Minijobs: Der Weg in die Altersarmut wird ausgebaut

Paul Neumann, Infomail 1179, 5. März 2022

SPD und Grüne versprachen in ihren Wahlprogrammen, Minijobs abschaffen. Die Koalitionsvereinbarung verkündet nun das Gegenteil: Minijobs sollen ausgebaut werden. Die Geringfügigkeitsgrenze soll von 450 auf 520 EUR sozialversicherungsfrei angehoben werden. Das freut alleine die Unternehmer:innen und Wohlhabende, werden doch für sie prekäre Arbeitsverhältnisse wie Minijobber:innen und Haushaltshilfen noch lohnender. Für die in Minijobs Beschäftigten sind Entqualifizierung und Altersarmut vorprogrammiert.

Geringfügige Beschäftigung

Mit der Agenda 2010 in den Jahren 2002 – 2004 wurde neben der Schaffung eines Niedriglohnsektors auch die „geringfügige Beschäftigung“ neu geregelt. Seitdem steigt die Zahl der Minijobs kontinuierlich an. 2019 waren ca. 7 Millionen Menschen in einem 450-Euro-Job beschäftigt, d. h. jedes 5. Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ist ein prekäres. Nur für ein Drittel stellt der Minijob einen Nebenverdienst dar, aber für zwei Drittel der in diesem Bereich Beschäftigten das alleinige Einkommen. Das ist mit massiven negativen Folgen verbunden: Eine Einzahlung in die Renten- und Sozialkassen findet praktisch nicht statt. Der/Die „Arbeitgeber:in“ kann einen Pauschalbetrag zur Rentenversicherung über die Minijobzentrale einzahlen, was aber lediglich bei 450 EUR Einkommen zu einem Rentenzuwachs in Höhe von 3,64 EUR/mtl. führt, so dass ca. 80 % der Minijobber:innen sich von der Rentenversicherungspflicht befreien lassen.

Ebenso sind sie nicht gegen Arbeitslosigkeit versichert, was in der Corona-Krise für ca. 2 Millionen entlassene Minijobber:innen fatale Folgen hatte. Weder besteht ein Anspruch auf Arbeitslosen- noch Kurzarbeiter:innengeld, so dass sie Leistungen beim Jobcenter beantragen mussten. Darüber hinaus werden ihnen grundlegende Rechte systematisch vorenthalten. Grundsätzlich stehen geringfügig Beschäftigten die gleichen Rechte zu wie Vollzeitbeschäftigten. So haben sie einen Anspruch auf bezahlten Urlaub, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Mutterschutz oder Elternzeit. Die Realität sieht anders aus. Laut einer Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) erhält rund ein Drittel keinen bezahlten Urlaub und fast der Hälfte wird die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall verweigert. Ebenso werden gesetzliche Pausen und Ruhezeiten eher selten eingehalten. Zudem verfügen mehr als die Hälfte über eine Ausbildung in dem Bereich, in dem sie beschäftig sind, werden aber i. d. R. mit Mindest- oder Aushilfslohn abgefertigt.

So ist es kein Wunder, dass eine eigenständige Existenzsicherung mit einem Minijob nicht möglich ist. Die materielle Abhängigkeit, besonders von Frauen, von einem Partner mit Einkommen wird so gefördert. Wer nicht in dieser „glücklichen“ Lage ist, wie viele alleinerziehende Frauen, dem/r bleibt nur der Gang zum Jobcenter. 2020 bezogen mehr als 1 Millionen berufstätige Menschen, als sog. Aufstocker:innen, Leistungen nach SGB II (Hartz IV). Ein Drittel davon ist als Minijobber:in beschäftigt. Durch die rot-grüne Koalition wurde mit der Agenda 2010 faktisch ein Kombilohn zugunsten der Unternehmen geschaffen, der auf Kosten der Lohnabhängigen jährlich mit 10 Milliarden EUR subventioniert wird und zusätzlich den Sozialversicherungen Einnahmeausfälle von über 3 Milliarden EUR beschert.

Wurden jahrelang Minijobs, gerade für Langzeitarbeitslose, also Hartz-IV-Bezieher:innen, als Brücke zurück in den 1. Arbeitsmarkt angepriesen, zeigt die o. g. Studie des IAB, dass das Gegenteil der Fall ist: Minijobs verdrängen im großen Stil reguläre Arbeitsverhältnisse und stellen nur in sehr geringen Umfang eine Brücke in den 1. Arbeitsmarkt dar. Einmal Minijobber:in, immer Minijobber:in ist die Realität. Betroffene verbleiben vielmehr „oft im Niedriglohnsegment und arbeiten in vielen Fällen unterhalb ihres Qualifikationsniveaus“, so die Bilanz des IAB. Allein in Kleinbetrieben sollen lt. IAB 500.000 reguläre Arbeitsplätze durch Minijobs abgebaut worden sein.

Was tun die Gewerkschaften?

Haben die Gewerkschaftsspitzen von 2002 – 2004 unter Rot-Grün aktiv an der Regierungs-/Unternehmer:innenkommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ unter der Leitung des VW-Personalvorstandes Hartz mitgewirkt und die Legalisierung von Minijobs als Nebenerwerb und die Entgrenzung der Tätigkeit von 15 Wochenstunden unterstützt, so ist ihr Verhalten heute ambivalenter. Schließlich haben „hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob in der Corona-Krise verloren – ohne jede Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld. Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren“ (Guido Zeitler, Gewerkschaft NGG). Der DGB fordert, geringfügige Beschäftigung sollte vollständig sozialversicherungspflichtig werden.

Die Konsequenz aus diesen Einsichten, die Organisierung von prekär Beschäftigten voranzutreiben, um für die Abschaffung solcher Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, bleibt jedoch aus. Stattdessen setzen die Gewerkschaften auf folgenlose Appelle an die Regierung und fordern staatliche Regulierung. Nach dem Willen des DGB sollen Beschäftigte vom Staat besser über ihre Rechte aufgeklärt und Verstöße gegen den Gleichheitsgrundsatz härter bestraft werden.

Haushaltshilfen

Deutlich wird dieser staatskorporatistische Umgang des DGB mit der wachsenden prekären Beschäftigung am Beispiel von Minijobs in Privathaushalten. Von den ca. 3,6 Millionen Haushaltshilfen, die in deutschen Haushalten arbeiten, sind ca. 80 % nicht über die Minijobzentrale angemeldet, also illegal beschäftigt. Ein Großteil arbeitet als Pflegekräfte in den Familien.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich hier das Modell der „24-Stunden-Pflege“. Das System der 24-Stunden-Pflege alter Menschen in den eigenen vier Wänden funktioniert vor allem, weil Zehntausende schlecht bezahlter ausländischer Pflegekräfte, vorwiegend Frauen aus EU-Osteuropa und der Ukraine, sie betreuen, pflegen und versorgen. Für das deutsche Pflegemodell sind die osteuropäischen Betreuungskräfte mittlerweile systemrelevant. Ohne sie würde das System zusammenbrechen, sie ersparen den Pflegekassen Milliardenbeträge. Dafür schaut der Staat seit Jahren weg und toleriert die durch die Bank prekären Arbeitsbedingen der osteuropäischen Pflegekräfte. Die arbeiten in der Regel unter sehr fragwürdigen Bedingungen: rund um die Uhr, kein Urlaub, wenig Geld (1.300 – 1600 EUR). „Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dem Laissez-Faire durch ein Grundsatzurteil nun Grenzen gesetzt. Das höchste deutsche Arbeitsgericht entschied, dass einer Bulgarin, die von einer bulgarischen Agentur vermittelt wurde und die nach eigenen Angaben rund um die Uhr eine über 90 Jahre alte Seniorin in Berlin versorgte, der deutsche Mindestlohn zusteht – auch für Bereitschaftszeiten. Das System der 24-Stunden-Pflege gerät damit ins Wanken.“ (ARD,Tagesschau, 25.06.2021)

Das Grundsatzurteil setzt dieser Praxis nun Grenzen? Oder? Davon ist noch nichts zu sehen und nichts zu erwarten. Danach stehen einer 24- Stunden-Pflegekraft über 9.000 EUR/mtl. zu. Das können sich nur wenige leisten. Zudem ist der Entscheid erstmal ein Einzelurteil für die bulgarische Pflegekraft. Dass nun massenhaft Klagen bei den Arbeitsgerichten eingehen, ist bisher nicht der Fall und auch nicht zu erwarten. Denn auch die meisten migrantischen Pflegekräfte sind auf die Scheißjobs angewiesen, da Besseres nicht zu haben ist – nicht in Deutschland und in ihren Heimatländern schon gar nicht. So schränkt man sich ein, wohnt im Haushalt der Pflegebedürftigen, pflegt, kocht, putzt und kümmert sich 12 Std. am Tag und schläft auf dem Sofa neben dem Pflegefall in Dauerbereitschaft. Für Unterkunft und Verpflegung werden i. d. R. noch einige Hundert EUR angerechnet, sodass oftmals weniger als 1.000 EUR netto an die Familie ins Heimatland geschickt werden können, die dort ihren Lebensunterhalt notdürftig sichern. „Unzulässige Arbeitszeiten, mangelnde Integration und soziale Absicherung, aber auch unklare Qualifikation und Haftung sind nur einige der kritischen Punkte“, so der Forderungskatalog von Andreas Westerfellhaus, des Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung. Die 24-Stunden-Betreuung müsse daher zu einem „Megathema der Politik“ werden. Das Ziel sei weder, funktionierende Pflegesettings zu zerstören noch prekäre Arbeitsbedingungen und fragwürdige rechtliche Konstellationen zu tolerieren.

Das Gesundheitsministerium sieht das offenbar anders. Es gebe keine Pläne, die in Deutschland geltenden Ausnahmen von internationalen Arbeitsschutzvorschriften für 24-Stunden-Pflegekräfte zu ändern, schreibt es. „Bedarf für Änderungen mit Blick auf das von Deutschland ratifizierte Übereinkommen Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte der internationalen Arbeitsorganisation sieht die Bundesregierung nicht“, heißt es in der Antwort des Ministeriums auf eine Anfrage der Linkspartei. Die Konvention der internationalen Arbeitsorganisation ILO regelt unter anderem die Arbeitszeiten. Davon sind in Deutschland aber Personen ausgenommen, die im Haushalt von Pflegebedürftigen leben. Dazu zählen damit auch Beschäftigte im Rahmen einer 24-Stunden-Pflege.

So bleibt erst einmal alles beim Alten.

Im Konzept des DGB, mit dem schönen Namen „Arbeitsplatz Privathaushalt – Gute Arbeit ist möglich“, steht nicht etwa die Interessenvertretung der meist migrantischen Beschäftigten im Zentrum, sondern die Bezuschussung professioneller Dienstleister:innen zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung im Haushalt. Auch sollen nicht mehr die Vermittlungsagenturen, bei denen die ausländischen Haushaltshilfen rechtlich angestellt sind und die fette Vermittlungsprovisionen kassieren, nach den Plänen des DGB für die Sozialversicherungsbeiträge aufkommen, sondern der Staat. Zudem soll der Zoll bisher unzulässige Kontrollen in Privathaushalten durchführen, um die Schwarzarbeit zu bekämpfen.

Während in Europa und weltweit immer mehr Gewerkschaften prekär Beschäftigte organisieren und diese Schichten der Arbeiter:innenklasse vielerorts schon das Rückgrat der Gewerkschaftsbewegung bilden, um mit konsequenten Arbeitskämpfen für eine Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen, setzen die deutschen Gewerkschaften auf staatliche Regulierung und Kontrollen statt auf gewerkschaftlichen Kampf mit den Betroffenen.

  • Abschaffung aller nicht sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsmodelle!
  • Keine Beschäftigungsmodelle unterhalb des Mindestlohn im Beschäftigungsland, wie z. B. für Haushaltshilfen, Saisonarbeitskräfte/Erntehelfer:innen, Werk- und ausländische Arbeitsverträge!
  • Aufnahme von allen in Deutschland beschäftigten Ausländer:innen in die Gewerkschaften.