Tarifkampf, Bürokratie und Inflation

Mattis Molde, Neue Internationale 265, Juni 2022

Die Inflation ist da und die Gewerkschaften müssten sie eigentlich so beantworten, dass die Arbeiter:innenklasse keinen Reallohnverlust erfährt. Problem: So wie die Gewerkschaften in der BRD aussehen, ist unser Abwehrkampf gegen die Preisexplosion nicht möglich.

Die Tarifabschlüsse der letzten zwei Jahre bedeuteten allesamt Reallohnlohnverlust. Aus ökonomischer Sicht gab es nur und ausschließlich Niederlagen. Nur in wenigen Fällen, wie bei der GDL und dem Berliner Krankenhausstreik, konnte man von Teilerfolgen reden, weil jeweils  eine politische Blockade durchbrochen wurde: bei der GDL der Versuch, das Antistreikgesetz zur Tarifeinheit praktisch umsetzen, und in Berlin, die Tarifierung der Personalbemessung zu verhindern.

Die Abschlüsse zu Lohn und Gehalt waren alle ein Erfolg des Kapitals und seiner Regierungen, die Kosten der beginnenden Krise und der Pandemie auf die Arbeiter:innenklasse abzuwälzen. Seit zwei Monaten hat sich die beginnende Inflation so verschärft, dass eigentlich alle Tarifverträge Makulatur sind. Sie wurden auf der Basis der alten, überholten Prognosen der Wirtschaftsinstitute zur Inflation abgeschlossen, die mit der Realität nichts mehr zu tun haben.

Krisenkosten

Diese Inflation hat ihre Ursachen in der Krise, der Geldpolitik der Zentralbanken, im Ukrainekrieg und vor allem in den Sanktionen der NATO-Staaten, die Teil dieses Krieges sind. Die Arbeiter:innenklasse ist daran in keiner Weise schuld, auch wenn jetzt das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale wieder ausgepackt  wird.

Die wirklich richtige Reaktion auf diesen massiven Angriff auf die Lebensbedingungen der Arbeiter:innen wäre ein allgemeiner Streik für massive Lohnerhöhungen. Die Verteuerung hat nichts mit den wirtschaftlichen Bedingungen einzelner Branchen zu tun. Deshalb müsste ein solcher Kampf übergreifend geführt werden und auch die Sektoren der Klasse erfassen, die schlecht organisiert sind. Gerade dort sind die Beschäftigten am härtesten betroffen.

Da niemand sicher weiß, wie sich die Inflation entwickelt, reicht es nicht für, eine Prozentzahl oder eine Summe zu kämpfen, auf den Tisch muss die Forderung nach  automatischer Kopplung der Lohnerhöhung an die Steigerung der Verbraucherpreise, so wie der Warenkorb für Lebensmittel und Grundbedürfnisse sich entwickelt.

Aber es sind nicht nur die politischen Maßnahmen und die aktuelle Krise des Kapitalismus, die verantwortlich sind für die Inflation. Es gibt auch die Händler:innen und Produzent:innen, die die Verknappungen auf den Märkten nutzen, um Preiserhöhungen durchzusetzen. So ist die Produktion von Energie in keiner Weise derart teurer geworden, wie die Preise in diesem Bereich explodieren. Gegen diese Spekulant:innen helfen Preiskontrollkomitees der Arbeiter:innenklasse, die die Vorlage der Unternehmenskalkulationen (Offenlegung der Geschäftskonten und -bilanzen) verlangen und gegebenenfalls Zwangsmaßnahmen wie Beschlagnahmungen durchführen.

Es wäre zuallererst die Aufgabe von Gewerkschaften, derartige Schritte zu organisieren und natürlich auch andere Schichten der Bevölkerung, Rentner:innen, Erwerbslose, ja auch kleine Selbstständige einzubeziehen. Aber sie tun nichts dergleichen, sie diskutieren bisher nicht mal darüber. Ihre Führungen erweisen sich erneut als unfähig, die Interessen der Klasse zu vertreten.

Bürokratischer Zwangsapparat

Stattdessen halten sie an alten Riten wie dem geliebten Tarifritual fest. Das hat was mit der Rolle der Bürokratie in den Gewerkschaften zu tun. Die Funktionär:innen der Gewerkschaften wie auch die Masse der Betriebsratsmitglieder stehen zum kapitalistischen System, zu den Interessen der herrschenden Klasse, insbesondere zu der ihres eigenen Landes und „ihrem“ Kapital, das sie ausbeutet, in keinem grundsätzlichen Widerspruch. Nur in diesem Rahmen versuchen sie, „das Beste für die Beschäftigten rauszuholen“.

In „guten Zeiten“ führt dieser Verrat dazu, dass in Tarifrunden „nicht alles das rausgeholt“ wird, was die tatsächliche oder mögliche Mobilisierung der Kräfte erlaubt hätte. In schlechten Zeiten führt es dazu, dass die Bürokratie das Diktat des Kapitals akzeptiert, dass die Arbeitenden für die Kosten der Krise (oder des Krieges) zu zahlen haben, und den Reallohnverlust organisiert. Servil hat sie genau das die letzten 2 Jahre in Deutschland exerziert –  und wird es weiter tun. Es geht ihnen gut damit, sich willig den Forderungen der Bosse zu beugen.

In guten Zeiten gibt es über die Abschlüsse dann Unmut bei der Basis, gerade bei jenen, die bei Tarifkämpfen am aktivsten waren und spüren, dass sie verkauft worden sind. In schlechten Zeiten, wenn es für mehr Leute um die Existenz geht, kann es für die Bürokrat:innen schwerer werden, ihre Märchen von „erfolgreichen Tarifrunden“ weiter zu erzählen. Dann gibt‘s Repression, dann werden renitente Mitglieder ausgeschlossen, Betriebsratsmitglieder in freundlicher Zusammenarbeit mit der Personalleitung entlassen. Ja, es wird manchmal sogar versucht, die Verteilung von Flugblättern vor dem Werkstor zu verhindern. Die Bürokratien sind längst zum ersten Hindernis für erfolgreiche gewerkschaftliche Kämpfe geworden. Lange bevor man mit den Bossen oder gar den Bullen konfrontiert ist, stellen sich Gewerkschaftsapparatschiks und Betriebsratfürst:innen in den Weg.

Auch wenn zeitweise von und mit der Basis die Bürokratie zu Zugeständnissen gezwungen werden, einzelne Posten mit neuen Leuten besetzt werden können, ist es eine Illusion zu glauben, dass diese dauerhaft gehalten werden können, ohne dass die Aktivist:innen verstehen, wie Kapitalismus funktioniert und warum die reformistische Ideologie, der Glaube an die schrittweise Verbesserung des Wolfssystems genau selbiges am Laufen hält. Für alle Linken und kämpferischen Gewerkschafter:innen ist es essenziell zu verstehen: Es ist nicht möglich, einfach die bestehenden Gewerkschaftsstrukturen zu übernehmen und besetzen. Für Aktivist:innen, die dies versuchen, ergeben sich drei Wege: Isolation als linkes Feigenblatt, Einbindung in den Apparat bei Aufgabe der eigenen Politik, ihr Ausschluss. Der Apparat ist ideologisch und strukturell so gestrickt, dass er nicht einfach klassenkämpferisch übertüncht werden kann. Eine kämpferische Antwort auf die Inflation ist ganz unmöglich mit ihm. Nur eine organisierte, koordinierte oppositionelle Bewegung, die sich explizit als antibürokratisch versteht, kann ihn herausfordern und perspektivisch die Gewerkschaften basisdemokratisch reorganisieren.

Was ist nötig dafür? Es braucht keine einzelnen Superheld:innen. Wo spontaner Unmut Bahn bricht, müssen Linke in den Gewerkschaften alles tun, ihn zu fördern. Nötig ist, den immer wieder aufflammenden Widerstand gegen die kapitalistische Krise und reformistische Bürokratie zu politisieren und organisieren. Dazu bieten auch die anstehenden Tarifrunden gute Ansätze.

Das Beispiel Stahl

Im Jahr 2021 gab es nur eine Einmalzahlung (Corona-Prämie) von 500 und ein „tarifliches Zusatzentgelt“ von 2 mal 250 Euro, das zwar auch zukünftig gezahlt werden soll, aber auch zur „Beschäftigungssicherung“ eingesetzt werden kann – eine schöne Umschreibung für selbst bezahlte Kurzarbeit. Das Kapital hat‘s gefreut. Schon wenige Monate nach dem Abschluss verkündete z. B. die Salzgitter Flachstahl AG den besten Unternehmensabschluss seit 2008.

Dieses Jahr haben die Tarifkommissionen der IG Metall der nordwestdeutschen und der ostdeutschen Eisen- und Stahlindustrie 8,2 Prozent mehr Geld bei einer Laufzeit von 12 Monaten gefordert. Das ist das Doppelte der letztjährigen Tarifrunde. Offensichtlich wächst der Druck aus den Betrieben, nicht wieder ein derart blamables Ergebnis zu vereinbaren. In einem Stahlwerk soll nach Berichten aus der Gewerkschaft eine Forderung von 13 % beschlossen worden sein. Der Vorstand hat die 8,2% genehmigt und innerhalb der Gewerkschaft wird über Warnstreiks geredet.

So begrüßenswert der Druck seitens der Basis ist, der offensichtlich bis in die Tarifkommissionen und den Vorstand hineinwirkt, die Forderung wird nicht reichen, die Verluste der letzten Jahre und die derzeitige Inflation auszugleichen. So manche Bürokrat:innen in der IGM kritisieren sie bereits: Sie schüre Unruhe und fördere falsche Erwartungen in der Gesamtgewerkschaft. Ruhe! Das ist der Bürokratie natürlich wichtiger als ein gutes Ergebnis, denn auf den Klassenfrieden gründen sich ihre Einkommen, ihre Karriere, ihre ganze Selbstgefälligkeit und der unbedingte Glaube an die Sozialpartner:innenschaft. Sie wird diese Ruhe verteidigen.

Tarifkommissionen und Vorstand üben die undemokratische Kontrolle über die 8,2-Prozent-Forderung aus. Sie muss voll durchgesetzt werden, nicht nur, weil sie eine richtige Antwort auf die Inflation beinhaltet. Ein erfolgreicher Streik in der Stahlindustrie für ein Ergebnis deutlich oberhalb der Abschlüsse der letzten beiden Jahre wäre ein gutes Signal für GewerkschafterInnen aller Branchen. Angesichts des „Angebots“ der Konzerne einer Einmalzahlung von 2100 Euro werden auch Warnstreiks nicht reichen, ein Vollstreik muss vorbereitet werden. Dabei dürfen sich die Belegschaften nicht auf die Bürokrat:innen der IGM oder die Betriebsratsspitzen verlassen, sondern müssen die Aktionen unter ihre eigene Kontrolle bekommen und Streikkomitees aus ihren eigenen Reihen wählen, die den Streik Realität werden lassen, auch wenn die Bürokrat:innen krakeelen und heulen: „Das gefährdet die Ruhe!“

Es ist Zeitenwende, es ist Sturm auf der Welt und es ist Zeit, ihrer Ruhe ein Ende zu bereiten. Von Ruhe wird unser Geldbeutel schmal. Der Kampf gegen die Inflation bedeutet Kampf gegen die Gewerkschaftsbürokratie, bedeutet Klassenkampf gegen das Kapital.