Britannien: die Trauer und der Mythos

Peter Main, Infomail 1198, 14. September 2022

Stundenlange unterwürfige Kommentare, ständige Informationen über die Fortbewegung des Sarges in Richtung London, eine ununterbrochene Prozession von ehemaligen und Möchtegern-Prominent:innen, die ihre eigene Wichtigkeit durch die Erinnerung an vergangene königliche Begegnungen steigern – es gibt keine Möglichkeit, die penetrante Nachrichtenflug vom Ableben von Elizabeth II. zu vermeiden.

Noch wichtiger ist, dass die Aussetzung der Streiks durch die Eisenbahn-, See- und Transportgewerkschaft RMT und die Kommunikationsarbeiter:innengewerkschaft CWU, die allgemein als die kämpferischsten der Gewerkschaften gelten, und – weniger überraschend – die Vertagung des Gewerkschaftskongresses den anhaltenden Einfluss der britischen Monarchie unterstreichen.

Das ständige Trommelfeuer royaler Propaganda führt dazu, dass es notwendig erscheint, das normale Leben, selbst den Kampf um ein angemessenes Einkommen, aus „Respekt“ vor der toten Monarchin auszusetzen. Dasselbe gilt für die Menschenmassen, die Blumen niederlegen, um ihren zweifellos aufrichtigen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, dass sie jemanden verloren haben, die ihnen wichtig war oder sogar nahestand. All dies ist das Ergebnis eines sorgfältig aufgebauten und gepflegten Mythos: dass die Monarchin unter mit ihr die Monarchie über der Politik und über den Klassen stehen und das gemeinsame Interesse aller vertreten würde.

Monarchie, Kapital, Staat

In Wirklichkeit ist die königliche Familie eine äußerst wohlhabende Vertreterin des Landadels. Ihr feudales Erbe an Grund und Boden verwandelte sie in Kapital und damit verband sie auch auf diese Ebene ein gemeinsames Interesse mit der aufstrebenden kapitalistischen Klasse des 17. und 18. Jahrhunderts.

Das Herzstück des königlichen Reichtums bildet der Liegenschaftsbesitz der Krone, dessen Wert auf 15,6 Milliarden Pfund geschätzt wird und der nicht nur aus Land und Immobilien, sondern auch aus 12 Meilen Meeresboden entlang der gesamten Küste besteht – ein netter kleiner Verdienst mit all den Windparks, die Miete zahlen. Dieses Portfolio wird von einem „Haushalt“, d. h. 400 Mitarbeiter:innen, verwaltet. Nach Abzug aller Kosten übergibt die Domäne einen „Überschuss“ an die Staatskasse, die dann 25 Prozent dieser Summe als „Zuweisung für den/die Herrscher“ an den/die Monarch:in auszahlt.

Das ist jedoch bei weitem nicht alles. Die Königin hat auch das Herzogtum Lancaster geerbt, über 18.000 Hektar Land und Immobilien mit einem Nettowert von 653 Millionen Pfund. Die Gewinne aus diesem Besitz, 24 Millionen Pfund im letzten Jahr, gehen direkt, d. h. unversteuert, auf das Konto des Königshauses. Das hat nun der neue König geerbt – ohne Erbschaftssteuer zu zahlen. Für alle anderen hätte diese 40 Prozent von allem betragen, was über 325.000 Pfund liegt.

Auf der anderen Seite musste Charles das Herzogtum Cornwall an seinen Sohn, den neuen Prinzen von Wales, weitergeben. Das Herzogtum besteht aus 130.000 Morgen Land mit 260 Bauernhöfen und einem Vermögen von 92 Millionen Pfund an Finanzanlagen. Insgesamt ist es 1,05 Milliarden Pfund wert und hat im letzten Jahr einen Gewinn von 23 Millionen Pfund erzielt. Das Herzogtum ist nicht erbschafts-, körperschafts- oder kapitalertragsteuerpflichtig.

Die Vorstellung, dass jemand, der/die über solche Besitztümer verfügt, „über der Politik“ steht oder „die Nation“ repräsentiert, ist natürlich vollkommen lächerlich. Nichtsdestotrotz bildet dieser riesige Reichtum die materielle Grundlage für die angebliche „Neutralität“, die „politische Unparteilichkeit“ der britischen Krone. Das Staatsoberhaupt, so wird uns von Kindesbeinen an erzählt, dürfe die jeweilige Regierung nur „beraten und beeinflussen“. Da sich die aktuelle Regierung jedoch der Verteidigung der Interessen des Großkapitals verschrieben hat, warum sollte eines der größten aller Kapitale mehr als das brauchen?

Der/die Regent/in hat außerdem gegenüber jeder Regierung den Vorteil, dass alle offiziellen Papiere und Berichte durch sein/ihr Büro gegangen sind. Im Gegensatz zu Regierungen, die keinen Zugang zu den Papieren ihrer Vorgänger:innen haben, kennt der/die Monarch/in oder, was wahrscheinlicher ist, seine/ihre Beamt:innen die Vorgeschichte der politischen Maßnahmen und Vorschläge, ganz zu schweigen von der Macht, jede Person und Behörde von Bedeutung im Vereinigten Königreich zu „beraten und beeinflussen“.

Wir sollten nicht vergessen, dass hinter all dem dummen Gerede und den lächerlichen Kostümen ein sehr effektiver Staatsapparat steckt. Nicht nur die Regierung und der/die „Erste Minister:in des/der König:in“, sondern auch die Streitkräfte und die Justiz sind nicht der „Nation“ oder „dem Volk“ verpflichtet, sondern der Krone. Das ist die „verfassungsmäßige“ Grundlage für die Monarchie, die das parlamentarische System, das trotz seiner eigenen Kontrollmechanismen für eine gewisse Beeinflussung durch das Volk offen ist, auf die lange Bank schiebt. Sollte dies die Interessen der herrschenden Klasse bedrohen, kann diese sich auf die Monarchie verlassen, sich über alle demokratischen Feinheiten hinweg- und ihr eigenes Recht und ihre eigene Ordnung durchzusetzen.

Dem Druck standhalten!

Ob die Gewerkschaftsvorsitzenden Mick Lynch von der RMT und Dave Ward von der CWU wirklich der Meinung waren, dass sie die Aktionen aus Respekt vor dem Verlust der Nation aussetzen sollten, oder ob sie damit rechneten, dass der Medienansturm auf sie und ihre Mitglieder die Zukunft der Lohnkampagne ernsthaft gefährden würde, werden wir wohl nie erfahren. Was wir wissen, ist, dass die Kampagne demobilisiert, die Ideologie der nationalen Einheit gestärkt und der neuen Regierung von Liz Truss ein paar Wochen Zeit gegeben wurde, um ihre wackelige Administration zu stabilisieren.

Eine Lehre, die wir aus all dem ziehen, ist, dass wir Gewerkschaften und eine politische Partei brauchen, die einem solchen Druck standhalten können. Noch wichtiger: Um sicherzustellen, dass der gesamte Reichtum des Landes im Interesse der gesamten Gesellschaft, ja der gesamten Menschheit verwendet wird, da so viel davon aus der ganzen Welt gestohlen wurde, müssen wir den gesamten Apparat der Ungleichheit, der uneingeschränkten Privilegien und der kriecherischen Beamt:innen, die ihn derzeit kontrollieren, loswerden.