NATO, USA, EU, Russland, Ukraine: Ein Propagandakrieg und seine Hintergründe

Frederik Haber, Neue Internationale 262, Februar 2022

Revolutionäre KommunistInnen dürfen sich von der Propaganda der Herrschenden nicht beeindrucken lassen, schon gar nicht von den FührerInnen der imperialistischen Länder, also denen, die in der Lage sind, andere Länder zu unterdrücken und auszubeuten, sei es auf politischem, wirtschaftlichem oder militärischem Wege. Deren ganzes Bestreben ist einzig und allein darauf ausgerichtet, dies besser zu machen als ihre KonkurrentInnen.

Ganz besonders gilt es, die Lügen der Herrschenden im eigenen Land zu entlarven. Die Tatsache, dass linke wie rechte bürgerliche Medien, von der TAZ über den Spiegel bis zu FAZ und WELT, die gleiche Stoßrichtung einschlagen und die gleiche Wortwahl nutzen, belegt nicht deren Wahrheitsgehalt, sondern vielmehr die Entschlossenheit des Imperialismus – in diesem Falle des deutschen.

Lügen und Verfälschungen

Zu den billigen Lügen gehört, dass die (vermeintlichen) Truppenbewegungen Russlands berichtet werden, die der NATO nicht. Zum Beispiel die Tagesschau am 22. Dezember 2021: „Angesichts der russischen Truppenbewegung an der Grenze zur Ukraine hat die NATO offenbar mit einer ersten konkreten militärischen Maßnahme reagiert. Die Einsatzbereitschaft der schnellen Eingreiftruppe sei erhöht worden, berichtet die ‚Welt‘ unter Berufung eines ranghohen NATO-Diplomaten.“

Das ist gelogen. Es war nicht die „erste“ Maßnahme: Schon Anfang Dezember hatte sich die NATO zu einer Konferenz in Riga getroffen und bei der Gelegenheit das erste von 5 geplanten Manövern in Lettland abgehalten. Von wegen „einer ersten konkreten militärischen Maßnahme“! Es war die NATO, die mit „Truppenbewegungen an der Grenze“ schon Wochen vorher angefangen hatte. Genauso wie es Bilder der US-Geheimdienste gibt, die Reihen von LKWs in irgendwelchen Wäldern zeigen, gibt es übrigens solche von NATO-Ausrüstung, die in den Wäldern Polens und Norwegens stehen soll und dies vermutlich auch tut. Und auch das nicht erst seit dem 22. Dezember.

Die Frage, die auf der Hand liegt, lautet: Warum sollte Putin eigentlich in die Ukraine einmarschieren wollen? In der Propaganda wird diese nicht nur nicht beantwortet. Sie wird von den Medien offensichtlich bewusst nicht einmal gestellt. Stattdessen wird suggeriert, das habe er schon immer wollen, er habe ja 2014 die Krim annektiert und die „SeparatistInnen“ unterstützt. Die Welt hat offensichtlich erst 2014 begonnen, sich zu drehen.

Medien, PolitikerInnen und Militärs reden nicht davon, wie es zur „Separation“ in der Ostukraine kam und wie zur Annexion der Krim. Die propagandistischen Halb- und Viertelwahrheiten bestärken die Vermutung, dass es in der aktuellen geostrategischen Auseinandersetzung unter anderem genau um dieses Land geht, genauer gesagt, um die Bereinigung der Lage in der Ostukraine.

Der Putsch von 2014 …

Ende 2013 entstand eine diffuse Protestbewegung in der Ukraine, damals wie heute eines der ärmsten Länder Europas. Losgetreten wurde sie von rechten AktivistInnen und prowestlichen NGOs, die eine Neuauflage der „orangenen Revolution“ von 2004 wollten, die einen neoliberalen prowestlichen Präsidenten ins Amt gehievt hatte, der dies aber bei den nächsten Wahlen wieder verlor. Die Regierung in Kiew reagierte brutal auf diese Versuche und ihre Brutalität entfachte echte Massenproteste, die auch soziale Fragen aufwarfen. Diese Bewegung richtete sich natürlich gegen die damalige Regierung und den Staatspräsidenten Janukowitsch (Janukowytsch). Der zentrale Platz in Kiew wurde besetzt und gab der Bewegung den Namen: Maidan. Sehr schnell übernahmen nationalistische, rechtsradikale und faschistische Kräfte die Führung dieser Aktionen.

Die Bewegung wurde politisch rechts ausgerichtet. Soziale Forderungen wurden marginalisiert und allenfalls in einer populistisch-rechten Form verbreitet. Ansonsten dominierten Hoffnungen in die EU als freien Markt, der individuellen Aufstieg ermögliche. Die breite Solidarisierung ging zurück, aber rechte politische Strukturen etablierten sich vor allem im Westen des Landes.

Es gelang dem Maidan mit Provokationen und viel Unterstützung seitens der USA, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 5 Mrd. US-Dollar in die Schlacht um die Ukraine geworfen hatten, aber auch der BRD und ihrem Schlepptau in der EU, die politisch schwache Regierung Janukowitsch zu stürzen. Ein zentraler Konfliktpunkt war deren Zögern gewesen, einen Vertrag mit der EU zu ratifizieren, der dieser weitgehende Ausbeutungsmöglichkeiten sichern sollte. Russland wollte dagegen die Ukraine weiter als seinen Satelliten halten und offerierte seinerseits günstige Kredite.

Nach der Machtergreifung versuchte die neue Regierung, ihr Programm aggressiv durchzusetzen. Um den Staatshaushalt und den Krieg gegen den Osten zu sichern, brauchte sie Kredite vom IWF und Hilfsgelder von EU und USA. Mit der EU wurde das Assoziierungsabkommen in zwei Schritten beschlossen. Die sozialen Kosten für diese Maßnahmen mussten die lohnabhängigen und bäuerlichen Massen tragen – und zwar nicht nur im Osten.

Zugleich verfolgte die Kiewer Regierung einen aggressiven Kurs, um ihre Machtansprüche im Osten des Landes durchzusetzen: Nationalistische Sprachpolitik, d. h. das Verbot der russischen Sprache, Ersetzen von GouverneurInnen, Legitimierung der neuen Regierung durch Putsch der „neuen“ Parlamentsmehrheit und über Aktionen auf der Straße.

Nach der Machtergreifung des „Maidan“ wurden alle jene Linke, die sich gegen die Regierung und die FaschistInnen wehrten, brutal angegriffen. Die Kommunistische Partei der Ukraine und sozialistische Organisationen wie Borotba wurden verboten. Am 26. Juni 2014 griff der faschistische „Rechte Sektor“ z. B. eine Gewerkschaftsversammlung brutal an – die Polizei schaute zu. Diese Repression gegen Linke, Gewerkschaften und soziale Bewegungen setzt sich fort. Vor kurzem wurden 5 Sender verboten, die nicht genügend regierungskonform waren – was bei den demokratischen westlichen Medien ebenfalls keine Kritik hervorrief.

 … und die Gegenbewegung

Der Maidan war nie eine landesweite Bewegung und das Gros der ArbeiterInnenklasse verhielt sich ihr gegenüber reserviert – aus verständlichen Gründen. Der ukrainische Nationalismus bildete von Beginn an den ideologische Kitt des Maidan, was notwendigerweise die russischsprachige Bevölkerung v. a. im Osten und Süden des Landes abstoßen musste.

Es entstand eine Gegenbewegung im Osten, die sich erstens gegen den ukrainischen Nationalismus und die Unterdrückung der russischen Sprache wandte, gegen den Terror der FaschistInnen, aber auch richtig verstand, dass eine Ukraine unter dem EU-Imperialismus ihre Industrie und den Bergbau im Osten sowie die Werften am Schwarzen Meer zerschlagen bekommen, also dasselbe Schicksal wie auch andere EU-Neuzugänge erleiden würde.

Dagegen versprach die Fortsetzung der engen industriellen Arbeitsteilung mit Russland der Industrie wenn auch keine goldene Zukunft, so doch ihren Fortbestand.

Diese Gegenbewegung führte auf der Krim zu einer Volksabstimmung für den Anschluss an Russland mit einer Mehrheit von 96,7 % bei einer Wahlbeteiligung von über 80 %. Gleichzeitig besetzten russische Truppen ohne Abzeichen dort alle Schaltstellen der Macht.

Die Ukraine und die UNO halten den Anschluss der Krim für illegal, den Putsch in Kiew und die Absetzung des Parlaments der Krim durch die Kiewer Regierung dagegen für legal. (Bemerkenswerterweise halten sie das vergleichbare Vorgehen bei der Abspaltung des Kosovo von Serbien für legal, während Russland dies wiederum als völkerrechtswidrig einstuft.)

Donbass

Die demokratische Volksbewegung im Osten akzeptierte die Absetzung ihrer gewählten lokalen Vertretungen durch die Putschregierung nicht. Sie fürchteten zu Recht die Pogrome der NationalistInnen zu einer Zeit, als die „Demokratin“ Timoschenko (Tymoschenko) davon sprach, „alle Russen eigenhändig auszurotten“.

Es kam zu Besetzungen von Rathäusern in fast allen Städten im Osten und Südosten. In den meisten gelang es Regierungstruppen, Polizei und FaschistInnen, den Aufstand niederzuschlagen. In Lugansk (Luhansk) und Donezk konnten sich die Aufständischen halten.

In den folgenden Kämpfen gab es um die 10.000 Tote auf beiden Seiten, darunter auch viele Opfer aus der Zivilbevölkerung durch die Regierungskräfte. Dem schrecklichen Pogrom in Odessa fielen mindestens 43 Menschen zum Opfer. Täter waren Killertrupps, die in enger Verbindung zur Putschregierung in Kiew standen. Sie griffen ein Camp der Volksbewegung an, viele flüchteten von dort ins Gewerkschaftshaus. Die FaschistInnen legten Feuer, Menschen verbrannten oder wurden erschlagen. Weder Feuerwehr noch Polizei griffen ein.

Lugansk und Donezk konstituierten sich als „Volksrepubliken“. Sie konnten der scheinbaren Übermacht Kiews trotzen, aus mehreren Gründen: Die Wehrpflichtigenarmee der Regierung war für einen Bürgerkrieg untauglich, viele desertierten. Es musste erst eine Elitetruppe, die Nationalgarde, aufgebaut werden. Die faschistischen Einheiten auf Seiten der Regierung, die von ukrainischen OligarchInnen und aus internationalen Quellen finanziert wurden, provozierten mit ihrem Vorgehen eher Widerstand. Es gab viele Freiwillige aus Russland, aber auch aus anderen Ländern, und militärisches Material, mindestens mit Wohlwollen der russischen Regierung geliefert.

Minsker Abkommen

Als sich die Fronten einigermaßen verfestigt hatten, wurde unter Merkels Führung ein Waffenstillstand vereinbart. Beteiligt waren daran die ukrainische Zentralregierung, die Volksrepubliken, Russland und Frankreich sowie die OSZE. In zwei Abkommen wurde der militärische Status quo festgeschrieben, der bis zum Schluss noch verändert werden sollte: Die Regierung wollte den Flughafen Donezk erobern, die Aufständischen versuchten, Mariupol zurückzugewinnen, und waren letztlich erfolgreich bei der Einkesselung der Regierungstruppen bei Debalzewo (Debalzewe). Die drohende Niederlage dort hatte letztlich zum Einlenken von Kiew geführt.

Neben der Festschreibung des Status quo gab es vage Formulierungen für die Zukunft, die beiden Bürgerkriegsparteien erlaubten, das Gesicht zu wahren, die aber nicht umgesetzt werden konnten.

Die Jahre seit dem Minsker Abkommen haben zugleich auch die Verhältnisse im Donbass verändert. 2014/15 gab es in den Volksrepubliken durchaus auch linke, fortschrittliche Initiativen. Die Verstaatlichung von Bergwerken und Industrie wurde diskutiert und teilweise umgesetzt, landwirtschaftliche Kooperativen entstanden – teilweise aus militärischem und wirtschaftlichem Zwang, teilweise mit kleinbürgerlich-linken ideologischen Ansätzen. Heute sind diese linken Initiativen erlahmt und zerstört, einige der linkspopulistischen Führer wie Mozgowoi (Mozgovoy) und Bednow („Batman“) wurden ermordet. In den Republiken selbst gibt es wohl Fragen, wie es weitergeht, und um diese auch Konflikte zwischen den jeweiligen AnführerInnen.

2014 verzichtete die Russische Föderation auf eine direkte, staatliche Integration der Ostukraine, auch wenn sie militärisch leicht möglich gewesen wäre. Das hatte einerseits mit den damals unsicheren inneren Verhältnissen zu tun. Andererseits dient der unsichere Status der Donbassrepubliken als diplomatisches Faustpfand. Für Putin und den russischen Imperialismus stellen sie Kleingeld im Kampf um die Neuordnung der Region dar.

USA gegen Deutschland

Neben dem Bürgerkrieg innerhalb der Ukraine und dem globalen Konflikt USA gegen Russland gab es eine dritte Front – innerhalb des westlichen Bündnisses. Der deutsche Imperialismus und in seinem Gefolge die EU wollten zwar die Assoziierung der Ukraine, so wie sie das auch sonst in Osteuropa getan hatten: Überschwemmung des Warenmarktes, Integration in die Arbeitsteilung, (Stilllegung großer Teile der Industrie, Aufkauf der interessanten „Kerne“, „verlängerte Werkbank“ zu Niedriglöhnen), Arbeitskräftereservoir. Die Ukraine ist zusätzlich besonders begehrt für ihre großen, z. T. sehr fruchtbaren landwirtschaftlichen Flächen, auf die die deutsche Agrarindustrie gierig schielt.

Aber Deutschland strebte und strebt durchaus gute Beziehungen mit Russland auf wirtschaftlicher Ebene an: Öl und Gas importieren, Maschinen und Autos exportieren. Kurz vor der Ukrainekrise 2014 waren die EU und Russland fast so weit, das Visa-Regime gegenseitig zu erleichtern.

Der US-Imperialismus hegte und hegt andere Interessen. Seine wirtschaftlichen Beziehungen sind sowohl mit der Ukraine als auch mit Russland schwach. Ihm geht es darum, die militärische Macht Russlands zu brechen, zu verhindern, dass der russische Imperialismus ihm an allen möglichen Ecken der Welt in die Quere kommt.

Zweitens sind die EU und Deutschland auch KonkurrentInnen der USA. Die Störung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland ist diesen mindestens genauso wichtig. Heute zeigt das der Kampf der USA gegen „Nordstream 2“. Es war immer auch in ihrem Interesse, die EU uneinig zu halten – oder besser gesagt – es dem französischen und deutschen Imperialismus so schwer wie möglich zu machen, die EU nicht nur wirtschaftlich zu dominieren, sondern auch zu einem eigenständigen imperialistischen Block zu formieren. Konflikte in Osteuropa sind immer geeignet, die baltischen Länder, Polen oder Ungarn gegen Deutschland und die EU zu mobilisieren.

2014 in Kiew stellte sich dieser Konflikt so dar: Die BRD hatte mit dem damaligen Außenminister Steinmeier eine gemeinsame Übergangsregierung unter Einschluss Janukowitschs und der „MaidansprecherInnen“ vereinbart. Die USA forderten die rechtsnationalistischen und faschistischen Banden des „Rechten Sektors“ zum Sturm auf das Parlament auf. Janukowitsch floh. Berühmt wurden die (abgehörten) Worte der US-Beauftragen Victoria Nuland in diesem Zusammenhang: „Fuck the EU“.

Die Minsker Abkommen als Versuch Deutschlands, die Beziehungen zu Russland zu normalisieren, wurden von den USA immer abgelehnt. Nuland damals: „Sie fürchten sich vor Schäden für ihre Wirtschaft, Gegensanktionen der Russen“ und „Wir können gegen die Europäer kämpfen, rhetorisch gegen sie kämpfen … “

Heute wird diese Front z. B. sichtbar, wenn CDU-Chef Merz feststellt, dass eine Einstellung des internationalen Überweisungssystems „SWIFT“ keinesfalls geeignet für Sanktionen sei. Darüber hinaus zeigen sich die inneren Gegensätze der EU letztlich auch in inneren Konflikten der herrschenden Klasse, in Regierung wie in der parlamentarischen Opposition. Die FPD und die Grünen markieren dabei die größten, pro-US-amerikanischen Kriegstreiberinnen, während v. a. die SPD, aber auch CDU/CSU – siehe nur Söders Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine – gespalten sind.

Während die ArbeiterInnenklasse im großen globalen Kampf zwischen der US/NATO-geführten westlichen Allianz unter Einschluss Deutschlands und der EU einerseits und Russlands mit China im Rücken andererseits keine Seite unterstützen darf, stellen die verschiedenen Flügel innerhalb des deutschen politischen Establishments nur unterschiedliche strategische Orientierungen innerhalb der herrschenden Klasse dar.

Die ArbeiterInnenklasse und die Linke sollten vielmehr diese inneren Widersprüche nutzen, um eine schlagkräftige Antikriegsbewegung auf die Beine zu stellen. Frei nach dem Motto von Karl Liebknecht: Der Hauptfeind steht im eigenen Land!