Schreckgespenst Lohn-Preis-Spirale

Jürgen Roth, Neue Internationale 269, November 2022

Die diesjährigen Tarifverhandlungen gehen mit deutlich höheren Lohnforderungen als in den letzten 2 Jahrzehnten einher. Im krassen Gegensatz dazu tönen die Unternehmer:innen, es gebe wegen der massiven Energiepreissteigerungen nichts zu verteilen und überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten könnten Betriebe auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation (hohe Inflationsrate bei gleichzeitig geringem Wachstum) führe.

Ihr Argument läuft darauf hinaus, Lohnanstiege seien Ursache wie Motor der Inflation. Bevor wir darauf eingehen, eine kurze Skizze zum aktuellen Ausmaß der Preissteigerungen.

Fakten

In der BRD haben die Verbraucherpreise von Oktober 2021 bis Oktober 2022 von 4,5 % auf 10,4 % zugelegt. Auch weltweit stieg die Inflationsrate von durchschnittlich 3,18 % 2020 und 4,35 % 2021 auf aktuell 7,4 %. In 10 Ländern kann man von einer Hyperinflation sprechen: zwischen 35,6 % (Iran) und 260 % (Sudan). Die Plätze 11 bis 20 belegen Länder mit hoch inflationärer Entwicklung zwischen 16,82 % (Nigeria) und 28,7 % (Sri Lanka). In Europa liegen die Türkei (69,97 %) und zahlreiche osteuropäische und Balkanländer vorn. Die EU weist im Mittel 8,1 % auf, die Eurozone und Deutschland 7,4 %. Für die BRD stammen die Zahlen vom April diesen Jahres. Das bedeutet, der Preisanstieg hat sich seitdem um mehr als 40 % beschleunigt!

Zeitrahmen und Statistik

Schon ein Blick auf die Statistik widerlegt die vulgärökonomische Theorie von der Lohn-Preis-Spirale. Die Inflation in Deutschland betrug im Januar 2021 2,2 %, im September bereits über 4 %. Die allermeisten Tarifrunden zuvor hatten sich mit Abschlüssen knapp unter 2 % zufriedengegeben und beinhalteten somit nichts weiter als Reallohnverluste.

Zudem untertreibt die amtliche Statistik die Preissteigerung für die Lohnabhängigen. Im Warenkorb einer Arbeiter:innenfamilie sind nämlich die Preistreiber überrepräsentiert, also Mieten, Energie, Lebensmittel.

Lohnverzicht und Zurückhaltung haben die Preissteigerungen offenkundig nicht verhindert, wohl aber die Einkommen und Vermögen der Beschäftigten entwertet. Die Thesen, dass Preissteigerungen durch Lohnerhöhungen verursacht würden, ist statistisch falsch, politisch aber für die Herrschenden sehr zweckmäßig, soll sie doch die Arbeiter:innen davon abhalten, für einen vollen Inflationsausgleich zu kämpfen.

Lohn und Warenwert

Der Lohn-Preis-Spirale zufolge müssten eigentlich die Preise der Waren mit der Erhöhung der Löhne steigen. Würde diese Theorie stimmen, wäre allerdings auch erklärungsbedürftig, warum eine Lohnsenkung keineswegs zu fallenden Preisen führt, wie nicht nur die Entwicklung am Wohnungsmarkt seit Jahrzehnten verdeutlicht.

Die Vertreter:innen der Lohn-Preis-Spirale gehen im Grunde davon aus, dass die Preise einer Ware aus den sog. Produktionsfaktoren Kapitalkosten, Löhnen und Gewinnen entstehen würden. Hohe Löhne würden damit automatisch zu höheren Preisen führen, da die Unternehmen ansonsten ja auf ihren Gewinn verzichten müssten. Diese Vorstellung ist jedoch vollkommen oberflächlich, weil sie die Frage ausblendet, wodurch die Preise letztlich bestimmt werden.

Sie verkennt, dass der Wert jeder Ware durch den Wert der Produktionsmittel (Maschinen, Rohstoffe, Gebäude, Energie) und dem Wert gebildet wird, den die Lohnarbeiter:innen diesen im Produktionsprozess zusetzen. Letzterer zerfällt in einen Teil (variables Kapital), den die Arbeiter:innen in Form des Arbeitslohn erhalten, um ihre Reproduktionskosten zu bestreiten, und in einen anderen Teil, den Mehrwert, den sich die Kapitalist:innen aneignen.

Der Wert der Ware ändert sich keineswegs, wenn der Lohn steigt oder fällt. Sinkt er, so erhöht sich der Mehrwert – und damit die Profitmasse – und umgekehrt. Das stört die herrschende Klasse an allen Lohnsteigerungen und die Lohn-Preis-Spirale dient dazu, diesen Zusammenhang zu verschleiern.

Wert und Kapitalstock

In den Wert jeder Ware gehen Lohnkosten und Mehrwert nur anteilig ein. Aufgrund des technischen Fortschritts bildet die menschliche Arbeit jedoch einen immer geringeren Anteil am Gesamtwert des Produktes. Im Kapitalismus nimmt der Wertanteil von konstantem Kapital (Maschinen, Gebäude, Rohstoffe) stetig zu, was sich in einer steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals ausdrückt.

Nebenbei bemerkt ist dies auch die Hauptursache dafür, dass die Zunahme des Mehrwerts (Profit, Gewinn) nicht mehr Schritt halten kann mit der Wertzunahme des konstanten Kapitals. Anders ausgedrückt: Je mehr sich der Kapitalstock aufbläht, desto mehr sinkt die Rate des Profits (Mehrwert geteilt durch Wert des Kapitalvorschusses). Dieser umfasst sowohl Kapitalstock wie Löhne. Oder: Je reicher die Kapitaleigentümer:innen werden, desto größer geraten ihre Verwertungsschwierigkeiten.

Für die aktuelle Inflation heißt das: Nicht nur sind die Löhne in der jüngsten Vergangenheit hinter der Teuerungsrate zurückgeblieben. Der auf sie zurückzuführende Anteil am Gesamtprodukt ist viel niedriger geworden! Ganz deutlich gilt das für den Sektor der fossilen Energieerzeugung, wo die organische Zusammensetzung des Kapitals überdurchschnittlich hoch ist und zudem über den zurzeit teuersten Energielieferanten (Erdgas) auch noch der Strompreis bestimmt wird (Merit-Order-Prinzip der Preisgestaltung an der Strombörse).

Geldmenge und Inflation

Inflation bedeutet deutlich mehr als Preissteigerung, nämlich eine Ausweitung der Geldmenge insgesamt. Diese wird letztlich von der Zentralbank gesteuert. Hier kommen wir zu des Pudels Kern. Dies rührt letztlich von der Großen Rezession 2008/2007 her, wo Zentralbanken und IWF dadurch eine Kernschmelze des Finanzkapitals verhindert haben. Eine Ausweitung des Kreditgeldes geht aber nur solange gut, wie der Konjunkturmotor wieder anspringt und die Profitabilität zur Zufriedenheit des Großkapitals verläuft.

Bricht letztere ein, deckt die laufende Produktion nicht mehr die Schuldentilgung. Unter Bedingungen wie dem Ausfall von Lieferketten während und nach der Coronapandemie sowie geringen Neuinvestitionen in der Industrie kam es zu einem Angebotsschock, weil der Produktionsausstoß die als Nachfrage auftretende aufgeblähte Geldmenge nicht mehr decken konnte. Resultat: Geldentwertung, sprich: Inflation.

Schon in den 1970er, 1980er Jahren und 1993 resultierte die Geldpolitik mit dem Ziel einer Vermeidung des Ausbruchs von Konjunkturkrisen in solchen. Die Inflation markierte also jeweils den Vorboten der kommenden Krise. Viele bürgerliche Volkswirtschaftler:innen trösten sich damit, dass die nächste Rezession ebenso mit dem Gespenst der Inflation aufräumen wird. Doch ist dies trügerisch, weil die Weltwirtschaft vor massiveren Problemen als damals steht. Ein Zeichen dafür ist die zunehmend militärisch ausgetragene Weltmarktkonkurrenz.

Vorübergehender Schock?

Hintergrund deren bildet die ins Ungeheuerliche gestiegene Verschuldung selbst großer Unternehmen, der Staaten und Privathaushalte. Mit Ausnahme der noch florierenden Hightechkonzerne wie Apple, Netflix, Facebook, Google & Co. geht es zunehmend Firmen so dreckig, dass sie aus ihren Profiten kaum noch die Kredite bedienen können (Zombiefirmen).

Viele werden jetzt einwenden: Denen kommt dann doch die Inflation gerade recht, denn sie entwertet ihre Schulden. Dies ist nur bedingt richtig, denn sie verteuert auch aktuelle Kredite aufgrund der Leitzinserhöhungen und damit die Insolvenzgefahr. Die Zentralbanken gehen nämlich zur Zeit zu einer Politik des Quantitative Tightening (QT) über, dem Gegensatz zum vorherigen mehr als 10 Jahre anhaltenden Quantitative Easening (QE). Außerdem sind die größten Kreditgeber:innen auch die heftigsten Profiteur:innen. Konkurrenzfähiges Industrie- wie Finanzkapital fürchtet die Inflation, weil sie ihre Guthaben entwertet und den Transfer von fiktivem Aktienkapital in reale Vermögen behindert.

Das Problem lässt sich also weit bis ins 21. Jahrhundert hinein nur auf viel größerer Stufenleiter lösen. Eine „normale“ Rezession wird nicht reichen, um den überakkumulierten und -bewerteten Kapitalstock der Schwächeren (Zombies) zu vernichten und wieder profitablere eigene Anlagebedingungen zu schaffen (Lösung der fast 50-jährigen Überakkumulationskrise). Und dies kann zunehmend nur auf höherer Ebene der Konkurrenz als der zwischen den Einzelkapitalen gelingen. Die innerstaatliche und Weltmarktkonkurrenz muss zu einer zwischen den Großmächten mutieren.

Vertrauen auf die eigene Kraft statt Illusionen in Hilfsprogramme, Medien und Geldpolitik

Alarmmeldungen zur Teuerung sind also durchaus angesagt. Wenn das Handelsblatt mahnt, Europa müsse sich auf einen anhaltenden Preisanstieg vorbereiten und BILD titelt: „Inflation frisst unsere Löhne auf!“, geht es jedoch nicht um die Interessen der Arbeiter:innen. Vielmehr dreht es sich darum, wie die Zentralbanken auf die seit Jahrzehnten anhaltende Krise des Kapitalismus reagieren sollen. Schon während der Politik des billigen Geldes (QE) und des Aufkaufs fauler Kreditschuldenpapiere ermahnte die EZB ständig Regierungen und Gewerkschaften, sich mit Sozialausgaben und Lohnforderungen zurückzuhalten, um die Konkurrenzfähigkeit „ihrer“ Konzerne auf dem Weltmarkt zu verbessern. Je erfolgreicher diese, desto mehr „freie“ Marktwirtschaft, umso weniger staatliche Eingriffe durch die Notenbanken.

Konservative greifen diesen Gedanken auf. Ihnen kommt die Inflation gelegen, um so große Zugeständnisse von der Arbeiter:innenklasse zu verlangen, damit die EZB ihre Kreditprogramme kürzen kann, um sie nicht aus dem Ruder geraten zu lassen.

Wirtschaftswissenschaftler:innen aus dem postkeynesianischen Lager, darunter auch der Gewerkschaften und des DIW, spielen dagegen die Inflationsgefahr herunter, um der EZB keine Argumente für eine knappere Versorgung der Konzerne mit Geld zu liefern. Beide scheinbar gegensätzlichen Lager eint in Wirklichkeit die grundsätzliche Akzeptanz der kapitalistischen Konkurrenz, nur in Bezug auf Geldpolitik gehen sie auseinander: restriktiv oder expansiv? Wie oben dargestellt, handelt es sich dabei aber um die Wahl zwischen Pest und Cholera.

Teils erkennen auch Postkeynesianer:innen an, dass es sich bei der Lohn-Preis-Spirale um einen Mythos handelt, aber nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil aktuell schwächer werdende Gewerkschaften ohnedies „den Bogen nicht überspannen“ können (DIW Berlin). Das DIW versteigt sich zum Lob auf die Sozialpartner:innenschaft, die in der BRD dazu geführt habe, dass hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg einander bedingten und zu niedrige mangels Endnachfrage die Konjunktur schwächten.

Diese Nachfragetheoretiker:innen dürften schwer erklären können, warum die Unternehmer:innen in der aktuellen Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie eine Null fordern. Dabei liegt das in der Logik der Sache, fallende Profitraten durch Senkung des Arbeitslohns zu kompensieren. Das DIW sieht darüber hinaus kein Problem darin, die immens gestiegene Staatsschuld noch weiter auszuweiten, als gebe es keinen Zahltag dafür. Das sieht das Finanzkapital ganz anders. Viele bürgerliche Kommentator:innen sehen in der „neuen“ Politik des QT bereits eine Ablösung der Zentralbanken durch die privaten Finanzmärkte. Aber sie sehen nicht, dass der Meister den Zauberlehrling ablöst!

In jedem Fall ist die Arbeiter:innenklasse gut beraten, sich nicht auf das Märchen von der Lohn-Preis-Spiral einzulassen. Stattdessen muss der Kampf um die Durchsetzung der aktuellen Tarifforderungen mit dem für eine gleitende Lohnskala verbunden werden.