Nordsee-Küstenregion: Streiks vor Anker im sicheren Tarifhafen?

Bruno Tesch, Infomail 1258, 21. Juni 2024

Die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) rief Seehäfenbeschäftigte zu einem zentralen Streiktag am 17. Juni 2024 in Hamburg auf. Dazu fuhren die Beschäftigten der anderen vom Streik betroffenen Seehäfen nach Hamburg und streikten dort gemeinsam.

Vom Streik betroffen sind der Hamburger Hafen, die Häfen Bremen sowie Bremerhaven, Brake und Emden. Die Streiks wurden je nach Hafenstandort 24 bzw. ca. 48 Stunden lang bis zum 18. Juni 2024 durchgeführt.

Hintergrund ist, dass die Arbeit„geber“:innen, der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe e. V. (ZDS), in der zweiten Verhandlungsrunde am 6. Juni kein verhandlungsfähiges Angebot vorgelegt hatten. Mit dem Streik sollte nach offizieller Bekundung ver.dis der Druck auf die Gegenseite erhöht werden, in der dritten Runde ein solches zu präsentieren.

„Mit ihren Streiks in Hamburg, Bremen, Bremerhaven und Emden haben die Hafenbeschäftigten bereits in der vergangenen Woche eindrucksvoll gezeigt, dass sie sich für ihre Forderungen starkmachen. Ab Montag wird der Druck nochmals erhöht, um den Arbeitgebern klarzumachen, dass die Beschäftigten hinter den Forderungen stehen und eine wirkliche Lohnerhöhung benötigen“, meinte ver.di-Verhandlungsführerin Maren Ulbrich. Das bisherige Arbeit„geber“:innenangebot bedeute für die Beschäftigten keinen echten Reallohnzuwachs; zudem sei die soziale Komponente völlig unzureichend.

Ver.di fordert eine Erhöhung der Stundenlöhne um drei Euro zum 1. Juni 2024 sowie eine entsprechende Anhebung der Schichtzuschläge, inklusive einer Nachholung der ausgebliebenen Erhöhung der Schichtzulagen im Tarifabschluss 2022, bei einer Laufzeit des Tarifvertrages von zwölf Monaten.

Ulbrich: „Es kommt darauf an, dass insbesondere die unteren Lohngruppen durch die Lohnerhöhungen finanziell entlastet werden. Die Inflation der vergangenen Jahre hat sie besonders schwer getroffen. Das hat der ZDS zwar verstanden und im vorliegenden Angebot berücksichtigt, aber bei weitem nicht im erforderlichen Maße. Zudem müssen die Lohnunterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen reduziert werden. Und einen Reallohnzuwachs muss es auch in den oberen Lohngruppen geben.

Auch die dritte Verhandlungsrunde lief unterdessen ergebnislos ab.

Schlussfolgerungen aus der letzten Tarifrunde

Der angesprochene Tarifabschluss vor 2 Jahren wirft wieder einmal mehrere Fragen auf: nach der sogenannten „Friedenspflicht“, die die Seite der Lohnabhängigen zwischen den Tarifrunden knebelt, nach ständiger Arbeiter:innenkontrolle über die Einhaltung der Tarifabschlüsse und schließlich nach Verkürzung der Laufzeit von Tarifverträgen.

Konkrete Minuspunkte der Annahme des Verhandlungsergebnisses vom September 2022 waren neben der fatalenBeibehaltung der Tariflaufzeit von zwei Jahren der Sonderstatus der sogenannten C-Betriebe mit geringerer Wirtschaftskraft, in denen die Beschäftigten nach Lohn- und Arbeitsbedingungen schlechtergestellt sind. Sie blieben unterhalb des Inflationsausgleiches und vergrößerten die Kluft zwischen verschiedenen Bereichen innerhalb des Industriezweigs.

Für die diesjährige Tarifrunde fürchtet die ver.di-Funktionär:innenriege wohl eher ihre nicht so ganz pflegeleichte Gewerkschaftsbasis als die Auseinandersetzung mit dem Tarif„partner“ ZDS. Gewarnt von der damaligen Streikentschlossenheit, die auch jetzt nicht völlig verraucht ist, verfährt ver.di offensichtlich nach einer ähnlichen Routine wie schon 2022 und beginnt mit Warnstreiks, die sie dann in einer sternförmigen Zentralkundgebung kulminieren lässt. Diese findet jetzt bereits frühzeitiger statt, 2022 erst am 13. Juli. So glaubt man, schneller Druck aus dem Kessel nehmen zu können. Danach steht zu befürchten, dass die Gewerkschaftsspitze sich wieder willig gerichtlichen Anordnungen zur Aussetzung von Kampfmaßnahmen beugen wird, und um in aller Gemütsruhe ihrer Lieblingsbeschäftigung, Verhandlungen mit der anderen Seite hinter heruntergelassenen Jalousien, nachgehen zu können.

Gewerkschaftliche Solidarität?

Auch in der Frage von Solidarität zwischen Gewerkschaften verschiedener Branchen regiert das bürgerliche Klassenrecht, dem sich die Bürokratie willig unterordnet und das ihr leichtere Handhabe für die Kontrolle und Isolierung der Arbeiter:innenbewegung gibt. Dem dienen auch die normalerweise zeitlich auseinandergezogenen Tarifverhandlungsrunden der Einzelgewerkschaften.

Parallel findet diesmal immerhin die Tarifrunde der IG Metall statt. Von einer Zusammenarbeit in der Vorbereitung bei möglichen Streikmaßnahmen ist jedoch nichts zu vernehmen. Koordiniert dagegen läuft die Strategie für die Einhegung der Tarifverhandlungen auf reine Lohnfragen ab. Die noch vor kurzem angestoßene Debatte über die Viertagearbeitswoche spielt keine Rolle mehr. Die IGM-Vorsitzende Christiane Benner tönte, „ein Großteil der Bevölkerung sorge sich, den Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Mehr Geld für Arbeit,nehmer’ sei deshalb ein Beitrag zur Stabilisierung der Gesellschaft. Unsere Tarifpolitik zeichnet Verlässlichkeit und Verantwortung aus.“ Staatstragende Lektion auswendig gelernt!

Ein Schulbeispiel für Denken und Handeln der Bürokrat:innen: Flexibel und anpassungsfähig versuchen sich die Gewerkschaftsspitzen, gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit zu präsentieren. In bürokratischen Beton gegossen bleibt jedoch ihre reformistische Ideologie, mit der sie die Interessen der Arbeiter:innenklasse lediglich verwalten.

Die bestimmt auch ihre taktischen Überlegungen und engt ihren Handlungsspielraum auf vom bürgerlichen Staat und seiner Räson vorgegebene legale Agenda und Bewegungsareale ein. Die Gewerkschaften haben „politisch Lied – garstig Lied“ aus Goethes Faust verinnerlicht und versuchen alles, um politische Aspekte aus ihren Stellungnahmen und Vorgangsweisen herauszusäubern.

Branchen- und weltpolitische Herausforderungen

Ist auch von dieser Seite keine Unterstützung für die Hafenarbeiter:innen zu erwarten, so enthält die jetzige Lage allerdings zwei neue Aspekte gegenüber der von vor zwei Jahren, die für den Hafen- und Transportbereich von besonderer Bedeutung sind.

Brisant ist weiterhin das Thema des sogenannten MSC-Deals, das in Hamburg schmort. Der vom Senat forcierte Verkauf von 49 % Anteilen an der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) an die privatkapitalistische Riesenreederei Mediterranean Shipping Company (MSC) sorgt seit mehr als einem Jahr für Unruhe unter der Hamburger Hafenarbeiter:innenschaft. Zuletzt am 1. Mai 2024 machte sich ihr Zorn wieder mit organisierten Protesten und scharfen Angriffen gegen den sozialdemokratisch geführten Senat lautstark bemerkbar.

Ver.di dürfte sich schwertun, diese eklatante Bedrohung aus dem „normalen“ Tarifgeschehen herauszuhalten, zumal MSC nicht dem ZDS angehört und für ihre rigorosen Entlassungs- und Arbeitsintensivierungspraktiken berüchtigt ist, die sie zweifellos in den Kernpunkten im Hamburger Hafenbetrieb durchzusetzen gewillt ist.

Auch Ereignisse von weltpolitischer Tragweite schlingern nicht ohne Sogwirkung an den deutschen Seehäfen vorbei. Von dort aus werden auch Rüstungsgüter verschifft. Zwar hat der DGB angesichts dieser Situation bislang immer noch  offiziell auf stumm geschaltet, doch der internationale Druck wächst. Immerhin haben sich etliche Gewerkschaften, v. a. in den USA und Belgien, einem Aufruf zum Boykott von Waffenlieferungen an Israel für dessen Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung angeschlossen. Eine von Gewerkschafter:innen veranstaltete Friedenskonferenz am 14./15. Juni 2024 in Stuttgart hat diese Frage auch ins Inland getragen. In Hamburg besteht seit einigen Jahren bereits eine Initiative zum Boykott von Rüstungslieferungen.

Also gilt es für Revolutionär:innen und Aktivist:innen, nicht nur die berechtigten Forderungen von ver.di in der Tarifauseinandersetzung mitzutragen, sondern sie auch entscheidend zu erweitern, um eine Verbindung zum Kampf gegen Privatisierung aller Bereiche von Transport und Verkehr und für organisierte internationale Solidarität gegen die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung.