet also innerhalb der Klasse eine Schicht, deren materielle Situation sie für ihre reformistische Politik empfänglich macht.

Die Bourgeoisie verfolgt ihrerseits ein Interesse, diese Schicht an sich zu binden und ist bereit, sich dies einen Anteil an den Extraprofiten kosten zu lassen, die sie zum Beispiel im Falle der Autoindustrie durch den Export verdient oder aus den hohen Subventionen, die sie von der Regierung erhält (Milliarden für Forschung, E-Mobilität, Transformation, Abwrackprämien, Kurzarbeitergeld … ).

Dennoch es ist grundfalsch, die Arbeiter:innenaristokratie mit der -bürokratie gleichzusetzen. Diese Schicht bleibt trotzdem ein Teil der Klasse und wird nicht zur Agentur der Bourgeoisie in den Arbeiter:innenorganisation. Sie hat sich ihre Position auch erkämpft und nicht darum gebeten, geschmiert zu werden. In Zeiten der Krise aber können sich ihre Errungenschaften in Privilegien verwandeln.

Auch hier ist die Autoindustrie ein gutes Beispiel: Vor etwa 20 Jahren begann eine Welle von Sparprogrammen in den Autowerken. Die Bosse und Bürokrat:innen reagierten auf die spontanen Massenproteste, indem sie der Stammbelegschaft Sicherheit versprachen, aber alle Neuen ohne die bisherigen übertariflichen Zulagen einstellten. In der gesamten Metallindustrie wurde ein neues Tarifsystem eingeführt, das die Produktionsarbeit langfristig verbilligte. Daneben wurden noch Leih- und Werkvertragsarbeit ausgedehnt. Die alte Stammbelegschaft wurde zu einer Elite, die nicht mehr als Vorreiterin für Fortschritte wie die 35-Stundenwoche kämpfte, die eine Arbeitszeitverkürzung für alle einleiten sollte, die höhere Löhne durchgesetzt hatte, damit auch andere Branchen nachziehen (Geleitzugmodell), sondern die ihre privilegierte Position gegen die anderen abschirmte.

Es war also das Vorgehen der Bürokratie, die diese Schicht politisch korrumpiert hat. Dennoch bleiben diese Schichten oft auch ein Vorbild- und Orientierungspol für die gesamte Klasse – mitunter auch in negativer Hinsicht. Tatsächlich wurde die Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie im Herbst 2022 von der Bürokratie ausverkauft. Die Streikbereitschaft von 900.000 Warnstreikenden und auch das Ergebnis werden mit Sicherheit mehrheitlich bei den kämpferischsten Menschen der Klasse als vorbildhaft angesehen.

Die Arbeiter:innenaristokratie vereint also in diesem für Deutschland durchaus prägenden Fall konservatives politisches Bewusstsein mit gewerkschaftlicher Kampfkraft. Sie bildet die soziale Stütze der Bürokratie in der Gewerkschaft. Die Bürokratie bringt die Aristokratie nicht hervor, aber sie kann die Verfassung, den Bewusstseinszustand von arbeiter:innenaristokratischen Schichten beeinflussen.

Gerade weil in wichtigen imperialistischen Staaten (aber auch in einigen Halbkolonien) die Arbeiter:innenaristokratie Schlüsselsektoren der Mehrwertproduktion besetzt, wird es in einer Revolution auch wichtig, sie zu gewinnen und vom Einfluss der Bürokratie zu befreien. Die Stellung als relativ privilegierte Schicht darf außerdem nicht damit verwechselt werden, dass sie notwendig eine besonders rückständige wäre. In der Novemberrevolution stammte z. B. die Avantgarde der Klasse, die revolutionären Obleute, aus der Aristokratie.

Bürokratie heute

Über die Jahrzehnte haben sich aber auch Klasse und Bürokratie massiv gewandelt und befinden sich in einem fortlaufenden Veränderungsprozess.

Betrachten wir die deutschen Gewerkschaften, so konnten vor allem jene Industriegewerkschaften (IG Metall, IG BCE), die sich massiv auf die Aristokratie und enge Beziehungen zu Kapital und Staat stützen, einigermaßen halten. Ihre Mitgliederverluste sind geringer.

Insgesamt organisierte der DGB Ende 2021 5,73 Millionen Mitglieder. 2001 waren es noch 7,9 Millionen, 2011 6,16 Millionen. Das heißt, der Schwund verlangsamte sich.

Ende 2021 organisierten die drei größten der insgesamt 8 Einzelgewerkschaften über 80 % aller Mitglieder der DGB-Gewerkschaften: die IG Metall 2.169.183 Millionen (38 %), ver.di 1.893.920 Millionen (33,1 %) und die IG BCE 591.374 (10,3 %).

Im Jahr 2001, also kurz nach ihrer Gründung, organisierte ver.di 2.806.496 Mitglieder und war damit größte DBG-Gewerkschaft. Die IG Metall zählte damals 2.710.226. Während Letztere rund 500.000 Mitglieder verlor, waren es bei ver.di über 900.000.

Dies verweist darauf, dass die Gewerkschaften in Deutschland noch mehr zu solchen der Arbeiter:innenaristokratie geworden sind, selbst wenn es einige gegenläufige Trends gibt.

Die zentrale Ursache dafür stellt zweifellos die Restrukturierung des Kapitalismus selbst dar, die Ausweitung prekärer, ungesicherter Verhältnisse und damit auch viel größere Differenzierung innerhalb der Klasse selbst.

Die Klasse der Ausgebeuteten ist natürlich nie eine homogene Masse. Es gibt unterschiedliche Qualifikationen und Branchen. Qualifikationen werden auf dem Arbeitsmarkt unterschiedlich bewertet. Frauen verdienen weniger als Männer, werden in bestimmte Branchen gedrängt und weisen stärker unterbrochene Erwerbsbiographien auf. Migrant:innen landen in den Jobs mit niedrigeren Qualifikationen und weniger legalen Arbeitsverhältnissen.

Aber Phasen der Krise und Neustrukturierung gehen immer auch mit Ausdehnung der ärmsten und untersten Schichten der Klasse einher. Die Bürokratie in Deutschland hat diesen Prozess zwar nicht geschaffen, aber hingenommen und auch vorangetrieben (siehe Hartz-Gesetze).

Vom Standpunkt der engen Teilinteressen der Aristokratie und erst recht von jenem der Bürokratie macht es durchaus Sinn, sich auf das „Kerngeschäft“, auf die Großbetriebe, starke Bereiche im öffentlichen Dienst zu konzentrieren. Dort arbeiten schließlich auch jene Beschäftigten, die das Gros der Mitgliedsbeiträge und damit auch der Einkommensquelle des Apparates besteuern.

Die Arbeiter:innenbürokratie umfasst natürlich viel mehr als die Hauptamtlichen der Gewerkschaften, also auch Betriebsräte samt Apparat in den Großkonzernen oder Führungspersonal angelagerter Institutionen (Stiftungen). Dabei es ist gar nicht so leicht, genaue Zahlen darüber zu erhalten. Heute gibt es jedenfalls rund 9.000 Hauptamtliche bei den DGB-Gewerkschaften. Allein ver.di beschäftigt bundesweit rund 3.000 Mitarbeiter:innen (davon 500 Beschäftigte in der Bundesverwaltung).

Das durchschnittliche Jahresgehalt als Gewerkschaftssekretär:in betrug nach Erhebungen 2021 68.600 Euro, abhängig von Faktoren wie Erfahrung und Branche, so dass es zwischen 55.600  und 101.700 Euro schwankt. Die Bezüge der Vorstandmitglieder liegen deutlich höher. Hinzu kommen Diäten und Einkommen aus Aufsichtsratsposten, die zwar gemäß etlicher Statuten abgeführt werden sollen, oft genug aber privat eingestreift werden.

Aus obigen Zahlen geht auch hervor, dass natürlich auch der Gewerkschaftsapparat wie jede Bürokratie eine innere Differenzierung, eine Rangstufe der Hauptamtlichen kennt.

In den letzten Jahrzehnten hat sich allerdings die Rekrutierung der Sekretär:innen deutlich verändert. Lange Zeit stellten Funktionsträger:innen aus den Betrieben (Betriebsräte, Vertrauensleute) das Gros der Gewerkschaftsbürokratie. Heute sind es in der Regel Akademiker:innen, die über Einstiegsprogramme (Organzing bei ver.di, Traineeprogramm der IG Metall) angeworben und, gewissermaßen als Bürokrat:innen auf Zeit, erprobt werden.

Die bedeutet nicht nur eine deutliche Veränderung der Herkunft der Hauptamtlichen. Lange waren diese nicht nur mit Betrieben verbunden, sondern sie wurden auch in ihrer Stadt oder Region beschäftigt. So wurde z. B. ein/e Metallarbeiter:in und Betriebrat/-rätin aus einem Stuttgarter Daimlerwerk dortige/r Gewerkschaftssekretär:in. Zwischen ihm/r und der Belegschaft, aus der er/sie kam, bestand nach wie vor ein wechselseitiges politisches Verhältnis. Der/Die Sekretär:in konnte sich weiter auf „seine/ihre“ Leute verlassen, so wie diese direkt Druck auf „ihre/n“ Mann/Frau ausüben konnten. Heute werden angehende Hauptamtliche, die ohnedies nicht aus der Branche stammen, oft in Verwaltungsstellen fernab ihres Heimat- oder Studienortes geschickt, so dass die Beziehung zu anderen Hauptamtlichen auch gleich eine zentrale soziale darstellt.

Wie jede Bürokratie rekrutiert sich auch die der Gewerkschaften weitgehend selbst. Natürlich werden die Vorstände formaldemokratisch auf dem Gewerkschaftstag gewählt. Aber die hauptamtlich Beschäftigten stellt der Apparat, meist der zentrale (also der Vorstand) ein. Dem gegenüber sind sie letztlich auch verpflichtet, nicht den lokalen Strukturen.

Mit der veränderten Rekrutierungsmethode ist der Apparat in den letzten Jahren aber in mehrfacher Hinsicht noch unabhängiger von der betrieblichen Basis geworden – nicht jedoch von den Betriebsräten der Großbetriebe, also ihrem Alter Ego der Arbeiter:innenbürokratie. Auch diese Entwicklung muss im Kampf gegen die Bürokratie und für die klassenkämpferische Transformation der Gewerkschaften bedacht werden.

Klassenkämpferische Basisbewegung

Damit die Gewerkschaften zu wirklichen Kampfinstrumenten der Klasse werden können, muss der Reformismus in ihnen bekämpft werden. Und das geht nur gegen die Bürokratie, für ihre Entmachtung und für Gewerkschaftsdemokratie. Dafür sind natürlich Taktiken nötig. Gerade weil die Bürokratie sich auf bestimmte Errungenschaften, Rechte, hohe Löhne und sichere Arbeitsverhältnisse stützt, die die Gewerkschaftsmitglieder behalten und verteidigen wollen, und weil eine alternative, revolutionäre Führung letztlich nur in Verbindung mit einer revolutionären Partei entstehen kann, ist jedoch reine Denunziation der Bürokratie ein komplette Sackgasse.

Der Kampf gegen die Bürokratie muss auch in der täglichen gewerkschaftlichen und betrieblichen Praxis erfolgen. In jedem Konflikt geht es auch um:

  • Aktionen und Kampf statt Verhandlungen

  • Diskussion und Demokratie statt Diktate der Führungen

  • Einsatz auch für die Randbelegschaften statt Ausrichtung auf die Arbeiter:innenaristokratie

  • Die Interessen der Gesamtklasse und nicht von Privilegien für Sektoren

  • Solidarität mit anderen Kämpfen.

  • Gegen Rassismus, Sozialchauvinismus und Nationalismus, Unterdrückung von Frauen, LGBTIA-Personen und der Jugend.

Aber das ist nicht alles. Es ist völlig klar, dass die Bürokrat:innenkaste alle Vorteile der Zentralisierung und Organisierung für sich nutzt. Es ist also eine organisierte Bewegung gegen die Bürokratie nötig, die sich auf die Basis stützt und diese organisiert gegen das politische Monopol des Apparates. Das macht eine politische Bewusstseinsbildung nötig und bedeutet letztlich, die Kolleg:innen für eine antikapitalistische, revolutionäre Perspektive zu gewinnen. Das ist kein Spaß, vor allem dort, wo die Bürokratie besonders hart zuschlägt, wo sie aus Sicht des Kapitals ihre wichtigste Aufgabe erfüllt: in der Exportindustrie. Um so notwendiger ist ein organisierter Kampf.

In ihm spielt nicht nur die Strategie, sondern auch deren taktische Konkretisierung eine große Rolle. Immer wenn der Apparat ein paar Schritte in Richtung Kampf geht, seine radikaleren Teile auf dem Vormarsch sind, die Belegschaften aus ihrer Passivität ausbrechen, in die sie gedrängt werden, müssen wir in dieser Bewegung vorne dabei sein, dürfen nicht passiv bleiben. Wir dürfen nicht nur vor dem nächsten Verrat warnen, sondern müssen Vorschläge machen, die die Massen in Bewegung befähigen, ihn zu bekämpfen. Die Mitglieder müssen die Kontrolle über die Forderungen, Aktionen und Verhandlungen in die Hand bekommen – also Aktionskomitees wählen, auf Vollversammlungen entscheiden, Verhandlungen öffentlich führen.

Die Aufgabe einer Basisbewegung liegt darin, die Alternative einer klassenkämpferischen Gewerkschaft in der Praxis zu zeigen und für eine Umgestaltung der alten Verbände zu kämpfen. Die Bürokratie ist als soziale Schicht an den Kapitalismus gebunden. Alle Privilegien müssen beendet werden: Bezahlung nach Durchschnittseinkommen der Branche, raus aus den Aufsichtsräten, demokratische Wahlen und Abwählbarkeit auf allen Ebenen. Das kann zu heftigen Brüchen in den Gewerkschaften führen, zu Spaltungen und Ausschlüssen.

Wenn wir heute mit anderen Organisationen am Aufbau der Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften (VKG) arbeiten, dann tun wir das solidarisch und auf Basis gemeinsamer Beschlüsse. Aber wir kämpfen auch für ein revolutionäres Verständnis von Gewerkschaftsarbeit und Aufbau einer klassenkämpferischen Basisbewegung als einer Kraft, die die Organisationen unter die Kontrolle der Klasse bekommen und die Bürokratie vertreiben kann und es so ermöglicht, die bestorganisierten Schichten der Klasse für die Revolution zu gewinnen.

„Gewerkschaften … verfehlen ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen … zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems.“ (K. Marx, Lohn, Preis und Profit, MEW 16, S. 152)




Der Fall Orhan Akman – ein Sittenbild der ver.di-Bürokratie

Helga Schmid, Infomail 1208, 28. Dezember 2022

Seit Monaten würgen ver.di-Verantwortliche interne Kritik gegen überholte Strukturen und falsche politische Ausrichtung mit bürokratischen Mitteln ab. Dabei scheuen sie auch nicht davor zurück, den „Fall“, den sie selbst erst geschaffen haben, vor bürgerliche Gerichte zu bringen.

Mit schikanösen Vorwürfen und Maßnahmen geht der Apparat seit gut sechs Monaten gegen Orhan Akman, ver.di-Bundesfachgruppenleiter für Einzelhandel und Versand, vor. Dazu zählen: zwei Ermahnungen, zwei fristlose Kündigungen (sowie eine dritte, beabsichtigte Kündigung, die dann aus formalen Gründen nicht mehr ausgesprochen wurde), Zutrittsverbot in sein Büro, Abberufung von seiner Funktion als Bundesfachgruppenleiter Einzel- und Versandhandel und Widerruf aller ihm erteilten Tarifvollmachten.

Gericht entscheidet gegen bürokratischen Apparat

Am 13. Dezember hat nun das Arbeitsgericht Berlin die Klage von Orhan Akman gegen seine Kündigung zu seinen Gunsten entschieden und ihm in allen Punkt Recht gegeben (mehr unter: https://orhan-akman.de/).

Der Fall Orhan Akman hat in den letzten Monaten sowohl innerhalb ver.dis, aber auch in der Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt. Viele Gliederungen der Gewerkschaft, Betriebsräte, vor allem aus dem Handel, und Einzelpersonen haben sich gegen die ungerechtfertigte Kündigung gewendet und sich für ihre Rücknahme ausgesprochen. Auch persönliche Vermittlungsangebote zwischen Bundesvorstand und Orhan Akman sind insbesondere bei ver.di-Chef Werneke auf Granit gestoßen.

Daraufhin ist Orhan vor Gericht gezogen und hat nun Recht bekommen. Vordergründig ging es um seine – in den Augen des Bundesvorstands – dreiste Kandidatur zum Bundesvorstand gegen seine Kollegin Silke Zimmer. Diese war, nachdem die bisherige Kollegin im Bundesvorstand und Leiterin des Fachbereichs Handel ihren Rücktritt erklärt hatte, vom Bundesfachbereichsvorstand als Kandidatin für den Bundesvorstand gewählt worden. Darüber hinaus werden ihm sein angeblich ungebührliches Verhalten seiner bisherigen „Chefin“ gegenüber vorgeworfen sowie die angebliche Weitergabe von ver.di-Interna an die Presse.

Politische Positionen

Selbst wenn all das der Fall gewesen sein sollte, ist dies kein Kündigungsgrund. In Wirklichkeit sind alle diese Gründe vorgeschoben. Im Wahrheit geht es um seine politische Position, die er mittlerweile auch über seine Website öffentlich gemacht hat. Dort spricht er sich dafür aus, dass sich ver.di nicht mehr einen teuer bezahlten bürokratischen Wasserkopf mit Doppelstrukturen leisten, sondern näher an den Konflikten und Bedürfnissen der Belegschaften und Betriebe sein sollte, um der Krise in den Gewerkschaften und insbesondere bei sich selbst entgegenzuwirken.

Weitere Gründe für den anhaltenden Mitgliederverlust sieht er darin, dass „das beitragszahlende Mitglied immer mehr entmachtet wird und sich in der eigenen Gewerkschaft immer weniger wiederfindet.“  Stattdessen müssen „Beteiligung und demokratische Strukturen“ nicht nur Teil der Satzung sein, sondern auch aktiv umgesetzt werden. Weiterhin schlägt er statt ständiger Umstrukturierungsprojekte, die letztlich nur darauf hinauslaufen, Geld einzusparen, eine andere Ausrichtung der Tarifpolitik vor, die sich an „Wertschöpfungs- und Lieferketten“ orientieren und den nationalen Rahmen auch verlassen müsse. Und dafür müssen die Fachbereiche auch entsprechend ausgerichtet werden. Auch fordert er, das politische Mandat neu aufzugreifen. Politische Streiks gegen Preissteigerungen dürfen kein Tabu sein oder nur auf dem Papier stehen, sondern müssen aktiv von ver.di forciert werden statt sinnloser Appelle an die Regierung wie derzeit wieder in der Konzertierten Aktion.

Alles Vorschläge und Argumente, die nicht nur wir unterstützen können, sondern die auch die gesamte Gewerkschaft und deren Strukturen ernsthaft diskutieren und entscheiden sollten. Dafür müssten die Gewerkschaftsverantwortlichen einen Rahmen schaffen. Ein Vorgehen, das „eigentlich“ ganz normal wäre, wenn man ernsthaft die Krise – sprich den ständigen Mitgliederschwund – in der Organisation bekämpfen will. Aber statt seine Kritik aufzunehmen und darum eine Diskussion in der gesamten Organisation anzuregen und einen Rahmen dafür zu bieten, reagiert der Bundesvorstand mit bürokratischen Maßnahmen gegen Orhan Akman, der seit 20 Jahren aktiv als Hauptamtlicher – unter anderem auch mehrere Jahre in Südamerika – versucht, ver.di als aktiv handelndes Organ der Kolleg:innen erfahrbar zu machen.

Lange hat Orhan Akman dies im politischen Rahmen der Gewerkschaftsbürokratie – als bislang akzeptierter linksreformistischer Teil – betrieben und damit durchaus eine integrative Rolle für den Apparat erfüllt. Aber dass selbst Kritik aus den eigenen Reihen – auch wenn Orhan als eine Persönlichkeit in ver.di bekannt ist, die immer gerne aneckt – versucht wird, mit bürokratischen Mitteln zu ersticken, wirft ein zweifaches Licht auf das Verhältnis der Gewerkschaftsverantwortlichen zur Organisation.

a) Wenn schon in den eigenen hauptamtlichen Reihen keine Kritik zugelassen wird, wie wird mit Kritik aus den Reihen der Ehrenamtlichen und „normalen“ Mitglieder umgegangen? Von einer demokratischen Diskussionskultur in ver.di kann damit nicht mehr gesprochen werden. Im Gegenteil, bürokratisches Abwürgen wird immer mehr die Regel werden. Orhan ist leider nicht der erste Fall, Kritik mit bürokratischen Mitteln bis hin zur Kündigung zu begegnen.

b) Seine Kritik zielt natürlich indirekt auch auf die Pfründe von vielen Hauptamtlichen, die es sich über Aufsichtsratsposten – auch wenn die Aufwandsentschädigungen laut Satzung an ver.di zurückbezahlt werden müss(t)en – oder eine im Vergleich zu vielen Kolleg:innen in den Betrieben bessere Bezahlung oder andere Annehmlichkeiten – sei es „nur“ die Anerkennung durch die Geschäftsführungen als zuverlässige/r Verhandlungspartner:in – in der bestehenden Gesellschaftsordnung gemütlich eingerichtet haben. Diese besondere Schicht von Gewerkschaftsbürokrat:innen will sich natürlich genau diese Annehmlichkeiten und ihre Funktion als Vermittler:in zwischen Lohnarbeit und Kapital nicht wegnehmen lassen und verteidigen diese bis aufs Messer.

Aber die Reaktion auf die völlig absurde Kündigung von Orhan Akman, die sich auch positiv auf seine Vorschläge zur Überwindung der Krise in ver.di bezieht, zeigt, dass es innerhalb der Mitgliedschaft ein großes Bedürfnis gibt, genau über diese Fragen zu sprechen und die Gewerkschaft wieder in ein Organ zur Verteidigung der Interessen der Kolleg:innen zu verwandeln. Eine demokratische Diskussion, die wir alle verteidigen müssen und die auch organisiert zu werden bedarf. Dabei dürfen wir uns aber nicht allein auf Orhan Akman verlassen – mit allem Respekt vor seinem Mut und seiner Beharrlichkeit, dem Druck von oben nicht nachzugeben – oder auf andere Gewerkschaftsverantwortliche, die durchaus mit seinen Positionen sympathisieren. Wir – die Gewerkschaftsmitglieder – müssen dies selbst in die Hand nehmen. Einige Gliederungen wie z. B. die Senior:innen aus München haben Orhan eingeladen, um mit ihm über seine Kündigung und Vorschläge zur Überwindung der Krise zu diskutieren.

Lasst uns Diskussionen örtlich, regional bundesweit in ver.di, aber auch außerhalb der Gewerkschaft organisieren! Bei diesen muss alles auf den Tisch kommen, angefangen von demokratisch gestalteten Tarifrunden, bei denen die Streikenden selbst über den Kampf und das Ergebnis diskutieren und entscheiden können müssen, bis hin zur Frage des politischen Streiks gegen NATO- und Bundeswehraufrüstung im Zuge des Krieges in der Ukraine oder gegen Preissteigerung, und wie dieses umgesetzt werden kann.

Das ist eine langwierige Auseinandersetzung. Was wir dafür brauchen, ist eine organisierte Kraft in ver.di und den anderen Gewerkschaften, die sich regelmäßig trifft und bespricht, welche Initiativen ergriffen werden können, um ver.di und alle Gewerkschaften wieder zu Klassenkampforganen umzugestalten, die die Interessen der Lohnabhängigen, Arbeitslosen, Frauen, Jugendlichen Migrant:innen, der sexuell Unterdrückten und Rentner:innen gegen Kapital und Regierung ohne Wenn und Aber verteidigen. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.

Solidarität mit Orhan Akman! Lasst uns weitere Diskussionen in den Orten, Regionen und bundesweit über seine Positionen organisieren!




Hafenstreiks: fortführen, ausweiten, politisieren!

Bruno Tesch, Neue Internationale 267, 23. August 2022

Vorbemerkung: Am Abend des 23. August einigte sich ver.di mit dem Zentralverband der Seehafenbetriebe. Ein Artikel folgt in Kürze, dieser Artikel behandelt die Situation vor dem Tarifabschluss und wurde in diesem Kontext geschrieben und veröffentlicht.

Nach Warnstreiks hatte sich die Gewerkschaftsvertretung von ver.di für die Beschäftigten in den verschiedenen Nordseehäfen durch einen Beschluss des Hamburger Arbeitsgerichts vom 14. Juli ausbremsen lassen. Das Gericht untersagte abermalige Arbeitskampfmaßnahmen bis zum 26. August. In dieser Zeitspanne ließ sich die Gewerkschaft stattdessen zu weiteren Verhandlungsrunden verpflichten. Gestern fand die dritte und letzte Runde dazu statt, Ergebnisse sind noch nicht bekannt.

Diese „neutrale“ Entscheidung kam nicht nur den Absichten der Kapitalist:Innenseite, dem Zentralverband der Seehafenbetriebe (ZDS), entgegen, sondern auch seinen Tarif„partner:innen“ vom gewerkschaftlichen Lager sehr gelegen, die sich wohl auch aus rechtlicher Sicht gar nicht auf den Vergleich hätten einlassen müssen. Ver.dis Verhandlungsführerin, Maya Schwiegershausen-Güth, erklärte: „Streik ist immer das letzte Mittel, aber Lösungen werden am Verhandlungstisch vereinbart.“ Beide haben ein gemeinsames Interesse, ein Spiel auf Zeit durchzuexerzieren, bei dem den Arbeiter:innen der kämpferische Schwung schließlich verlorengehen soll. Der bürokratische Apparat von ver.di verfolgt zudem die Strategie, jederzeit die Kontrolle über das Geschehen zu behalten. Dies erschien ihm insbesondere nach der Demonstration in Hamburg vom 15. Juli geboten, die von der Polizei angegriffen wurde und wo sich eine eigene Kampfdynamik an der Basis zu entfachen drohte.

„Wir sind der Hafen“

Am 22. August gelang es, mehr als 200 Beschäftigte aus den verschiedenen Häfen unter dem Motto „Wir sind der Hafen“ zur dritten Verhandlungsrunde in Bremen zusammenzubringen. Die Stimmung war sehr lautstark, obwohl dann nur die Verhandlungsführerin Schwiegershausen-Güth im Radio Bremen-Magazin Buten und Binnen als einzige Mikrofonzeit erhielt und dort über schwierige Verhandlungen orakelte. Die Fortführung von Streiks nach dem Verhandlungstag wird aber anscheinend nicht ausgeschlossen. In welcher Form, wird davon abhängen, ob die bremsende ver.di Führung weiterhin das Heft in der Hand behält oder ob der Druck an der Basis weiter gesteigert werden kann und sich eigenständige Strukturen im Kampf herausbilden, die ihn vorwärtstreiben und ausweiten können.

Noch sind die Zielvorstellungen beider Lager anscheinend nicht übereingekommen. Der gewerkschaftlichen Forderung nach einem Inflationsausgleich in nicht bezifferter Höhe und Anhebung der Stundenlöhne um 1,20 Euro v.a. auch für die unteren Lohngruppen steht die Position des ZDS, die die Laufzeiten aufspalten will und eine schrittweise Lohnerhöhung von 3,2 % in diesem und 2,8 % im nächsten Jahr sowie eine Einmalzahlung von 600 Euro vorsieht, gegenüber. Auch wenn die Kluft groß zu sein scheint, unüberwindlich ist sie nicht, zumal sie sich auf eine ökonomische Zahlenebene verengt und die Regeln kapitalistischer Rechenexempel nicht außer Kraft setzt.

Daneben sind auch Arbeitsverdichtung und Überstunden ein gerade in den letzten Jahren immer drückenderes Dauerthema geworden. Grund dafür sind Personalabbau und die Ausweitung des Sektors der „unständigen“ Arbeitskräfte, die als moderne Tagelöhner:innen malochen.

Natürlich verdienen auch diese Forderungen in voller Höhe und Umfang unsere tätige Solidarität, denn schon ihre Durchsetzung kann sich nur stärkend auf das Selbstbewusstsein der Kolleg:innen auswirken und die Anziehungskraft einer gewerkschaftlichen Organisierung erhöhen. Aber die Kolleg:innen müssen wachsam sein und Transparenz und Rechenschaftsplicht von ihren in den Verhandlungen agierenden Vertreter:innen fordern. Wir glauben nämlich nicht, dass „eine starke Mobilisierung am 22. August ( … ) es auch der Verhandlungskommission ermöglichen (würde), ( … ) sich über die weiteren Verhandlungsschritte direkt mit den anwesenden Kolleg:innen zu beraten, anstatt sich hinter verschlossenen Türen auf die Argumente der Bosse einlassen zu müssen“, wie Dustin Hirschfeld von „Klasse gegen Klasse“ schreibt (https://www.klassegegenklasse.org/hafenstreiks-inflationsmonster-stoppen-vollstreik-jetzt/).

Diese Hoffnung muss so lange illusorisch bleiben, wie die entscheidenden Fragen von unmittelbarer Einflussnahme und der Aufbau von auf Vollversammlungen demokratisch gewählter Kampfstrukturen wie Streikaktionsräten als Kontrollmechanismen und Machtorganen nicht gezielt angegangen werden.

Zwischen Fallstricken und Signalwirkung

Zu den Erschwernissen der Auseinandersetzungen gehören jedoch auch Rahmenbedingungen, bei denen die Bürokratie selbst die Tarifvereinbarungen durchlöchert und einer Verschlechterung der Position der Lohnabhängigen zugestimmt hat. In vielen Fällen sind über das Arbeitszeitgesetz sogenannte Tariföffnungsklauseln (Tök) in die Vertragsabmachungen eingeschleust worden. Sie ermöglichen es einseitig den Unternehmen, ihren Belegschaften betriebliche Sonderkonditionen aufzubinden, so z. B. die Beschäftigungssicherungsverträge, die es den Firmen gestatten, bei etwaigem Auftragsmangel Arbeitszeit und Entgelte zu verringern.

Die unsägliche Standortsicherungslogik der Gewerkschaftsbürokrat:innen hat zur Knebelung der Kampfkraft beigetragen, denn sie hält sich kapitalkonform an die sogenannte Friedenspflicht, die ihnen nur mit Ablauf der Tarifverträge normalerweise alle zwei Jahre erlaubt, zu Gegenwehrmaßnahmen zu greifen, und deren Begriffsbildung „Friedenspflicht“ dem ständigen Klassenkrieg der Bosse Hohn spricht.

Ein erfolgreich geführter Arbeitskampf kann in jedem Fall Wirkung erzielen. Im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Arbeiter:innenklasse, was sich in Versuchen zur Angleichung von Löhnen an die in allen Bereichen spürbare Teuerung ausdrückt, eröffnet sich jetzt die Möglichkeit einer besonderen Ausstrahlung auf andere Sektoren der Klasse, es den Hafenarbeiter:innen gleich zu tun. Dazu muss jedoch der Kampf zumindest auf breiterer Ebene politisiert werden, sonst wird er im Räderwerk von Tarifverträgen, die nach Wunsch von Kapital und Arbeiter:innenbürokratie auch noch, sorgsam nach Fachbereichen sortiert, luftdicht verpackt werden, steckenbleiben.

Mit gutem Beispiel gehen zur Zeit die Arbeiter:innen in Britannien voran, die eine branchenübergreifende Streikwelle entfacht haben. Antriebsmotor war auch hier der Kampf gegen die horrende Inflation. Sie trotzen dabei gewerkschaftsfeindlichen Gesetzen, die ihnen das Streikrecht immer weiter beschneiden wollen, und beschränken sich nicht auf Warnstreiks, wie gerade der angelaufene 10-tägige Vollstreik im größten Containerhafen Felixstowe zeigt.

Weder Bürgerliche Gerichte, noch die bürokratischen Spitzen der Gewerkschaften dürfen darüber entscheiden, ob, wann und von wem gestreikt wird! Das ist allein Sache der Beschäftigten, die in direkter Urabstimmung und demokratischer Kontrolle darüber entscheiden sollen. Vollstreik mit dem Ziel der vollen Durchsetzung der Forderungen jetzt! Keine Töks! Die Aktivist:innen aus den Häfen sollten Aktionsräte bilden, die Verbindungen zu anderen Bereichen aufnehmen, die unter ähnlichen Bedingungen arbeiten und vor ähnlichen Problemen stehen, z. B. im gesamten Logistik- und Verkehrswesen. Sie könnten die Grundlage legen für eine Basisbewegung kämpferischer Arbeiter:innen, die Kapital und reformistische Bürokratie bekämpfen.




Modernisierte Betriebsräte

Mattis Molde, Infomail 1153, 21. Juni 2021

Eher beiläufig hat der Bundestag das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geändert und dazu das „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ verabschiedet. Dies war im Koalitionsvertrag vorgesehen, und da es nicht so aussieht, als würde diese Koalition die kommende Bundestagswahl überstehen, wurde es schnell noch von Arbeitsminister Heil auf den Weg gebracht, wohl auch als Versuch der SPD, sich als Partei der Arbeit„nehmer“Innen zu profilieren.

Die Änderungen und das neue Gesetz berühren die Themen Schutz von Betriebsratsgründungen, Wahlrechtsalter, Mitbestimmung bei mobiler Arbeit und Kommunikationsmittel. Verabschiedet wurde das Ganze im Paket mit einer Ausweitung der Fristen bei der Saisonarbeit. Die damit erleichterte Ausbeutung ausländischer ArbeitsmigrantInnen bringt für das Kapital deutlich mehr, als es die Kosmetik beim Betriebsverfassungsgesetz kostet.

Saisonarbeit

Statt 70 können dieselben SaisonarbeiterInnen dieses Jahr 102 Arbeitstage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden, was vor allem in der Landwirtschaft genutzt wird. Begründet wird dies wie schon 2020, als sogar 115 Tage erlaubt worden waren, mit Infektionsschutz, da die Fluktuation der MigrantInnen geringer sei. Durch die Pandemie sind skandalöse Zustände auf vielen Höfen bekanntgeworden: Masseninfektionen, unbehandelte Kranke und viele Todesfälle, die übliche Beherbergung in Massenunterkünften, vorenthaltener Arbeitslohn, Arbeitszeitbetrug der Betriebe, Abrechnung überhöhter Beherbergungskosten, Bewachung in geschlossenen Lagern.

Die Krönung war und ist die „Arbeitsquarantäne“, bei der alle – auch Kranke – weiterarbeiten, aber keinen Kontakt nach außen haben und auch nicht nach Hause fahren dürfen. Alle diese Probleme wurden von der Regierung nicht angegangen, stattdessen wurde die Ausnutzung dieser Arbeitskräfte vereinfacht. Sozialversicherungsfrei heißt, dass die Betriebe diese Kosten sparen und den Beschäftigten keine Krankenversicherung aus diesem Arbeitsvertrag zusteht – in der Zeit der Pandemie!

Die AusbeuterInnen jubeln auf agrarheute: „Der Bauern- und Winzerverband Rheinland-Pfalz Süd (BWV) reagierte erleichtert auf den Kabinettsbeschluss. Dies sei eine wichtige Entscheidung im Sinne der Pandemiebekämpfung und der Sicherung der regionalen Lebensmittelproduktion, stellte der BWV fest.“

Waagschale

Und was ist bei diesem großkoalitionären Deal für die Beschäftigten in Betrieben und Verwaltungen herausgekommen? Was hat Hubertus Heil produziert, damit der DGB dies als Fortschritt preisen kann?

Die Senkung des Wahlrechtsalters zu Betriebsratswahlen von 18 auf 16 ist natürlich längst überfällig. Wer als Jugendlicher ausgebeutet wird, soll auch wählen dürfen. Aus gutem Grund wird dies in den Kommentaren zur Gesetzesänderung aber kaum erwähnt: Es gibt praktisch keine Jugendlichen dieses Alters in Betrieben mit Betriebsrat (BR). Das tatsächliche Problem ist vielmehr, dass dort, wo viele junge Menschen arbeiten, oft auch in Teilzeit, eine hohe Fluktuation herrscht – was nicht nur die BR-Gründung, sondern auch die Wahl von jungen Menschen in dieses Gremium erschwert. Hier wäre dringend eine Verkürzung der Wahlperioden nötig – von 4 auf 3 Jahre wie früher oder, noch weitaus sinnvoller, auf 1 oder 2 Jahre. Das lehnen nicht nur die Unternehmen ab, sondern das wollen natürlich auch die eingesessenen BR-BürokratInnen in keinster Weise, müssten sie sich doch in kürzeren Intervallen zumindest einer formalen Wahl und einer gewissen Rechenschaft gegenüber der Belegschaft stellen.

Mobile Arbeit, die jetzt gesetzlich auch das Homeoffice umfasst, wird durch die Gesetzesänderung als solche mitbestimmungspflichtig – in der Ausgestaltung. Was eingeführt wird, bleibt alleinige Unternehmensentscheidung. Und selbst die Verbesserungen relativieren sich, denn schließlich waren die einzelnen Themen, die dabei eine Rolle spielen wie Lage und Erfassung der Arbeitszeit, Ausgestaltung des Arbeitsplatzes, Arbeitssicherheit usw. schon bislang mitbestimmungspflichtig.

Dieser Punkt ist ebenso wie die Möglichkeit, zukünftig BR-Sitzungen auch online abzuhalten, und andere „Modernisierungen“ nicht der Brecher.

Recht und Macht

Der Kern der Gesetzesänderung sollte darin bestehen, die Gründung von Betriebsräten zu erleichtern bzw. die Verhinderung derselben zu erschweren. Das war als Dankesgeschenk an die Gewerkschaften für ihre Unterstützung der Großen Koalition gedacht.

Tatsächlich ist die Zahl der BR im Land zurückgegangen: Nur etwa 10 % der Unternehmen haben einen solchen, in diesen arbeiten etwa 40 % der Beschäftigten. Im Westen liegt die Zahl höher als im Osten, insgesamt ist sie seit Jahrzehnten rückläufig. Nur in den letzten zwei Jahren konnte sie sich leicht stabilisieren. Sicher ist, dass dies mit aggressivem Vorgehen seitens der Unternehmensführungen zu tun hat, mit der Entfernung von Beschäftigten, die eine BR-Gründung anstreben, durch Kündigung oder Abfindung.

Betriebsratsmitglieder, auch Ersatzmitglieder und KandidatInnen, sowie diejenigen, die als Wahlvorstände eine Wahl initiiert haben, können allerdings auch bisher nicht einfach gekündigt werden: Sie genießen einen Schutz durch ihre Funktion und ein Betriebsrat als Institution kann Kündigungen als solche zwar auch nicht verhindern, aber erschweren. Und hier gibt es die einzige kleine Änderung: Auch die InitatorInnen von BR-Wahlen erhalten zukünftig einen gewissen Schutz. Für den Kampf gegen Union-Busting reicht das nicht.

Union-Busting

Mit den Angriffen auf Betriebsräte wird oft gleichzeitig gewerkschaftliche Arbeit be- und verhindert, denn jede/r Beschäftigte darf zwar Mitglied einer Gewerkschaft sein, wenn aber GewerkschafterInnen im Betrieb ohne BR aktiv werden, verfügen sie über keinerlei effektiven Schutz. Unter AktivistInnen ist deshalb der US-amerikanische Begriff des „Union-Busting“, der gezielte Angriff auf Betriebsräte und Betriebsratsgründungen, auch für Deutschland übernommen worden, auch wenn die rechtlichen Bedingungen komplett anders liegen.

Die Methoden der „BusterInnen“ reichen von Einschüchterung der Belegschaft, „Rauskaufen“ von AktivistInnen bis hin zu Unterschieben von Diebstahl, Arbeitszeitbetrug oder physischen Übergriffen. Dabei kommt den Firmen zugute, dass selbst kleine Verfehlungen, die im zivilen Leben, wenn überhaupt, dann geringfügig bestraft werden, in der Arbeitsrechtsprechung ein „zerrüttetes Vertrauen“ darstellen, das einen Verlust des Arbeitsplatzes rechtfertigt.

Der bürgerliche Staat schützt das Recht des Kapitals auf Ausbeutung nicht nur im individuellen Arbeitsverhältnis, sondern untermauert die Machtverhältnisse auch im kollektiven Arbeitsrecht. Es gibt in Deutschland keine staatlichen Institutionen, die kontrollieren, ob die zugunsten der Beschäftigten geltenden Gesetze und Vorschriften in den Betrieben eingehalten werden. Das wird aber explizit den BR überlassen und zu ihrer Kernaufgabe erklärt (BetrVG §80 Abs 1). Aber es gibt keine Pflicht für die Unternehmen, BR einzuführen. Das wird dem jeweiligen betrieblichen Kräfteverhältnis überlassen und die Strafen für die Behinderungen von Betriebsratswahlen bzw. der Arbeit von BR sind lächerlich. In einem Brief an Heil hatten deshalb im Vorfeld GewerkschafterInnen und  JuristInnen im Aufruf „Betriebsräte effektiv stärken!“ folgende Forderungen aufgestellt:

„1. Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität/Sonderabteilungen für Arbeitsbeziehungen! Für effektive Aufklärung und Strafverfolgung krimineller Unternehmer und ihrer auf Union Busting spezialisierten Dienstleister (Rechtsanwälte, Detekteien). Hier geht es um einen Komplex, der neben Betriebsratsbehinderung regelmäßig andere Straftaten umfasst wie Diskriminierung, Prozessbetrug, Anstiftung und Verabredung zu Straftaten, juristische Nachstellung (Stalking), Nötigung, Bestechung, Ausspähung (Verletzung der informationellen Selbstbestimmung).

Oft werden Betriebsräte auch deshalb unterdrückt, weil Unternehmen die Aufdeckung anderer Delikte befürchten wie Sozialabgabenbetrug, Steuerhinterziehung, Verstoß gegen Mindestlohn, Arbeitsschutz + Arbeitszeiten etc.

2. Erklären Sie Betriebsratsbehinderung zum Offizialdelikt! Dadurch steigt das Strafmaß und somit das Verfolgungsinteresse der Staatsanwaltschaften. Offizialdelikte müssen im Gegensatz zu Antragsdelikten vom Staat verfolgt werden, sobald Kenntnis besteht. Bislang kann Betriebsratsbehinderung nur durch den betroffenen Betriebsrat oder eine vertretene Gewerkschaft angezeigt werden.

Auf Betriebsratsbehinderung steht derzeit dieselbe Strafe wie auf Beleidigung. Doch Union Busting ist kein Kavaliersdelikt. Union Busting ist gegen das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit am Arbeitsplatz gerichtet und damit verfassungsfeindlich.

3. Führen Sie ein verpflichtendes Melderegister für Betriebsratswahlen ein! Die genaue Zahl der Betriebsräte und Betriebsratsgründungen in Deutschland ist ebenso unbekannt wie ihre Entwicklung oder ihr Scheitern. Bislang gibt es nur grobe Schätzungen aufgrund von Stichproben. So sollen laut IAB nur noch ca. 9 % aller wahlberechtigten Betriebe mit fünf oder mehr Angestellten einen Betriebsrat haben. Doch der Befund ist umstritten und vermutlich zu optimistisch. Es fehlen genaue, empirische Daten … “

Diese Forderungen sind richtig und unterstützenswert und der ganze Zusammenhang zeigt deutlich, dass diese Bundesrepublik ein Staat zum Schutz der Klassenherrschaft des Kapitals ist, in der die Rechte der ArbeiterInnenklasse immer nur bedingt sind. Deshalb reichen auch die demokratischen und rechtsstaatlichen Forderungen dieser Unterschriftensammlung nicht aus.

Die Grenzen der Betriebsverfassung

Laut Betriebsverfassungsgesetz sollen Betriebsräte das Wohl der Beschäftigten und des Betriebes im Auge haben – je zugespitzter der Klassenkampf, desto unmöglicher wird die Aufgabe, eine Form gesetzlich verordneter Klassenzusammenarbeit zu erfüllen, und desto untauglicher werden auch die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte der BR.

Zweitens handeln BR als Stellvertreter, nicht als Organisatoren der Belegschaft. Die Mitwirkungsmöglichkeiten, die selbst dieses Gesetz hergibt, werden von ihnen regelmäßig nicht genutzt und die Belegschaften vor vollendete Tatsachen gestellt. In der Praxis platzieren sie sich eher als VermittlerInnen zwischen Management und Beschäftigte.

Beschäftigte und Belegschaften müssen deshalb weiterhin auch gewerkschaftliche Strukturen in den Betrieben (Betriebsgruppen, Vertrauensleute) aufbauen und direkte und demokratische Organisationsformen finden, wenn sie in den Kampf gehen wollen oder müssen. Aktions- und Streikkomitees auf betrieblicher oder überbetrieblicher Ebene sind dort nötig, wo die gesetzliche Vertretung verwehrt wird, aber auch dort, wo sie existiert und dieser gesetzliche Rahmen nicht ausreicht.

Klassenzusammenarbeit in der Praxis

Die DGB-Gewerkschaften haben die Forderungen des zitierten offenen Briefes nicht unterstützt. Der Apparat verkauft die gesetzlichen Reformen lieber als großartigen Verhandlungserfolg. Natürlich kommentieren die BürokratInnen die Gesetzesänderung in dem Sinne, dass sie einen Fortschritt darstelle, aber mehr folgen müsse. Den Preis, die verschärfte Ausbeutung der SaisonarbeiterInnen, ignorieren sie bei dieser Bewertung natürlich. Es geht ihnen darum, die sozialpartnerschaftlichen, rein gewerkschaftlichen und reformistischen Illusionen aufrechtzuerhalten: Die Große Koalition – die Zusammenarbeit mit der Regierung, mit CDU und SPD – habe etwas gebracht, wir bräuchten wieder eine solche Konstellation. Weiter so, Deutschland!

Diese Klassenzusammenarbeit auf politischer Ebene entspricht der Zusammenarbeit im Betrieb auf der praktischen Grundlage des BetrVG. In den Großbetrieben übernehmen die BR meist eine Ordnungsfunktion im Sinne des Kapitals. Alle Konflikte sollen möglichst ohne Störung der Mehrwertproduktion gelöst werden. Diese Orientierung der BR, die von den Gewerkschaften getragen wird, muss sich natürlich immer wieder als im Interesse der Betroffenen darstellen.

Das Tagesgeschäft der meisten BR besteht unter den aktuellen Bedingungen letztlich darin, aus jedem Angriff des Kapitals immer noch „das Beste“ zu machen und beispielsweise Entlassungen „sozial“ zu gestalten durch Altersteilzeit oder Transfergesellschaften. Oder darin, die Leiharbeit nicht zu verhindern, aber einen betrieblichen oder branchenweiten Zuschlag zu vereinbaren, der das Ganze noch immer lukrativ für das Kapital und die Leiharbeitenden willfährig macht, da sie ihren Job in dieser Firma nicht verlieren wollen, und die Stammbelegschaft durch diese willfährigen Leiharbeitenden unter Druck setzt.

Diese Ordnungsfunktion

Diese Zusammenarbeit, die letztlich immer im Interesse des Kapitals erfolgt, geht so weit, dass unliebsame GewerkschafterInnen und Betriebsratsmitglieder in trauter Eintracht von Kapital und Betriebsratsspitze entlassen werden. So wurde der IG Metall-Betriebsrat Karsten vom Bruch bei Bosch in Stuttgart unter einem Vorwand entlassen, genau zu dem Zeitpunkt, als er als Softwareentwickler die Beteiligung von Bosch an der Entwicklung der Abgasbetrugssoftware innerbetrieblich zur Sprache brachte.

Der Betriebsrat Adnan Köklü aus Salzgitter wurde entlassen, als er mehr Transparenz forderte. Die Stellungnahme des BR-Vorsitzenden Cakir spricht für sich: „Herr Köklü hat in den vergangenen Monaten nichts unversucht gelassen, durch wahrheitswidrige Unterstellungen und eine gezielte Verleumdungskampagne einzelne Betriebsratsmitglieder und den Betriebsrat in Gänze zu diffamieren.“

Und weiter im Artikel auf regionalheute.de: „Belege für seine Behauptungen habe er hingegen keine. Ein Ausschlussverfahren aus dem Betriebsrat wurde beim Arbeitsgericht Braunschweig beantragt, da eine Zusammenarbeit mit ihm ‚unzumutbar’ sei. Eine Entscheidung wird bei der Verhandlung am Mittwoch gefällt werden. Mehrere Abmahnungen haben inzwischen zu einer außerordentlichen, verhaltensbedingten Kündigung Köklüs geführt, da sein Verhalten ‚betriebsschädigend’ sei. ‚Von Mobbing durch den Betriebsrat kann nicht ansatzweise die Rede sein’, heißt es in der Stellungnahme Cakirs. Auf diese Weise würden Täter als Opfer dargestellt werden.“

Die Logik des BR-Vorsitzenden Cakir: Wir mobben nicht, wir unterstützen die Entlassung. Die einzige glaubwürdige Tat – eine unabhängige Untersuchungskommission einzurichten – kommt diesem Bürokraten genauso wenig in den Sinn wie der Mehrheit der Bosch-Betriebsratsmitglieder in Stuttgart. Beide Kollegen haben übrigens erfolgreich gegen ihre Kündigungen geklagt.

Das Beispiel zeigt: Union-Busting geht auch von Betriebsratsbossen aus, deren letztlich gewerkschaftsschädigendes Verhalten von der Gewerkschaft nicht in Frage gestellt wird. Leider scheuen viele Initiativen, die gegen Union-Busting und Behinderung von BR-Arbeit aktiv sind, die Fälle anzusprechen, wo dies mit Unterstützung von BR-FürstInnen geschieht und mit Unterstützung oder Duldung durch GewerkschaftsfunktionärInnen.

Der Kampf für mehr Rechte der Beschäftigten, für Gewerkschaften und Betriebsräte gegen Kapital und Staat muss daher einhergehen mit einem konsequenten Eintreten gegen diejenigen, die diese Rechte missbrauchen, als Privilegien der Bürokratie nutzen und damit unterminieren.




Gehaltskürzung für VW-Betriebsrat – Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit

Frederik Haber, Infomail 980, 1. Januar 2018

Vorsorglich hat VW die Gehälter der Betriebsratsmitglieder gekürzt, da den ManagerInnen, die diese Bezüge veranlassen, möglicherweise Strafen drohen und man sich unbedingt rechtskonform verhalten wolle. Betriebsratsboss Osterloh hat sein bisheriges Einkommen von rund 290.000 Euro (ohne Prämien) noch mal betriebsöffentlich verteidigt. Unter anderem hätte er Managerfähigkeiten und er arbeite auch regelmäßig 70 Stunden (Die Zeit online, 22. Dezember). Kurz vor Weihnachten triefte es vor Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit.

Bezahlte und Gekaufte

Betriebsratsmitglieder werden bezahlt. Nicht aus den Gewerkschaftsgeldern, wie manche meinen, sondern von den Unternehmen, in denen sie arbeiten. Das regelt das Betriebsverfassungsgesetz, das die Aufgaben und Rechte der Betriebsräte festlegt. Es sagt auch, dass Mitglieder von Betriebsräten weder bevorzugt noch benachteiligt werden dürfen.

Viele Betriebsratsmitglieder werden benachteiligt. Vor allem in Kleinbetrieben wird gemobbt. Besonders engagierte KollegInnen bekommen schlechtere Arbeitsaufgaben, unangenehmere Schichten, keine Beförderung oder Weiterbildung.

Betriebsratsmitglieder werden auch gekauft. Vor allem Vorsitzende, vor allem in großen Konzernen und dort dann richtig. Spektakuläre Spitze dürfte sein, dass Osterloh von VW – durch Boni – bis zu 750.000 Euro in einem Jahr erhalten hat (Die Zeit, Mai 2017). Er erweist sich als der würdige Nachfolger von Klaus Volkert, der nicht nur ähnlich viel Geld kassierte, sondern auch Urlaubsflüge und eine Edel-Prostituierte vom VW-Vorstand bezahlt bekam. Der damalige Personalvorstand war Herr Hartz – ein- und derselbe, nach welchem die Sozialabbaugesetze der Agenda 2010 benannt sind.

Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt (Spiegel online, 15.11.17). Sie ermittelt nicht gegen Osterloh, sondern gegen VW. Das ist richtig insofern, dass es die Managementspitze ist, die besticht. Es sind die Vorstände, die die Millionen locker machen – Millionen, die zuvor aus allen Ecken des Konzerns und aus den Zulieferbetrieben herausgepresst wurden.

Offensichtlich halten sie diese Summen für gut angelegt. Mit Osterloh stimmte der Betriebsrat jedem Sparprogramm der Konzernführung zu, allerdings darauf bedacht, dass die Milliarden vor allem von den LeiharbeiterInnen, Fremdfirmen und Zuliefern kommen und die eigene Stammbelegschaft soweit als möglich geschont wird. Zuletzt verweigerte er den seit einem Jahr unter schwierigsten Bedingungen kämpfenden LeiharbeiterInnen bei VW in Changchun (VR China) die Unterstützung (siehe http://www.clb.org.hk/content/one-year-struggle-continues-volkswagen-workers-changchun und zur Hinhaltetaktik des Betriebsrates http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2017/10/vw_gbr_d.pdf)

Auch wenn die Korruption vom Kapital kommt, bezahlt haben diese Millionen also nicht wirklich die Vorstände, sondern die ArbeiterInnen bei VW, egal ob Stammbelegschaft oder LeiharbeiterInnen. Ein guter Grund, Osterloh davon zu jagen – aus dem Betriebsrat und aus der IG Metall. Der Mann ist gekauft und er hat die Belegschaften verkauft.

Das müssen übrigens GewerkschafterInnen bei VW und anderswo selbst tun. Denn was die Staatsanwaltschaft und die JournalistInnen, die sich über Osterlohs Gehalt empören, stört, ist weder die Zustimmung Osterlohs zu den Angriffen des Kapitals noch dessen Käuflichkeit. Sie stört, dass diese Gelder bei den Gewinnen fehlen. Wenn es also den VW-ManagerInnen gelingt zu belegen, dass sie Osterloh günstig im Sinne des Kapitals gekauft haben, dürften sie – wie seinerzeit Peter Hartz – mit Freispruch oder Bewährung davonkommen.

Wie sich Osterloh verteidigt

Aufschlussreich ist übrigens die Höhe der Gehälter derer, mit denen sich Osterloh in seiner Rechtfertigung vergleicht: „Ein Abteilungsleiter bei VW verdient zwischen 8.800 und 16.400 Euro im Monat, also zwischen gut 100.000 und mehr als 200.000 Euro im Jahr, der Jahresbonus kann dieses Gehalt verdoppeln. Ein Bereichsleiter kommt in guten Jahren inklusive Boni auf 750.000 Euro oder mehr und zählt intern zum Topmanagement“, berichtet Claas Tatje auf ZEIT online.

Das stört ihn ebenso wenig wie Kristina Gnirke von SPIEGEL online, die sich dafür über die 3,3 Mio Euro mokiert, die der derzeitige Personalvorstand (bei VW stets einE ehemaligeR GewerkschafterIn) im letzten Jahr erhielt. Tatje findet auch, dass die Aufsichtsratstantiemen im dreistelligen Bereich zu hoch sind – für die BetriebsratsvertreterInnen, nicht für die KapitalvertreterInnen. Die Empörung dieser bürgerlichen MoralistInnen ist durch und durch verlogen.

Genauso verlogen sind die Verteidigungsreden des VW-Vorstandes und von Osterloh. Wenn er mit seinen „Managerfähigkeiten“ angibt, zeigt das nur, dass er Betriebsratstätigkeit überhaupt nicht mehr als Interessenvertretung ansieht, sondern als eine Managementaufgabe wie jede andere. Wenn er mit einer 70-Stundenwoche prahlt, dann zeigt er, wie weit seine Lebensrealität von der einer/s Gewerkschafter/in/s entfernt ist, die/der in einem unorganisierten, bislang betriebsrats- und gewerkschaftsfreien Betrieb in ihrer/seiner „Freizeit“ eine Interessenvertretung aufzubauen versucht und dafür keinen Cent kriegt. Ostlohn hingegen ist im wahrsten Sinn des Wortes Co-Manager, der daraus auch sein Anrecht auf ein Managergehalt herleitet. Mit so jemand können keine Tarifverträge erkämpft und verteidigt werden. Er kann selbst die gesetzlich vorgeschriebene Aufgabe des Betriebsrats, „darüber zu wachen, dass die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze, Verordnungen, Unfallverhütungsvorschriften, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen durchgeführt werden“, schwerlich erfüllen. (BetrVG §80 Abs1)

GewerkschafterInnen und AntikapitalistInnen sollten den „Skandal“ und seine Aufdeckung zum Anlass nehmen, deutlich zu machen, wie viele Gelder sofort für die ArbeiterInnen und für die Forschung für ein effizientes und umweltfreundliches Verkehrssystem frei würden, wenn die ganzen ManagerInnen und MöchtegerngeschäftsführerInnen davongejagt oder in die Produktion eingegliedert werden, die sich jetzt parasitär an der Wertschöpfung durch die ArbeiterInnen mästen.

Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle ist nicht nur der Weg aus Dieselkrise und globaler Erwärmung, sondern auch aus Korruption und Parasitismus. Führungsfunktionen werden gewählt, sind jederzeit abwählbar und erhalten das gleiche Gehalt wie alle anderen.

Und es ist ein Schritt auf dem Weg, das kapitalistische System zu überwinden mitsamt der Ausbeutung der Arbeitenden durch das Kapital und der Klassenkollaboration ihrer VertreterInnen. Dass der Neuanfang im VW-Betriebsrat, den Osterloh als Volkerts Nachfolger machen wollte, nachdem dieser in den Knast gewandert war, so kläglich gescheitert ist, ist nicht nur eine Charakterfrage. Es ist auch eine Systemfrage.




Sozialdemokratie und Gewerkschaftsführungen – Fessel Sozialpartnerschaft

Martn Suchanek/Jürgen Roth, Neue Internationale 222, September 2017

Ohne Mobilisierungen wie gegen die G20 könnte man meinen, dass das Niveau der Klassenauseinandersetzungen in Deutschland jährlich sinkt, sowohl in Quantität wie Qualität. Die gewerkschaftlichen Tarifkämpfe finden unter Federführung der großen Industriegewerkschaften wie IG-Metall und IG BCE, aber auch von ver.di in ritualisierter Form statt, zu deren „Erfolg“ sich die Gewerkschaftsführungen regelmäßig selbst gratulieren. Die wenigen härteren, langwierigen Kämpfe blieben wie bei Amazon sektoral und auf rein ökonomische Fragen beschränkt.

Auf politischer Ebene feiern SPD- und DGB-Spitzen das neue Gesetz zur Leiharbeit als Erfolg. Sicherlich ist es ein Schritt vorwärts, wenn betriebliche Vereinbarungen den Status und den Lohn der Beschäftigten erhöhen bzw. diese mit der „Stammbelegschaft“ gleichstellen. Leider trifft dies in den wenigsten Fällen zu. Stattdessen erlaubt das neue Gesetz betriebliche Regelungen, welche die Dauer der Leiharbeit auf bis zu 6 Jahre erhöhen können – mit regelmäßigen „Pausen“ der Arbeitslosigkeit. So verkommt die neue „Reform“ zu einer realen Verschlechterung für immer mehr LeiharbeiterInnen.

Statt diese für das Kapital zu regulieren und auszudehnen, wäre die Abschaffung der Leiharbeit ebenso wie der Kampf gegen die Zeitarbeitsfirmen erforderlich. Davon wollen weder die Führungen der DGB-Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie etwas wissen. Und auch die Linkspartei vertritt diese Forderungen nur zaghaft und kaum hörbar.

Ein Ansatz für eine Bewegung hat sich jedoch im Gesundheitssektor entwickelt, wo es nach dem Vorbild der Charité Berlin bundesweite Tarifrunden für mehr Personal geben sollte. Die Situation in der Pflege erfordert mehr Anstrengungen der Gewerkschaft für Neueinstellungen auch bei kommunalen Trägern. Im Zug der Schuldenbremse werden bis 2019/2020 alle Haushalte der Kommunen und Länder auf ein Ende der Neuverschuldung getrimmt. Dies wird einen weiteren massiven Kahlschlag im öffentlichen Bereich zur Folge haben. Im Gesundheitssektor geht es dabei um rund 200 kommunale Krankenhäuser und ebenso viele Pflegeeinrichtungen, die aufgrund von Kürzungen vor der Pleite stehen. Die anstehenden und bereits erfolgten Privatisierungen stellen einen weiteren Schritt neoliberaler Politik dar. Es stehen bereits Firmen sogar zur Privatisierung von Rathäusern in den Startlöchern.

Für die Konkurrenzfähigkeit des deutschen Kapitals können noch viele Bereiche des öffentlichen Lebens und Dienstes privatisiert werden. Hier werden Staat und Kapital alle gesellschaftlichen Sphären genau durchleuchten. Frauen treffen diese Angriffe als Beschäftigte z. B. im Gesundheitssektor und als Lohnabhängige, die unter der Doppellast von Lohnarbeit und Haushalt leiden, besonders schwer.

Rolle der Bürokratie

In den letzten Jahren haben sich die Spaltung und die Ungleichheit innerhalb der ArbeiterInnenklasse infolge der Angriffe der KapitalistInnen, der Ausweitung von Billiglohnsektor und Armut und der „Reformen“ der Regierungen vertieft. Diese zunehmende Spaltung wird seit Jahren von den Führungen der Gewerkschaften, deren Apparat und den Betriebsräten in den Großkonzernen allenfalls „kritisch“ begleitet. Ziel dieser ArbeiterInnenbürokratie, die die Schaltstellen der Gewerkschaften und Betriebsratsstrukturen kontrolliert, ist letztlich nicht die Überwindung dieser Entwicklung, sondern deren „soziale“ Ausgestaltung.

Auch in der letzten Legislaturperiode hätte es genug Möglichkeiten gegeben, Verbesserungen für die Lohnabhängigen zu erkämpfen – sei es für einen Mindestlohn, der die Lebenshaltungskosten wirklich deckt, sei es für eine Verkürzung der Arbeitszeit. Die Gewerkschaftsspitzen sind dabei den KollegInnen nicht nur einmal in den Rücken gefallen. Die Steigerungen der Tariflöhne blieben im Rahmen des von den Arbeit„geberInnen“ Tragbaren.

Die Spitzen haben sich außerdem – gegen Forderungen aus einigen lokalen Gliederungen – geweigert, die Geflüchteten zu organisieren und die Organisation für diese zu öffnen. Nach dem „Sommer der Willkommenskultur“ drängte auch die Bürokratie auf „regulierte“ Zuwanderung. Im Klartext heißt das: staatliche Selektion, welche Geflüchteten in Deutschland leben und arbeiten dürfen. Es bedeutet, dass die Schließung der Grenze akzeptiert wird. Die Diskriminierung, Entrechtung, Abschiebung und andere Formen des staatlichen Rassismus gegen diese Menschen, von denen viele Teile der ArbeiterInnenklasse sind, werden somit geduldet, wenn nicht gar befürwortet. Der Sozialchauvinismus spaltet nicht nur, er bereitet selbst einen Nährboden für Rassismus und Nationalismus unter deutschen Lohnabhängigen.

Unterordnung

Diese Politik ist jedoch kein Zufall, sondern Bestandteil der Unterordnung der Interessen der Lohnabhängigen unter die Erfordernisse der internationalen Konkurrenz. Die Diesel-Krise zeigt wieder einmal, dass die deutschen Gewerkschaften und Betriebsräte auf der Seite „ihres“ Unternehmens stehen. Die Zuspitzung der inner-imperialistischen Konkurrenz „festigt“ auch die Unterordnung unter die außenpolitischen Ziele des deutschen Kapitals. Die Europapolitik der Bundesregierung, ihre Handels- und Exportinteressen werden wie auch die globalen Ambitionen Deutschlands gegenüber den USA und anderen KonkurrentInnen mehr oder weniger offen unterstützt – zumal, wenn sie, wie von Merkel beim G20-Gipfel vorgetragen, als „vernünftig“ und „humanitär“ daherkommen.

Diese Politik entspricht dem Interesse der ArbeiterInnenbürokratie. Ihr geht es nicht darum, den Imperialismus in Frage zu stellen, sondern einen für die deutschen ArbeiterInnen „vernünftigen“ sozialpartnerschaftlichen Kompromiss, einen Anteil am Erfolg des deutschen Kapitals auszuhandeln. Im Gegenzug bietet sie betriebliche Ruhe, Partnerschaft, Abwürgen jeder unabhängigen, kämpferischen Regung der Klasse – sei es durch Einbindung und Korrumpierung, sei es durch offene Repression.

Dabei stützen sich Führungen und Apparat der Gewerkschaften und die Konzernbetriebsräte nicht nur auf die bürokratische Kontrolle der Mitglieder. Sie bedienen sich auch der Spaltung der Klasse. Gewerkschafts- oder Betriebsratspolitik wird unter ihrer Ägide vor allem zur Politik für die im Verhältnis zur gesamten ArbeiterInnenklasse schrumpfenden tariflich gesicherten Stammbelegschaften der Großkonzerne und in Teilen des Öffentlichen Dienstes. Dieser relativ privilegierte Teil der Klasse – die ArbeiterInnenaristokratie – ist einerseits ein wichtiger Teil der Klasse der Lohnabhängigen, ja ihr am besten organisierter, andererseits jedoch über die Institution der Sozialpartnerschaft, der Mitbestimmung, der sozialdemokratischen Dominanz und Ideologie an die Gewerkschaftsführungen gebunden.

Die Sozialpartnerschaft prägt dabei alle größeren gewerkschaftlichen und betrieblichen Auseinandersetzungen, stellt ein Korsett dar, das nur schwer über eine systematische Oppositionspolitik und dies auch nur im Rahmen großer Kämpfe abzustreifen sein wird. Darüber hinaus hat sie aber auch enorme politische Auswirkungen. Sie erschwert, ja verhindert die Einbeziehung der Kernschichten der Klasse in politische und gesellschaftliche Mobilisierungen. Außerdem setzt sich die Klassenzusammenarbeit auf der politischen Ebene fort, mit der „Großen Koalition“ als ihrem derzeit „höchsten“ Ausdruck.

Auch unter der nächsten Regierung wird die Sozialpartnerschaft ein Kernbestandteil der deutschen Verhältnisse bleiben. Ohne konsequente Abkehr von dieser Ideologie werden die Verhältnisse hierzulande letztlich nicht aufzubrechen sein.

Die Bürokratie wird dabei die „Partnerschaft“ mit Zähnen und Klauen gegen jede linke Kritik verteidigen, da ihre eigene Vermittlerrolle zwischen Lohnarbeit und Kapital und auch ihre Privilegien an dieser hängen. Umgekehrt werden die nächsten Jahre auch zu Konflikten und Verwerfungen führen, die alle Schichten der ArbeiterInnenklasse in Konflikt mit Kapital und Kabinett und die Bürokratie an die Grenzen ihrer „Vermittlungsfähigkeit“ führen können.

Dazu müssen RevolutionärInnen jedoch nicht nur Chauvinismus und Reformismus kritisieren. Sie müssen zugleich auch in den Betrieben versuchen, der Masse der KollegInnen die Perspektivlosigkeit und Sackgasse zu verdeutlichen, in die sie die Politik der Spitzen führt. Dazu braucht es auch eine Taktik, die Anwendung der Einheitsfrontpolitik. Durch Aufklärung und Kritik allein werden die Massen nicht von ihrer Führung gelöst werden können. Es ist auch notwendig, an diese Forderungen zu stellen, von ihnen die Mobilisierung für die Interessen aller Beschäftigten zu verlangen, um so erstens die möglichst große Einheit im Kampf herzustellen und zugleich den KollegInnen zu verdeutlichen, dass es einer neuen, klassenkämpferischen Führung und einer demokratischen Erneuerung der Gewerkschaften bedarf.

Die SPD

Das Hauptsächliche am Schulz-Effekt war, dass dieser zuvor nicht Teil der Regierung war und gewissermaßen „unabhängig“ von der Großen Koalition als Kanzlerkandidat von der eigenen Mitglieder- und Anhängerschaft ernst genommen wurde. Schulz konnte dieser Basis eine Zeitlang „glaubhaft“ vermitteln, nicht allein deswegen anzutreten, um die nächste Koalition mit der Christenunion zu schmieden, sondern real eine Führungsposition der SPD zu beanspruchen. Sein Slogan „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ ließ vorübergehend die Befürchtung (bei Kapital und Union) aufkommen, hier könnte unbemerkt von der bisherigen SPD-Spitze eine „linkere“ Politik zu erwarten sein. Wahrscheinlich hoffte das auch die Basis, wie die höheren Umfrageergebnisse der ersten Monate seiner Kandidatur nahelegten. Dies wurde von Schulz und den Wahlkämpfen in Schleswig-Holstein und NRW zügig entkräftet. Albig und Kraft haben beide auch einen Schwerpunkt darauf gelegt, die Linkspartei „draußen“ zu halten. Als Schreckgespenst für die SPD-Spitze gilt nämlich weiterhin eine Bundesregierung mit der Linkspartei, wohl wissend, dass die Linkenspitze zwar zahm ist, aber trotzdem eine Generaländerung an bis Rücknahme von Hartz IV durchsetzen muss, um einigermaßen glaubwürdig zu bleiben.

Somit trägt die SPD auch ihren Teil zur „Regeneration“ der FDP bei. Schließlich soll die Ampel nun die Regierungskoalition sein, welche die SPD zur Kanzlerschaft führen soll.

An der letzten Bundesregierung konnte die SPD einen Mindestlohn und eine teilweise Herabsetzung des Renteneintrittsalters erreichen (nach 45 Beitragsjahren). Diese werden als soziale Wohltaten wohl den Wahlkampf bestimmen wie auch das angekündigte verlängerte Arbeitslosengeld Q (Qualifizierung) als Zukunftsversprechen. Wegen der zuletzt wieder einbrechenden Umfragewerte packte Schulz jetzt auch mal den Populismus in der Sommerpause aus. Wenn jetzt kein Druck auf die EU-Staaten gemacht würde, könnten sich die Ereignisse von 2015 wiederholen. Somit betreibt auch Martin Schulz ein schmutziges Spiel mit den Geflüchteten. Sein Spiel mit der Angst vor Überfremdung erhöht eher die Chancen der AfD.

Das Verhältnis zwischen SPD und DGB hat sich wieder stabilisiert. Gerade auch die passive Politik der Linkspartei in den Gewerkschaften trägt dazu bei. Während die Linkspartei auf eine „Linksregierung“ wie auf ein Wunder hofft, setzen Schulz und Co. auf Abgrenzung vom Linksreformismus, um dem Kapital ihre Treue zu beweisen, an der ohnedies niemand zweifelt.

 

Anhang: Bürgerliche ArbeiterInnenpartei

Als bürgerliche ArbeiterInnenparteien bezeichnen wir Formationen, die bürgerliche Politik in die ArbeiterInnenklasse reintragen, aber mit ihr über organische Bindeglieder verbunden sind.

In Deutschland zählen wir Linkspartei und SPD dazu. Die SPD stützt sich heute im Wesentlichen über ihr nahezu politisches Monopol in den Gewerkschaften auf unsere Klasse. Vorfeldorganisationen wie Bildungs-, Sport- und Gesangsvereine spielen eine geringere Rolle als vor dem 2. Weltkrieg oder keine mehr, auch wenn es nach wie vor Jusos, Falken, Arbeitersamariterbund, Arbeiterwohlfahrt und Mieterbund sowie SoVD (früher Reichsbund) gibt. Das sozialdemokratische Genossenschaftswesen in Wohnungsbau, Versicherungen und Bankwesen ist ebenso verschwunden, wie es die Konsumvereine oder die Parteimassenpresse sind. Die Teilnahme von IndustriearbeiterInnen an der Politik der sozialdemokratischen Grundorganisationen (Ortsvereine) ist ebenfalls deutlich rückläufig.

Die Linkspartei stützt sich wie die SPD auf die organisierte ArbeiterInnenbewegung, den politisch bewusstesten Teil der ArbeiterInnenmassen, hier aber mehr auf Organisationen in Wohnviertel und im Vorfeld (Volkssolidarität) sowie besonders seit der Fusion der PDS mit der WASG auf eine Minderheit im DGB-Funktionärskörper. Beide Parteien sind eigenständige Schöpfungen der ArbeiterInnenbewegung, verfolgen indes seit 1914 (SPD) bzw. 1935 (KPD als Vorläuferin der SED/PDS/Linkspartei) eine durch und durch bürgerliche und konterrevolutionäre Politik. Sie stellen folglich das größte Hindernis für den Aufbau einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei innerhalb (!) der ArbeiterInnenbewegung dar.

Im Gegensatz zu den offen bürgerlichen Formationen zieht sich ein Klassenwiderspruch durch die reformistischen ArbeiterInnenparteien. Um den Einfluss der Bürokratie zu brechen und ihre Massenbasis für revolutionäre Politik zu gewinnen, dürfen wir uns nicht mit bloßer Propaganda begnügen, sondern müssen das Arsenal der Einheitsfronttaktiken ausschöpfen.

Keine Kategorien wie „liberale“ Partei für die SPD und auch kein Wahlboykott werden ihre Vorherrschaft über die organisierten Schichten der ArbeiterInnenklasse brechen.

Wir wissen, dass diese von der konterrevolutionären ArbeiterInnenbürokratie dominierten Parteien und Gewerkschaften Sozialrassismus und -chauvinismus betreiben. Aber dies müssen wir den ihnen nach wie vor folgenden ArbeiterInnenmassen vermitteln – nicht nur in der Propaganda, sondern v. a. im Kampf für gemeinsame Ziele.

Dazu dient z. B. die „kritische Wahlunterstützung“ gegenüber diesen Parteien, wenn die KommunistInnen aus Schwäche nicht selbst kandidieren können außer als Farce wie bei den „Parteien“ DKP, MLPD oder der SGP.

Heute sehen wir in der kritischen Wahlempfehlung für DIE LINKE allerdings sehr viel mehr Möglichkeiten für Diskussion und Debatte als mit der anderen verbliebenen bürgerlichen ArbeiterInnenpartei, der SPD. Diese hat nicht allein historisch ihre Stellung zum deutschen Imperialismus bewiesen, sondern auch durch die Agenda 2010 und Hartz IV ganz konkret, wie ihre Regierungspolitik aussieht, und dabei die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Diese Partei bleibt auf diesem Kurs und hat sich in mehreren Koalitionen mit CDU/CSU derzeit als deren Mehrheitsbeschafferin etabliert. Dort ist derzeit keinerlei Bewegung nach links zu verorten, dort wäre eine Taktik der kritischen Wahlunterstützung derzeit unangebracht. Das kann sich aber auch ändern, wie z. B. die aktuellen Geschehnisse in der britischen Labour Party zeigen. Dort kamen hunderttausende neue Mitglieder in die Partei und schufen den Raum, neu über Wahlmanifest, Regierungsprogramm und Widerstand gegen Kapital und Tories zu diskutieren.

Das heißt auch, dass die Taktik der kritischen Wahlunterstützung stets von den Faktoren des Klassenkampfes, also auch von den Möglichkeiten für KommunistInnen, dort einzugreifen, abhängt.