Ver.di: Vor einem Streikjahr?

Helga Müller, Neue Internationale 271, Februar 2023

In diesem Jahr stehen mindestens 5 größere Tarifrunden in Deutschland an! In diesem Frühjahr allein 3 wichtige Tarifrunden: bei der Post, im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen und im Nahverkehr Bayern. Es folgen die bei der Bahn und im Herbst im öffentlichen Dienst der Länder.

Und die Gehaltsforderungen lauten: bei der Post: 15 %, im öffentlichen Dienst und beim Nahverkehr Bayern 10,5 % und mindestens 500 Euro Festgeld. Letzterer hat bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen. Sie verkörpern allesamt einen realen Ausgleich gegen die galoppierenden Inflation. Voraussetzung dafür wäre natürlich ihre volle Durchsetzung.  Dies ist nur möglich, wenn sich die Verantwortlichen von ver.di schnell dazu entscheiden, eine Urabstimmung für Erzwingungsstreiks durchzuführen.

Kampfstärke und Erfolgsaussichten

1. Alle Forderungen sind von den Kolleg:innen selbst durchgesetzt worden. Bei der Post z. B. hatten sich die gewerkschaftlich organisierten Kolleg:innen bei einer Mitgliederbefragung für eine deutlich höhere Entgeltforderung als die von der Tarifkommission (TK) vorgeschlagenen 10 % ausgesprochen und 90 % derjenigen, die sich an der Befragung beteiligten, waren auch bereit, dafür Arbeitskampfmaßnahmen zu ergreifen. Daraufhin hatte sich die TK zu der Tarifforderung von 15 % durchgerungen und eine Erhöhung für die Azubis von 200 Euro beschlossen. Auch bei ver.di gab es deutlich höhere Forderungen aus den Reihen der Kolleg:innen – bis zu 19 % –, die sie auch gegenüber der TK vehement vertreten hatten. Gerade die Festgeldforderung von 500 Euro würde für viele von ihnen, die sich in den unteren Entgeltgruppen befinden und besonders hart unter der Preissteigerung leiden müssen, eine Erhöhung von bis zu 21 % bedeuten.

2. In vielen Bereichen existiert auch eine hohe Bereitschaft, dafür in den Streik zu gehen. Bei der Post sind die Voraussetzungen besonders günstig, der Organisationsgrad hier ist traditionell sehr hoch. Dieser liegt bei 70 % bundesweit – wobei es hier auch starke regionale Unterschiede gibt. Vor allem bei Dienststellen mit vielen Teilzeit- oder befristeten Beschäftigten liegt der Organisationsgrad unter 50 %. Alles in allem jedoch gute Voraussetzungen, um einen Durchsetzungsstreik auszuhalten. Auch die bisherigen Warnstreiks werden von den Kolleg:innen sehr gut befolgt. Sie werden trotz anstrengender Arbeit schlecht bezahlt, verdienen im Bundesdurchschnitt 1.000 Euro weniger als andere Beschäftigte im Monat und mussten dazu noch einen Reallohnverlust von 7 % im Jahr 2022 erleiden. Die Arbeitsbedingungen werden von Jahr zu Jahr schlechter z. B. über ständig wechselnde und größere Zustellungsgebiete, sodass viele sich eine andere Arbeit suchen. Allein 2021 haben 10.000 Beschäftigte den Konzern verlassen. Gleichzeitig hat er 8,4 Milliarden Euro Gewinn eingefahren – das beste Ergebnis aller Zeiten! Dies alles wird die Kampfmoral zusätzlich steigern.

Auch wenn der öffentliche Dienst insgesamt nicht so gut organisiert ist, gibt es dort durchaus Bereiche wie Müllabfuhr, Erzieher:innen, Sozialarbeiter:innen und auch Belegschaften in einigen Krankenhäusern, die schon über viel Kampferfahrung verfügen. Zudem haben die dortigen Bewegungen in NRW und Berlin gezeigt, dass, wenn ein systematischer Mitgliederaufbau betrieben wird und die Kolleg:innen selbst über ihre Forderungen und die Vorgehensweise diskutieren und mitentscheiden können, auch wochenlange Durchsetzungsstreiks in diesen Bereichen möglich sind. Wie groß wäre erst wohl die Kampfstärke, wenn sie die komplette demokratische Kontrolle über den Kampf ausübten?

Im Nahverkehr sind die Kampferfahrungen hoch und selbst gut organisierte kurze Warnstreiks können sehr schnell den öffentlichen Nahverkehr lahmlegen, was den Druck auf die Kommunen erhöht. Hierbei muss gesagt werden, dass bundesweit betrachtet der Nahverkehr ein zerzauster Tarifflickenteppich ist. Während in Bayern dieses Jahr in der Runde des öffentlichen Dienstes mitverhandelt wird (aber auch hier nur bei den Betrieben, die in kommunaler Hand sind), sind andere erst nächstes Jahr dran. Zudem gibt es einige Betriebe mit Haustarifverträgen, z. B. die Berliner Verkehrsbetriebe oder die Hamburger Hochbahn. Das schwächt natürlich die Kampfkraft.

3. Zum anderen sind die Bedingungen auch deswegen günstig, da drei große Tarifrunden fast zeitgleich stattfinden: Die TK bei der Post verhandelt insgesamt für ca. 200.000 Beschäftigte (155.000 bei der Deutschen Post und 37.000 bei DHL), im öffentlichen Dienst für ca. 2,3 Mio. bei Bund und Kommunen und beim Nahverkehr Bayern für mehrere Tausend. Das sind über 2,5 Millionen Beschäftigte insgesamt!  Wenn diese in einer großen Tarifbewegung mit gemeinsamen Durchsetzungsstreiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen von den ver.di-Verantwortlichen zusammengeführt würden, wäre dies eine Kraft, die den Regierungen das Zittern beibrächte – ähnlich wie 1992 beim großen Streik im öffentlichen Dienst, bei dem auf dem Höhepunkt  sich zeitweilig mehr als 330.000 Arbeiter:innen und Angestellte im Ausstand befanden. Das wäre auch die Kraft, die eine Abwälzung der Krise auf die breiten Massen der Lohnabhängigen und Arbeitslosen, Rentner:innen, Jugendlichen und Migrant:innen verhindern könnte.

Die Kolleg:innen im Nahverkehr Bayern haben sehr bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen und sich für gemeinsame Aktionen und Arbeitskampfmaßnahmen ausgesprochen. Zu Anfang war das wohl auch der Wille der TK bei der Post. Mittlerweile haben aber die Mitglieder dort bereits die zweite Verhandlung hinter sich, in denen sich die Vertreter:innen der Post stur stellen und die Forderung nach wie vor ablehnen und für überzogen halten. Die 3. und vorerst letzte Tarifverhandlung findet dort am 8./9. Februar statt, im öffentlichen Dienst die erste Verhandlung erst am 24. Januar. Ob es nach einem letzten schlechten Angebot von Arbeit„geber“:innenseite dann tatsächlich zu einer anschließenden Mitgliederbefragung und Urabstimmung über einen unbefristeten Streik kommt, wissen bisher nur die Götter! Insofern stehen die Postkolleg:innen im Moment alleine da und entsprechend provokativ verhalten sich auch die Konzernverhandlungsführer:innen

4. Zum Vierten haben sich verschiedene Initiativen, darunter die Kampagne „Genug ist Genug“ (GiG) und die Berliner Krankenhausbewegung dazu entschieden, Solidaritätsaktionen bis hin zu einer Großdemo in Berlin am 25. März zu organisieren. Auch auf der Videokonferenz  von GiG zur Information über darüber mit den Postkolleg:innen am 12. Januar gab es verschiedene Ideen zur Unterstützung ihrer Tarifrunde. Alle dort Postler:innen betonten die Notwendigkeit der öffentlichen Unterstützung. Sei es einfach, dass man zu Kundgebungen und Streiks kommt und seine Solidarität bekundet oder einfach ein paar unterstützende Worte vorträgt bis dahin, ihre berechtigten Anliegen in der Öffentlichkeit klarzumachen. Denn bei den Verhandlungen versuchen die Vertreter:innen des Unternehmens, die Forderungen für vollkommen überzogen und realitätsfern hinzustellen. Um sich diesen Verunglimpfungen in den Weg zu stellen und damit auch die aktive Solidarität der Leute in den Stadtvierteln zu gewinnen, ist die Unterstützung von außen sehr wichtig, z. B. mit Flyern, in denen die Forderungen begründet werden und darauf hingewiesen wird, unter welch miserablen Bedingungen sie arbeiten müssen. Am 3./4. März will GiG eine bundesweite Aktionskonferenz in Halle (Saale) organisieren, auf der mögliche Unterstützungsaktionen für die Kolleg:innen in den anderen Tarifrunden besprochen werden.

Schulterschluss mit fortschrittlichen Bewegungen

Im Bereich Nahverkehr – der großteils erst 2024 in Verhandlungen einsteigt – gibt es aus früheren Tarifrunden noch zahlreiche Verbindungen zur Klimabewegung und auch in dieser wird es zu gemeinsamen Aktionen mit ihr kommen! Hier gibt es auch ein ganz klares gemeinsames Interesse: Ausbau des öffentlichen Nah- statt Individualverkehrs und Aufbau des entsprechenden Personals – eine der Forderungen der dort tätigen Beschäftigten. Dies durchzusetzen, geht nur gemeinsam mit Aktivist:innen aus der Klimabewegung und Kolleg:innen anderer Bereiche.

Tarifrunde und Internationaler Frauenkampftag

Last but not least fällt der Tarifkampf – zumindest im öffentlichen Dienst, im Nahverkehr und evtl. auch bei  der Post, falls es nicht vorher zum Abschluss kommen sollte – auf den Internationalen Frauenkampftag am 8. März. Wie im letzten Jahr sollen Aktionen und Demonstrationen an diesem Tag zusammen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst und Nahverkehr gemeinsam durchgeführt werden. Doch bisher lehnt der ver.di-Bundesvorstand es ab, an diesem Tag zu Warnstreiks aufzurufen. Nichtsdestotrotz gibt es im Landesbezirk Baden-Württemberg eine Initiative, an diesem Tag ausgewählte Mitglieder zu Arbeitsstreiks aufzurufen, einer Art Vorstufe zu Warnstreiks. Bei der Krankenhausbewegung spielte das in Berlin und NRW eine Rolle zur Sammlung einiger Hundert führender Aktien in Vorbereitung auf einen größeren Arbeitskampf. Gegen diesen Beschluss sollten nichtsdestotrotz alle ver.di-Gliederungen Protestresolutionen verabschieden.

Kampfesführung

Das A und O dafür, dass die Kämpfe erfolgreich geführt, also alle Forderungen erfüllt werden können, bleibt, dass die Kolleg:innen sich dafür einsetzen, auf breiten Streikversammlungen über den Verhandlungsstand informiert zu werden, diskutieren und entscheiden zu können, wie ihr Kampf weitergeführt wird. Diese Entscheidungen müssen sowohl für die TK als auch den Bundesvorstand, der letztlich über die Streiks entscheidet, bindend sein! Um diese Diskussionen organisiert führen zu können, sind gewählte Streikkomitees notwendig, die gegenüber den streikenden Kolleg:innen rechenschaftspflichtig und von ihren Vollversammlungen jederzeit abwählbar sind. D. h., diese müssen sich dafür einsetzen, dass sie selbst die Kontrolle darüber erringen. Erste Elemente dieser elementaren Arbeiter:innendemokratie haben sich in den beiden Krankenhausbewegungen von Berlin und NRW herauskristallisiert. Letzten Endes ist das nur möglich, wenn sich eine politische Kraft in ver.di und allen DGB-Gewerkschaften herausbildet, die bewusst den Kurs der Anpassung aller Gewerkschaftsführungen an Kapitalinteressen und angebliche Sachzwängen in einer antibürokratischen Basisbewegung bekämpft. Einen Ansatz dafür stellen heute die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften und ihre lokalen Strukturen dar.

Vorsicht Falle! Schlichtungsabkommen kündigen!

Eine gefährliche Bremse für die konsequente Führung des Arbeitskampfs bildet das Schlichtungsabkommen zwischen ver.di-Spitze und öffentlichen Dienstherr:innen. Die VKG schreibt:

„Aufgrund der unnötig von ver.di unterschriebenen Schlichtungsvereinbarung im öffentlichen Dienst hat sich die Gewerkschaft selbst dazu verpflichtet, sich bei einem Scheitern von Verhandlungen auf eine Schlichtung einzulassen, in der Friedenspflicht herrscht. Hier würde auch starker politischer Druck aufgebaut. Ver.di sollte diese Vereinbarung – sie ist bis einen Monat zum Quartalsende kündbar – sofort kündigen! Wenn die Schlichtung kommt, dann sollten Aktive darauf vorbereitet sein und massiven Druck von unten aufbauen, damit ein Schlichtungsergebnis – von dem schon jetzt klar ist, dass es nicht die notwendigen Erhöhungen beinhaltet – abgelehnt wird und unverzüglich Urabstimmung und Erzwingungsstreik erfolgen.“

Dem ist vollkommen beizupflichten und es ist rechtzeitig darauf zu drängen, dass der Gewerkschaftsvorstand es sofort kündigt, damit es ab April außer Kraft tritt. Diesbezügliche Petitionen sind zu verfassen, Mitglieder aus der VKG Berlin sind hier bereits mit gutem Beispiel in ihren jeweiligen Gewerkschaftsgliederungen vorangegangen. Unabhängig davon sollten alle Mitglieder sich nach Scheitern der Verhandlungen für die sofortige Einleitung der Urabstimmung einsetzen.