Ampel-Koalition und das 9-Euro-Ticket: Verkehrswende geht anders!

Leo Drais, Neue Internationale 267, September 2022

„Ich lade alle ein, das mit einem Lächeln zu machen, Freude daran zu empfinden.“ Volker Wissing, Bundesverkehrsminister (FDP) bewirbt Ende Mai 2022 das 9-Euro-Ticket. Die Freude sollte natürlich nur von kurzer Dauer sein. Mit dem 1. September wird eine der wenigen Erleichterungen, die die Ampelkoalition einführte, auch wieder kassiert.

Und der Sommer offenbarte auch die Probleme. Aktivist:innen gegen den G7-Gipfel treffen im Juni nach elfeinhalbstündiger 9-Euro-Ticket-Fahrt mit dem Regio im bayrischen Oberau ein und steigen in den Schienenersatzverkehr um. Die letzten Kilometer bis Garmisch-Partenkirchen sind seit dem 3. Juni gesperrt. RE-D 59458 entgleiste, fünf Menschen starben, Ursache: horizontale Brüche in den Betonschwellen, Herstellerfehler, das Gleis trug den Zug nicht mehr.

Und irgendwie drängt sich der Unfall als Sinnbild für den deutschen Nahverkehr auf, den das 9-Euro-Ticket häufig über die Belastungsgrenze trieb, wie ein Gleis, das aufgibt. Oder der einfach nicht vorhanden ist, auch wie ein Gleis, das aufgibt.

Millionenfach verkauft

Während die Deutsche Bahn den Sommer damit verbrachte, 200.000 Schwellen im gesamten Netz auf Risse zu überprüfen, und noch Monate für ihren Austausch benötigen wird, wurde das 9-Euro-Ticket im Schnitt sehr gut angenommen. 38 Millionen Mal wurde es im Juni und Juli verkauft.

Es zeigt: Das Bedürfnis nach einem günstigen Nahverkehr ist da.

Neben seinem Preis bestach das Ticket zudem durch seine Einfachheit: ein Fahrschein, deutschlandweit gültig, anstatt sich durch den Tarifdschungel tausender Verkehrsverbände wühlen zu müssen.

Bei einer tiefer gehenden Betrachtung muss der Erfolg des Tickets jedoch auch ein wenig relativiert werden. So war es anlassbezogen für die meisten Menschen eher eine Möglichkeit für Tagesausflüge und Freizeitfahrten. In der täglichen Massenbewegung des Berufsverkehrs sind weniger Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umgestiegen.

Zweitens sagen die Verkaufszahlen nur bedingt etwas über die Nutzung aus. Schon für eine einfache Fahrt mit dem Regio vom Frankfurter Flughafen nach Kassel lohnte sich das Ticket, selbst wenn es danach für den Rest des Monats ungenutzt im Geldbeutel zwischen Kassenzetteln und Tankquittungen unterging. Das spricht einerseits zwar für es als kostengünstiges Angebot, relativiert aber den langfristigen Umsteigeeffekt vom privaten zum öffentlichen Verkehr.

Drittens ist das Ticket selbst natürlich günstig gewesen, aber das heißt nicht, dass wir wirklich so wenig fürs Fahren mit dem ÖPNV bezahlt haben. Es war Teil des „Energieentlastungspakets“ der Ampelregierung, was auch den Wegfall der Spritsteuer beinhaltet hat. Die Kosten dafür tragen wir – vermittelt über Steuern oder die Inflation und nicht etwa Energie- oder Autokonzerne, indem sie ihre Gewinne für eine Verkehrswende abgeben müssten.

Appetizer für die Verkehrswende?

Deutschland ist ewig weit weg von einer anderen, nachhaltigen, sinnvollen Mobilität.

Für die breite Bevölkerung auf dem Land war das Ticket faktisch nicht nutzbar, einfach, weil es keinen Nahverkehr gibt. Zwei Schulbusse am Tag zählen nicht, erst recht, wenn sie in den Ferien durch Anruftaxen ersetzt werden, die teilweise 24 Stunden vorher bestellt werden müssen.

Dem Regionalexpress an die Ostsee, der wegen Überfüllung von der Bundespolizei in Berlin-Gesundbrunnen eine Stunde lang geräumt wird, steht der verlorene Mensch am Busschild in Sachsen-Anhalt gegenüber, dem in der Mittagseinsamkeit der Wüstenwind durch die Haare streift.

Gewerkschaften wie die EVG hatten schon Wochen vor der Einführung des Tickets vor einer Überlastung der Züge und der Kolleg:innen im ÖPNV gewarnt – nicht ohne einen eigenen Schluss Borniertheit. So haderte GDL-Chef Weselsky damit, dass ein sehr günstiger oder sogar kostenloser Nahverkehr auch bedeute, dass die Transportleistung selbst nichts wert sei. Mit derselben Logik könnte man auch gegen kostenlose Kitas und Schulen argumentieren.

Nun aber zu den berechtigten kritischen Stimmen aus den Gewerkschaften.

Weil das Ticket von Anfang an nur für drei Monate angelegt war, hat natürlich niemand die Absicht gehabt, mehr Personal einzustellen, mehr Züge und Busse zu kaufen, Strecken auszubauen, und dabei blieb es. Lokführer:innen und Zugbegleiter:innen sehnen sich das Ende des Sommers herbei. Und sie misstrauen verständlicherweise auch allen Versprechungen, dass mehr Nutzer:innen zu mehr Personal führen würden.

Es riecht nach verbranntem Stroh, und das ausnahmsweise mal nicht wegen Flächenbränden auf ausgetrockneten Feldern, zwischen denen ein leerer Bus allein von Dorf zu Dorf zieht. Wer auf ihn wartet, hat Hoffnung, heißt es.

Die aber ist bei der Ampelregierung vergebens. Alle ihre Parteien schließen die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets aus. Bei einem Finanz- und einem Autominister von der FDP war das von Anfang an klar. Schließlich verursache eine Verlängerung des Tickets Mehrkosten von 14 Milliarden Euro (wo kam eigentlich nochmal das 100-Milliarden-Paket für die Bundeswehr her?).

Für sie hat das Ticket nur Argumente gegen einen langfristig günstigen, geschweige denn kostenlosen Nahverkehr gebracht.

Die SPD hat sich drei Monate lang ein bisschen sozial verkaufen können, und damit ist‘s auch gut. Oder wie sagte Scholz? „Das 9-Euro-Ticket ist eine der besten Ideen, die wir je hatten.“ Na, wer solche Ansprüche hat …

Und auch die grünen Geschwister der FDP hatten etwas von dem Ticket. Immerhin galt es ihnen ja schon als die gefühlte halbe Verkehrswende. Jetzt aber kommt der Herbst, die Sommerferien sind vorbei. Es geht um den deutschen Imperialismus in der Welt. Da ist halt kein Platz für eine Verkehrswende. Immerhin ist das Rückgrat deutscher Exportstärke immer noch – das Auto!

Die echte Verkehrswende

Verschiedene Nachfolgeangebote werden derzeit ins Spiel gebracht. Die Grünen wollen ein 29/49-Euro-Ticket – einmal regional, einmal bundesweit. Verschiedene Verkehrsverbünde prüfen ihre eigenen Nachfolgeangebote. NRW hat schon eins beschlossen.

Der kurzen deutschen Einigkeit folgt der föderale Flickenteppich eines in der Kleinstaaterei hängen gebliebenen Tarifsystems, wo ja keine Buslinie zu viel über die Grenze des Nachbarlandkreises führen darf.

Führen wir einfach mal alles zusammen: den Kampf gegen Krise und Inflation, den gegen die Klimakatastrophe und den für die Verkehrswende.

Aus diesem Kontext heraus macht nur eine schnellstmögliche Einführung eines kostenlosen Nahverkehrs Sinn, wobei schnellstmöglich am besten sofort wäre.

Es braucht zugleich jedoch ein Ausbauprogramm, um überhaupt einen tragfähigen Nahverkehr für alle bereitzustellen. Beschäftigte und Nutzer:innen sollten dabei auch über einen konkreten Ausbauplan bestimmen: Wo lohnt sich ein Gleisanschluss, wo reicht ein Bus? Wie drängen wir den Autoverkehr zurück und verwandeln die Straße in einen Raum des Lebens und der Begegnung zurück? Und macht es nicht Sinn, langfristig die Stadt-Land-Unterschiede aufzuheben, zum Beispiel in einer Clusteranordnung von Arbeits- und Lebensräumen?

Entscheidend ist: Es braucht eine demokratische Kontrolle und Planung durch Transportarbeiter:innen, Gewerkschaften, Pendler:innen sowie die große Masse der Nutzer:innen in Verkehrsplanungskomitees.

Bleibt die Frage der Finanzierung. Das Defizit im 9-Euro-Ticket bezahlen wir selbst. Das bringt uns zum zweiten entscheidenden Punkt: der Enteignung und Verstaatlichung der Verkehrsindustrie unter demokratischer Kontrolle der Beschäftigten. Anders wird die Macht von VW, Daimler und BMW und ihres speichelleckenden Verkehrsministeriums nicht zu zerstören sein. Es gibt Milliardengewinne im Verkehrs- und Energiemarkt, bei weitem genug, um damit eine Verkehrswende zu verwirklichen. Sie müssen massiv besteuert werden.

Aber, das heilige eigene Auto?

Ja, von diesem gilt es, sich wohl zu trennen. Aber das heißt nicht, einfach Lebensqualität zu verlieren (wobei die im Stau kaum vorhanden sein kann). Denn es geht darum, die Verkehrswende mit einem Programm zu verbinden, das für eine drastische Arbeitszeitverkürzung eintritt. Beschäftigte, die heute Autos bauen, können morgen mit weniger Gesamtarbeitszeit und Materialaufwand dringend benötigte Fahrzeuge für den Personennahverkehr bauen. Beschäftigte, die heute Fahrscheinkontrollen durchführen oder Tickets für den Personennahverkehr verkaufen, könnten morgen einen qualitativ hochwertigen Service an Bahnhöfen bieten. Verbunden mit Neueinstellungen könnte eine effektive Entlastung der Beschäftigten und eine massive Arbeitszeitverkürzung erfolgen.

Wer mehr Zeit zu leben hat, hat auch weniger Sorge, sie im Verkehr zu verlieren. Klar heißt es jetzt wieder: unrealistisch. Falsch! Richtig ist, dass es zwar keine Garantie dafür gibt, dass so ein Programm jemals verwirklicht wird. Realitätstauglich ist es allemal. Wirklich unrealistisch ist, dass die Ampel, eine dem deutschen Kapitalismus verpflichtete Regierung, jemals die Verkehrswende herbeiführt.