Krise, Kapitalismus und Herrschaft der Mullahs

Martin Suchanek, Neue Internationale 269, November 2022

Die Tiefe der aktuellen Bewegung im Iran wird erst richtig verständlich, wenn wir die sozialen und ökonomischen Entwicklungen der letzten Jahre und die Verbindung des Regimes zum Kapitalismus betrachten.

Stagnation

Seit Jahren befinden sich die iranische Wirtschaft und Gesellschaft in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise. Die Entwicklung des BIP (Bruttoinlandsprodukts) gleicht dabei einer Fieberkurve. Auf den Einbruch 2012 (-3,75 %) und 2013 (-1,53 %) folgte 2014 ein Plus von 4,99 %. Im Folgejahr 2015 schrumpfte das BIP jedoch wieder (-1,43 %). 2016 schoss es um 8,82 % in die Höhe, doch schon 2017 ging das Wachstum wieder auf 2,76 % zurück. Es folgten 2018 (-1,84 %) und 2019 (- 3,07 %) Jahre der Rezession. 2020 und 2021 wuchs das BIP zwar wieder (+3,3 % und +4,72 %).

Diese Zickzackkurve verdeutlicht schon, wie fragil die kapitalistische Entwicklung im Land geworden ist, bildet sich doch seit Jahren kein „normaler“, über mehrere Jahre gehender Konjunkturzyklus heraus. Faktisch stagniert die Ökonomie des Landes seit etwa einem Jahrzehnt, insbesondere wenn wir das BIP ins Verhältnis zur Bevölkerung setzen, die von 76,04 Millionen Menschen im Jahr 2012 auf 84,98 Millionen im Jahr 2021 zunahm.

Soziale Lage

Besonders dramatisch gestaltet sich zudem die Lage der Lohnabhängigen. Seit 2012 sank das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen von rund 8.000 US-Dollar auf etwas über 2.000 (2020). Die Hauptgründe für den realen Verlust an Kaufkraft und damit verbundene Entwertung der Einkommen und Vermögen der Massen liegen in der dauerhaft hohen Inflationsrate (10 – 20 % pro Jahr), dem Kursverfall der Währung sowie der hohen Arbeitslosigkeit, prekärer und Unterbeschäftigung. Die Arbeitslosenrate beträgt heute offiziell 11,13 %, wobei sie für Frauen, Jugendliche, Menschen mit Hochschulabschluss und nationale Minderheiten etwa doppelt so hoch liegt wie im Durchschnitt.

Doch auch für die beschäftigten Arbeiter:innen waren die letzten zehn Jahre ein soziales Desaster. Lt. Massarrat sank der reale Mindestlohn von 400 US-Dollar/Monat im Jahr 2010 auf 100 – 130 im Jahr 2018 – und das trotz vieler, erbittert geführter Arbeitskämpfe, die teilweise auch zu kurzfristigen Lohnerhöhen führten. Allein, die Inflation frisst diese rasch wieder auf, sie lag 2021 bei über 40 % und zur Zeit bei über 30 %. Unter der Pandemie verschlechterte sich darüber hinaus die allgemeine Lage. Heute lebt rund die Hälfe der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.

All dies erklärt aber auch, warum die Bewegung so rasch und massiv an den Universitäten und in den Betrieben Fuß fassen, sich ausweiten und verankern konnte.

Jugend und Frauen

Heute gibt es im Iran rund 4,5 Millionen Studierende, also rund 50 % mehr als in Deutschland (3 Millionen), eine für ein halbkoloniales Land beachtliche Zahl und Quote. Fast jede zweite Studierende ist eine Frau. Dies spiegelt den Versuch des Mullahregimes wider, nach der Machtergreifung eine staatskapitalistische Industrialisierung voranzutreiben, was sich auch in der Erhöhung der Alphabetisierungsquote (80 % gegenüber 20 % unter dem „modernen“ Schahregime) wie auch im Zwang, vermehrt Frauen als Lohnarbeiterinnen zu beschäftigen oder professionell zu qualifizieren, ausdrückt.

Somit entstand im Iran einerseits eine sehr qualifizierte Schicht von Frauen, die zugleich weiter politisch und kulturell entrechtet blieb. Das Scheitern der Illusionen in den Reformflügel des Islamismus führte außerdem dazu, dass sich die Hoffnung auf eine allmähliche Öffnung und Liberalisierung des Regimes erschöpfte.

Heute stellen die Universitäten einen Fokus der Bewegung dar – und wir können angesichts der sozialen Lage der Studierenden und besondere Studentinnen erkennen, warum junge Frauen und Jugendliche eine so wichtige Rolle in der Mobilisierung einnehmen, an vorderster Front kämpfen. Über Jahre versprach das Regime den Frauen und der Jugend im Gegenzug für soziale Unterdrückung und kulturelle Tristesse Jobs, Einkommen und sogar einen gewissen Aufstieg. All das entpuppt sich nach anfänglichen Industrialisierungs- und ökonomischen Erfolgen in den 1980er und 1990er Jahren mehr und mehr als Fiktion. Die neoliberalen Reformen und Privatisierungen des letzten Jahrzehnts, vor allem seit dem Einbruch 2012/13 verschlechterten die Lage weiter. Für die Frauen und die Jugend sieht die Zukunft düster aus.

Die Arbeiter:innenklasse bildet mittlerweile die zahlreichste Klasse der iranischen Gesellschaft, zumal wenn wir die sub- und halbproletarischen Schichten und jene Teile der Intelligenz, die einem Proletarisierungsprozess unterzogen sind, einbeziehen.

Für die Lohnabhängigen repräsentierte die Diktatur der Mullahs immer eine brutale Herrschaft der Ausbeuter:innen – zu offensichtlich und eng sind iranischer Kapitalismus und islamistisches Regime miteinander verbunden.

Staat und Bourgeoisie

Nach der konterrevolutionären Machtübernahme und Niederlage der iranischen Revolution 1979 setzte das Regime auf eine staatskapitalistische Industrialisierung, finanziert durch das Ölgeschäft und ein Bündnis mit der Handelsbourgeoisie, vor allem den sog. „Bazaris“ (einer traditionell religiös-konservativ eingestellten Schicht von Großhändler:innen, die am Bazar von Teheran ihren Geschäftssitz hat und sich unter dem Schah benachteiligt fühlte).

Bewerkstelligt werden sollte diese durch Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas sowie durch westliche Investitionen. Diese Politik zeitigte auch einige begrenzte Erfolge, was sich auch im Wachstum der Arbeiter:innenklasse ausdrückte.

Die Öleinnahmen wurden unter den Mullahs ebenso wie unter dem Schah zum größten Teil jedoch nicht in die Entwicklung einer umfassenden, nationalen Wirtschaft und Industrie investiert, sondern der größere Teil floss entweder in die Taschen einer Bürokratenkaste und der eng mit dem Regime verbunden religiösen und repressiven Institutionen. Dabei entstand auch eine neue Schicht von Unternehmer:innen, indem beispielsweise Offizier:innen, hohe Beamt:innen, führende Kommandeur:innen der Milizen und andere Funktionsträger:innen bei Privatisierungen begünstigt wurden, deren Geschäftsmodell im Wesentlich aus staatlichen Aufträgen bestand, also aus einer Umverteilung der Öleinnahmen. Dies war für sie zugleich profitabler und sicherer als industrielle Neuinvestitionen.

Das traf erst recht für die schon etablierten kapitalistischen Großhändler:innen zu, von denen selbst viele historisch aus dem Großgrundbesitz auf dem Land hervorgegangen waren. Das Geschäftsmodell der großen Handelskapitale bestand einerseits im Import von Waren für jene Schichten, die aus den Öleinnahmen alimentiert wurden (und damit eben heimische Produkte ersetzen) sowie in Anlagen von Immobilien und auf Finanzmärkten. Der Grund dafür ist kein Geheimnis. Diese Sphären versprachen einfach raschere und höhere Gewinne als der industrielle Sektor. Die Öleinnahmen des iranischen Staates fungierten als Garantinnen für diese Geschäfte.

Dieses Problem, dass die Einnahmen aus dem Rohstoffreichtum nicht organisch in den Aufbau der heimischen Wirtschaft fließen, ist natürlich kein speziell iranisches. Es ist vielmehr typisch für halbkoloniale Länder, deren Einnahmen wesentlich aus dem Verkauf von Rohstoffen oder Einnahmen in Form der Grundrente stammen. Länder wie der Iran sind trotz Sanktionen und diplomatischer Isolierung natürlich weiter vom Weltmarkt abhängig. Das zeigt sich auch darin, dass die iranische Wirtschaft seit 2012/13 auch wegen des gesunkenen Rohstoffpreises für Öl und Gas in weitere Schwierigkeiten geriet. Darüber hinaus führten die von den USA forcierten und auch bei ihren westlichen Verbündeten durchgesetzten Sanktionen zu einem Rückgang an Investitionen ausländischen Kapitals, das auch durch andere Staaten wie China nicht aufgewogen werden konnte.

Weltmarkt und nationales Kapital

Die Abhängigkeit vom Weltmarkt geht aber auch mit einer bestimmten Ausrichtung des nationalen Kapitals einher. Nicht nur das wichtigste Wirtschaftsgut ist auf den Weltmarkt ausgerichtet, auch die Investitionsrichtung der bedeutendsten Kapitalgruppen wird davon bestimmt. Dass das „nationale“ Kapital im Iran seine Gelder lieber in spekulative Geschäfte und in Im- und Export von Waren anlegt, folgt der simplen Logik jedes Einzelkapitals – dort zu investieren, wo die größte Rendite bei geringstem Risiko zu erwarten ist.

Dies erklärt auch, warum die iranische Bourgeoisie wieder willens noch fähig ist, das Land selbst zu entwickeln, sondern wesentlich parasitäre Züge annimmt. Erst recht trifft dies auf die aus dem Regime hervorgegangenen, „neuen“ Unternehmer:innen zu. Hinzu kommt, dass das islamistische Regime auch noch eine ganze Heerschar von Repressionskräften, Militär, paramilitärische Einheiten wie die Pasdaran, Staatsbeamt:innen, religiöse Würdenträger – allesamt ökonomisch unproduktive Gesellschaftsschichten – alimentieren muss.

Anders als in den Petromonarchien am Golf ist die iranische Bevölkerung jedoch viel zu groß, um in ihrer Gesamtheit aus den Öleinnahmen alimentiert werden zu können. Da die Privatbourgeoisie ihr Kapital lieber in Handel und Finanzen statt in der Industrie anlegte, versuchten der Schah wie auch das islamistische Regime, über einige Zeit eine staatskapitalistische Industrialisierung zu forcieren. Doch diese scheiterte nicht nur an der Abhängigkeit vom Weltmarkt (Öl- und Rohstoffpreise), sondern auch daran, dass zuerst die Handels- und Finanzbourgeoisie und eigenen zahlreichen Günstlinge bedient werden mussten.

Der „Rest“ war zu gering und unsicher, um eine ökonomische Modernisierung zu leisten. So blieb vieles Stückwerk, auf halbem Weg stecken. Die neoliberale Wende des Regimes nach 2010 und die Sanktionen des Westens verschärften das Problem. Die Industrie und angelagerte Wirtschaftsteile litten an fehlenden Ersatzteilen, überalterten Maschinen, fehlenden Märkten, mangelnder Auslastung und ganz besonders an Kapital für Neu- oder Ersatzinvestitionen.

Die Arbeiter:innenklasse muss den niedergehenden Betrieb irgendwie am Laufen halten und erlebt zugleich täglich, dass sich der islamistische Kapitalismus nicht nur im Niedergang befindet, sondern auch die Lohnabhängigen mit in den Abgrund zu reißen droht.

Für die beschäftigten Arbeiter:innen verschlechtern sich die Arbeitsbedingungen, Unfälle werden zur Regel. Viele verdienen aufgrund von Inflation und Produktionsausfällen immer weniger, andere warten monatelang auf ihre Löhne.

Es ist kein Wunder, dass sich die Lohnabhängigen v. a. außerhalb strategischer staatlicher Betriebe, wo noch höhere Löhne bezahlt werden, in den letzten Jahren immer mehr vom Regime entfremdeten. Vor allem aber 2019 bildeten sie die zentrale soziale Kraft in der Massenbewegung gegen das Regime, erhoben sie ökonomische Forderungen in Verbindung mit solchen nach dem Sturz der Mullahherrschaft.

Unter der Diktatur des Schahs und jener der Islamist:innen erwies sich die iranische Bourgeoisie als unfähig und unwillig, das Land zu entwickeln. Dazu wird sie auch in Zukunft nicht in der Lage sein, als fortschrittliche Kraft hat sie längst ausgespielt. Umso dringenden ist es, dass die Jugend, kämpfenden Frauen, unterdrückten Nationalitäten, vor allem aber die Arbeiter:innenklasse selbst erkennen, dass die kommende iranische Revolution nur dann die Probleme des Landes lösen kann, wenn sie zu einer sozialistischen wird.