ImpfgegnerInnen: Von wegen körperliches Selbstbestimmungsrecht!

Leo Drais, Neue Internationale 2022, Februar 2022

Ende Januar 2022 liegt die Impfquote der gegen Corona durchgeimpften Menschen in Deutschland bei ungefähr 73 %. Mehr als 25 % der impftauglichen Bevölkerung und über 3 Millionen der über Sechzigjährigen – Menschen mit erhöhtem Risiko, schwer an Covid zu erkranken – sind ungeimpft. Ein bedeutender Teil der nicht geimpften Erwachsenen sind bewusst Ungeimpfte – nach rund einem Jahr Impfkampagne fehlt es zwar noch immer an Information für Teile der Bevölkerung, aber das trifft auf die Mehrzahl der ImpfgnerInnen nicht zu. Sie haben sich entschieden, obwohl die Gesundheitsrisiken bei einer Impfung nachweislich gering sind.

Das drückt sich auch in Zahlen aus. Laut Paul-Ehrlich-Institut (PEI) sind bis November 2021 in der Bundesrepublik 123.347.849 Corona-Impfungen verabreicht worden. In 0,16 Prozent der Fälle wurden relevante Nebenwirkungen gemeldet, in gerade mal 0,02 Prozent (26.196) der Fälle schwerwiegende. In 78 Einzelfällen spricht das PEI davon, dass Menschen wahrscheinlich ursächlich an einer Impfreaktion verstorben sind. Natürlich ist das tragisch, für Einzelne gilt Statistik nicht. Vom Standpunkt der gesamten Gesellschaft aus betrachtet, wo definitiv Tausenden das Leben durch eine Impfung gerettet wurde, gleicht sich das Risiko jedoch mehr als aus. Schließlich war der Großteil der IntensivpatientInnen in den letzten Monaten ungeimpft. Abertausende Impftote sind also ein hysterisch erlogener Fake.

Im Folgenden wollen wir uns nicht mit einer möglichen Impfpflicht, wohl aber mit dem Argument auseinandersetzen, dass diese gegen das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper verstoße und daher ganz grundsätzlich abzulehnen sei.

Kollektiver Schutz oder individuelle Entscheidung?

Impfungen werden dabei zwar als ein Mittel des individuellen Gesundheitsschutzes, der „freien Entscheidung“ anerkannt, dass sie jedoch ein gesellschaftlich-allgemeines Ziel verfolgen, nämlich den Gesundheitsschutz insgesamt zu erhöhen, fällt bei dem „grundsätzlichen“ Beharren auf das Selbstbestimmungsrecht unter den Tisch.

Dabei ist die Sache recht einfach. Eine Bevölkerung impft sich gegen ein gefährliches (tödliches) Virus. Sie nimmt dabei unvermeidlich auch das Risiko in Kauf, dass Einzelne einen Impfschaden erleiden. Im Kapitalismus, einer Gesellschaft, die sich in der verallgemeinerten Konkurrenz verwirklicht, beginnen hier aber auch schon die Probleme.

Ideeller Gesamtkapitalist

Erstens, weil es in der Politik der BRD von Beginn an darum ging, nicht für den bestmöglichen Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu sorgen, sondern darum, das Infektionsgeschehen irgendwie in eine Bahn zu  bugsieren, die dem deutschen Finanzkapital möglichst erträglich ist und gewissem politischen Kalkül folgt. Die bürgerliche Politik richtet sich nach dem individuellen Interesse einer Klasse. Das setzt sich auch beim Impfschutz fort.

Die Motivation jedes kapitalistischen Staates ist dabei nicht zuerst, bald wieder ein kulturelles Leben zu ermöglichen (das steht vielleicht an zweiter Stelle), sondern den Unternehmen arbeitsfähige Arbeitskräfte bereitzustellen. Impfungen bilden dabei für das Kapital im Vergleich zu hohen Zahlen schwerer Erkrankungen und des Ausfalls von Arbeitskräften sogar relativ kostengünstige Formen der Gesundheitsvorsorge, z. B. verglichen mit dem Ausbau von Krankenhäusern.

Die Tatsache, dass auch der Staat als ideeller Gesamtkapitalist und das Gesamtkapital an einer verfügbaren, also auch arbeitsfähigen ArbeiterInnenklasse interessiert sind, heißt freilich keineswegs, dass die einzelnen Kapitale oder selbst der Staat immer konkret in der Lage oder willig sind, das zu organisieren. Schließlich ist jede Form der Gesundheitsvorsorge vom Standpunkt einzelner Kapitale auch ein Abzug vom (möglichen) Profit, erscheint als überschüssige Kosten, die am besten einzusparen sind – wie man ja auch am Kaputtsparen der Krankenhäuser oder am Impfnationalismus sehen kann.

Die Tatsache, dass das Kapital gesunde Arbeitskräfte, also solche die auch einen Gebrauchswert haben, benötigt, heißt freilich nicht, dass der ArbeiterInnenklasse selbst die eigene Gesundheit egal sein kann oder ist. Genauso wie die Lohnabhängigen ein Interesse am Arbeitsschutz haben, obwohl dieser auch bedeutet, dass der Produktionsprozess reibungsloser ablaufen kann und die Arbeitskraft als Ware erhalten bleibt, hat die ArbeiterInnenklasse ein kollektives Interesse an möglichst wirksamen Maßnahmen. Auf die Bekämpfung einer Pandemie bezogen, schließt das einen Ausbau der medizinischen Versorgung, massive Neueinstellungen ebenso ein wie einen effektiven Impfschutz. Obwohl dieser (wie jede Form der Gesundheitsvorsorge) unter wirtschaftsorientierten Prämisse stattfindet, heißt das daher nicht, dass Impfungen an sich abzulehnen sind.

KleinbürgerInnentum

Zweitens stößt der Kollektivgedanke im Kapitalismus sowieso schnell an Grenzen, weil sich im Wettbewerb erst mal jede/r selbst am nächsten ist und somit zum Individualismus getrieben wird.  Besonders betroffen ist davon das KleinbürgerInnentum, das mit seiner kleinen eigenständigen Existenz zwischen ArbeiterInnenklasse und Kapital glaubt, es wäre seines eigenen Glückes Schmied. Pandemie und Krise sind diesem Glück nun in die Quere gekommen, eben auch, weil sowohl Merkel als auch Scholz darum bemüht waren, Lufthansa und Co. die Lasten der Krise zu nehmen und sie der breiten Bevölkerung aufzuladen. FriseurInnen und Restaurants mussten zurückstecken und schließen, als VW und die anderen Großkapitale in der Krise gestützt und geschützt wurden.

Dementsprechend war und ist das KleinbürgerInnentum die Speerspitze nicht nur der Coronaleugnung, sondern auch ihrer logischen Fortsetzung – der ImpfgegnerInnenschaft -, welche zudem bis ins tiefste rechte Lager reichen. Blind wäre es natürlich, das nur so zu sehen. Jahrzehntelange Niederlagen im Klassenkampf, reformistische Vormachtstellung und serviles, eigennütziges Nachlaufen der Gewerkschaftsführungen, LINKEN und SPD hinter den Bossen (gerade in der Pandemie) haben das Klassenbewusstsein von bedeutenden Teilen der ArbeiterInnenklasse erodiert, zersetzt und diese für Wirrwarr und Geschwurbel empfänglicher gemacht.

Wissenschaft, Irrationalismus und Psyche

Natürlich ist nicht jede/r ImpfgegnerIn ein/e CoronaleugnerIn. Das Spektrum ist fließend und ein sehr breites – von schulterzuckender Gleichgültigkeit („Wird schon nicht so schlimm sein“) über chronischen Wissenschaftsskeptizismus („Ob der Impfstoff wirklich sicher ist und was bringt?“) bis hin zu bizarren, panischen Verschwörungstheorien („Impfen bewirkt Massensterben!“), wobei insbesondere jene antisemitischen VerkleistererInnen gefährlich und überaus ekelhaft sind, die sich einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ ans Revers heften, was nichts anderes als eine Verharmlosung der Shoah ist.

Während der Bundestagsdebatte am 26. Januar demonstrierten etwa 2.000 gegen die Impfpflicht, jede Woche finden Dutzende solcher Demos im gesamten Land statt. Vereint werden die „SpaziergängerInnen“ durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Irrationalismus, was stets wissenschaftsfeindlich und auf bestimmte Weise realitätsverneinend geraten muss.

Denn grob gesagt hat das vereinzelte Individuum zwei Möglichkeiten, mit der Pandemie und der Krise psychisch fertig zu werden: Entweder es erkennt die Realität mit ihren Widersprüchen an und hält diese aus, z. B. indem es einsieht, dass Impfungen schützen, obwohl sie von der verfluchten Regierung und dem Robert-Koch-Institut, die einem den Laden mehrmals dichtgemacht haben, empfohlen werden. Zur Anerkennung der Realität gehört dabei auch festzustellen, dass Wissenschaft und Medizin sich zwar ebenfalls den kapitalistischen Erfordernissen der Herrschenden unterordnen (oder wie bei BioNtech selbst zu Profiteurinnen der Pandemie werden), sie aber trotzdem wirksame Impfstoffe hervorgebracht haben.

Die andere Möglichkeit ist, dass das Individuum vor dieser schlechten, widersprüchlichen Realität zu entfliehen trachtet.

Im Kopf findet eine Realitätsanpassung statt, die sich offener ImpfgegnerInnenschaft ausdrückt. Das Problem ist, dass gerade die aktive ImpfgegnerInnenschaft wie auch die sich in Verschwörungstheorien und Leugnung ergehende Realitätsverzerrung mit unbewussten Affekten gefüttert wird. Sie ist kein Ergebnis aus logisch-rationalem, bewusstem Denken. Das psychische Ich wehrt sich gegen eine Wirklichkeit, die es nicht aushält, indem die Welt so gemalt wird, dass sie gefällt. Das kann auch zur Folge haben, sie im Unbewussten so weit zu verwandeln, bis die Impfung nichts mehr bringe, extrem gefährlich oder einfach zum Werkzeug verborgener Mächte und der Herrschenden geworden sei, um angeblich  die Bevölkerung zu dezimieren. Bloße Aufklärung hilft hier kaum. Im Psychischen übersetzt sich die natürliche und gesellschaftliche Totalität, die dem einzelnen Menschen selbst nur verschleiert gegenübertritt, in Gedanken und Handeln.

Verknüpfung

Die kapitalistische Realität selbst bringt den Irrationalismus ständig hervor. Einerseits verfolgt das Kapital seine Zwecke auf sehr berechnende, rationale Art, indem die Produktivität immer mehr gesteigert wird. Doch diese Steigerung im einzelnen Produktionsorganismus oder der bürokratischen Rationalität des Staatsapparates entspricht, dass diese Art Vermehrung des Reichtums keinem allgemeinen, gesellschaftlich vernünftigen Zweck, sondern dem bornierten Heißhunger nach Mehrwert, dem Kampf um maximalen Profit folgt. Der Irrationalismus wird also nicht von CoronaleugnerInnen in eine ansonsten vernünftige Mitte der Gesellschaft getragen, vielmehr trägt ihn schon der kapitalistische Normalzustand, der normale Fortgang der Akkumulation in sich.

In Krisen verbindet sich offen rechte, aggressive Ideologie z. B. mit einer Leugnung der Klimakrise oder einer Kritik an einer völlig inkonsequenten, kaum überschaubaren und direkt irrwitzigen Coronapolitik (die behauptet, mit der Impfpflicht alleine wäre der Pandemie ein Ende zu machen). Die irrationale Wirklichkeit, sie muss sich auch in einem falschen Bewusstsein fortsetzen, wo die Welt scheinbar wieder erklärbar wird: Wenn es Corona erst gar nicht gibt, was braucht es dann die Impfung? Oder umgekehrt: Wenn die Impfung so gefährlich ist, ist sie abzulehnen dann nicht ein rationaler Schutz der Allgemeinheit?

Absolutes Recht und Freiheit?

Es ist wichtig, auf den Unterschied zwischen ImpfgegnerInnen und ImpfpflichtgegnerInnen hinzuweisen. Während die Ersteren auch stets die Letzteren sind, gilt das umgekehrt nicht. Viele lehnen die Impfung nicht ab, argumentieren aber, dass die Impfpflicht einen diktatorischen Eingriff in das körperliche Selbstbestimmungsrecht ausübe.

Dabei ist das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper nicht erst seit der Impfpflichtdebatte gefährdet, sondern für die allermeisten sowieso schon eine Fiktion und das nicht einfach, da nie gefragt werden konnte, ob wir geboren werden wollen oder nicht.

Wie war das denn nochmal mit dem Recht, das eigene Leben beenden zu lassen? Strafbar! Da ist der Mensch hierzulande zum Leben verdammt. Er wird Jahre und Tage durchs Leben geschleift, er soll arbeiten (auf dem gelben Zettel heißt es ja auch „arbeitsunfähig“ und nicht „krank“) oder Kliniken und Pflegeheimen die Kasse füllen. Aber Achtung! Wenn er doch mal kommt, der dritte Weltenbrand, dreht sich das Spiel um. Das sonst so heilige Leben muss wieder geopfert werden für die Nation und den deutschen Imperialismus.

Darüber hinaus: Für die ArbeiterInnenklasse ist es im Kapitalismus das tägliche Spiel, erzwungen die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und dem Kapital zur Verfügung zu stellen, ergo für eine bestimmte Zeit nicht über den eigenen Körper und das, was er leisten kann (denken und werken), zu bestimmen.

Und schließlich ist, von der anderen Seite her angeschaut, das Recht und die Freiheit, sich nicht impfen lassen zu dürfen, das Recht und die Freiheit, andere gefährden zu dürfen. Denn obwohl keine Impfung vor einer Infektion mit Corona schützen kann – was auch nie behauptet wurde! –  (der einzige, 100-prozentige Schutz davor, Viren einzuatmen, ist, nicht mehr zu atmen, oder die absolute Isolation), ist ein Mensch mit Impfung weniger lange und stark für andere gefährlich, einfach weil dieser selbst in der Regel nur einen Bruchteil der Viren Ungeimpfter reproduziert.

Ein absolutes Recht auf individuelle Selbstbestimmung führt, wenn es bis zur letzten Konsequenz weitergedacht wird, stets zu reaktionären Ergebnissen, denn es muss das Recht auf Unversehrtheit und Selbstbestimmung aller anderen negieren – nur ich zähle! So wie AbtreibungsgegnerInnen das ungeborene Leben für absolut setzen, und koste es der Mutter das Leben, setzen viele aktive ImpfgegnerInnen das Recht auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit für absolut, wobei sie nicht nur andere, sondern ironischer Weise auch sich selbst potentiell gefährden.

Die besseren Ergebnisse

Solange eine kapitalistisch bedingte Pandemierealität herrscht, wird es beides geben – den offiziellen, demokratischen Irrationalismus im Parlament und seinen wilder werdenden, übersteigerten Konterpart auf der Straße. Wie ein alternativer, rationaler Umgang mit Corona und dessen Auswirkungen aussehen kann, haben wir in anderen Ausgaben und auf unserer Homepage schon mehrfach erläutert. Wir erwähnen bloß nochmal, dass die Impfung alleine nicht das Allheilmittel der Pandemiebekämpfung ist, aber ein integraler Teil deren.

Gegen Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit oder Realitätsverneinung in den Köpfen wird keine Impfpflicht ankommen, auch wenn sie vielleicht dem Körper unterhalb dieser Köpfe zu besserem Schutz verhilft. Dem Irrationalismus den weitgehendsten Garaus zu machen, wird nur möglich sein, wenn es eine Kraft gibt, die eine rationale Antwort auf die Krise und Krisenpolitik der Regierungen gibt. Mittels Kampfs um ein Programm, das nicht die Masse der Bevölkerung – die ArbeiterInnenklasse, Unterdrückte und niedriges KleinbürgerInnentum – für die Kosten der Coronamisere knechtet, sondern glaubwürdig die besseren Ergebnisse in ihrem Interesse liefert, kann der Einfluss des Irrationalen gebrochen werden.

Eigenständige Klassenpolitik

Die Voraussetzung dafür, dass es so eine alternative Kraft überhaupt geben kann, ist, dass linke AktivistInnen, kämpferische GewerkschafterInnen, unzufriedene LINKE und SPDlerInnen mit dem Reformismus und einer Regierung, die selbst nur die irrationale Wirklichkeit des Kapitalismus verteidigen, brechen muss. Sie selbst müssen sich zu einer solchen Kraft aufbauen oder mindestens den Startschuss dazu abfeuern. Das Treiben mancher Linker, den spazierenden Irrungen und Wirrungen nachzulaufen und sie für den Keim einer fortschrittlichen, alternativen Antikrisenkraft zu halten, ist demgegenüber – brandgefährlich.