Italien: Draghi scheitert, die extreme Rechte im Aufschwung

Dave Stockton, Infomail 1194, 30. Juli 2022

Am 21. Juli trat der italienische Ministerpräsident Mario Draghi zum zweiten Mal innerhalb einer Woche zurück, nachdem wichtige Teile seiner Koalition der nationalen Einheit – die populistische Fünf-Sterne-Bewegung M5S, die rechtsextreme Lega von Matteo Salvini und die Forza Italia von Silvio Berlusconi – es darauf ankommen ließen und ihn auf die Probe gestellt hatten. Präsident Sergio Mattarella löste das Parlament noch am selben Tag auf, und am 25. September sollen Wahlen stattfinden. Die M5S selbst hatte gerade eine große Spaltung erlitten, als Außenminister Luigi Di Maio die Bewegung verließ, um seine eigene Partei mit dem wenig inspirierenden Namen „Gemeinsam für die Zukunft“ zu gründen. Giuseppe Conte, Draghis Vorgänger als Ministerpräsident und Parteivorsitzender, übernimmt die Leitung der Rumpf-M5S.

Super-Mario des Kapitals

Draghi, ehemals geschäftsführender Direktor der US-Großbank Goldman Sachs, Gouverneur der Bank von Italien und dann von 2011 bis 2019 Präsident der Europäischen Zentralbank, wurde als „Super-Mario“ gelobt, weil er „alles getan hat, was nötig war“, um den Euro vor dem Zusammenbruch zu retten. Er verteilte Milliarden an die Kapitalist:innenklasse und holte sie sich dann über sinkende Reallöhne und gekürzte Sozialprogramme von der Arbeiter:innenklasse zurück. Er hob die Zinssätze an, während die Zentralbanken auf beiden Seiten des Atlantiks sie senkten, und löste damit eine schwere Rezession für Arbeiter:innen und Rentner:innen aus.

Unter seiner Leitung hat die EZB die EU-Regierungen wiederholt erpresst, ihren Völkern „brutale Sparmaßnahmen“ aufzuerlegen. Während einige der brutalsten dieser „Pakete“ Griechenland aufgenötigt wurden, waren seine Absichten für sein Heimatland genauso hart. Ein durchgesickerter Brief, den er mitverfasst und an die italienische Regierung geschickt hatte, enthielt die Bedingungen der EZB für die Hilfe.

Dazu gehörten „eine umfassende Überholung der öffentlichen Verwaltung“, „die vollständige Liberalisierung der lokalen öffentlichen Dienste“, „Privatisierungen in großem Umfang“, „die Senkung der Kosten für öffentliche Bedienstete, wenn nötig durch Lohnkürzungen“, „die Reform des Tarifvertragssystems“, „strengere … Kriterien für die Altersrenten“ und eine „Verfassungsreform zur Verschärfung der Vorschriften für Staatsausgaben“. Oberstes Ziel sei es, „das Vertrauen der Investor:innen wiederherzustellen“.

In diese Zeit fällt der Aufstieg der „Finanzexpert:innen“, der so genannten Technokrat:innen, die immer dann zum Einsatz kamen, wenn die gewählten Vertreter:innen die vom Großkapital geforderte harte Medizin nicht durchsetzen konnten oder es nicht wagten.

Bürgerliche Reaktion

Kein Wunder, dass nicht nur die italienischen Bosse, sondern ihre gesamte Klasse in der Europäischen Union in ihm die sicherste Steuerungshand sahen, um Italien „Reformen“ aufzuzwingen, wie z. B. den Preis für die Auszahlung von 200 Mrd. Euro EU-Hilfen im Rahmen des Pandemieplans „Next Generation EU“ (EU der nächsten Generation). Kein Wunder, dass die solidesten bürgerlichen Zeitungen in Europa ihre Bestürzung über seine Absetzung und ihre Verzweiflung über die italienische politische Klasse und das gesamte Regierungssystem zum Ausdruck brachten.

Die ehrwürdige Turiner Tageszeitung La Stampa zeigte sich erzürnt über das Abstimmungsverhalten der populistischen Parteien:

„Eine Schande! Es gibt kein anderes Wort, um die Art und Weise zu beschreiben, wie die Regierung Draghi im Senat gescheitert ist … Es ist, als ob sich ein Abgrund aufgetan hat, in den zusammen mit der Regierung der nationalen Einheit auch jener große Teil Italiens hineingezogen wird, der bereit war, Opfer zu bringen, um in Europa und in der Welt wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, dank des Vertrauens, das auf allen Ebenen in den Mann gesetzt wurde, der gestern die Bühne verlassen hat.“

Auch der Mailänder Corriere della Sera schreibt:

„Selbst Draghi, der berühmteste Italiener, den wir hatten und den wir hoffentlich bald wieder im Dienste unseres Landes sehen werden, hat den Preis für das unerbittliche Gesetz der nationalen Einheitsregierungen bezahlt. Nämlich, dass sich die Parteien in Italien nicht länger als ein Jahr, höchstens eineinhalb Jahre, an ihre ,allgemeinen’ oder ,sehr allgemeinen’ Vereinbarungen halten.“

Das überschwängliche Lob, das Draghi von den Medien entgegengebracht wird, wird von beißender Satire begleitet, die auf die italienische politische „Casta“ abzielt, wie die Cinque Stelle (M5S) sie nannte, bevor sie selbst an die Futtertröge der Macht kam.

In Wirklichkeit sind die schamlose Korruption der Politiker:innen oder gar die engstirnigen Rivalitäten der Parteien nicht das eigentliche Problem. Und es wird ganz sicher nicht dadurch gelöst, dass man die Macht weiterhin unpolitischen Expert:innen anvertraut.

Hinter dem lärmenden Überbau der Parteien und ihren unaufhörlichen und prinzipienlosen Kämpfen um die Früchte der Ämter verbergen sich die Interessen der Klassen. Trotz ihrer geringen Zahl gibt die Bourgeoisie die Form der wirtschaftlichen und politischen Kurse vor, aber sie ist gezwungen, deren Umsetzung der politischen Kaste zu überlassen. Die Politiker:innen wiederum müssen einen Weg finden, um die Wähler:innen dazu zu bringen, sie in ihr Amt zu wählen, um dies zu tun. Das bedeutet systematisches Lügen und Täuschen im großen Stil.

Absturz der Parteien der „nationalen Einheit“

Obwohl die große Mehrheit der 2018 gewählten Parteien die neoliberale Sparpolitik vorgeblich ablehnte, sahen sich die Wähler:innen im Februar 2021 mit einer Regierung konfrontiert, die von einem der Hauptverantwortlichen für diese Politik geführt wurde. Es besteht kein Zweifel, dass nach dem 25. September oder wann immer eine Rechtskoalition gebildet werden kann, im Wesentlichen die Politik von Draghi übernommen wird, um die „großzügige“ Unterstützung der EZB zu gewinnen. Zu dieser Politik wird Super-Marios uneingeschränkte Unterstützung der NATO-Beteiligung am Krieg in der Ukraine zählen. Obwohl Salvini und Berlusconi in der Vergangenheit vor Putin gekrochen sind, haben sie sich beide letztlichhinter diesen Krieg gestellt.

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia, deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Instituts vom 19. Juli).

Der Sturz Draghis ist zum Teil eine Folge dieses gigantischen Betrugs an den Wähler:innen. Die drei Rechts- und Mitte-Rechts-Parteien wurden alle mit dem Versprechen gewählt, den von „Europa“ aufgezwungenen neoliberalen Reformen ein Ende zu setzen. Doch gerade weil sie sich der Koalition der nationalen Einheit angeschlossen haben, sind ihre Umfragewerte eingebrochen, während die der Fratelli d’Italia (Brüder Italiens), deren Vorsitzende Giorgia Meloni sich wohlweislich aus dieser „unpopulären Front“ herausgehalten hat, zu ihren Gunsten sprunghaft angestiegen sind. Jetzt führt sie in den Umfragen mit fast 24 % vor der Demokratischen Partei mit 22 %, der Lega mit 14 %, der M5S mit 11 % und der Forza mit etwa 7 % der Stimmen. (Laut einer Umfrage des SWG-Meinungsforschungsinstituts vom 19. Juli).

Infolgedessen müssen Italien und die Europäische Union mit einer Regierung rechnen, an deren Spitze ein:e Vertreter:in in der Tradition von Benito Mussolini steht. Nur die Londoner Times (im Besitz des rechtsgerichteten Medienmoguls Rupert Murdoch) sieht diese Aussicht mit Gleichmut.

„Ein Wahlsieg der Brüder Italiens mit ihren neofaschistischen Wurzeln wäre sicherlich ein politischer Schock, aber nicht mehr als frühere Erfolge der Populistinnen Fünf Sterne und Lega. Das Zuckerbrot der großzügigen EU-Gelder und die Peitsche der Volatilität der Anleihemärkte sind starke Anreize für die nächste Regierung, die Reformen von Herrn Draghi fortzusetzen.“

Sie schätzen – wahrscheinlich zu Recht – ein, dass sich die tatsächliche Politik einer rechten Koalition nicht so sehr von der von Draghi unterscheiden wird. Meloni hat sich zu einer starken Befürworterin der Beteiligung der EU und der NATO am Krieg in der Ukraine entwickelt.

Drohende Rezession, Inflation und Angriffe

Vor dem Hintergrund einer drohenden Rezession, der Störung der Weltwirtschaft im kommenden Winter und einer galoppierenden Inflation, da die Zentralbanken die Zinssätze anheben, könnte Italien jedoch, wie der Rest der EU, im kommenden Jahr mit einer schweren Rezessionskrise konfrontiert werden. Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bereits bei 8,4 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 24 Prozent. Darüber hinaus sind 3,4 Millionen Arbeitskräfte prekär beschäftigt. Die Zahl der Armen ist während der Covid-Pandemie auf 5,6 Millionen gestiegen, und die offizielle Inflationsrate steht derzeitig Stand bei 8 Prozent.

Unterdessen nehmen auf lokaler Ebene die Streiks gegen Arbeitsplatzverluste, niedrige Löhne und schlechtere Arbeitsbedingungen zu. Bisher werden sie hauptsächlich von den kleineren „Basis“-Gewerkschaften initiiert. Die Mitglieder von SI Cobas (Sindacato Intercategoriale Cobas) im Logistiksektor, viele von ihnen Einwander:innen, haben sich zur Verteidigung von Arbeitsplätzen und Arbeiter:innenrechten in verschiedenen Lagern und Abteilungen von Logistikriesen organisiert.

Am 19. Juli wurden sechs Mitglieder von SI Cobas und USB (Unione Sindacale di Base) von der Staatsanwaltschaft Piacenza unter Hausarrest gestellt. Ihnen wird vorgeworfen, Streiks organisiert und die Arbeit in den Lagerhäusern multinationaler Logistikunternehmen wie Amazon, Nippon Express, Fedex, TNT und anderen in Piacenza gestört zu haben. Aldo Milani, der nationale Koordinator von SI Cobas, war unter den Inhaftierten.

In ihrer Antwort erklärte die Gewerkschaft:

„Es handelt sich um einen schweren Angriff auf die Gewerkschaftsfreiheit und das Streikrecht, der von einem Teil der Justiz ausgeht, der sich bereits in den vergangenen Jahren durch gewerkschaftsfeindliche Aktionen wie Klagen, Verhaftungen und Aufenthaltsverbote hervorgetan hat. Mit dem Vorwurf der ,Gewalt’ und der ,Erpressung’ wollen sie den Kampf der Arbeiter:innen gegen die Ausbeutung und für die Löhne unterdrücken, und das in einer Zeit, in der die italienischen und internationalen Eigentümer:innen und Spekulant:innen die Löhne rauben, während die Preise um 8 % (10 % für Familien mit niedrigem Einkommen) und mehr gestiegen sind. Ein allgemeiner Kampf zur Verteidigung der Kaufkraft … ist dringend notwendig.“

Italienische linke politische Organisationen, ihre Jugendverbände und andere Gewerkschaften haben in Turin, Rom, Neapel, Genua und Bologna sowie in Piacenza selbst Proteste und Streiks in Solidarität mit den unter Arrest Stehenden organisiert.

Was Italien heute trotz oder gerade wegen der drohenden Rechtsregierung braucht, ist ein heißer Herbst militanter Aktionen gegen die Sparmaßnahmen, die mit EZB-Geldern an Italiens Bosse vergolten werden. Die großen Gewerkschaftsverbände CGIL, CISL und UIL sowie die kämpferischen „Basis“-Gewerkschaften sollten sofort Forderungen nach Lohnerhöhungen stellen, die den Kaufkraftverlust aufgrund der Pandemie und der Inflation vollständig ausgleichen und die Forderung nach einer gleitenden Lohnskala (scala mobile) einschließen – ein Prozent für ein Prozent Anstieg im Lebenshaltungskostenindex für die Arbeiter:innenklasse.

Angesichts der steigenden Kraftstoffpreise müssen die Gewerkschaften auch für die entschädigungslose Verstaatlichung der großen Energiemonopole unter Arbeiter:innenkontrolle kämpfen. Sie sollten fordern, dass kein einziger Euro für das riesige Aufrüstungsprogramm der NATO ausgegeben wird, und das Kriegstreiben blockieren. Stattdessen muss die Arbeiter:innenbewegung massive Investitionen und den Ausbau von Arbeitsplätzen in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Bildung, erneuerbare Energien, ja ein ganzes Spektrum von Maßnahmen gegen den Klimawandel und zum Schutz der Umwelt fordern.

Wenn in diesem Herbst eine neue rechte Regierung unter Führung der Fratelli an die Macht kommt, können die italienischen Arbeiter:innen mit einem brutalen neoliberalen Wirtschaftsangriff rechnen, der dem von Draghi geplanten sehr ähnlich ist. Darüber hinaus werden sie aber auch mit der Gewalt einer ermutigten und gestärkten extremen Rechten wie Forza Nuova (Neue Kraft) und CasaPound Italia (benannt nach dem Mussolini-Anhänger und Schriftsteller Ezra Pound) konfrontiert sein, wobei erstere für die Besetzung und Verwüstung des CGIL-Hauptsitzes in Rom im vergangenen Oktober verantwortlich war.

Die gesamte Arbeiter:innenbewegung muss sich gegen solche Angriffe schützen und Gruppen organisieren und ausbilden, die groß genug sind, um diese Aufgabe wirksam zu erfüllen und den neofaschistischen Banden eine harte Lektion zu erteilen. Aber sie muss sich auch vor den staatlichen Kräften schützen, die immer aggressiver werden, wenn sie wissen, dass ihre politischen Herr:innen voll und ganz hinter ihnen stehen.

Vor gut zwei Jahrzehnten hatte Italien die stärkste politische Arbeiter:innenbewegung Europas. Der rechte, klassenkollaborierende Flügel der Bewegung wurde zur bürgerlichen Mitte-Links-Partei, dem Partito Democratico (Demokratische Partei). Zusammen mit dem linken Flügel, Rifondazione Comunista (Partei der Kommunistischen Wiedergründung), verspielten sie diese Stärke, indem sie sich kollaborierenden Regierungen anschlossen oder diese unterstützten, die dann neoliberale Reformen durchführten. Im Jahr 2006 hatte die Rifondazione 41 Abgeordnete, 2008 keine:n mehr. Heute hat sie nur noch 10 – 15.000 Mitglieder. Bei diesem fatalen Kurs der Klassenkollaboration wurden sie von der Bürokratie der großen Gewerkschaftsverbände unterstützt.

Die Aufgabe besteht heute darin, die Kraft, die zu Beginn des Jahrhunderts existierte, sowohl auf betrieblicher als auch auf lokaler Ebene auf der Grundlage der Klassenunabhängigkeit wiederaufzubauen, mit dem Ziel, eine neue revolutionäre kommunistische Partei in Italien als Teil einer neuen revolutionären Arbeiter:innen-Internationale, der Fünften, zu schaffen.