Tarifrunde öffentlicher Dienst – Mit dem üblichen Ritual ist nichts zu gewinnen

Helga Müller, Neue Internationale 270, Dezember 2022/Januar 2023

Auch die ver.di-Tarifkommission verspürt Druck – zumindest ansatzweise. Am 11. Oktober beschloss sie aufgrund des Aufbegehrens von Kolleg:innen aus vielen Dienststellen und Betrieben die Forderungen für die Tarifrunde bei Bund und Kommunen: 10,5 % für alle, 500 Euro Festgeld für die unteren Lohngruppen, eine Laufzeit von 12 Monaten.

Die Festgeldforderung würde für die unteren Lohngruppen eine Steigerung bis zu 20 % – also tatsächlich einen Inflationsausgleich – bedeuten. Angesichts einer Preissteigerung von rund 10 % ist die volle Durchsetzung der Forderungen für die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen dringend nötig.

Darüber hinaus bemängelt ver.di in ihrer Tarifbroschüre die nach wie vor existierende Lohnlücke zwischen dem Verdienst im öffentlichen Sektor und der Privatwirtschaft: „Gegenüber dem Jahr 2000 sind die Einkommen der Beschäftigten bei Bund und Kommunen um 59 Prozent gestiegen. In der Gesamtwirtschaft hingegen betrug das Plus in diesem Zeitraum 63,1 Prozent.“

Übliches Tarifrundenritual?

Ver.di attestiert der kommenden Auseinandersetzung eine „historische Dimension“. Trotzdem wird in der Planung am üblichen, um nicht zu sagen üblen, Tarifritual festgehalten. Drei schon lange vor den Kampfmaßnahmen angesetzte Verhandlungen mit den öffentlichen Arbeit„geber“:innen mit ein paar Warnstreiks dazwischen, um ein bisschen Druck auf Kommunen und Bund auszuüben. Am dritten und letzten Verhandlungstag wird dieser Regie zufolge nach einer Marathonsitzung schweißgebadet ein fauler Kompromiss verkündet werden. Dass das nicht ausreichen wird, um die Forderungen auch nur annähernd durchzusetzen, wissen eigentlich alle.

Kein Wunder also, dass schon jetzt die betrieblichen Funktionär:innen darauf vorbereitet werden, dass ein Abschluss wie in der IG Metall zu erstreben sei und es ein Erfolg wäre, wenn dieses Ergebnis auch im öffentlichen Dienst durchgesetzt werden würde. Dabei wissen wir alle, dass dieser Abschluss in der noch immer mobilisierungsstarken Metall- und Elektroindustrie einen Reallohnverlust bedeutet (siehe dazu auch die Analyse des Abschlusses in dieser Ausgabe der NI).

Vor allem aber stellt diese „Vorbereitung“ der Tarifrunde einen Schlag ins Gesicht der Kolleg:innen – z. B. aus dem Krankenhausbereich – dar, die sich mit Vehemenz für die hohen Forderungen ein-und diese durchgesetzt hatten. In einzelnen Dienststellen wurden Forderungen um die 19 % erhoben, um die Tarifrunde auch zu einem Kampf gegen die Auswirkungen der Inflation geraten zu lassen.

Auch wenn die Mobilisierungsfähigkeit in den verschiedenen Bereichen des öffentlichen Dienstes sehr unterschiedlich ist, das Arbeiten im Home-Office diese nicht gerade fördert und die Forderungen auch auf unterschiedliche Resonanz stoßen, so ist es doch möglich, angesichts der Inflation eine größere Bewegung im öffentlichen Dienst hinzubekommen. Die Situation ist günstig: Auch der Tarifvertrag der Beschäftigten bei Bussen und Bahnen läuft Ende diesen Jahres ab. Die Kolleg:innen haben für ihre Tarifrunde bewusst die Forderungen des öffentlichen Dienstes übernommen, weil auch sie sich als einen Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge verstehen, und wollen auch gemeinsame Streiks und Kundgebungen mit den Kolleg:innen aus dem öffentlichen Dienst organisieren. Hier kommen nochmal 100.000 Kolleg:innen dazu, die die Kampfkraft noch steigern können.

Was tun?

Um die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Tarifrunde zu schaffen, dürfen und können wir uns nicht auf den Apparat verlassen. Es gilt vielmehr, dass wir schon in der Vorbereitung für einen kämpferischen Kurs eintreten. Dabei sollten wir uns in einem ersten Schritt auf jene Belegschaften beziehen, die hohe Tarifforderungen gestellt haben, aber diese auch in alle Bereiche ausweiten:

a) Die Vorbereitungen auf die ersten Warnstreiks – oder, wie ver.di das nennt, den Stärketest – müssen genutzt werden, um Mitglieder zu gewinnen. Die beiden Krankenhausbewegungen in Berlin und Nordrhein-Westfalen haben gezeigt, dass ein systematischer Aufbau von Mitgliedern auch in Bereichen wie der Pflege möglich ist, die noch vor wenigen Jahren von ver.di nicht als streikfähig angesehen wurden. Ihre Kämpfe der letzten Jahre haben bewiesen, dass sich auch längere Streikphasen durchstehen lassen.

b) Die Belegschaften müssen diesen Kampf als den ihren begreifen. Die Kolleg:innen in den beiden Krankenhausbewegungen haben bewiesen, dass auch dies möglich ist. Sie haben ihre Forderungen selbst aufgestellt und wurden auch in die Verhandlungen der Tarifkommission mit den Unikliniken miteinbezogen. So konnte ein 79-tägiger Streik in NRW auch wirklich durchgehalten werden.

c) Die Kolleg:innen müssen ihren Kampf – angefangen bei der Aufstellung der Forderungen bis hin zur Streikführung und Entscheidung darüber, wann der Streik zu Ende ist – selbst bestimmen und kontrollieren können. Dafür gab es in den Krankenhausbewegungen auch Elemente eines eher demokratisch geführten Tarifkampfes.

An der Uniklinik Essen ging das am weitesten: Ähnlich wie beim ersten Streik für einen TV Entlastung 2018 haben die Kolleg:innen ein Streikkomitee gegründet, gewählt aus den verschiedenen Abteilungen, mit Hilfe dessen sie ihren Kampf diskutiert, entschieden und kontrolliert haben.

d) Es braucht auch Diskussionen, Beiträge und Flyer, die auch die Frage der Finanzierung der öffentlichen Haushalte aufgreifen. Und es braucht Forderungen wie die massive progressive Besteuerung der großen Unternehmen und Dax-Konzerne, die auch während der Pandemie und Energiekrise hohe Profite eingestrichen haben, sowie die Wiedereinführung der Vermögens- und Einführung einer Übergewinnsteuer. Ein Verweis darauf – wie in der ver.di-Tarifbroschüre –, dass die finanzielle Situation der Kommunen gar nicht so schlecht sei, reicht nicht. Wichtig ist vielmehr, die Offenlegung der öffentlichen Finanzen und aller Verträge zur Auslagerung öffentlicher Dienste zu fordern. Vor allem aber muss die Frage ins Zentrum gestellt werden, welche Klasse – Kapital oder Lohnabhängige – für öffentliche Versorgung mittels Steuern aufkommen muss.

e) Last, but not least muss in den verschiedenen Dienststellen und Einrichtungen auch jetzt schon die Diskussion begonnen und den Kolleg:innen eine ernsthafte Perspektive geboten werden, wie dem Personalmangel entgegengesteuert werden kann. Er ist in den Krankenhäusern ebenso bekannt wie eklatant, aber auch im Erzieher:innen- und im Bildungsbereich hat die Pandemie mehr als deutlich gemacht, dass Personal fehlt. Ein Element ist sicherlich eine bessere Bezahlung, um mehr Kolleg:innen für diese Bereiche zu gewinnen. Wichtig ist aber, den Kampf um mehr Personal nicht nur auf einzelne Krankenhäuser oder Einrichtungen zu beschränken, sondern ihn gemeinsam und bundesweit zu führen mit einer Kampagne gegen Privatisierung und für eine Finanzierung der Krankenhäuser und aller Bereiche der öffentlichen Daseinsvorsorge entsprechend dem realen Bedarf. Hier spielt auch die Frage der kollektiven Arbeitszeitverkürzung für alle bei vollem Lohn- und vor allem Personalausgleich eine große Rolle.

In dieser Tarifrunde ist es vor allem wichtig, in betrieblichen wie örtlichen gewerkschaftlichen Gliederungen Beschlüsse, Anträge zu formulieren, dass es darum geht, die Forderungen – vor allem das Festgeld von 500 Euro bezogen auf eine Laufzeit von 12 Monaten – auch wirklich durchzusetzen. Dafür muss die Urabstimmung für unbefristete Streiks nach den ersten Warnstreiks eingeleitet werden. Darüber hinaus geht es darum, dass die Tarif- und Verhandlungskommission nicht nur die „Stimmung der Beschäftigten in den Verwaltungen und Betrieben“ (wie es in der ver.di-Tarifbroschüre heißt) in Bezug auf den Abschluss einholt, sondern die Kolleg:innen in Streikversammlungen über das Ergebnis informiert werden, darüber diskutiert und entschieden wird – wie in der NRW Krankenhausbewegung geschehen. Etwaige Verhandlungen müssen öffentlich und offen geführt werden, nicht im Hinterzimmergesprächen sog. „Tarifexpert:innen“. Kein Abschluss ohne vorherige Abstimmung unter den Mitgliedern! Schnellstmögliche Einleitung der Urabstimmung statt monatelanger Verhandlungsrituale!

Dafür ist es notwendig, dass sich die Kolleg:innen über die Betriebe und Orte hinweg koordinieren und Absprachen treffen, wie am besten die Absicht der ver.di-Führung, auch diese Tarifrunde auf das übliche Ritual zu beschränken, durchbrochen werden kann. Ein Zusammenschluss von aktiven Kolleg:innen, die sich nicht mit den faulen Kompromissen abfinden, sondern einen ernsthaften Kampf gegen Inflation und Personalmangel führen wollen, ist mehr als notwendig. Die Vernetzung für kämpferische Gewerkschaften bietet dafür einen Rahmen – und zugleich muss sie die Tarifrunde nutzen, um VKG-Gruppen vor Ort und in Betrieben aufzubauen.