Zweiter Generalstreik 2024 in Argentinien

Jonathan Frühling, Infomail 1253, 11. Mai 2024

Am 9. Mai 2024 war es endlich wieder so weit: Es fand nach dem 24. Januar der zweite eintägige Generalstreik im Jahr 2024 in Argentinien statt. Das ist zwar aus deutscher Sicht beachtlich, allerdings gehen die Mobilisierungen und Klassenkämpfe längst nicht weit genug, um wirklich einen Effekt auf die Politik der herrschenden Klasse zu haben.

Hintergrund

Größere und tiefgreifendere Aktionen sind gerade jetzt in Argentinien mehr als angebracht: Der Kongress hat vor wenigen Tagen das „Ley Base“ (Basisgesetz) beschlossen. Lediglich die Peronist:innen und das trotzkistische Wahlbündnis FIT-U haben dagegen gestimmt. Unter den konservativen und rechten Parteien dagegen herrschte Einigkeit. Diese Abstimmung stellt nach dem gescheiterten Omnibusgesetz den ersten großen Sieg des rechten und ultraneoliberalen Präsidenten Milei im Kongress dar. Das Gesetz beinhaltet unter anderem eine Aushöhlung von Arbeitsrechten, Privatisierung von Staatsunternehmen und massive Rentenkürzungen. Bevor es gültig wird, muss es jedoch erst noch durch den Senat kommen. Aber letztlich kann nur ernsthafter Druck auf der Straße das Gesetz noch stoppen!

Auch die Lage an den Unis spitzt sich immer mehr zu, da die Ausgaben auf dem Niveau von 2023 eingefroren wurden. Bei einer prognostizierten Inflation von 150 % für 2024 bedeutet das eine so starke Reduktion des Budgets, dass ein normaler Betrieb der Unis bis Ende 2024 praktisch unmöglich ist. Die Studierenden sind deshalb Ende April zu Hunderttausenden für die öffentliche Bildung auf die Straßen gegangen. Zweifelsohne formiert sich dort gerade eine tiefgreifendere Bewegung.

Die Situation der Bevölkerung hat sich in den letzten Monaten massiv verschlechtert: Massenentlassungen von Staatsbediensteten, Streichung von Subventionen und eine Explosion der Inflation sorgen für grassierende Armut. Diese ist von 40 % auf fast 60 % der Bevölkerung gestiegen. Da die Industrie fast ausschließlich für den Binnenmarkt produziert, hat der mit der Verarmung verbundene Konsumrückgang auch zu ihrem Einbrechen geführt. Obwohl die Unterstützung für Milei schon stark zurückgegangen ist, glauben viele noch an seine Lügen, dass es erst schlechter werden wird, bevor es besser werden kann. Aber die Geduld der Bevölkerung geht gerade zu Ende.

Der Generalstreik und die Taktik der CGT

Am 9. Mai hat sich also der peronistische Gewerkschaftsdachverband CGT dazu durchgerungen, einen 24-stündigen Generalstreik abzuhalten. Es ist der Tag, an dem im Senat das „Ley Base“ verhandelt wird. Der Streik wurde allerdings relativ spontan angekündigt (ca. 2 – 3 Wochen vorher). Es konnte deshalb keine tiefgreifendere Mobilisierung geben. Außerdem will die Führung des CGT das auch gar nicht. Sie geht den Kämpfen im Grunde genommen aus dem Weg und organisiert nur hier und da in den kämpferischsten Sektoren (wie z. B. bei Lehrkräften oder Pfleger:Innen) isolierte Streiks.

Der lange Abstand zwischen den Generalstreiks und das Fehlen einer Perspektive des Kampfes zeigt die Taktik der CGT deutlich: Statt eine kontinuierliche Bewegung aufzubauen, die der Regierung gefährlich werden kann, werden isolierte Generalstreiks abgehalten, wann immer die bürokratische Führung das Gefühl hat, dass der Druck der Basis zu groß wird und sie mit einem Streik Luft aus dem Kessel lassen will. So soll dann etwas Druck auf die Verhandlungen im Senat oder Kongress aufgebaut werden. Die Führung der CGT selbst fürchtet sich vor der Macht der Arbeiter:innenklasse, die zweifelsohne dazu in der Lage ist, Regierungen zu stürzen, wie sie Anfang der 2000er Jahre bewiesen hat. Doch die Abgeordneten werden sich nicht von ein paar Streiktagen von ihrem Kurs abbringen lassen.

Deshalb verwundert es nicht, dass die Beteiligung dieses Mal kaum größer ist als im Januar, obwohl die Regierung bereits einiges an Unterstützung in den Umfragen verloren hat. Besonders schändlich ist jedoch, dass die CGT in der Hauptstadt zwar zum Streik aufgerufen, jedoch keine Demo vor dem Senat organisiert hat. Streiken hieß im politischen und wirtschaftlichen Zentrum des Landes also einfach, der Arbeit fernzubleiben. So stehen zwar die Unternehmen für einen Tag still, aber die Arbeiter:innenklasse verfolgt ihren Streik auch nur isoliert zuhause, statt bei einer Massendemonstration ihre eigene Kraft zu zeigen, selbst zu verspüren und damit auch ein Bewusstsein und Gefühl ihres eigenen Kampfpotentials zu erlangen.

Damit wird die Wirkung des Streiks abgeschwächt und die politische Diskussionen unter den Streikenden soll so unterbunden werden. Die breite Streikbeteiligung bei den öffentlichen Bussen, Bahnen und der staatseigenen Fluggesellschaft zeigt jedoch auf, dass die organisierten Teile der Arbeiter:innen sehr wohl die Kraft haben, das Land lahmzulegen. Doch nur ein dauerhafter Ausstand, ein unbefristeter Massenstreik bis hin zum Generalstreik würde genug Druck ausüben, um das Programm und die ganze Regierung an der Realität der kämpfenden Arbeiter:Innen zerbrechen zu lassen.

Und die Linke?

Glücklicherweise weist Argentinien eine beachtliche radikale Linke auf, die sogar mit Abgeordneten im Parlament vertreten und deshalb den meisten Menschen im Land ein Begriff ist. Sie haben sich im Parlament konsequent gegen die Regierung gestellt und sind auch in den kämpfenden Sektoren, wie bei die Studierenden, den streikenden Arbeiter:Innen oder den Stadtteilkomitees in Buenos Aires aktiv. Momentan findet eine Diskussion zwischen den linken Gruppen in der FIT-U über eine gemeinsame Mobilisierung statt.

Allerdings konnte man sich bisher – ein halbes Jahr nach dem Wahlsieg Mileis! – nicht über den Charakter einer solchen Veranstaltung einigen. Die Ideen reichen von einer gemeinsamen Kundgebung, auf der Vertreter:innen der verschiedenen Gruppen Reden vor einem großen Publikum halten, bis hin zu einem Kongress aus Delegierten aller kämpfenden Sektoren. Auf einem solchen sollen real über Politik diskutiert und eine gemeinsame Resolution und vor allem weiterführende Aktionen beschlossen werden.

Im Prinzip fordern alle linken Organisation einen Kampfplan gegen die Regierung, also ein Aktionsprogramm zu den grundlegenden unmittelbaren Fragen zu entwickeln. Die PTS (die argentinische Sektion der FT) hat bereits einen 10-Punkte-Plan vorgelegt, mit dem sie in die Diskussion gehen möchte. Die MST (argentinische Sektion der ISL) fordert einen offenen Kongress der FIT-U, um über das Stadium einer Wahlfront hinauszugehen. Beide sprechen sich dafür aus, dass der Kampf gegen Milei in dem für eine Arbeiter:innenregierung gipfeln muss.

Es ist unbedingt notwendig, dass alle Gruppen der FIT-U ihre Politik konkretisieren und sich auf einen Kongress einigen können, bei dem tatsächlich ein gemeinsamer Kampfplan diskutiert und beschlossen wird. Zweifelsohne braucht es eine dauerhafte Koordination aller linken Gruppen und kämpferischen Sektoren der Arbeiter:innen und Studierenden. Nur so können alle Menschen links vom Peronismus tatsächlich als eine wahrnehmbare Alternative auftreten und den verräterischen Kurs der CGT herausfordern. Eine Idee wäre auch, dafür das bereits existierende Wahlbündnis FIT-U anderen Organisationen und Einzelpersonen zu öffnen und zu einem revolutionären Sammelbecken der Arbeiter:innenklasse und aller Unterdrückten zu gestalten, mit dem Ziel, aus der FIT-U eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei zu bilden.

Die Gewerkschaften müssen dazu aufgefordert werden, über letztlich symbolische eintägige Generalstreiks hinauszugehen, einen unbefristeten auszurufen und zu organisieren. Es muss von ihnen der politische Bruch mit der peronistischen Partei und der Unterordnung unter deren parlamentarische Manöver gefordert werden. In den Gewerkschaften braucht es dazu Basisversammlungen und eine organisierte klassenkämpferische Opposition, die die Führung zum Kampf treibt oder selbst die Initiative ergreift.

Die Einheitsfront für den Generalstreik richtet sich aber nicht nur an die Gewerkschaften und die radikale Linke, sondern auch an Arbeitslosenorganisationen, soziale Bewegungen, die Frauen- und LGBTIAQ-Bewegung, indigene Gemeinden und Student:innenorganisationen.

Da der Organisationsgrad der Gewerkschaften in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückging und viele Lohnabhängige arbeitslos oder unterbeschäftigt sind, aber auch, um den Kampf möglichst effektiv zu führen, sind Massenversammlungen in den Betrieben wie auch Stadtteilen nötig, die Streik- und Aktionskomitees wählen und diese als Kampforgane auf lokaler, regional und landesweiter Ebene zentralisieren.

Generalstreik und Machtfrage

Ein unbefristeter Generalstreik kann die Angriffe der Regierung stoppen. Er würde zugleich aber auch die Machtfrage in der gesamten Gesellschaft stellen – die Frage, ob weiterhin eine bürgerliche Regierung die Macht ausüben soll oder eine Arbeiter:innenregierung, die sich auf die Kampforgane des Generalstreiks stützt, die Arbeiter:innen bewaffnet und den Repressionsapparat zerschlägt, sich in der Armee auf Soldat:innenräte stützt, die sich gegen das Offizierskorps wenden. Eine solche Arbeiter:innenregierung müsste nicht nur die Gesetzesvorhaben von Milei kassieren, sondern auch ein Notprogramm gegen die Inflation, Armut und zur Reorganisation der Wirtschaft im Interesse der Massen umsetzen. Ein solches Programm würde seinerseits die entschädigungslose Enteignung der großen Konzerne und des Finanzsektors unter Arbeiter:innenkontrolle erfordern, um so für alle einen existenzsichernden Mindestlohn oder ein Einkommen zu sichern, um die Löhne an die Preissteigerungen anzupassen und die Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen der Lohnabhängigen zu reorganisieren.

Ein solches Programm der sozialistischen Revolution braucht auch eine politische Kraft, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei. Die FIT-U steht vor der Herausforderung, eine solche im Hier und Jetzt zu werden, ansonsten droht der Sieg der extremen Konterrevolution. Das bedeutet aber auch, dass die FIT-U aufhören muss, als bloße Wahlfront aus mehreren zentristischen Organisationen zu existieren. Sie muss vielmehr zu einer Partei werden, die sich auf ein revolutionäres Aktionsprogramm stützt und in der alle Gewerkschafter:innen, Piqueteros und alle anderen Aktivist:innen sozialer Bewegungen Mitglied werden können, die für ein solches Programm kämpfen wollen.