Nach NRW-Wahl: Zeitenwende für die Ampel?

Leo Drais, Infomail 1188, 18. Mai 2022

Vielleicht läuft die Geschichte doch ein bisschen in Kreisen. Zum Beispiel in der politischen Beziehung zwischen Nordrhein-Westfalen und dem Bund. 2017 verlor Hannelore Kraft für die SPD die Landtagswahlen – es wurde als Vorbote für Merkels vierte Wiederwahl betrachtet und so kam es. Oder nehmen wir 2021. Eine Flutkatastrophe erschüttert NRW. Armin Laschet, Spitzenkandidat der CDU für die Bundestagswahl und davor Ministerpräsident in Düsseldorf, fand die Flut anscheinend lustig. Danach verging ihm das Lachen dann schnell. Im September verlor er gegen Olaf Scholz. Die vor sich hinsiechende SPD konnte dank der Union das Krankenhaus kriselnder Parteien verlassen.

Landtagswahl

Jetzt aber hat sie in Nordrhein-Westfalen eine saftige Niederlage kassiert, im Kontext einer Wahlbeteiligung von gerade mal 55 %. Die CDU holte 35,7 % – exakt 9 % mehr als die SPD. AfD und FDP schafften gerade so den Einzug ins Parlament. Die eigentlichen Gewinner:innen sind die Grünen, die mit 18,2 % über zehn Prozent dazugewinnen konnten.

Sie betonten gleich, dass ohne sie nichts gehen würde, und wahrscheinlich haben sie damit Recht.

Denn da weder CDU noch SPD aufeinander Bock haben (rechnerisch zumindest eine mögliche Große Landeskoalition), bleibt beiden nur, die Grünen zu umgarnen. Die SPD wäre dabei sogar noch auf die FDP angewiesen, also auf eine regionale Wiederauflage der Ampel, was kaum passieren wird.

Ziemlich sicher wird der bisherige Ministerpräsident Hendrik Wüst also eine CDU/Grünen- Regierung anführen. Vieles spricht dafür. Zum Beispiel dass die Union weiß, dass sie mit den Grünen im Grunde fast alles machen kann, solange hier und da mal ein Windrad aufgestellt wird. Ihre gesamte Umweltpolitik ist keine und gerät daher nicht mit dem Kapital in Konflikt. In allen anderen Belangen sind sich Union und Grüne sowieso sehr nah. Die einen vielleicht etwas konservativ-miefig, die anderen  eben grün und hip. Vielleicht gäbe es zusammen keine Cannabislegalisierung oder formal-rechtliche Fortschritte für non-binäre Menschen.

Aber das sind Bundesangelegenheiten. Wenn es um das Wesentliche geht – Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeiter:innenklasse, Durchsetzen von Polizeigesetzen, dem Kapital den Weg ebnen – ziehen Grüne und Union an einem Strang. Ihre größte Differenz besteht wohl darin, wie viel Staatsintervention zur Neuformierung des deutschen Kapitals nötig ist. Doch die breite Unterstützung für den Green Deal in der EU zeigt, dass sich, jedenfalls für die nächste Zukunft, eine gemeinsame Linie finden lässt. Natürlich könnte man auch mit der FDP gut. Die hat in NRW jedoch ebenfalls ordentlich verloren und warum sollten sich Union und Grüne Verhandlungen mit ihr antun, wenn es auch ohne sie geht?

Ampelzeichen?

Die Rückkehr der Krise in die Reihen der SPD kommt nicht überraschend. Bei der Wahl im Saarland konnte sie noch von der CDU-Krise profitieren, zumal der dortige Unions-Kandidat sehr unpopulär war. In Schleswig-Holstein ging‘s dafür krachend bergab – 11,3 Prozent Verlust und bei der Union ein fast genauso großer Gewinn.

Was bedeutet die SPD-Krise für die Bundesregierung? Euphorie für die Ampel gab es sowieso nie, und nicht erst seit dem Krieg wird Scholz von den Ereignissen getrieben. Mit dem Krieg und der Inflation haben sich die ökonomischen Bedingungen für eine Koalition zwischen einer bürgerlichen Arbeiter:innenpartei – also einer Partei, die die kapitalistischen Verhältnisse verteidigt, sich aber auf  die organisierte Arbeiter:innenbewegung, vor allem die Gewerkschaften, stützt –, und zwei offen bürgerlichen Parteien nochmal ordentlich prekärer gestaltet. Einerseits erleichtert die SPD an der Regierung der herrschenden Klasse die Ruhigstellung der Lohnabhängigen durch die Einbindung der Gewerkschaftsapparate und Betriebsräte der Großunternehmen, die beide eine soziale Hauptstütze der Regierung bilden. Andererseits werfen Krisenperioden für das Kapital unwillkürlich die Frage auf, ob es sich die Kosten des Korporatismus weiter leisten kann und will. Und hier kommt die Union ins Spiel – nicht nur am Rhein, sondern auch an der Spree.

Mit Friedrich Merz als neoliberalem Hardliner scheint die Union den Führer gefunden zu haben, der für sie in die Zeit passt. Mit ihm versucht sie, die Ampel vor sich her und einen Keil in sie zu treiben. Mit Erfolg. Im Kampf um die Neuaufteilung der Welt, sprich dem Ukraine-Krieg, stehen Baerbock und Lindner Merz näher als Scholz, dem immer wieder Zögerlichkeit vorgeworfen wird, als es zum Beispiel um schwere Waffen für Kiew ging.

Die Grünen und die Union sind demgegenüber die bürgerlichen Parteien, die am ehesten die Gesamtinteressen des deutschen Imperialismus vertreten. Sie haben die Bedeutung des von Scholz als Zeitenwende beschriebenen Periodenwechsels fürs deutsche Kapital begriffen, dem schon die bestehenden, unzureichenden sozialen Abfederungen der Inflation, sei es durch Neuverschuldung oder irgendwelche lächerlichen (Mindest-)Lohnerhöhungen demnächst schon zu viel sein könnten. Immerhin geht es darum, nicht im Kampf zwischen den Großmächten USA, China und Russland aufgerieben zu werden.

Ausblick

Natürlich ist es zu früh, der Ampel ein vorzeitiges Ende in Aussicht zu stellen. Denkbar ist jedoch allemal, dass Scholz das Schicksal Schmidts widerfährt: der Verlust seiner Koalitionspartnerinnen an die Union: Jamaika im Bundestag.

Schwieriger wird es für die Sozialdemokratie jedoch sicher. Sie ist einerseits in den DGB-Gewerkschaften und in der Arbeiter:innenaristokratie verwurzelt. So wählten lt. einer Erhebung des DGB (https://www.dgb.de/themen/++co++c653c982-d51c-11ec-96a8-001a4a160123) in NRW (noch) 36 % der gewerkschaftliche Organisierten SPD – deutlich mehr als 26,7 % der Gesamtbevölkerung.

Auch wenn sich die Gewerkschaftsführungen hier noch so Mühe geben, die Arbeiter:innenklasse mit warmen Worten abzuspeisen, kann das nicht ewig funktionieren. Bei Inflationsraten von über 7 Prozent kann der Druck durchaus so groß werden, dass Unmut und Arbeitskämpfe ausbrechen, denen die Gewerkschaftsbürokratie nachgeben muss. Bleiben selbst Ansätze von ernsthaften Kämpfen der DGB-Gewerkschaften aus, werden noch mehr Mitglieder mit den Füßen abstimmen – und austreten.

Bezüglich der SPD und ihrer Regierung wird beides die Fieberkurve steigen lassen. Ein schwächer und kleiner werdender DGB legt schleichend, aber stetig auch die verbliebene soziale Basis der SPD trocken. Gewerkschaften wiederum, die einem steigenden Druck aus der Arbeiter:innenklasse nachgeben und in eine verschärfte Konfrontation mit dem Kapital treten, bedeuten auch einen stärkeren Druck, den das Kapital und damit Grüne, FDP und Union auf die SPD ausüben werden.

Insgesamt eine Lage, die die SPD schneller ins Krankenbett zurückbefördern kann, als sie rausgekommen ist. Auf einen tapsig-trotteligen Laschet darf Scholz in der Persona Merz zumindest nicht hoffen. Und wir werden sehen, ob NRW wieder zum politischen Orakel für die Bundespolitik gestaltet wird.

Agonie der LINKEN

Wenn dem so ist, läuten für die andere bürgerliche Arbeiter:innenpartei demnächst die Totenglocken. Auch für DIE LINKE läuft die Zeit in NRW ein bisschen im Kreis. Seit sie existiert, dümpelt sie mal über, mal unter der 5 %-Hürde.

Auf den ersten Blick sieht es aus wie zuvor. DIE LINKE sitzt nicht im Landesparlament von NRW. In Prozenten ausgerückt hat sie die Hälfte der Wähler:innen verloren. Trotzdem ist das Ergebnis keines den letzten NRW-Wahlen vergleichbares. Es ist Teil der Überlebenskrise der Partei, die längst zu einer sich selbst verstärkenden geworden ist. Ihrem ganzen Wesen nach ist die Partei eine, die bürgerlich-reformistische Realpolitik betreibt. Dass sie in Wahlkämpfen um Nuancen sozialer daherkommt als die SPD, nutzt vielleicht als „Wir hatten gute Inhalte“-Entschuldigung nach der Wahl, aber mehr auch nicht. Weil DIE LINKE keine Kampfpartei, sondern genauso eine Grinsebacken auf Wahlplakate druckende Angeberin leerer Versprechen ist, braucht sie niemand, schon gar nicht die Arbeiter:innenklasse. Die entscheidet sich im Zweifel taktisch lieber für die SPD als Anti-Laschet-Abstimmung wie bei der Bundestagswahl, wählt eine offen bürgerliche Partei wie die Grünen oder die Union oder bleibt der Wahl gleich ganz fern.

Im Juni will die Partei wieder mal die Weichen stellen. Mehr als Formelkompromisse und das Beschwören einer nicht existenten Geschlossenheit wird wohl kaum dabei herauskommen. Der nächste Sündenbock-Parteivorsitz darf seinen Kopf schon mal aufs Schafott der nächsten Wahlpleiten und Skandale legen.

Revolutionär:innen in der LINKEN sollten ernsthaft ihre Hoffnung daraufhin abwägen, ob die Partei irgendwann mal in eine Richtung verändert werden kann, die auch nur im Ansatz die Adjektive „klassenkämpferisch“ oder gar „sozialistisch“ verdient hätte. Wir denken, dass das nicht passieren wird. Die Partei ist wurmstichig bis ins Mark, zerfressen vom Karrierismus und ausgeblutet vom Grabenkampf. Die Linken in der Linkspartei, die für eine Politik des Klassenkampfes eintreten, sollten das sinkende Schiff bald, aber organisiert verlassen. Es gilt, diejenigen zu sammeln, die ernsthaft nach einer Kampfpartei und revolutionären Antworten suchen. Ja, es gilt, so eine Partei schnell aufzubauen. Sie wird nötig sein, um den kläglichen Linksparteirest sowie die SPD unter Druck zu setzen und die Arbeiter:innenklasse selbst zur ersten Kraft im Kampf gegen Krieg und Inflation zu bewaffnen.

Während sich ein riesiger Apparat an das wie auch immer schlecht weitergehende Leben der LINKEN klammern wird, haben Revolutionär:innen das nicht nötig. Ihr Überleben sollte gleichbedeutend mit dem der Arbeiter:innenklasse sein.

Die LINKE liegt in ihrer Agonie – und Sterbende sollen auch mal sterben dürfen. Damit die Zeit nicht ewig im Kreis läuft und Krisen auch mal wirklich enden.