Essen: Anfang oder Ende des Protests?

Jaqueline Katherina Singh, Neue Internationale 284, Juli/August 2024

Unzählige bunte Schilder wurden am Samstag durch die Essener Innenstadt getragen. Begleitet von Popmusik und vereinzelten „Nazis raus!“-Rufen füllten rund 70.000 Menschen die Route der Großdemonstration, die vor der Grugahalle endete – dem Ort, an dem der 10. AfD-Parteitag stattfand. Zuvor hatten in aller Frühe rund 7.000 Aktivist:innen versucht, an verschiedenen Punkten der Essener Straßen Blockadepunkte zu errichten, und konnten für Verzögerungen im Ablauf des Parteitages sorgen. Was sich für einige wie eine Zeitreise in das Jahr 2015 anfühlte – als PEGIDA aufkam und noch massenhaft Menschen gegen das Emporkommen der AfD auf die Straße gingen –, wirft unweigerlich die Frage auf: Ist dies nun der Anfang eines starken Protests gegen die AfD oder das letzte Aufbäumen vor dem scheinbar nicht abwendbaren Triumph der Alternative bei den kommenden „Schicksalswahlen“ in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September? Doch bevor wir zu dieser Frage kommen, wollen wir uns im Folgenden kurz der politischen Bedeutung des Parteitages für die AfD selbst sowie dem Charakter und den Fragen, die der Gegenprotest aufwirft, widmen.

Was ging in der Grugahalle?

Während zum Auftakt mehrere 10.000e protestierten, lief der Sonntag sehr ruhig ab. Einzelne Mahnwachen von 150 Leuten hielten die Stellung, irgendwie passend zum harmonischen Bild, was die Partei versuchte, nach außen zu repräsentieren. Angesichts des Eklats um die EU-Wahlkampfkandidaten und der kommenden Landtagswahlen wurden schwelende Konflikte – anders als in der Vergangenheit – nicht lauthals ausgetragen. Das Konzept der Mosaikrechten bleibt also weiter erhalten, repräsentiert durch die Doppelspitze von Weidel und Chruppala, die mit rund 80 % als Parteivorsitzende wiedergewählt wurden. Gleichzeitig stellt das keinen klaren Sieg für einen der Flügel dar. Doch von der Ruhe sollte man sich nicht täuschen lassen, denn nach wie vor rumort der Flügelkampf innerhalb der Partei.

Gleichzeitig bekamen die bekannten Totalausfälle vom „Vogelschiss in der Geschichte“ oder Höckes SS-Bezüge keine Bühne (auch wenn sie sicher am gemütlichen Stammtisch zur Genüge gemeinsam ausgelebt wurden) und wurden von den üblichen reaktionären Aussagen übertönt. So will Weidel Deutschland natürlich in ein „Wirtschaftswunderland mit einem deutlichen Geburtenüberschuss“ verwandeln und in ganz populistischer Manier versteht sich die AfD auch  als „Friedenspartei“. So lautet es in einem Text unter der Überschrift „Für ein Europa des Friedens“.

Und vor der Grugahalle?

Während die Stadt Essen versuchte, den Parteitag nicht stattfinden zu lassen, mobilisierte das Bündnis „Widersetzen“ gegen diesen. Anders als am Anfang des Jahres waren die Bündnispartner:innen ausgewählter – so ließ sich die CDU beispielsweise nicht blicken. Stattdessen trafen Bündnispartner:innen aufeinander, die sich auch von anderen Mobilisierungen schon kannten: Gewerkschaften, Grüne, Linkspartei, NGOs. Seitens ver.di sollen rund 10.000 Euro für die Busanreise geflossen sein – mit Ticketsubventionierung für die Anreise, wenn man Mitglied ist. Das ist ein erster, richtiger und notwendiger Schritt gewesen. Doch Mobilisierungen wie die TTIP-Gegenproteste zeigten auch, was möglich ist, wenn nicht nur ein Teil, sondern der gesamte DGB offen Stellung bezieht.

Mut zur Intoleranz?

Bei dem Versuch einer Blockade attackierte ein AfD-Delegierter einen Aktivisten, biss dieser Person ins Bein – bis die Polizei dazwischenging. Was einem/r als markantes Bild im Kopf hängenbleibt, stellt zugleich auch Sinnbild der aktuellen Situation auf mehreren Ebenen dar:

a) Die AfD beißt sich fest

Während für einen Teil der Bewegung die Forderung nach ihrem Verbot sehr populär ist, muss Revolutionär:innen klar sein, dass dies keine Lösung ist. Nicht nur, dass die Verbotsforderungen von staatlicher Seite auch gegen fortschrittliche Kräfte gerichtet werden, die AfD hat sich in der Tat festgebissen. Sie einfach zu verbieten, wird den Rechtsruck nicht rückgängig machen, wird niemanden „aufrütteln“ über den wahren Charakter der Partei. Nach 10 Jahren ist den meisten Mitgliedern und Wähler:innen klar, worauf sie sich einlassen – und viele wählen sie genau deswegen.

b) Die AfD ist wehrhaft

Ihre unterschiedlichen Flügel, ein Gebilde der Mosaikrechten, stellen eine Gefahr dar, dass der militantere nicht vor faschistischen Methoden zurückscheut. Angriffe auf Politiker:innen, Mobs auf der Straße, die Geflüchtete und Menschen jagen – sie kommen vielleicht nicht alle aus der AfD, werden aber von ihrem Aufwind mitbefeuert. Auch wenn die Partei an sich keine genuin faschistische ist und ihr Wahlsieg Deutschland nicht in das Jahr 1933 zurückkatapultieren wird, so muss man sich doch fragen: Wenn dies der Fall wäre, ist das der Widerstand, den wir brauchen? Hat es Deutschland in den 1930er Jahren nur an Menschen gemangelt, die mit bunten Schildern auf die Straße gehen und mehr mit ihren Nachbar:innen und faschistischen Familienmitgliedern diskutieren?

c) Die Polizei geht dazwischen

Aufgelöst wurde obige Situation durch die Polizei. Dies illustriert in gewisser Weise das Vertrauen von links in den Rechtsstaat, die Demokratie, die man so gerne schützen möchte. Was auf den ersten Blick natürlich verständlich ist, birgt aber auch eine gefährliche Seite. Ein Blick auf die aktuellen Palästinaproteste zeigt, wie Repression eingesetzt werden kann, um Proteste klein zu halten. Wäre es seitens der Politik gewollt gewesen, hätten viele der Aktivist:innen, die in Bussen zu den Blockaden angereist sind, mittels des nordrhein-westfälischen Polizeiaufgabengesetzes in Präventivhaft massenhaft festgesetzt werden können.

Kurzum: Vielen ist die ernsthafte Gefahr, die von der AfD ausgeht, bewusst. Doch wie gegen diese am besten vorgegangen werden kann, ist mehr als strittig – auch aufgrund eines falschen Verständnisses des Rechtsrucks. Es wäre möglich gewesen, den Parteitag zu verhindern – wären Blockaden und Großdemo nicht gepalten, sondern zusammengelegt worden. Und vor diesen Mitteln sollte man nicht zurückschrecken, denn wir sind an einem Punkt angekommen, an dem symbolischer Protest in Zukunft nicht ausreichen wird und die Bewegung größere Erfolge braucht, um überleben zu können. Das führt uns zur Anfangsfrage:

Ende oder Anfang? Perspektiven des Protests

Ob der erfolgreiche Gegenprotest in Essen im Sande verläuft – und auf diesen wieder die traurigeren Mobilisierungen der letzten Jahre folgen, wo, wenn man Glück hatte, 5.000 Aktivist:innen zusammenkamen – oder er den Auftakt zu wirksamer Gegenwehr bildete, hängt von vielen Faktoren ab. Zu begrüßen ist die Initative von „Widersetzen“, Anfang November eine Strategiekonferenz einzuberufen, um die Landtagswahlen auszuwerten und sich für die kommenden Bundestagswahlen zu rüsten.

Dabei muss jedoch klar sein, dass eine Strategiekonferenz wenig bringt, wenn die Akteur:innen die Politik der letzten Jahre nicht ehrlich bilanzieren, ja viele sich ausgepowert haben in Mobilisierungen, an Infotischen und in Stammtisch„kämpfer“:innenausbildungen. Das Unterfangen, dem sich Bündnisse wie „Aufstehen gegen Rassismus“ 2015 unterzogen haben, nämlich „die rote Haltelinie in der Gesellschaft neu zu ziehen“ und aufzuzeigen, wer die Nazis sind, ist nämlich gefloppt. Genauso wie die Gewerkschaften aus Angst, immer mehr Mitglieder zu verlieren, wenn sie sich offen gegen rechts positionieren, schweigen. Es geht an der Stelle nicht darum, niedergeschlagen den Kopf in den Sand zu stecken, sondern die Grundlage zu schaffen, einen wirklichen Kampf gegen die AfD zu führen und dabei müssen drei Dinge klar sein:

1. Widerstand aufzubauen, heißt, gegen die Sozialpartner:innenschaft UND gegen Rassismus gleichzeitig zu kämpfen

Die Verschlechterung der Lebenslage vieler, die verschärfte Konkurrenz, explodierende Preise im Supermarkt und Mieten, Kriege und Aufrüstung sind real. Während ihre Ursache in der kapitalistischen Krise liegt, machen die Rechten Migrant:innen dafür verantwortlich. Weil es gleichzeitig in den letzten Jahren keine erfolgreichen Kämpfe seitens der Linken gegeben hat und beispielsweise Reallöhne nicht wirklich gestiegen sind, können sie sich gut gegen die etablierten Parteien und alle, die die Krise mitverwalten (dazu gehören an der Stelle auch die Gewerkschaften), positionieren. Rein ökonomische Verbesserungen werden den Rechtsruck nicht umkehren, denn es braucht eine bewusste Kombination aus diesen mit wirksamem Widerstand gegen Rassismus und Rechtsruck. Ziel muss dabei sein, nicht nur existierende Angriffen abzuwehren, sondern konkrete Verbesserungen für viele zu erkämpfen wie beispielsweise:

  • Mindestlohn von 15 Euro/Stunde, Mindestrente und Arbeitslosengeld von 1.600 Euro/Monat für alle!
  • Hunderte Milliarden für Bildung, Umwelt, Renten und Gesundheit statt Aufrüstung – finanziert durch die Besteuerung der Reichen!
  • Nein zu allen rassistischen Gesetzen! Stopp aller Abschiebungen! Offene Grenzen und volle Staatsbürger:innenrechte für alle, die hier leben!

2. Widerstand aufzubauen, bedeutet, den Kampf an die Orte zu tragen, wo wir uns aufhalten müssen, und dort Veränderung demokratisch von unten aufzubauen

Um das aktuelle Kräfteverhältnis tatsächlich zu ändern, müssten aktive Mitglieder dieser Organisationen aufgerufen und unterstützt werden, Versammlungen und Infoveranstaltungen zur Mobilisierung in ihren Betrieben, an Schulen und Universitäten zu organisieren und aktiv die Debatte um Rassismus und die ökonomische Krise, die diesen befeuert, zu führen. Demos – wie die Mobilisierung gegen den AfD-Parteitag – können dabei als Aufhänger genutzt werden. Ziel muss es aber sein, in derem Zuge Aktionskomitees aufzubauen, um die Orte, an denen wir uns bewegen müssen, zu politisieren und jene zu überzeugen, die aktuell schweigen.

3. Widerstand aufzubauen, bedeutet, nicht auf das breitest mögliche Bündnis oder den Staat zu vertrauen

Ein Bündnis mit allen Demokrat:innen, also auch jenen, die die Krise der letzten Jahre mitverwaltet haben, wie der FDP, den Grünen oder der Union kann uns an dieser Stelle nicht retten. Vielmehr schwächt es unsere Kampfkraft, wenn wir unsere Forderungen zugunsten ihrer Beteiligung nach hinten stellen, denn die Frage, die sich viele dann (zu Recht) stellen, lautet: Warum sollten wir den Normalzustand, der dafür sorgt, dass es uns schlecht geht, weiter aufrechterhalten? Deswegen muss der Kampf gegen rechts auch einen klaren Klassenstandpunkt beeinhalten. Zahlen müssen die Reichen und wenn diese versuchen, sich zu entziehen, werden wir von Enteignung auch nicht schweigen.

Werden diese Dinge nicht nur diskutiert, sondern auch versucht umzusetzen, dann kann man es schaffen, den Erfolg der AfD einzudämmen.