Die verschiedenen Ebenen des Ukrainekriegs

Markus Lehner, Neue Internationale 271, Februar 2023

Der Krieg in der Ukraine ist sicherlich eine historische Zäsur. Da hilft es auch nicht, wenn Linke wie Sahra Wagenknecht immer wieder betonen, dass er nur einer von vielen sei – und die meisten würden ja vom „Wertewesten“ geführt oder unterstützt. Tatsächlich waren die meisten Kriege mit Beteiligung von Großmächten seit dem 2. Weltkrieg „asymmetrische“ (außer dem Koreakrieg oder den beiden Vietnamkriegen), bei denen eine Seite militärisch vollkommen überlegen war.

Der Ukrainekrieg ist ein grausamer „konventioneller“, zerstörerisch wie der Zweite Weltkrieg, mit allen Schrecken von Artillerie- und Panzerschlachten, Schützengrabenkämpfen, Bombardements, wochenlangen Belagerungen und Kesselschlachten. Dazu kommt, dass dahinter die Konfrontation der wichtigsten Großmächte im europäischen Raum steht und somit auch die industrielle Massenfertigung der Tötungsmaschinerien auf beiden Seiten dafür immer weiter hochgefahren wird – mit der Gefahr einer sehr langen Dauer und wachsender Eskalation, was die Art der Waffen bis hin zu Nuklearsprengsätzen betrifft. Dieser Konflikt ist eingebettet in eine krisenhafte Entwicklung des imperialistischen Weltsystems, in dem eine schwächelnde kapitalistische Weltwirtschaft zur Neuaufteilung der Welt unter die Großmächte, insbesondere China und die USA, drängt. Ob dabei der Ukrainekrieg auch noch gekoppelt wird etwa mit einer Verschärfung des Taiwankonflikts oder nicht – wir sind jedenfalls in eine neue Periode der gesteigerten, auch militärischen Konfrontation der großen imperialistischen Mächte eingetreten, die die rein ökonomische Globalisierungskonkurrenz auf eine neue Ebene hebt.

Problematische Vergleiche

Es wurden schon verschiedene Vergleiche mit den beiden Weltkriegen bzw. deren Vorläuferkonflikten angestellt. In der bürgerlichen Debatte herrscht der mit dem Zweiten Weltkrieg vor, insbesondere um an den „antifaschistischen Kampf“ bzw. die „historischen Lehren“ aus den Fehlern von „Appeasementpolitik“ anzuschließen. Vorherrschend ist die Erzählung vom „durchgedrehten“ Autokraten Putin, der analog zu Hitler sein Land mit einer faschistischen Diktatur überzogen habe und dessen irre Gefährlichkeit von den „naiven“ demokratischen Regierungen insbesondere in Europa lange nicht gesehen worden wäre. Aus marxistischer Sicht ist das Putinregime natürlich kein Faschismus, wohl aber ein über Jahre gefestigtes autoritäres, das dem nach der Restauration des Kapitalismus entstandenen russischen Imperialismus aus einer Position der Schwäche heraus mit allen Mitteln einen Platz im Orchester der Großmächte zu sichern versucht. Das „System Putin“ ist damit auch nicht an seine besondere Person gebunden, sondern umfasst eine mit den großen Rüstungs- und Rohstoffkonzernen eng verflochtene politische Führungsschicht, deren imperialistische Extraprofite aufs Engste mit dem Erhalt von Einflusssphären und militärischer Potenz verbunden sind. Die Expansion der NATO bzw. USA in Osteuropa und Zentralasien ebenso wie seine wachsende ökonomische Schwäche mussten daher Russland um seine Stellung als Weltmacht fürchten lassen. Konkret in der Ukraine wurde nach 1990 lange Zeit eine Art Patt zwischen prorussischen und -westlichen Kräften aufrechterhalten, das mit der Maidanbewegung um 2014 kippte und zum Konflikt um die Ostukraine und Krim führte. Die Geschichte des Hineinschlitterns in den Krieg mitsamt der Rolle der verschiedenen Großmächte und nationalistischen Kräfte in der Ukraine erinnert dann auch mehr an den Prolog zum Ersten Weltkrieg und die „schlafwandlerische“ Eskalation rund um den Balkan.

Umgekehrt gibt es auch in Teilen der Linken den Missbrauch des Faschismuslabels. So bezeichnet die „Junge Welt“ die Selenskyjregierung gerne als „faschistischen Büttel der NATO“, die mit dem „Maidanputsch“ 2014 in der Ukraine eine naziähnliche Diktatur errichtet hätte. Auch wenn ukrainische Nazis für den unmittelbaren Machtwechsel 2014 eine wichtige Rolle spielten, reicht dies keinesfalls aus, um das danach entstandene westlich orientierte System eines oligarchischen Kapitalismus in der Ukraine treffend zu charakterisieren. Die ökonomische Dauerkrise zwingt dieses Regime, den Nationalismus als gesellschaftlichen Kitt zu verwenden und insbesondere im Sicherheitsapparat viele extrem rechte Kräfte einzusetzen. Doch sind dies eher untergeordnete Aspekte gegenüber einer generellen Westorientierung, die bei den Massen in der Ukraine mit großen Illusionen in „westliche Demokratie und Wohlstand“ verbunden sind.

Beide Seiten des „Lager“kampfes gegen den „Putinfaschismus“ oder die Maidannazis begehen eine üble Verschleierung des tatsächlichen Charakters des Krieges. Die Beschwörung des angeblich faschistischen Charakters der jeweils anderen Seite dient offenbar der Rechtfertigung einer Parteinahme für einen „demokratischen“ oder „antifaschistischen“ Imperialismus, also für eine offene Unterstützung der NATO oder Russlands im „antifaschistischen Kampf“. Wie immer nützt die „antifaschistische Volksfront“ hier der Aufgabe von Klassenpolitik zugunsten der politischen Unterordnung unter die reaktionären Ziele eines der sich bekämpfenden bürgerlichen Lager. Der Charakter dieses Krieges sollte also zunächst mal jenseits dieser falschen Fährte Krieg gegen den Faschismus verstanden werden.

Susan Watkins hat im „New Left Review” in dem Artikel „Five Wars in One” eine hilfreiche Aufschlüsselung seiner verschiedenen Ebenen erstellt. In Analogie zur bekannten Analyse von Ernest Mandel zum Zweiten Weltkrieg hat sie für diesen als „Weltordnungskrieg“ fünf Konfliktebenen dargestellt. Anhand dieser lassen sich gut die Probleme für eine linke Positionsfindung und die Gefahren von Verkürzungen darstellen.

1. Imperialistischer Angriffskrieg

Der erste und sicher offensichtlichste Aspekt ist, dass es sich um einen brutalen imperialistischen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine handelt. Anders als in der bürgerlichen Öffentlichkeit wird dabei nicht auf eine „imperialistische“ Ideologie des Putinregimes Bezug genommen, sondern auf die in der gegenwärtigen Epoche des Weltkapitalismus bestehende imperialistische Weltordnung. Der Imperialismus ist dabei Ausdruck der Unfähigkeit des globalen Kapitalismus, die historisch überholte Form des Nationalstaates durch ein den globalen Problemen angemessenes politisches Weltsystem zu ersetzen. An dessen Stelle tritt ein System von Großmächten und deren Einflusssphären, das notwendig mit den Prinzipien nationalstaatlicher Souveränität in Konflikt geraten muss. Die westlichen imperialistischen Mächte sichern ihre heute im günstigsten Fall durch „Softpower“.

Die Halbkolonien des Westens scheinen sich freiwillig für „Demokratie und Menschenrechte“ zu entscheiden, die von der NATO und ähnlichen Mächten dann „geschützt“ werden (und nur zu oft mit militärischen Mitteln). Wenn jetzt zu Russland gesagt wird, die Verteidigung seiner „Einflusssphäre“ wäre „veraltetes Denken“, so wird nur verschleiert, dass es bei z. B. der NATO-Osterweiterung oder der EU-Ausdehnung natürlich auch um deren Sicherung geht. Anders als „der Westen“ hat Russland jedoch immer weniger ökonomische und politische Vorteile anzubieten und erscheint sicherlich nicht als eine weniger unterdrückerische und demokratischere Alternative. Ein schwächelnder Imperialismus neigt, wie die Geschichte, zeigt, dazu, seine Einflusssphäre dann eben militärisch zu sichern.

Diese Erklärung des russischen Angriffs ist aber natürlich in keiner Weise eine Rechtfertigung. Es ist vor allem ein Argument dafür, dass das imperialistische System als Ganzes menschenverachtend und krisenbehaftet ist und als solches überwunden werden muss. Dies bedeutet vor allem auch, dass die Arbeiter:innenklassen in den imperialistischen Staaten ihren Führungen die Waffen aus den Händen schlagen und sie gegen ihre Kriegsherr:innen selber richten müssen. Die Position von Sozialist:innen in der russischen Föderation muss eine des verstärkten Klassenkampfes gegen das reaktionäre, nationalistische Putinregime sein. Hier vertreten wir den revolutionären Defaitismus und die Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus.

Wir lehnen daher auch die Scheinlösungen ab, die in Linkspartei und DKP zur Beilegung des Konflikts vorherrschen: Man müsse eine Friedensordnung erreichen, die die „berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands“ garantiere. Diese Position beinhaltet sowohl eine Erzählung von der NATO-Osterweiterung u. a. als Grund, warum „fehlende Sensibilität“ gegenüber Russland zum Krieg geführt habe. Sie beinhaltet aber auch den „Plan“, dass eine Friedenslösung mit Russland über ein Abkommen mit den westlichen Mächten zur „Sicherheitsarchitektur“ in Europa den Konflikt nachhaltig entwirren könne. Einerseits wird bei dieser Art von Lösung ausgeblendet, dass es hier tatsächlich um den Kampf um Einflusssphären imperialistischer Mächte geht, der noch weit von einer Entscheidung wie dem seinerzeitigen Potsdamer Abkommen entfernt ist.

Es wird vor allem stillschweigend darüber hinweggegangen, dass es hier auch um die Frage der Selbstbestimmung von Ländern wie der Ukraine geht, die im Rahmen solcher „Sicherheitsarchitekturen“ tatsächlich durch das eine oder andere halbkoloniale System unterjocht werden. Die Frage ist dabei auch nicht, ob Beitritt zu einem Bündnis oder durch Sicherheitsgarantien begleitete „Neutralität“ Auswege wären, sondern dass nur eine antiimperialistische Bewegung in der Ukraine und in den Arbeiter:innenklassen Europas für ein Ende des Zwangs zur Einbindung in welche Einflusssphären, Militärbündnisse, Wirtschaftsunionen auch immer sorgen könnte. Nicht irgendwelche Abkommen zwischen EU, Russland und den USA über die zukünftige Ordnung in Europa können, sondern nur der Kampf um vereinigte sozialistische Staaten von Europa durch soziale Revolution von unten kann eine wirkliche Friedensordnung auf diesem Kontinent herstellen.

2. Selbstverteidigungskrieg

Der zweite Aspekt ist der eines nationalen Selbstverteidigungskrieges von Seiten der Ukraine. Sie ist eines der ärmsten Länder des Kontinents, das gleichzeitig reich an mineralischen und agrarischen Rohstoffen ist. In ganz Europa wird ukrainische Arbeitskraft aufs Blut ausgebeutet. Im Land selbst herrscht ein extrem korrupter Oligarchenkapitalismus, der seine ausbeuterische Fratze hinter demokratischen Phrasen und der nationalistischen Verteidigungspose verbirgt.

All dies ist nicht ungewöhnlich für ausgebeutete Halbkolonien auf der ganzen Welt. Im Fall des Angriffs einer imperialistischen Macht, die sich dieses Land einverleiben will, gibt es bei den Massen trotz aller Entfremdung zu ihrer Führung den klaren Impuls, das demokratische Selbstbestimmungsrecht auf einen eigenen Staat zu verteidigen. Insbesondere war die Ukraine seit Jahrhunderten von ihren Nachbarstaaten unterjocht – nicht nur von Russland, sondern auch von Polen/Litauen und der Habsburger Monarchie. Auch wenn jetzt sowohl von Putin als auch den ukrainischen Nationalist:innen verhöhnt, waren es Lenin und die Bolschewiki, die zuerst den Kampf gegen Zarismus und Habsburger:innen nicht nur mit dem internationalen Klassenkampf sondern auch mit dem um die Selbstbestimmung der Ukraine verbunden haben.

Seit Jahrhunderten wurde damit nach dem Bürgerkrieg zum ersten Mal ein ukrainischer Staat gebildet – auch wenn dessen Unabhängigkeit in der stalinisierten Sowjetunion mehr als prekär geriet. Aber nur so wurde in den Wirren der Auflösung der Sowjetunion die Ukraine als eigenständiger Nationalstaat möglich. Auch wenn sie selbst ein Vielvölkerstaat ist, gibt es eine große Mehrheitsbevölkerung, die sich der ukrainischen Identität zugehörig fühlt und sich keineswegs wieder einem anderen Nationalstaat unterordnen will. Sozialist:innen müssen diesen demokratischen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung respektieren – so wie sie das auch im Freiheitskampf um Irland oder Kurdistan immer schon getan haben.

Bei aller Klassenspaltung in der Ukraine werden die Arbeiter:innen kaum für ihre zentralen sozialen Kämpfe gewonnen werden können, wenn man nicht zugleich mit ihnen gegen die nationale Unterjochung kämpft, was ihnen als Voraussetzung dafür erscheint, auch ihre ureigensten Klassenkämpfe auf vertrautem Terrain führen zu können. Bei aller Kritik an der korrupten, proimperialistischen Führung des Verteidigungskrieges rufen wir, zumindest bis eigenständige Kampfverbände aufgebaut sind, dazu auf, in die bestehenden Verteidigungsstrukturen zu gehen (sofern sie nicht offen faschistische Einheiten sind). Auch dort müssen wir den verräterischen und klassenfeindlichen Charakter der politischen Führung aufzeigen wie auch die Gefahr des Missbrauchs des Verteidigungskrieges für die westlichen imperialistischen Interessen – also auch für die Fortsetzung des Kampfes nach Abwehr des russischen Angriffs. Diese Kritik kann aber nicht dazu führen, die Niederlage der Ukraine einfach billigend in Kauf zu nehmen. Diese würde die Kampfbedingungen der ukrainischen Arbeiter:innen um ein Vielfaches verschlechtern und es zugleich faktisch unmöglich machen, sie von ihren Illusionen in das prowestliche Regime zu lösen.

Insofern lehnen wir die pazifistischen Positionen gegenüber dem berechtigten Kampf für Selbstverteidigung genauso ab wie die Versuche, die Verteidigungskräfte der Ukraine insgesamt nach dem Bild des Asowregiments zu charakterisieren. Auch wenn wir die Einheiten, die an die Nazikollaborateurtruppen des Stepan Bandera anknüpfen, ablehnen und sie nicht als „Kampfgenossinnen“ akzeptieren, so weigern wir uns, diese mit dem ukrainischen Kampf insgesamt gleichzusetzen. Auch im palästinensischen Widerstand ist es unvermeidlich, z. B. mit der Hamas auf denselben Barrikaden zu stehen. Dies bedeutet, dass Revolutionär:innen das Recht der Ukrainer: innen verteidigen, sich gegen die russische Okkupation zur Wehr zu setzen, jedoch ohne der Regierung Selenskyj irgendeine Form der Unterstützung angedeihen zu lassen.

3. Bürger:innenkrieg

Der dritte Aspekt ist der des innerukrainischen Bürger:innenkriegs. Das fragile Gleichgewicht von prowestlichen und -russischen wirtschaftlichen und politischen Eliten in der Ukraine genauso wie der Ausgleich zwischen den Nationalitäten im Vielvölkerstaat Ukraine wurden mit dem Maidan 2014 über den Haufen geworfen. Damals wurde der lavierende, Russland zuneigende Präsident Janukowytsch durch eine klar prowestliche Regierung abgelöst. Diese verwendete zwecks Machtsicherung viele der extrem rechten und nationalistischen Maidankräfte in ihrer Administration und den Sicherheitskräften und machte ihnen auch politisch Konzessionen. Damit war der letztlich auch bewaffnete Zusammenstoß mit den sich in ihren Minderheitenrechten bedrohten Bevölkerungsgruppen insbesondere in der Ostukraine und auf der Krim vorprogrammiert. Der Kampf um Minderheitenrechte und Autonomie, der dort begann, war sicherlich berechtigt und musste von Sozialist:innen ebenso im Sinn des Selbstbestimmungsrechtes verteidigt werden. Allerdings wurde er letztlich vom russischen Imperialismus für seine Intervention und Annexionspolitik missbraucht.

In der gegenwärtigen Situation ist diese Frage daher der des Selbstverteidigungsrechts der Ukraine untergeordnet. Andererseits wird keine Lösung des Konflikts zentral auch um den Status von Donbas(s) (Donezbecken), Luhansk und der Krim herumkommen. Dabei wird auch die Heuchelei aller „Verteidiger:innen des Völkerrechts“ klar, die betonen, die Ukraine müsse um jeden Preis in ihren ursprünglichen Grenze, also sogar mit Eroberung der Krim wiederhergestellt werden. In den genannten Regionen gibt es historische und ethnische Gründe, die durchaus dafür sprechen, dass die Bevölkerung dort selbst bestimmen können sollte, in welchen Grenzen sie zukünftig leben will – ob in der Ukraine, Russland, als autonome Region bei einem von beiden, selbstständig etc.

Die Fetischisierung bestehender Grenzen erwies  sich bei von Nationalitätenkonflikten gebeutelten Grenzregionen noch nie als Frieden stiftend. Es ist auch eine ziemliche Heuchelei, wenn heute gegen eine Lostrennung der Krim von der Ukraine das Völkerrecht ins Spiel gebracht wird, im (ebenso berechtigten) Fall des Kosovo gegenüber Serbien jedoch nicht. Hier zeigt sich letztlich, dass es dem westlichen Imperialismus nicht um das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Völker geht, sondern um den Sieg ihres nationalistischen Stellvertreterregimes unter Inkaufnahme einer brutalen Unterdrückung der russischen Minderheit. Daher müssen Revolutionär:innen auch in der Ukraine deutlich machen, dass die Zukunft der sog. Volksrepubliken und der Krim weder vom ukrainischen nationalistischen Regime noch von Russland oder der NATO entschieden werden darf. Wir treten daher für die Anerkennung der Ukraine als Staat und den vollständigen Abzug der russischen Truppen ein! Zugleich verteidigen wir das Selbstbestimmungsrecht für die Krim und die „Volksrepubliken“.

4. Westlicher Imperialismus

Der vierte Aspekt des Krieges ist die massive Unterstützung des westlichen Imperialismus für die Ukraine, die ihn de facto zu einem Stellvertreterkrieg macht. Angefangen bei den USA sprechen auch alle deren Verbündeten von einem „Krieg der Demokratie“ gegen den „Autoritarismus“. Wenn also aus bestimmten Gründen keine direkte Beteiligung von NATO-Verbänden gegeben ist, so ist doch sowohl der Wirtschaftskrieg gegen Russland wie auch das Ausmaß ökonomischer, logistischer und waffentechnischer Unterstützung von bisher nicht gesehenem Umfang in einem solchen Konflikt.

Die Ukraine, die vor dem Krieg praktisch zahlungsunfähig war, erhielt im ersten Kriegsjahr Hilfspakete und Waffen im Umfang von zwei Dritteln ihres Sozialprodukts – praktisch täglich die Summe an Unterstützung, die zu Hochzeiten jährlich in Afghanistan investiert wurde. Sie stellt sogar die der USA für Israel in den Schatten. Dabei werden nicht einfach nur Waffen geliefert. Die ukrainische Armee wurde und wird systematisch an neuen Waffensystemen technisch und taktisch ausgebildet ebenso wie offensichtlich die modernsten Kommunikationssysteme zur Gefechtsunterstützung umstandslos zur Verfügung gestellt werden.

Ziemlich unverhohlen werden nachrichtendienstliche Erkenntnisse über den Gegner sofort an die Ukraine weitergeleitet wie auch Taktik und Strategie mit Militärberater:innen aus den NATO-Stäben abgestimmt. Über Ringtausche ist die Bewaffnung der Ukraine dabei auch ganz klar in Aufrüstungsprogramme aller NATO-Staaten, auch der Bundesrepublik, einbezogen. In Kombination mit den Wirtschaftssanktionen, die ähnlich der alten Kriegstaktik der „Kontinentalsperre“ wirken sollen, kann man mit voller Berechtigung davon sprechen, dass der westliche Imperialismus den ukrainischen Verteidigungskrieg dazu benützt, den russischen Imperialismus per Stellvertreterkrieg entscheidend zu schwächen. Dies entspricht der langfristigen globalen Strategie der USA, die gegenüber China und Russland als globalen Hauptkonkurrenten entwickelt wurde. Der Ukrainekrieg wurde da als günstige Gelegenheit ergriffen, um die EU-Imperialist:innen ebenso auf diese Konfrontation einzuschwören und Russland als Hauptverbündeten Chinas auf Jahre in die zweite Reihe zu verbannen.

Es scheint aber auch so zu sein, dass die USA nicht zu unbeschränkter Unterstützung der Ukraine bereit sind. Die umstrittenen Äußerungen des US-Generalstabschefs (CJCS) Mark A. Milley, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnen könne, kann wohl als Ausplaudern der Pentagonstrategie verstanden werden: Wenn die USA wollten, könnten sie natürlich solche militärische Unterstützung leisten, die den Krieg längst beendet hätte – aber das ist wohl nicht bezweckt. Sie wollen offenbar Russland aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung nicht gänzlich zum Zerfallskandidaten machen und andererseits auch nicht in Europa neue militärische Rivalen entstehen lassen. Insofern nimmt man im Pentagon wohl gerne einen langwierigen, blutigen Stellungskrieg in der Ukraine in Kauf, der Europa und Russland auf lange Sicht als globale Rivalen schwächt.

Von daher müssen wir in den westlichen imperialistischen Staaten gegen diesen Missbrauch des Verteidigungskrieges der ukrainischen Bevölkerung und seine blutige Verstetigung als Stellvertreterkrieg protestieren. Wir müssen daher auch gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und die Sanktionen gegen Russland Stellung beziehen, da sie nicht getrennt werden können von den Aufrüstungsprogrammen der NATO und dem globalen Konflikt, der hier mithilfe der Ukraine geführt wird. Auf globaler Ebene ist dieser Aspekt das dominierende Element, auch wenn dies nicht bedeutet, dass deshalb der Kampf um Selbstverteidigung in der Ukraine keine Berechtigung hätte. Alle Waffenlieferungen an sie, ob über Ringtausche oder direkt, sind einerseits ganz klar mit eigenen Rüstungsprojekten, dem Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie und deren Profiten verbunden, andererseits an die US-Strategie zur Niederringung der chinesischen und russischen globalen Rivalen gekettet. Ebenso müssen wir die ukrainischen Arbeiter:innen davor warnen, dass die große Hilfe aus „dem Westen“ nicht ohne Kosten für sie daherkommen wird. Die Rechnung dafür wird genau ihnen und den Ärmsten präsentiert werden, die dafür mit Überausbeutung in Sonderaufbauprogrammen der westlichen Imperialist:innen für ihre neue Halbkolonie bezahlen werden.

5. Weltkriegspotential und das Verhältnis der verschiedenen Dimensionen des Krieges zueinander

Schließlich beseht der fünfte Aspekt des Krieges darin, dass er jederzeit das Potential birgt, zu einer unmittelbaren Konfrontation zwischen Russland und der NATO – also zu einem offenen Weltkrieg – zu eskalieren. Durch die Art der Unterstützung des Westens für die Ukraine ist dies zwar angelegt, aber bisher noch nicht Realität geworden. Die ukrainische Führung und einige osteuropäische und baltische Staaten sind an sich für eine „Endlösung der russischen Bedrohung“ und tun viel dafür, dass die Bereitschaft dazu im Westen wächst. Andererseits stellt die russische Führung ebenso den Westen bereits als kriegsführende Partei dar und deutet bei ungünstigem Verlauf auch die Möglichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen an – was wahrscheinlich rasch zu Gegenschlägen führen würde.

Diese mögliche Eskalation wird auch von einigen Linken als Grund genannt, den Ukrainer:innen de facto zu raten, möglichst rasch zu einem Waffenstillstand zu kommen. Eine zynische Position: Insofern müsste dann in jedem Konflikt mit imperialistischen Mächten eigentlich sofort kapituliert werden, weil ansonsten vielleicht ein Welt- oder Nuklearkrieg drohen. Angesichts der globalen Zuspitzung der imperialistischen Gegensätze und dem beginnenden Kampf um die Neuaufteilung der Welt erweist sich der Pazifismus als hoffnungslos desorientiert. Nur internationaler Klassenkampf zur Zerschlagung, Entwaffnung der mörderischen Arsenale, Aufdeckung und Bekämpfung der räuberischen Absichten aller Seiten kann den drohenden Weltkrieg tatsächlich abwenden.

Den Charakter eines Krieges unabhängig von der internationalen Lage zu bestimmen, würde zu einem schweren Fehler führen. Viele Linke kommen heute zu dem Schluss, dass die Invasion eines halbkolonialen Landes wie der Ukraine durch eine imperialistische Macht mit dem Ziel, es zu einer Kolonie Russlands zu machen oder zumindest große Teile seines Territoriums zu annektieren, reaktionär ist und deshalb die Unterstützung der Ukraine durch die NATO in Form einer beispiellosen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe ebenfalls gerechtfertigt und fortschrittlich sein muss.

Dabei wird aber die Tatsache ignoriert, dass die Intervention der NATO nicht durch demokratische Ideale motiviert ist, sondern durch den Wunsch, Russland als ihren imperialistischen Rivalen auf der Weltbühne zu schwächen und es so unfähig zu machen, die USA auf Schauplätzen wie dem Nahen Osten und Afrika südlich der Sahara herauszufordern. Andere Motive Washingtons waren, die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Russland zu sabotieren und China eine Warnung vor seiner unverminderten militärischen Macht und anhaltenden wirtschaftlichen Dominanz zu senden. Kurz gesagt, die demokratische Rhetorik der NATO ist nur eine zynische Tarnung, um Handlungen zu rechtfertigen, die ausschließlich durch ihre imperialistischen Eigeninteressen motiviert sind.

Die Entwicklungen, die zu dem reaktionären Einmarsch Russlands geführt haben, bestätigen in mehrfacher Hinsicht, dass es sich im Kern nicht nur um einen Krieg der Landesverteidigung handelt, sondern auch der politische, wirtschaftliche und militärische Einfluss der NATO selbst ein entscheidender Faktor ist und zu einem zwischenimperialistischen Krieg von beispielloser Zerstörungskraft für die Menschheit führen könnte.

Angesichts einer Weltlage, in der multiple Krisen und der zunehmende Kampf um die Neuaufteilung der Welt viele solch komplexer Situationen wie den Ukrainekrieg hervorrufen (z. B. Taiwan), ist es notwendig, dass die Linke zu einer programmatisch klaren sozialistischen Antikriegsposition findet. Diese kann nicht in abstrakt allgemeinen Formeln bestehen und muss sowohl die gegenwärtige Weltlage wie auch die konkreten Analyse der Kriegssituation beinhalten. Im gegenwärtigen Moment bedeutet das die Anerkennung des Rechts auf Selbstverteidigung der Ukraine bei gleichzeitiger Bekämpfung des Eingreifens der westlichen Imperialist:innen, die diesen Konflikt zur Niederwerfung ihres Konkurrenten nutzen.

Die Grundlinien einer solchen Positionsfindung müssen also beinhalten: Unterstützung der Antikriegsopposition in Russland und Umwandlung des Krieges in den revolutionären Bürgerkrieg zum Sturz des russischen Imperialismus; Verteidigung der Ukraine bei gleichzeitigem Aufzeigen des reaktionären Charakters der Führung des Kampfes, Verweigerung jeder politischen Unterstützung seines Missbrauchs als Stellvertreterkrieg; Verurteilung und Bekämpfung der Aufrüstungspolitik in den NATO-Staaten und des Missbrauchs der Waffenlieferungen an die Ukraine als Mittel zur Führung eines Stellvertreterkrieges; Aufbau einer Antikriegsbewegung, die sich der wachsenden Gefahr eines neuen Weltkriegs bei weiter wachsenden Atomwaffenarsenalen entgegenstellt.