China: Vor dem Scheitern des nationalen Projektes 0-Covid?

Resa Ludivien, Infomail 1185, 20. April

Jahrelang erschien Chinas 0-Covidstrategie eine erfolgreiche und lebensrettende Alternative zur vorherrschenden Pandemiepolitik im Westen. Bis heute sind dort nur wenige Tausend Menschen an Corona verstorben, während in den USA mittlerweile fast eine Million an Covid-19 verstorben sind (Stand 19.4.22: 989.331). In den Vereinigten Staaten verstarben bisher 300 Menschen je 100.000 Einwohner:innen, in Deutschland 160,1, in China eine Person.

Paradoxerweise erscheint jedoch die Politik Chinas, folgen wir dem Tenor der westlichen Öffentlichkeit, als die gescheiterte, während wir hier endlich wieder auf Freiheit und das „Leben mit der Pandemie“, also der stillschweigenden Inkaufnahme weiterer Wellen und Toter zu leben gelernt hätten.

Gründe dafür gibt es mehrere. Aber klar ist, dass die chinesische Strategie samt ihre drakonischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der Lage auf dem Weltmarkt, ökonomischer Probleme im Inneren, aber auch des autoritären Charakters der Pandemiepolitik der Bürokratie an ihre Grenzen stößt.

Dabei war die chinesische Politik zu Beginn der Pandemie über Monate, ja Jahre erfolgreich. Die Zahl der Toten und Infizierten konnte auf einem vergleichsweise geringen Niveau gehalten werden. Während sich Länder wie Deutschland von Lockdown zu Lockdown hievten und nun Impfpflicht oder Masken als unter „ferner liefen“ gelten, schien in China schnell wieder „alles beim Alten“. Hätte das Land eine den USA oder auch nur Deutschland vergleichbare Politik eingeschlagen, wären heute nicht Tausende, sondern Millionen Chines:innen der Pandemie zum Opfer gefallen.

Jetzt bestätigt sich wieder einmal, dass man globale Probleme wie eine Pandemie auch nur weltweit lösen kann. Chinas Abschottungspolitik sowie das Beharren auf einem eigenen Impfstoff haben den Ausbruch nur verschleppt, der auch durch mangelnde Maßnahmen und Mutationen in anderen Ländern provoziert wurde. Der derzeitige Ausbruch der Omikronvariante trifft auf eine nur in Teilen immunisierte Gesellschaft und zwingt die KP zum Handeln, damit sie an ihrem Narrativ der überlegeneren Strategie festhalten kann.

Grenzen der Strategie

Die chinesische Coronastrategie war auch im Rahmen des Systemkampfes wichtig. Überlegenheit wurde dem In- und Ausland suggeriert. Doch jetzt befinden sich Millionenstädte wie Shanghai, Beijing oder Shenzhen im Lockdown – ein Lockdown, der im Wesen seinesgleichen sucht. Der chinesische Alltag in diesen Städten bedeutet nun leere Straßen, abgeriegelte Viertel, sogar versiegelte Wohnungen, Ausgang nur zu den staatlich vorgeschriebenen Coronatests und eine steigende Überwachung, die sogar die bisherige übertrifft.

Die Versorgung der Menschen ist in Gefahr. In den betroffenen Gebieten beschweren sich die Anwohner:innen über eine schlechte staatliche Versorgung bis hin zu Lebensmittelknappheit. Selbst einzukaufen, ist so gut wie unmöglich. Daneben trifft die Omikronwelle auch in China auf ein belastetes und wahrscheinlich bald überlastetes Gesundheitssystem. Neben chinesischer traditioneller Medizin ist ein weiteres seiner Merkmale das Fehlen von Hausärzt:innen. Bist du krank, gehst du ins Krankenhaus. Viele Kollateralschäden sind hier zu erwarten: Menschen, die nicht hätten sterben müssen, wenn es genügend Ärzt:innen, Kapazitäten geben würde oder sie genügend Geld für eine Sonderbehandlung hätten. In westlichen Medien liest man nun von dramatischen Szenen, in denen Menschen abgewiesen oder infizierte Kleinkinder von ihren Eltern getrennt werden. Die soziale Sprengkraft der Situation ist greifbar. Auf Shanghais Straßen wird bereits das Militär eingesetzt, um der Lage und des Unmuts Herr zu werden.

Gerade scheint es, als könnte das Virus einen der schwersten Angriffe auf den chinesischen Imperialismus verkörpern, den dieser bisher gesehen hat. Derweil läuft die Propaganda weiter. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt wird nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft und des Handels, der Rüstung und Militarisierung, sondern auch als Kulturkampf ausgetragen – sowohl innerhalb Chinas als auch darüber hinaus. Die Propagandamaschinerie für das Militär und vor allem gegen die USA soll auch gegen den Trend arbeiten, dass seit Jahren chinesische Familien eine starke Westbindung entwickelt haben und bspw. in die USA gehen, um ihre Kinder auf die Welt zu bringen, oder sich für die Ausbildung an westlichen Universitäten entscheiden. Beides sollte den Kindern später bessere Lebensbedingungen garantieren.

Seit der Öffnungspolitik nach Maos Tod und spätestens nach der Machtübernahme Xi Jinpings inszenierte sich China als ein Land im Aufschwung. Tatsächlich gewann der Staat an Macht im internationalen Gefüge und auch die chinesische Wirtschaft holte massiv auf. Für die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, also die Masse der Arbeiter:innen und Bauern/Bäuerinnen galt das weitestgehend nicht. Außerhalb der schicken Innenstadtviertel von Großstädten zeigt sich ein ganz anderes Bild. Auch in Städten wie Beijing werden ärmere Menschen diskriminiert. Vor allem der Hukou (ein innerchinesischer Wohnsitzausweis), der besagt, wer sich wo aufhalten und ansiedeln darf, sorgt noch für ein weiteres Kontrollelement.

Illegale Arbeit im Untergrund stellt hier die einzige Möglichkeit dar. Nun steht die Wirtschaft vielerorts still und auch Pendler:innen von außerhalb kommen nicht in die Städte zur Arbeit. Das Essen wird rationiert und in die isolierten Viertel gebracht. Nur wie sollen Menschen überleben, die es eigentlich gar nicht geben darf? Auch ins Krankenhaus zu gehen, wird dadurch erschwert. Am meisten leiden arme Menschen, denn kein Ausgang bedeutet keine Arbeit, keine Arbeit bedeutet kein Gehalt und kein Gehalt bedeutet kein Essen.

Hinzu kommt, dass aufgrund der raschen Verbreitung von Omikron nicht nur die Zahl der Infizierten, sondern auch der Städte und Regionen und somit der Menschen, die von Lockdowns betroffen sind, weitaus höher ist als bei vorhergehenden Wellen. Greift die Regierung hier nicht ein, drohen nicht nur weitere Unruhen, sondern auch eine selbst verursachte Hungerkrise, sofern die Zahlen weiter steigen und die einzige noch vorhandene Maßnahme Lockdowns sind.

Wie China gegen Proteste und Abweichler:innen vorgeht, hat die Regierung in den letzten Jahren deutlich gemacht. Das Militär wurde gestärkt und die Überwachung ausgebaut. Deren Relevanz für einen vermeintlichen sozialen Frieden hat sich vor allem in Hongkong und Xinjiang gezeigt, wobei die Politik der Bürokratie auch an eine Ausrottungsmaßnahme grenzt, ob gewollt oder ungewollt. Überall wo Protest entsteht, verschwinden Menschen und landen in „Gefängnissen“, die eher an Folterlager erinnern. Dennoch gab es in den letzten Jahren immer wieder Einzelne und Gruppen, die das in Kauf genommen haben, bspw. im Rahmen der #MeToo-Proteste, und auch jetzt gibt es immer mehr Videos in den sog. sozialen Netzwerken, die Proteste zeigen. Auf diese folgen oft Verhaftung und Verurteilung. Freiheit für alle politischen Gefangenen!

Sowohl in China als auch hierzulande haben die letzten Monate und Jahre sehr deutlich gezeigt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise und imperialistisches Machtstreben keinen gesellschaftlichen Frieden bringen, keinen Wohlstand für alle und globale Konflikte nicht lösen können. Im Gegenteil: Das Versagen im Kampf gegen die Coronapandemie hat einmal vor Augen geführt, dass die Unterordnung der Gesundheit der Bevölkerung unter kurzfristige Profitinteressen Millionen das Leben kostet.

Krise und Widerstand

Doch in Zeiten der Krise und wachsender ökonomischer Schwierigkeiten stößt die Coronapolitik der chinesischen Regierung selbst an Grenzen – und damit auch auf den Unmut von Millionen. Sie betrachten wahrscheinlich schon heute die Politik der KP aus einem anderen Blickwindel. Aus dieser Erkenntnis kann Handeln, einschließlich spontaner Protestaktionen verzweifelter Menschen, folgen. Zugleich ist mit massiver Repression zu rechnen.

Damit Unmut und etwaige Proteste jedoch nicht einfach Episoden bleiben oder brutal zerschlagen werden, brauchen sie erstens klare soziale und politische Forderungen. Diese müssen eine Sicherung der Versorgung aller – also auch der Menschen ohne gültige Papiere, der Armen und Wohnungslosen – beinhalten, also Nahrungsmittel, Zugang zu Gesundheitsvorsorge. Wo Knappheit an Ressourcen herrscht, müssen diese gemäß den Bedürfnissen, nicht den Privilegien in der Gesellschaft verteilt werden. Um überhaupt eine rationale Versorgung zu sichern, muss die Offenlegung aller bestehenden Ressourcen wie auch des wirklichen Stands der Pandemie eingefordert werden. Plattformen wie Weibo (ein chinesischer Mikrobloggingdienst ähnlich Facebook und Twitter) sollten dazu genutzt werden.

Solche Forderungen stellen faktisch die Kontrolle der Bürokratie in Frage. Um die Zuteilung von Gütern zu sichern, sollen in den Betrieben, Gesundheitseinrichtungen, in den Wohnblöcken und Stadtvierteln von der Bevölkerung Ausschüsse zur Organisation und Kontrolle dieser Arbeiten gewählt werden. Von entscheidender Bedeutung wird es dabei sein, dass diese Strukturen in den Betrieben verankert sind und ihre Forderungen mit Aktionen Nachdruck verleihen können. Regionen wie Shanghai bilden heute nicht nur Zentren der chinesischen, sondern der Weltwirtschaft. Angesichts der Pandemie wäre es auch essentiell, solche Strukturen nicht nur in den Regionen unter Lockdown aufzubauen, sondern auch die Arbeiter:innen in den anderen Landesteilen zur Unterstützung aufzufordern. Die Pandemie wird schließlich vor niemandem/r Halt machen und die Alternative zum bürokratisch-autoritären Lockdown lautet nicht Öffnung fürs Kapital, sondern Lockdown unter Kontrolle der Arbeiter:innenklasse und Bäuer:innen.

Eine Politik der Arbeiter:innenklasse wird sicherlich auf den Widerstand der chinesischen KP-Spitzen und erst recht der Kapitalist:innen im Land treffen. Daher muss nicht nur mit Repression gerechnet werden. Ihre politisch bewusstesten Teile müssen die Lage auch nutzen, um den politischen Bruch mit der KP voranzubringen, die das Wort kommunistisch im Namen nicht verdient hat und eher einer Politkaste gleicht, die die imperialistischen Interessen des chinesischen Kapitals vorantreibt. Daher braucht es in China eine neue, revolutionäre Arbeiter:innenpartei, die unter den Bedingungen der Diktatur und Unterdrückung aufgebaut werden kann. Die aktuelle Krise der Coronapolitik, die ökonomischen Probleme Chinas und mögliche Massenproteste und Aktionen können die Bedingungen für deren Entstehung extrem begünstigen.

Für uns in Europa oder den USA muss die internationale Solidarität im Vordergrund stehen, die Unterstützung jeden Schrittes zur Bildung einer von der Bürokratie unabhängigen Arbeiter:innenbewegung einerseits sowie des Kampfs gegen die imperialistische Propaganda auf allen Seiten andererseits. Das bedeutet für uns auch, sich von der chauvinistischen und rassistischen Rhetorik über Chines:innen zu lösen wie auch von dem westlich-imperialistischen Narrativ, dass China in der Pandemie auf eine Politik der Öffnung und Durchseuchung hätte setzen sollen, damit seine Produktion für den Weltmarkt nicht ins Stocken gerät. Das Problem der chinesischen Coronapolitik besteht nicht darin, dass das Land „zu viel“ getan hat, sondern dass sie bürokratisch und repressiv erfolgt ist und die Pandemie nicht international koordiniert bekämpft wurde.