Umweltpolitik und Umweltbewegung, Kritik des ökologischen Bewusstseins

Markus Lehner, Revolutionärer Marxismus 54, Dezember 2021

Dieser Artikel ist der Versuch einer dialektisch-materialistischen Analyse von Umweltpolitik und ihren Diskursen in der bürgerlichen Epoche, insbesondere in der gegenwärtigen Periode der Verschränkung von kapitalistischer und ökologischer Krise. Es handelt sich daher nicht um eine deskriptiv-normative Darstellung von Umweltpolitik, die von solchen ideologischen Konstrukten wie „wertfreier Wissenschaft“, „mündigen KonsumentInnen“, „Vereinbarkeit von Ökologie und Ökonomie“, „ökologisch korrekter Lebensweise“ oder Ähnlichem ausgeht.

Es geht aber auch nicht um eine bloße Entlarvung von „apokalyptischen Narrativen“ einerseits oder den Erzählungen von einem nachhaltigen, grünen kapitalistischen Wachstum andererseits. Als gesellschaftliche Erscheinungen sind Umweltpolitik und ökologische Theorie Produkte einer langwierigen Auseinandersetzung, die in letzter Instanz wie alles im Kapitalismus mit Klassengegensätzen, Produktions- und Eigentumsverhältnissen zu tun hatten und haben. Die Umweltproblematik ist daher selbst bei Beschränkung auf die bürgerliche Epoche nie ahistorisch immer als ein und dasselbe zu betrachten. Sie wird vielmehr durch die beständige Veränderung des globalen (Re-)Produktionsprozesses, der sich wandelnden Klassenzusammensetzungen, der sich ändernden Verhältnisse von Wissenschaft, Technik, Politik und ihrer ideologischen Widerspiegelungen etc. immer wieder neu definiert. Entsprechend radikal ändern sich die AkteurInnen, die Zuspitzungen, die Aufgabenstellungen etc., in denen sich Umweltpolitik und ökologische Theorie notwendigerweise jeweils darstellen. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. … Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieepoche vor allen früheren aus“ schreiben Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ (Marx/Engels 1959, S. 465).

Dieser revolutionäre und letztlich planlose Gesamtprozess bestimmt auch das Verhältnis zur Ökologie, der im Kapitalismus auch Umweltpolitik beständig neu definiert und einstmals „erreichten Stand“, „umweltpolitische Erfolge“ etc. einer Periode sofort wieder zu Staub von gestern macht. Andererseits: „Die bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. Seit Dezennien ist die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse … “ (ebd., S. 467). Die Krisenhaftigkeit als Kernbestandteil kapitalistischer Entwicklung ist dabei nicht nur eine ökonomische, mit sozialen und politischen Folgen – sondern notwendigerweise auch ein ökologischer, die natürlichen Grundlagen jeglicher Produktivkraft bedrohender Bruch in diesem Entwicklungsprozess.

Umweltpolitik und ökologische Theorie in der bürgerlichen Epoche können daher nur verstanden werden durch ihre jeweilige Einordnung in diesen Veränderungsprozess, der gleichermaßen die beständige Revolutionierung aller Verhältnisse beinhaltet wie auch den krisenhaften Verlauf dieses Prozesses – und der letztlich immer die grundlegende Frage nach der Umwälzung der Produktionsverhältnisse, d .h. Eigentumsverhältnisse selbst stellt. Wenn im folgenden Artikel ein Zickzack von Bewegungen, Theoremen und Bewegungen behandelt wird, dann liegt dies nicht nur an der Unfähigkeit des Autors zur Strukturierung der Thematik. Es ist auch so, dass sich die Darstellungsform dieser dynamischen Entwicklung und ihrer beständigen Brüche anpassen muss, will man nicht den vorherrschenden bürgerlichen Verständnissen von Umweltpolitik aufsitzen.

1. Bürgerliche Umweltpolitik – von Beginn an mit Widersprüchen behaftet

Umweltpolitik war immer schon Teil bürgerlicher Politik – auf eine ganz spezifische Weise. Als Kernelement liberaler Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert wurde der Fortschritt der Produktivkräfte in der Neugestaltung der städtischen Infrastruktur fortgeführt mit dem Ziel von „Hygiene“ und gesünderen Lebensverhältnissen: in großen Projekten der Kanalisation, der Wasserversorgung, der Abfallentsorgung, großzügigeren Anlagen von Wohnvierteln, Parkanlagen etc. Dies war zwar ein Schwerpunkt bürgerlicher Politik – ging aber an den größten, wachsenden Teilen (Rändern) der Städte völlig vorbei. Eindrucksvoll schildert dies Friedrich Engels in „Die Lage der arbeitenden Klasse In England“ (Engels 1962). Ausführlich stellt er den Kontrast zwischen den modernen bürgerlichen Stadtvierteln von Manchester zu den Behausungen der ArbeiterInnenviertel, die zumeist nicht mal als Teil der Stadt anerkannt wurden, dar. Die Beschreibung des völlig verschmutzten Flüsschens Irk, im Zentrum eines dieser Viertel gelegen, lässt noch heute Übelkeit hochsteigen (S. 281 ff.). Keine Kanalisation, kaum fließendes Wasser, der Fluss als Kloake und dabei noch das letzte Kellerloch neben dem herabfließenden Urin überteuert vermietet – das war die schreckliche Kehrseite der immer grüner und moderner gestalteten bürgerlichen Großstadt.

Dieser hier angedeutete Widerspruch durchzieht auch alle anderen umweltbezogenen Bereiche: ein wachsendes Verständnis für natürliche Kreislaufprozesse, für das Funktionieren von Natur, die Empfindlichkeit der Artenvielfalt ebenso wie die Entdeckung von Natur als Erholungsraum – all dies kontrastierte damit, was die wachsende Industrialisierung nicht nur der arbeitenden Klasse antat. Diese wurde im Produktionsprozess ungeschützt gefährlichen Chemikalien, wie Chlor und Blei, aber auch metallhaltigen Feinstäuben ausgesetzt. Darüber hinaus wurde durch die immens steigende Kohleverfeuerung Schwefel in ungeheurer Menge freigesetzt, der Schwefeldioxid bildete und damit nicht nur ungesunden Smog, sondern vor allem auch sauren Regen hervorbrachte, der für die Pflanzenwelt in der Nähe der Industriegebiete tödlich war. Zusammen mit dem erhöhten Holzbedarf wurden mit diesem sauren Regen insbesondere die Wälder in gewaltigem Ausmaß die Opfer der Industrialisierung.

Es ist daher klar, dass die hier angedeuteten Probleme sowohl in der frühen ArbeiterInnenbewegung, in Organisationen der Land- und Forstwirtschaft, aber auch in den Teilen der Bourgeoisie, die von dem Widerspruch der fortschrittlichen Ansprüche zu den realen Ergebnissen geplagt waren, zu einer politischen Reaktion führten.

Kapitalismus ist ein System, das primär auf der Ausbeutung produktiver Arbeit (in Form der Aneignung von Mehrwert) beruht. Die Verwertung der Mehrarbeit setzt aber die Reproduktion der Ware Arbeitskraft genauso voraus wie die scheinbar unbegrenzte Zufuhr natürlicher Ressourcen bzw. Entsorgung von Abfallstoffen in natürlichen Senken – was über einen längeren Zeitraum selbst auch wieder auf den natürlichen Reproduktionskreisläufen beruht. Insbesondere der Zwang zu stets wachsender Akkumulation führt zu einer Unterwerfung der menschlichen und natürlichen Reproduktion unter die Anforderungen der produktiven Verwertung bis an die Grenzen des Erträglichen: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Marx 1968, S. 529 f.).

Diese destruktive Tendenz des Akkumulationsprozesses bedeutet, dass das Kapital aus sich heraus, als konkurrenzierende Einzelkapitale, keine Schranken dieses Ausbeutungsprozesses auch gegenüber der Natur entwickelt. Das heißt jedoch nicht, dass die bürgerliche Klasse dem nur tatenlos zusieht. Hier kommt es zum Auftreten des Staates als „ideeller Gesamtkapitalist“. Der Widerspruch, dass das Kapital mit seinem schrankenlosen Wachstumstrieb seine eigenen Grundlagen in der Reproduktion untergräbt, wird durch staatliche Maßnahmen in weniger explosive Bewegungsformen abgeschwächt – immer in Unterordnung unter das durch die Konkurrenz der Kapitale erzwungene Verwertungsprinzip. Diese staatliche „Moderation“ wird einerseits durch den Klassenkampf angetrieben. Dieser bewirkte eine Kanalisierung der sich zuspitzenden sozialen Kämpfe, die Integration der ArbeiterInnenbewegung in die kommunale Politik zur Verbesserung der Lebensverhältnisse in den ärmeren Vierteln, ebenso Arbeitsschutz- und Umweltauflagen für Produktionsanlagen aufgrund der Kämpfe der ArbeiterInnen, aber auch von agrarischen Klassen.

Andererseits verkörpert gerade die „Umweltpolitik“ in hervorragender Weise die von Marx beschriebene Spaltung des bürgerlichen Menschen in den „Privatmenschen“ (den Bourgeois) und den „öffentlichen Menschen“ (den Citoyen). Als Bourgeois kann man AnteilseignerIn der größten Dreckschleuderfabrik sein, während man als gute/r StaatsbürgerIn steuerlich absetzbar „großzügig“ an Naturschutzverbände spendet. Auch die großen deutschen Naturschutzverbände, wie Nabu oder BUND, ganz zu Schweigen von bestimmten Tier- und Landschaftsschutzvereinigungen, können ihre Geschichte bis weit ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen. Nichts scheint klassenübergreifender, allgemeinen humanistischen oder globalen Zielen untergeordneter zu sein als der „Naturschutz“. Ohne unmittelbaren Klassenbezug wird aber umso deutlicher, dass es entweder die Klasse der GroßspenderInnen oder der Klassenbezug des Staates sind, die diesen „Naturschutz“ in das Gesamtsystem einordnen – d .h., dass dieser eben letztlich den ökonomischen Interessen des Akkumulationsprozesses untergeordnet bleibt. Der besprochene Widerspruch ist also nicht aufgehoben, sondern hat eine besondere Bewegungsform gefunden: Vorhaben des Kapitals (ob nun der Industrie, Energiewirtschaft, des Straßenbaus etc.) müssen nunmehr Genehmigungsprozesse in Bezug auf Arbeits- und Umweltschutz durchlaufen, in denen z. B. Umweltverbände und betroffene Gemeinden oder Bürgerinitiativen Gehör finden. Entsprechend komplex werden Gesetzgebungen bzw. die juristischen Verfahren rund um solche Genehmigungen, Kontrollbestimmungen oder z. B. in Fragen von Haftungen bei „Zwischenfällen“. An der destruktiven ökologischen Grundtendenz der Kapitalakkumulation wird dies niemals etwas ändern – jedenfalls aber ist es zu einem breiten Feld bürgerlicher Politik (und auch Justiz) geworden. Die grundlegenden Umweltprobleme lassen sich im Kapitalismus nicht lösen, sondern nur in gewissen Grenzen einhegen, regulieren und administrativ abmildern. Wie wir später besprechen werden, stößt diese Form des Umweltreformismus bei den globalen ökologischen Bedrohungen heute an eine absolute Grenze.

2. Veränderungen von Umweltpolitik mit dem Nachkriegsboom

Mit der Illusion der „sauberen“ fordistischen Fabrik, Massenkonsum, „Wohlfahrtsstaat“ und Massentourismus schien die Lage der arbeitenden Klassen weit weg von den Zeiten des Manchester-Kapitalismus – auch der/die ArbeiterIn hatte jetzt in abgepackter Form seinen/ihren kleinen Anteil an Naturgenuss und „gutem Leben“. Wie schnell sich dies selbst in der imperialistischen Welt für die große Masse als Illusion erwies, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Die „imperiale Lebensweise“ als allgemeine Zurechnung für MetropolenbewohnerInnen haben wir an anderer Stelle zurückgewiesen (siehe Artikel zum Umweltimperialismus in diesem RM). Allerdings war die Phase des Aufstiegs dieser fordistischen Illusion wirkkräftig genug, um die meisten sozialdemokratischen Organisationen und die damit verbundenen Gewerkschaften vollends in Co-Managementorganisationen zu verwandeln, die dabei auch ihre umweltpolitische Vorreiterrolle abgegeben haben. Nichts verdeutlicht dies mehr als die Verstrickungen der Sozialdemokratie in kommunale Unternehmen von der Abfall-, Bau-, bis Energiewirtschaft, andererseits die Unterordnung unter die Profitinteressen der wichtigen Arbeit„geber“Innen vor Ort (man denke an die besondere Beziehung von SPD und IG Metall zu „unserer“ Automobilindustrie).

In den Halbkolonien sind die Verhältnisse natürlich noch andere. Wie wir in unserer „Umweltimperialismus“-Analyse ja klar gemacht haben, wurden viele umweltpolitischen „Fortschritte“ in den imperialistischen Ländern dadurch erzielt, dass die umweltschädlichsten Verwertungsprozesse in Halbkolonien verlagert wurden, was insbesondere durch die (ebenfalls extrem umweltschädlichen) globalen Lieferketten auch immer leichter wird. Dabei entstanden in der Peripherie Wohn- und Arbeitsbedingungen, die gegen Engels’ Schilderung der Lage in Manchester zu seiner Zeit keine wesentliche Veränderung erkennen lassen. Insofern sind die Umweltbewegungen in diesen Regionen dann auch sehr viel mehr klassengeprägter als hierzulande. So stehen an vorderster Front der „Umweltbewegung“ in Brasilien solche Organisationen wie die MTST, als Organisation der FavelabewohnerInnen, die z. B. gegen die hygienische Nichtversorgung riesiger Stadtgebiete kämpft, oder die MST (die „Bewegung der landlosen ArbeiterInnen“), die sich gegen den ökologischen Wahnsinn der Projekte der Agroindustrie zur Wehr setzt. Ebenso sind es in Indien vor allem Organisationen der Kleinbauern und -bäuerinnen, die gegen Staudammprojekte oder Vernichtung von Agrarland durch Großprojekte auf die Straße (oder die Felder) gehen. Mit „Via Campesina“ hat die arme Landbevölkerung auch eine internationale Organisation geschaffen, die in der globalen Umweltbewegung eine wichtige Rolle spielt. Dagegen sind „grüne Parteien“ mit klassenübergreifendmn Anspruch in den Halbkolonien zumeist Projekte der Rechten – in Brasilien z. B. in Verbindung zu Evangelikalen.

Wenn wir uns daher jetzt der sogenannten „zweiten Umweltbewegung“ zuwenden, sollte klar sein, dass diese in verschiedenen Weltregionen sehr unterschiedlichen Charakter trug und trägt.

3. Die zweite Periode der Umweltbewegung und die Veränderung der Klassenstruktur

Wenn man von einer „zweiten Umweltbewegung“ seit den 1970er Jahren spricht, dann deswegen, da die als „erste Welle“ im 19. Jahrhundert entstandenen Organisationen des Natur- und Umweltschutzes wie auch die Umweltpolitik der ArbeiterInnenbewegung zumindest in den imperialistischen Ländern durchaus Veränderungen und Begrenzungen der Umweltzerstörung durch das Kapital hervorgebracht hatten. Andererseits war mit dem großen Boom nach 1945 und der neuen Stufenleiter kapitalistischer Akkumulation vor allem in Bereichen der chemischen Industrie, Mobilität, der Energieproduktion aber auch der Agrarchemie auch eine neue Etappe der Naturzerstörung eingeläutet worden. Beispiele dafür waren der massive Einsatz von DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan; Kontakt- und Fraßinsektizid), die Schaffung der „autogerechten“ Stadt, aber auch die Einführung der Kernenergie als Grundlage für die Energiewirtschaft der „Zukunft“. In Zusammenhang mit der StundentInnenbewegung der 1968er Jahre provozierte dies eine neue Protestbewegung gegen Naturzerstörung und immer lebensfeindlicher werdender Städte. In Deutschland formierten sich zu vielen kleineren kommunalen Fragen Bürgerinitiativen, die sich später bundesweit im BBU (Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz) eine grundlegende Infrastruktur gaben. Vor allem aber wurde die Kernkraft und ihre Verschmelzung von Großindustrie und politischer Macht zum zentralen Mobilisierungsfokus der Protestbewegung.

Wieder war es also der Widerspruch von Fortschrittsanspruch und realen, immer globaler werdenden destruktiven Momenten der Kapitalakkumulation, der zum Auslöser schwerer politischer Auseinandersetzungen wurde.

Die Geschichte des DDT ist hier sicherlich ein Musterbeispiel. Dieses Produkt der Chlorchemie wurde als ein sehr einfach und in großer Menge herstellbares Produkt des Schweizer Unternehmens Geigy um die Zeit des 2. Weltkriegs als großartiger Durchbruch in der Insektenbekämpfung gefeiert. Es wurde z. B. in Massen zur Läusebekämpfung in Großunterkünften, Checkpoints etc. verwendet, um den Ausbruch von Pandemien zu unterdrücken. Das weiße Pulver als Allzweckwaffe schien in eine neue, „chemisch saubere“ Zukunft zu führen. Im Laufe der 1950er Jahre entdeckte man, dass die eigentlichen „Schädlinge“ inzwischen Resistenz entwickelt hatten, während deren natürliche FeindInnen z. B. unter den Käfern ausgerottet wurden – Konsequenz: einfach mehr von dem Zeug verwenden! Auch die Auswirkungen auf den menschlichen Organismus wurden nicht untersucht, da man lange keine unmittelbaren Konsequenzen nachweisen konnte. Auch wenn sich unter FachwissenschaftlerInnen Kritik häufte, kam der Wendepunkt erst mit einem Buch, das diese prägnant und ungemein massenwirksam verbreitete: „Der stumme Frühling“ von Raquel Carson, erschienen 1962 (Carson 1662). Darin wies die Autorin, die selbst lange in biochemischer Forschung gearbeitet hatte, nach, wie DDT mehrere Nahrungsketten von Lebewesen durchläuft und dabei nicht nur mehrere bekannte Arten an den Rand des Aussterbens brachte, sondern sich auch in menschlichen Nahrungsmitteln anreicherte. Die berühmte Geschichte vom aussterbenden Käfer, der dann zum Aussterben der ersten Vogelart, dann der nächsten etc. führt, bis kaum mehr Blätter tragende Bäume einen stummen Frühling andeuten – dieses bedrohliche Bild drang damit ins öffentliche Bewusstsein. Mit Carson begann eine vermehrte wissenschaftliche und öffentliche Beschäftigung mit ökologischen Zusammenhängen und Auswirkungen von chemischen und sonstigen Eingriffen in natürliche Kreisläufe, vom Artensterben, über Anreicherung bestimmter Wirkstoffe in der Nahrungskett, bis zu Diskussionen um Grenzwerte und Nachhaltigkeit. Viele der Naturschutzorganisationen und ihre wissenschaftlichen BegleiterInnen wurden aus ihrem Nischendasein gerissen und in scharfe politische Auseinandersetzungen gezwungen. Carson ist da auch ein deutliches Beispiel: Die großen chemischen Konzerne begannen mit einer Schmutzkampagne ohnegleichen gegen die angebliche Kommunistin, die durch ihre gefährliche Propaganda millionenfach Menschenleben bedrohe, wenn das „gute“ DDT nicht weiter ungehemmt verwendet würde. Letztlich wurde es dann infolge langwieriger Untersuchungen, parlamentarischer Verfahren und Anhörungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre aus dem Verkehr gezogen. Diese Auseinandersetzung um „Risiken und Nebenwirkungen“ von Chlorchemie bis zu radioaktiver Strahlung wurde zu einem Feld heftigster Polemik zwischen den „seriösen“ konzernnahen WissenschafterInnen und ihren OpponentInnen, zumeist WissenschaftlerInnen, die den Umweltverbänden näherstanden. Dieser Kampf konnte für letztere nur erfolgreich sein, wenn es zu massiven Mobilisierungen und öffentlichem politischen Druck kam, der die KonzernlobbyistInnen in ihrem kurzen Draht zur Politik störte. Die „zweite Umweltbewegung“ ist wesentlich gekennzeichnet durch eine Politisierung der Wissenschaften, die für die ökologischen Folgen der Industrieexpansion nach 1945 relevant waren – also insbesondere Chemie, Biologie und Kernphysik. Zu der Tendenz bürgerlicher Umweltpolitik, Unmengen an Verordnungen und juristischen Verfahren anzusammeln, kam nun die Flut von wissenschaftlichen Daten, Grenzwerten und Untersuchungsverfahren mitsamt der zugehörigen Institutionen.

Insgesamt haben sich mit dem „Nachkriegsboom“ Trends in der Veränderung von Produktionsprozess und Klassenstruktur durchgesetzt, die auch für Umweltpolitik und -bewegungen von entscheidender Bedeutung wurden. Die Dampfkraft als zentrale Antriebstechnologie, repräsentiert durch „rauchende Fabrikschlote“ und Dampflokomotiven, verschwand endgültig. Mit verstärkter Durchsetzung von Elektrizität und auf Erdöl basierenden Technologien zur Energiegewinnung und Kunststoffproduktion, bekamen Umweltprobleme ein anderes, nicht mehr so „rußgeschwärztes“ Gesicht. Zentralisierte Energiegewinnung in Form von Wasser-, Kohle- oder Atomkraftwerken lösten Auseinandersetzungen um Fabriken als die wichtigsten „Dreckschleudern“ ab – und hoben die Auseinandersetzungen auf eine viel allgemeinere, politischere Ebene. Durch die Verbindung von großen Energiekonzernen, Politik und Gewerkschaftsbürokratie (vorgeblich mit Unterstützung der um „ihre Arbeitsplätze“ besorgten Beschäftigten), wurde der Widerstand gegen die Umweltfolgen immer mehr zu einer Erscheinung außerhalb der traditionellen ArbeiterInnenbewegung und der betreffenden Betriebe selbst.

3.1 ArbeiterInnenklasse und die wachsenden Umweltrisiken

Dies trifft selbst zu, wenn die Umweltproblematik klar mit den einzelbetrieblichen Abläufen zu tun hat wie z. B. in der chemischen Industrie. Besonders krass wird dies deutlich bei den großen Chemieunfällen wie z. B. 1976 im norditalienischen Seveso (Region Lombardei).

In dem zum Schweizer Hoffmann-La-Roche-Konzern gehörenden Werk Icmesa in der Nähe der Gemeinde Seveso wurde eines der berüchtigten Produkte der Chlorchemie, Hexachlorophen, hergestellt (wie sich später herausstellte, nicht nur als Desinfektionsmittelzusatz in Kosmetika, Pharma- und Agrarprodukten, sondern vor allem zur Weiterverarbeitung in den USA für das „Entlaubungsmittel“ Agent Orange – für den Einsatz im Vietnamkrieg). Dabei entsteht im Reaktor bei zu großer Wärme als Nebenprodukt 2,3,7,8-Tetrachlordibenzodioxin, kurz „Dioxin“ (später auch „Sevesogift“) genannt. Aufgrund ungenügender Sicherheitsvorkehrungen erkannte das Wartungspersonal an einem Wochenende nicht, dass sich im Reaktor ein Wärmestau entwickelte, der innerhalb von nur 7 Minuten zu einer Explosion führte. Herangeführtes Fachpersonal konnte erst nach fast eineinhalb Stunden die Reaktortemperatur wieder herunterfahren – bis dahin war eine bis heute unbekannte Masse an Dioxin in die Umwelt entwichen und als Giftwolke über den Umlandgemeinden, insbesondere Seveso, niedergegangen. In den folgenden Tagen begannen Blätter und Gräser zu verwelken. Über 3.000 Tierkadaver wurden gefunden, 200 Menschen, insbesondere Kinder erkrankten an Chlorakne. Der Betrieb wurde aber weitergeführt! Hoffmann La-Roche reagierte mit einer gezielten Desinformationskampagne. Die Tatsache, dass Dioxin im Spiel war, wurde verschwiegen. Die konzerneigenen Untersuchungen „belegten“, dass Erkrankungen nicht ursächlich mit dem Unfall zu tun hatten etc. Erst unabhängige Untersuchungen vor Ort enthüllten die massive Belastung der Umgebung mit Dioxin und die bedrohliche Gesundheitslage. Erst eine Woche nach dem Unglück traten die ArbeiterInnen, entgegen den Aufforderungen der Gewerkschaftsführung, in einen wilden Streik. Erst danach entschlossen sich auch die Behörden zur Schließung des Betriebs. Insgesamt musste an der Dekontamination von Werk und Umgebung mehr als 6 Jahre gearbeitet werden. Die Zahl der Opfer bleibt weitgehend unbekannt, wie auch der Verbleib vieler „entsorgter“ Tonnen von Chemieabfällen. Die beteiligten ManagerInnen blieben, dank der AnwältInnen von Hoffmann La-Roche und der guten Verbindungen zur Regierung Andreotti, weitgehend ohne Strafe – wenn nicht die „Roten Brigaden“ einen der Produktionsleiter erschossen hätten. Weitaus schlimmer traf es wenige Jahre später 1984 ArbeiterInnen und Bevölkerung im indischen Bhopal (Bundesstaat Madhya Pradesh) beim Unfall eines Chemiewerkes des US-Konzerns Union Carbide (heute Dow Chemical). Hier blieb die Dekontamination bis heute aus. Viele Menschen leben inmitten gefährlichster Chemikalie. Bis heute sind an die 25.000 Menschen an den Folgen gestorben, über 100.000 leiden an schweren Krankheiten. Die Unfallursache lag in offensichtlichen Sicherheitsmängeln wegen des Drucks von Produktionsvorgaben. Niemand der Verantwortlichen bei den US-AuftraggeberInnen ist je zur Rechenschaft gezogen worden. Hatte Seveso zumindest zur Folge, dass so gefährliche Werke in Europa nicht mehr gewagt werden, werden von der indischen Regierung den Nachfolgeunternehmen von Union Carbide alle nur möglichen Standortvorteile verschafft.

Die Beispiele zeigen unter anderem aber auch sehr deutlich die Verschiebung der Machtfragen im Betrieb rund um Arbeitsprozesse auf. Lohnabhängiges „vor Ort“ eingesetztes Personal ist kaum mehr in der Lage, die Risiken des Produktionsprozesses abzuschätzen und „Kontrolle“ über den Gesamtprozess zu erlangen – oft ist nur noch die „Notabschaltung“, was „den ArbeiterInnen“ übrig bleibt. Für Risikobeurteilung und Kontrolle ist es erforderlich, dass technisch und wissenschaftlich ausgebildetes Personal aktiv wird. Da dieses in den Betrieben zumeist stark mit dem Management verbunden ist, wie sich an solchen Beispielen immer wieder zeigte, ist außerbetriebliche Unterstützung wesentlich geworden. Der Begriff der „ArbeiterInnenkontrolle“ muss damit von seiner einzelbetrieblichen und auf manuelle ArbeiterInnen bezogenen Verengung befreit werden. Im modernen Produktionsprozess sind Wissenschaft und technisches Wissen immer mehr zur entscheidenden Produktivkraft geworden. Auch insofern hat sich die ArbeiterInnenklasse völlig neu strukturiert (insbesondere in den imperialistischen Ländern).

3.2 Atomkraft und Anti-AKW-Bewegung

3.2.1 Zu den Risiken der Atomindustrie

Diese Veränderungen wurden in den 1970er und 1980er Jahren vermehrt als „Abschied von der Klassengesellschaft“ samt „Abschied vom Proletariat“ analysiert. Die neuen sozialen Bewegungen, insbesondere im Umweltbereich, wurden als Aufkommen von „postmaterialistischen“ Schichten charakterisiert, die nicht mehr dadurch definiert werden könnten, dass sie für ihren Lohn möglichst viel Konsumgüter erlangen wollten. Der entscheidende Umbruch war jedoch, dass mit dem Einsatz von immer mehr Technik und Wissenschaft im Produktionsprozess (z. B. einsetzende Automatisierung, zentrale elektronische Produktionssteuerung, komplexere chemische Prozesse, Energieeffizienzanforderungen etc.) die klassische Bandarbeit der fordistischen Fabrik immer mehr zu Gunsten von technisch-wissenschaftlichem Personal, aber auch von Dienstleistungsbereichen (die ihrerseits auch immer technisierter werden) abgelöst wurden. Damit wuchsen sowohl die Anforderungen an den Bildungsbereich, wie auch größere Schichten von wissenschaftlich gebildeten Lohnabhängigen entstanden. Die 68er-Bewegung entstand sicherlich als Reaktion auf die Widersprüche im Bildungsbereich, die sich daraus ergaben. Sie war aber insgesamt ein Ausdruck des Protests gegen die autoritären (Management-)Strukturen in Betrieben und Staat sowie die Versuche, die Wissenschaft in diesem Prozess vollkommen den Kapitalinteressen unterzuordnen. Nur in dieser Gemengelage lässt sich auch die Entstehung der zweiten Umweltbewegung, als Kind der 68er-Revolte, verstehen. Das hat nichts mit einer neuen „postmaterialistischen“ Orientierung bestimmter Gesellschaftsschichten zu tun. Es geht vielmehr um sehr einschneidende Widersprüche in der Produktivkraftentwicklung. Sich ihrer Lage bewusst werdende Produktivkraftsubjekte erfassen einfach immer mehr den Widerspruch zwischen den allgemeinen Möglichkeiten des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts und den tatsächlichen ökologischen und sozialen Folgen desselben unter kapitalistischen Bedingungen. Durch autoritäre, undemokratische Verhältnisse in den Betrieben selbst verlagert sich der folgende Protest notwendigerweise stark auf das „Außen“ der Betriebe selbst, in denen die Umsetzung der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung erfolgt. Dies fällt zusammen mit der oben beschriebenen Entwicklung von immer mehr Institutionen, in denen diese „Kontrolle“ von außen mehr oder weniger „unabhängig“ versucht wird. Ob im Wissenschaftsbetrieb, in öffentlichen Umweltbehörden, in Gewerkschaften, in klassischen oder neuen Umweltverbänden, in der Presse etc. – überall hier entwickeln sich Elemente von Gegengewichten zur kapitalbestimmten Produktivkraftentwicklung, die sich mit den klassischen betrieblichen Widerständen ergänzen. Es ist klar, dass das dominierende Kapitalinteresse in all diesen privaten oder öffentlichen Institutionen letztlich die Hegemonie behält. Die teilweise Verlagerung des Interessenkampfes außerhalb des Betriebes bedeutet auch, dass das wirksamste Mittel gegen das Kapital, der Streik, weniger eingesetzt wird und mehr die Frage der politischen Gewinnung der „Öffentlichkeit“ in den Vordergrund rückt. Demonstrationen, symbolische Besetzungen, Bürgerinitiativen, Medienkampagnen, politischer und juristischer Druck zur Erwirkung von Baustopps und Ähnlichem sind eher charakteristisch für die neue Umweltbewegung als Streiks. Dies zeigt einerseits die Schwäche dieser Bewegung auf, die zu einem sehr langsamen Tempo von wirksamer umweltpolitischer Veränderung führt (für viele der Probleme auch tatsächlich viel zu langsam). Andererseits wäre es eine ökonomistische Verkürzung, die Anliegen der Umweltbewegung und die Masse der daran Beteiligten deshalb als „kleinbürgerlich“ abzutun. Der Protest der Umweltbewegung stammt unmittelbar aus den zentralen Widersprüchen der Produktivkraftentwicklung im gegenwärtigen Kapitalismus. Dabei ist die Verbindung des daraus erwachsenden Protestes mit betrieblichem Klassenkampf durch betriebliche Zerstückelung und weiterhin bestehender autoritärer Strukturen im Betrieb eine schwierige politische Aufgabe. Dass diese Verbindung linken Organisationen kaum gelungen ist, zeigt daher nicht nur deren tatsächliche Schwäche auf, sondern auch die Größe dieser Aufgabe insgesamt.

In keinem anderen Bereich wird dies so deutlich wie in der Frage des Protests gegen den Mitte der 1950er Jahre beginnenden Umstieg der Energieversorgung auf den scheinbar unbeschränkten Ausbau der Nutzung von „Atomenergie“.

An sich war das Konzept der Gewinnung von Energie auf der Grundlage des Massendefekts, der bei der Kernspaltung schwerer, radioaktiver Elemente entsteht, ein genialer Wurf – und die technische Umsetzung, von der moderierten Reaktivität z. B. von Brennelementen mit angereichertem Uran-235 bis zur Nutzung der entstehenden Wärmeenergie in Turbinen sicher eine Ingenieurmeisterleistung. Leider entsteht aber bei dem Prozess ionisierende Strahlung (Neutronen-, Alpha-, Gamma-), die in unterschiedlicher Weise für organische Lebensformen und auch menschliche Zellen vernichtende Wirkung haben. Diese Strahlung ist nicht einfach „Endprodukt“, sondern nach dem Spaltprozess entstehen Übergangsstoff mit sehr unterschiedlichen Halbwertszeiten, die solche Strahlung noch sehr viel länger abgeben. So entsteht unmittelbar bei Uranspaltung Caesium-137, ein Betastrahler (Neutronen-), bei dessen Zerfall wiederum starke Gammastrahlung auftritt. Dieses hat „nur“ eine Halbwertszeit von etwa 30 Jahren. Die geringere Halbwertszeit deutet auf die erhöhte Radioaktivität, weshalb z. B. die Ausbreitung dieses Isotops wie auch verschiedener Jod- und Kobaltisotope jedenfalls verhindert werden muss. Als „Abfall“ des Spaltprozesses entstehen insgesamt unbeständige radioaktive Stoffe, die Halbwertszeiten von wenigen Sekunden, mehren Tagen, bis zu Millionen von Jahren haben. „Abgebrannte“ Brennelemente enthalten zunächst noch sehr reaktives Material, das noch weiter stark gekühlt werden muss – weshalb „Zwischenlagerung“ anfangs noch extreme Sicherheitsvorkehrungen und Ableitung der Nachwirkungswärme erfordert. Auch abgekühlte Brennelemente enthalten noch stark radioaktive Elemente, die mehrere Jahre besondere Sicherheitsmaßnahmen erfordern. Erst dann entsteht der „schwach“ radioaktive Müll, der für mehrere tausend Jahre „endgelagert“ werden muss (z. B. Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von über 24.000 Jahren, Jod-129 von 1,5 Millionen Jahren).

Zu Beginn der AKW-Euphorie wurden die Risiken der Strahlungsenergie selbst wie auch die Gefahren des Austritts von lebensbedrohlicher Strahlung während des Betriebs bzw. bei der Atommülllagerung extrem unterschätzt bzw. heruntergespielt. Erst im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurden die Erkenntnisse über Äquivalenzdosen von Strahlungsbelastungen so präzise, dass man diese Risiken immer genauer erfassen kann und Strahlungsbelastungen mit Krankheits- und Sterblichkeitswahrscheinlichkeiten belegt (auch wenn es hier in Bezug auf z. B. Leukämie und Erbkrankheiten noch viel Forschungsbedarf gibt). Noch zu Beginn der Anti-AKW-Bewegung konnte man „ExpertInnen“ erleben (und dies lässt sich heute noch gut in Medienarchiven nachhören), die diese Risiken in heute unvorstellbarer Weise verharmlosten.

Eben das trifft auch auf die Risiken des Betriebs und die Lagerungsproblematik des Atommülls zu. Selbst die AKW-BetreiberInnen wussten natürlich um die Schwachstellen in der Kühlproblematik, die Gefahren des Austritts von radioaktiv belastetem Kühlwasser, des Ausfalls der Kühlsysteme etc.. AKWs wurden daher auch so ausgelegt, dass bei einem Ausfall der Kühlsysteme (GAU) noch rechtzeitig die Reaktivität heruntergefahren werden können sollte. Aufgrund solcher Systeme wurden Unfälle beim Betrieb von Kernkraftwerken für total unwahrscheinlich bezeichnet. Alle „ExpertInnen“ und ihre politischen Frontleute erklärten, in wieviel Millionen Jahren mal vielleicht ein größerer Störfall aufträte und sie natürlich jederzeit in die Nachbarschaft eines AKW zögen. Beim Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 war es gerade der Notabschaltvorgang, der aufgrund sehr unglücklicher Umstände letztlich der „Funke“ war, der das zuvor entstandene explosive Gasgemisch zur Explosion brachte. Bei der Havarie 2011 der Reaktoren Fukushima 1 – 4 war das Kühlsystem durch ein Erdbeben ausgefallen und beim folgenden Tsunami waren dann auch noch sämtliche Notkühlsysteme zerstört worden. Bei beiden Unfällen barst der Reaktormantel und eine radioaktive Rauchwolke (natürlich mit Caesium-137) entwich in die Atmosphäre. In Fukushima konnte Schlimmeres nur durch massive Kontamination des Meeres mit Kühlwasser verhindert werden. In beiden Fällen kam es zusätzlich zu einer Kernschmelze, so dass eine extreme Verseuchung des Grundwassers drohte – wenn nicht durch aufwändige Notbaumaßnahmen der Reaktorrest „eingesargt“ worden wäre. Durch das Opfer der „LiquidatorInnen“ und der „Fukushima 50“ wurden zwar wahrscheinlich Millionen von Menschenleben gerettet, aber die Verseuchung von tausenden Quadratkilometern Boden für unbestimmte Zeit samt unbekannten Folgen durch Fallout über tausende Kilometer hinweg wie auch die Auswirkungen auf die Meeresbiologie sind ein zusätzlich hoher Preis.

Der inzwischen gut rekonstruierte Ablauf der Katastrophe von Tschernobyl wie auch des Beinahe-GAU von Three Mile Island (bei Harrisburg; US-Bundesstaat Pennsylvania) 1979 zeigen, wie komplex die Abläufe in einem AKW (sämtlicher Bauarten) sind und wie schwer es für jegliches Bedienungspersonal im Krisenfall ist, innerhalb kürzester Zeit die richtigen Entscheidungen zu treffen. Natürlich kann man sich immer noch mehr Sicherungsmaßnahmen gegen noch so „unwahrscheinliche“ Verkettungen unglücklicher Umstände vorstellen. Irgendwann muss dann der Sicherheitsaufwand zur Minimierung des „Restrisikos“ mit den dafür notwendigen Kosten abgewogen werden – und wo da im Kapitalismus die Grenzen sind, ist wohl klar. Schon zu Beginn des Aufbaus der Kernenergie wurde in den kapitalistischen Ländern nach dem Prinzip verfahren, dass diese Anlagen nur durch große staatliche Zuwendungen für das Privatkapital überhaupt profitabel zu betreiben waren. So wurde die Endlagerproblematik schon früh weitgehend auf die „Allgemeinheit“ ausgelagert, ebenso viele der notwendigen Infrastruktur- und Sicherheitsmaßnahmen. Dies wird auch bei der Frage der „Wiederaufbereitung“ deutlich, durch die der hochradioaktive Müll reduziert wird- Dieser muss dafür aber auch aufgrund des hohen Risikos extrem gesichert zwischen Zwischenlagern und Wiederaufbereitungsanlagen auf Staatskosten hin und her transportiert werden. Die beiden europäischen Anlagen in La Hague und Sellafield produzieren dabei kaum mehr Brennstoffe, umso mehr atomwaffenfähiges Plutonium. Daneben sind sie vor allem bekannt für die Ableitung von Millionen Tonnen radioaktiven Mülls ins Meer.

Die Umweltbilanz von Kernspaltungsenergie, die heute wieder als „klimafreundliche“ Brückentechnologie propagiert wird, bekommt einen zusätzlichen Schlag durch die Probleme bei der Produktion der Brennelemente selbst. Der Uranbergbau gehört zu den zerstörerischsten (auch was die CO2-Bilanz betrifft) Arten des Bergbaus überhaupt. Er hinterlässt radioaktiv verseuchte Wüstenlandschaften und erfordert aufgrund der Abnahme des Gehalts an Urangestein in den verbleibenden Abbaugebieten immer aggressiveren Einsatz chemischer und mechanischer Hilfsmittel. Inzwischen wird Afrika zu einem für diese Schmutzarbeit willigen Opfer, das immer mehr auch zum Zielpunkt von „Endlagerung“ des Atommülls wird. Dazu kommen auch im Bereich des Uranbergbaus bekannte verheerende Unfälle – z. B. der Bruch des Uranabraumrückhaltebeckens am Rio Puerco, New Mexico, 1979. Die massive Umweltbelastung wurde nicht so bekannt, da die Opfer „nur“ tausende in der Umgebung lebende Native Americans („IndianerInnen“) in deren „Reservaten“ betraf. Zu den Risiken und Umweltproblemen des Uranbergbaus kommt noch die Produktion der Brennelemente aus dem Rohstoff selbst. Schon die Anreicherung des spaltfähigen Uran-235 ist energieintensiv. Dazu kommt, dass daraus dann noch das angereicherte Uranhexafluorid zunächst in Uran(IV)-oxid konvertiert werden muss, das dann bei hohen Temperaturen mit keramischen Material zu Brennstäben verarbeitet wird. Brennelementefabriken sind CO2-Schleudern und zeigen die üblichen Sicherheitsrisiken der Kernindustrie. Am bekanntesten ist der vor Fukushima größte Atomunfall in Japan 1999 im Brennelementewerk Tokaimura. Dort entstand beim Reinigungsprozess von angereichertem Uran(IV)-oxid eine Kettenreaktion, die über 20 Stunden Neutronen- und Gammastrahlung in die Umgebung freisetzte. Mehrere ArbeiteInnenr starben und in einem Umkreis von 10 Kilometern musste evakuiert bzw. der Boden dekontaminiert werden.

3.2.2 Der Anti-AKW-Protest

Offensichtlich war die Kernenergie ein Großprojekt von Monopolkapital und Staat, für die die erwähnten Risiken und Umweltprobleme nur ein sekundäres Thema darstellten. Ein neues „Atomzeitalter“ mit sauberer und billiger Energie wurde propagiert und „die“ Wissenschaft verteidigte diesen Anspruch mit scheinbar unwiderlegbaren Argumenten. KritikerInnen der Atomenergie galten als rückwärtsgewandt, FeindInnen der „Moderne“ und voll von unbegründeten Ängsten und Bedenken. Die Proteste, die es schon in den 1960er Jahren gab, waren denn auch tatsächlich von eher rückständigen Schichten z. B. aus der Landbevölkerung um Atomkraftwerke herum bzw. fundamentalistischen ChristInnen getragen. Erst die 68er-Bewegung und die beschriebene neue Schicht eines „akademisierten Proletariats“ konnte dieser geballten Propagandamacht etwas entgegensetzen. Die Arroganz der Atomwirtschaft, die Verbindung mit der Frage der Atombewaffnung und die autoritären Methoden zur Durchsetzung ihrer Projekte boten in den 1970er Jahren dann genug Stoff, um die Anti-AKW-Bewegung anwachsen zu lassen. Wichtig war natürlich, dass einerseits die Probleme der Atomwirtschaft immer konkreter aufgezeigt werden konnten, diese andererseits aber immer offenkundiger zu Tage traten. Insbesondere in Deutschland wuchs die Anti-AKW-Bewegung zu einer Größe, dass Ende der 1970er Jahre Demonstrationen mit um die 100.000 TeilnehmerInnen möglich wurden.

Noch Mitte der 1970er Jahre rümpften die VertreterInnen der traditionellen „Umweltbewegung“ wie der Biologe Otto König die Nase über die „Revolutionsspiele“ der Anti-AKW-ProtestlerInnen und meinten, dass diese „StudentInnen“ gar nichts mit der „wirklichen“ Umweltbewegung zu tun hätten (Radkau 2011, S. 209). Dies verdeutlicht den Bruch, den diese „zweite Umweltbewegung“ tatsächlich darstellte. Viel wurde in „Kulturwandel“, spezielle „deutsche Angstkultur“, neue „nichtmaterialistische Schichten“ etc. hineingedeutet, um diesen Bruch und die große Ausdehnung der Bewegung zu erklären. Tatsächlich basiert sie, wie gezeigt wurde, sowohl auf einer Veränderung der Produktivkraftentwicklung wie auch auf der damit zusammenhängenden Veränderung der Klassenverhältnisse. Die gesteigerte Verwissenschaftlichung der Produktion, entsprechende Großtechnologien und deren ökologischen Auswirkungen auf der einen Seite brachten die Ausdehnung von gebildeten Schichten im Proletariat, die immer mehr zur Rebellion gegen autoritäre Strukturen in Staat und Betrieben bereit waren, auf der anderen mit sich. Jede/r, der/die bei der Bewegung dabei war, kann sich erinnern, wie viele sich in Details von Kraftwerkstypen eingearbeitet hatten (z. B. die Kritik daran, dass sich trotz der Risiken im dicht besiedelten Westdeutschland die deutsche Atomindustrie aus Kostengründen vorwiegend für den Bau von Leichtwasserreaktoren entschieden hatte), wie viele zu „ExpertInnen“ für Strahlenschutz wurden und vor allem, wie konkret die Kritik an Zwischen-, Endlager- und Wiederaufbereitungskonzepten zugespitzt wurde. Während diese vor allem „von außen“ geübt wurde, gab es zwar in den Betrieben der Atomindustrie durchaus intern gehaltene Auseinandersetzungen um Sicherheitsstandards. Aber im Großen- und Ganzen wurde von den Gewerkschaftsführungen von IG Bergbau und Energie (später IG BCE) und IG Metall der vollständige Schulterschluss mit dem Kapital praktiziert. Somit standen SPD und Gewerkschaften im anderen Lager. Die Unterschätzung der Massenwirkung des Protestes, der  vor allem vor Ort sehr breite Gesellschaftsschichten erreichen konnte, führte auch dazu, dass die staatliche Repression mit der Zeit überfordert war und sogar zum Ansteigen der Bewegung mit beitrug.

Ein großer Teil der Nach-68er-Bewegung beteiligte sich überhaupt erst mit den Auseinandersetzungen zum Bau des AKW Wyhl nach 1975. Der Widerstand dort wurde zunächst von einer kleinen badischen BürgerInneninitiative im benachbarten Breisach getragen. Durch offensichtliche Verfahrensfehler im Genehmigungsverfahren konnten im Zusammenhang mit Protesten immer wieder Baustopps durchgesetzt werden, so dass die Proteste vor dem Kraftwerk schließlich tausende mobilisierten. Die erfolgreiche Behinderung der Inbetriebnahme wurde denn auch zu einem positiven Signal für ähnlich gelagerte Proteste in Brokdorf, Kalkar, Grohnde etc.. Dabei wurden die Proteste vor den Bauzäunen immer militanter. Auch viele Linke, die zunächst gegenüber den Protesten skeptisch blieben, stiegen in deren Organisierung mit ein. 1979 kam es zu einer bundesweiten Demonstration mit etwa 120.000 TeilnehmerInnen: der Höhepunkt einer von Jahr zu Jahr sich steigernden und immer vernetzter werdenden Mobilisierung (z. B. mit einer großen Rolle der „Bürgerbewegung Umweltschutz“). Der Protest in Hannover war bereits der Beginn einer neuen Etappe der Auseinandersetzung: Nachdem der Bau von neuen Atomkraftwerken durch den Widerstand immer schwieriger wurde, verlagerte sich der Protest damals auf die Frage der Endlagerung bzw. Wiederaufbereitung. Er bildete den Auftakt zur Verhinderung der Atommülltransporte ins „Zwischenlager“ Gorleben im Wendland. Gleichzeitig begann auch in einer abgelegenen Gegend in der Oberpfalz die Auseinandersetzung um eines der größten Projekte der deutschen Atomwirtschaft: die Wiederaufbereitungsanlage (WAA) Wackersdorf. Die Auseinandersetzungen um Gorleben und Wackersdorf sollten schließlich die „Entscheidungsschlachten“ um die Zukunft der deutschen Atomindustrie werden. Bedingt durch die weltweiten schweren Atomunfälle, die oben schon geschildert wurden, aber auch durch die politische Verschiebung in der deutschen Politik durch das Erscheinen der Partei „Die Grünen“, wurde die Lage der Atomlobby dabei immer schwieriger. Es darf dabei nicht vergessen werden, dass auch innerhalb der SPD immer größere Opposition gegen die Projekte der Atomindustrie auftrat. Letztlich waren es auch wirtschaftliche Gründe (in Deutschland war Kohlestrom als billigere Alternative für die Energiekonzerne bald attraktiver) und die Tatsache, dass die deutsche Atomindustrie auf dem Weltmarkt immer mehr Positionen verlor, die dazu führten, dass erst die Wiederaufbereitungsprojekte (2005) und später im „Atomkompromiss“ (2011) auch der Betrieb von Kernkraftwerken bis 2022 aufgegeben wurde. Bei letzterem gelang es den Energiekonzernen nochmals, die Kosten weitgehend der Allgemeinheit aufzubürden.

Nachdem in Österreich schon 1978 in einer Volksabstimmung der Einstieg in die Atomenergie abgelehnt wurde und auch die Schweiz 2011 einen „Atomausstieg“ beschlossen hat (der allerdings erst 2034 abgeschlossen sein soll), ist das großspurig angekündigte „Atomzeitalter“ zumindest in den deutschsprachigen Ländern wohl eine kurzzeitige Episode geblieben. Ironischer Weise war es aber eindeutig der Geburtshelfer für eine neue Form der Umweltbewegung und auch ein neues politische Phänomen – die grünen Parteien.

In anderen imperialistischen Ländern wie Frankreich, den USA oder Japan, in denen das Kapital weiterhin in großem Ausmaß auf Kernenergie setzt, bleibt dagegen das Thema weiterhin ein „heißes“ Mobilisierungsfeld. Anders als vielfach dargestellt, gibt es in diesen Ländern sehr wohl eine militante Protestbewegung, die immer wieder zu größeren Mobilisierungen in der Lage ist. Aufgrund des anderen Kräfteverhältnisses waren dort die Proteste allerdings nie so politisch durchschlagend (in Japan änderte sich dies erst nach Fukushima, so dass dort jetzt auch ein Art „Atomausstieg“ in Gang gesetzt wurde).

Entscheidend ist natürlich, dass jeder Protest gegen solche Projekte wie die Kernenergie die Frage nach den Alternativen stellt. Hier ist nicht der Platz, unsere Position zur Zukunft der Kernenergie auszuführen: Sicher ist, dass unter kapitalistischen Bedingungen nur ein möglichst sicherer und gesellschaftlich kontrollierter raschest möglicher Ausstieg anzustreben ist. Ob die Probleme der Betriebssicherheit, der Produktion und Entsorgung (oder gar Wiederverwendung) der Brennelemente je in Einklang mit langfristigen ökologischen und sozialen Zielsetzungen zu bringen sind (z. B. in einer künftigen sozialistischen Gesellschaft) können wir heute natürlich nicht entscheiden. Da scheint die Einführung der Kernfusion, zumindest was Ausgangs- und Endprodukte betrifft, sogar aussichtsreicher, wenn denn je eine betriebssichere Form von Fusionsreaktoren entwickelt werden kann. So lange bleibt angesichts der Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Kohleverstromung der Ausbau erneuerbarer Energiegewinnung als notwendige Brückentechnologie übrig – aber das natürlich nur in Zusammenhang mit einer planvollen Reduktion oder zumindest Begrenzung des Energieverbrauchs.

4. Umwälzung der Produktionskräfte und der sozialen Schichtungen als Basis neuer politischer Bewegungen und Parteien im Umweltbereich

Die soziale Basis für die neue Umweltbewegung und die spätere Entstehung von grünen Parteien kann nur verstanden werden aufgrund der Veränderungen der Produktions- und Konsumtionsverhältnisse in den imperialistischen Ländern, wie sie sich in den 1960er und 1970er Jahren vorbereitet hatten und in den folgenden Jahrzehnten beschleunigten. Verbreitet auch in der Linken sind hierzu Vorstellungen von einem Übergang von „Fordismus“ (MassenarbeiterInnen, Fließbandarbeit, Massenkonsumprodukte etc.) hin zum „Postfordismus“ (Automatisierung, globale Lieferketten, Individualisierung etc.). Tatsächlich verschleiern diese Labels mehr an den tatsächlichen Veränderungen, als sie aufklären.

Als eines der gängigen verfehlten Vorurteile zu den gesellschaftlichen Konsequenzen der Veränderungen im Produktionsprozess kann man die seit nunmehr 40 Jahren immer wiederholte Prognose heranziehen, nach der Automatisierung und Digitalisierung zu einem dramatischen „Rückgang der Arbeit“ führen würden – mindestens im nächsten Jahrzehnt der jeweiligen Prognose. Tatsächlich haben sich diese Voraussagen jeweils immer als vollkommen falsch herausgestellt, da sich jedes Jahrzehnt tatsächlich das Volumen an lohnförmig organisierter Arbeitszeit trotz Rationalisierungen und Automatisierungen erhöht und nicht reduziert hat. Der (auch heute wieder gängigen) Prognose vom „Rückgang der Lohnarbeit“ liegt tatsächlich ein falsches Verständnis von wertschöpfender Arbeit im Kapitalismus zugrunde, die banal gesagt mit nützlicher Handarbeit assoziiert wird. Marx hat dagegen folgende Aspekte von Arbeit im Kapitalismus hervorgehoben, die sowohl für soziale als auch ökologische Veränderungen von entscheidender Bedeutung sind – und die jedenfalls zeigen, dass Kapitalismus nicht daran scheitert, dass ihm die Arbeit „ausgeht“:

Erstens wird jede Lohnarbeit nur als Bestandteil einer gesellschaftlichen Gesamtarbeit produktiv oder nützlich: „Das Produkt verwandelt sich überhaupt aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d .h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsprozesses näher oder ferner stehn. [ … ] Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn“ (Marx 1968, S. 531).

Diese Entfremdung vom Zweck oder Endresultat des Prozesses, ob sie innerhalb eines Betriebes oder über komplexe Marktbeziehungen vermittelt entsteht, hat sich in den letzten Jahrzehnten nochmals gesteigert. Die „Nützlichkeit“ der einzelnen Arbeit wird umso mehr zur Nebensache, wenn man einen weiteren Aspekt der Arbeit im Kapitalismus betrachtet:

Zweitens ist Arbeit im Kapitalismus nur produktiv, wenn sie Mehrwert schafft, d .h. der Verwertung von Kapital dient: „Die kapitalistische Produktion ist nicht nur Produktion von Ware, sie ist wesentlich Produktion von Mehrwert. Der Arbeiter produziert nicht für sich, sondern für das Kapital. Es genügt daher nicht länger, daß er überhaupt produziert. Er muss Mehrwert produzieren. Nur der Arbeiter ist produktiv, der Mehrwert für den Kapitalisten produziert oder zur Selbstverwertung des Kapitals dient“ (Marx 1968, S. 532).

Was daher nützliche Tätigkeit, Arbeit, wirtschaftliche Aktivität etc. ist, entscheidet sich nicht an irgendwelchen gesellschaftlichen oder ökologischen Kriterien, sondern im Kapitalismus nur daran, ob Kapital zur Beschäftigung von Lohnarbeit eingesetzt werden kann, das dabei auch über die Realisierung von Mehrwert gewinnbringend zu Kapitalwachstum führt. Im Neoliberalismus (und seinen Privatisierungen) haben wir gesehen, was alles an Beschäftigungen mehrwertschaffend verwertet werden kann, von dem dies vorher nicht für möglich gehalten wurde. Damit die Realisierung des Mehrwerts gelingt, ist natürlich ein weiterer Aspekt wesentlich:

Drittens ist Arbeit nützlich, wenn ihr Produkt oder die damit verbundene Dienstleistung „menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt. Die Natur dieser Bedürfnisse, ob sie z. B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache“ (Marx 1968, S. 49). Die beständige „Entdeckung“ von solchen Bedürfnissen ist nicht nur „geschichtliche Tat“ (ebd., S. 50), sondern systematische Beschäftigung ganzer Teile des/r „GesamtarbeiterIn“. Abhängig von der im Reproduktionsprozess hervorgebrachten Kaufkraft (für Konsum- oder Produktionsmittel) erscheint so dem kapitalistischen Wachstum keine Grenze gesetzt zu sein. In der Nachkriegsperiode wurde tatsächlich eine längere Wachstumsperiode nicht nur durch günstige Ausbeutungsbedingungen für das Kapital nach den Verheerungen des Krieges geschaffen, sondern auch ein dafür geeignetes Konsumtionsregime gefunden. Die industrielle Massenproduktion bestimmter Konsumgüter (Automobile, Haushaltsgeräte, Unterhaltungselektronik etc.) ermöglichtn ein Produktionswachstum, das sich die entsprechende Kaufkraft selbst schuf (Verbilligung der Konsumtionsmittel erleichterte Produktion von relativem Mehrwert). Dieses Modell war es, das in den 1970er bis 1980er Jahren an seine Grenzen stieß.

Viertens wird der Gesamtzusammenhang der Arbeit immer mehr nur durch das Kapital selbst hergestellt, der den/die einzelne ArbeiterIn zum Anhängsel eines Prozesses macht, der wie eine „Naturgewalt“ erscheint: „Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeit beherrscht und aussaugt. Die Scheidung der geistigen Potenzen des  Produktionsprozesses von der Handarbeit und die Verwandlung derselben in Mächte des Kapitals über die Arbeit vollendet sich [ … ] in der auf Grundlage der Maschinerie aufgebauten großen Industrie. Das Detailgeschick des individuellen, entleerten Maschinenarbeiters verschwindet als ein winzig Nebending vor der Wissenschaft, den ungeheuren Naturkräften und der gesellschaftlichen Massenarbeit, die im Maschinensystem verkörpert sind“ (Marx 1968, S. 446).

Die fortschreitende Ersetzung von Teilen des/r GesamtarbeiterIn durch Automaten ist nichts Neues im Kapitalismus. Vielmehr ist es seit Anbeginn ein grundsätzliches Element kapitalistischer Rationalisierung. Dort, wo es Kosten einspart, wird mithilfe wissenschaftlich-technischer Produktionsmittel menschliche Arbeitskraft durch Kapital als Maschinerie ersetzt. Dabei entsteht die „Polarisierung“ der Beschäftigten in die gering qualifizierten „Restarbeiten“ (deren Ersetzung durch Maschinerie sich aus Kostengründen nicht lohnt) und das immer höher qualifizierte Personal der technischen Transformation, Durchführung und Überwachung. War dies früher auf die fabrikmäßig organisierte Arbeit konzentriert, so ist es heute unter dem Stichwort der „Digitalisierung“ immer mehr auch auf Dienstleistungs- und Büroarbeiten zu beziehen. Die beschriebene Form der kapitalistischen Rationalisierung führt aber durch das wachsende Gewicht des toten gegenüber dem mehrwertschaffenden Kapital zum tendenziellen Fall der Profitrate und damit zum für das Einzelkapital unhinterfragbaren Wachstumszwang (Steigerung des absoluten Profitmasse in Gegenwirkung zum relativen Sinken der Profitrate), letztlich zur Überakkumulation von totem Kapital. Die wirkliche Schranke des Wachstums für das Kapital ist daher nur das Kapital selbst.

Fünftens ist Arbeit im Kapitalismus durch eine beständige Tendenz zur „Verwissenschaftlichung“ geprägt. Das permanente Verwertungsproblem des investierten Kapitals zwingt zur beständigen Rationalisierung und Ökonomisierung der bestehenden Arbeitsprozesse, aber auch der Entdeckung (oder auch Erzeugung) neuer Bedürfnisse, um die Realisierung der erweiterten Produktion auch zu gewährleisten. Von daher wird Wissenschaft und Technik nicht nur im unmittelbaren Produktionsprozess immer wesentlicher. Sie wird auch immer mehr selbst vereinnahmt und den Verwertungsinteressen des Kapitals unterworfen, um diese genannten Ziele auch in einer Form zu erreichen, die dem klassischen Wissenschaftsbetrieb an sich fremd ist (was Masse an Mitteln, Zeitvorgaben, praktische Anwendbarkeit etc. betrifft).

Seit den 1950er Jahren haben wir mehrere Umwälzungen der technischen Basis, der Arbeitsorganisation, der Reproduktions- und Konsumtionsregim, etc. entsprechend diesen fünf Prinzipien beobachten können. Dies wurde in Bezug auf die Umweltproblematik schon an den obigen Beispielen aus den Bereichen der chemischen Industrie und der Energiewirtschaft deutlich. Es betrifft aber auch die Umwälzungen im Transportsektor, der Kommunikations- und IT-Industrie, allgemeiner der Automatisierungstechnologien. Mit den technisch-wissenschaftlichen Revolutionen einher ging ein Wachstum der agierenden Kapitale, die sich immer mehr bei global agierenden Konzernen konzentrieren. Damit wurde eine weitere Aufspaltung des Produktionsprozesses möglich, die sich in weltweiten Produktions- und Lieferketten mit komplexer Termin- und Teilesteuerung manifestiert („global lean production“). Der/die einzelne Beschäftigte ist immer mehr ein kleines Rädchen eines/r globalen GesamtarbeiterIn.

Damit einher gingen vier bedeutsame Veränderungen in der Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse: Noch 1960 produzierten die damals noch zu Recht so bezeichneten „westlichen Industriestaaten“ etwa 80 % der am Weltmarkt gehandelten Industrieprodukte. Entsprechend stand der Anteil der Industrie an der Gesamtbeschäftigung in Westdeutschland damals noch bei fast 50 %. Heute liegt er in den alten imperialistischen Zentren (also ohne China und Russland) bei nur noch 40 % (während immer noch über 50 % der „Wertschöpfung“ dort stattfinden und sogar zwei Drittel des Weltvermögens dort konzentriert sind). In Deutschland sind heute nur (für die „westlichen Industrieländer“ sogar recht hohe) 24 % der Gesamtbeschäftigung im „produktiven Gewerbe“ tätig. Hinter dieser Entwicklung steht natürlich eine neue internationale Organisation des Kapitals, die viele der „schmutzigen“ Produktionen in den „globalen Süden“ verlagert hat, aber die Verwertungskontrolle weiterhin im „globalen Norden“ behält: die Gesamtsteuerung, den technisch-wissenschaftlichen Kernprozess etc. und vor allem das Geld- und Finanzkapital.

Zweitens geht damit einher, dass die wachsenden Bereiche in diesen oberen Ebenen der „Wertschöpfungskette“, wie sie jetzt in den imperialistischen Ländern konzentriert sind, immer mehr an Bildung und wissenschaftlich-technischer Forschung in diesen Ländern erfordern. Ausdruck davon ist einerseits, dass noch bis zum 2. Weltkrieg in Deutschland 60 % der Bevölkerung den Hauptschul- als höchsten Schulabschluss aufwiesen – heute sind es nur noch 20 %. Dagegen hatten noch 1960 nur 7 % der 18- bis 20-Jährigen die Studienberechtigung – heute sind es 56 %. Zwischen 1960 und 1980 kam es zu einer regelrechten „Explosion“ des Bildungssektors in Deutschland und vergleichbaren Ländern. Sowohl die Anzahl an Bildungseinrichtungen wie Schulen und Hochschulen stieg als auch die Masse an Auszubildenden und Lehrenden an diesen Institutionen wie auch die Verweildauer von Jugendlichen in Bildungsinstitutionen. Die Masse an formellen Qualifikationen nimmt zwar ebenso zu, wie der Übergang von Bildungsabschluss zu Eintritt in Festeinstellungen immer später erfolgt. Ttatsächlich bedeuten diese Abschlüsse weder eine Garantie auf besser bezahlte Jobs, noch dass nicht schon während des Ausbildungsprozesses eine Ausdehnung informeller Beschäftigung erfolgt, aus der viele dann auch nicht mehr herauskommen.

Sicher ist, dass die Ausdehnung des Bildungssektors zu beträchtlichen sozialen Widersprüchen in den imperialistischen Ländern geführt hat. Dies betrifft nicht nur die Fortführung der Benachteiligung von Kindern aus Unterschichten oder mit Migrationshintergrund, die notwendig immer wieder zu Konflikten und Protesten im Bildungsbereich führt. Es betrifft auch die Möglichkeit einer viel stärkeren Reflexion der kapitalistischen Widersprüche z. B. auch in den Fragen der ökologischen Zukunftsentwicklung, die für viele Jugendliche ab den 1960er Jahren immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten.Das betrifft auch die überkommener autoritärer Strukturen in den Bildungsinstitutionen, den traditionellen Familienstrukturen, der Arbeitswelt etc. und der Infragestellung der Geschlechterrollen. Die Jugendrevolte der 1960er und 1970er Jahre hat in allen diesen Bereichen ein permanentes Potential an Politisierbarkeit von Jugendlichen hervorgebracht, aus dem sich in jeder Generation danach auch in den Fragen der Ökologie immer wieder Protestbewegungen und politisches Engagement entwickelt haben. Als die Partei „Die Grünen“ in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren zu einer „Wahlalternative“ wurde, waren 80 % ihrer WählerInnen unter 30 Jahre. Bis heute bleiben die Grünen in dieser Altersgruppe die stärkste der Parteien. Die formelle Trennung von Bildungsbereich und Arbeitswelt verführt dazu, die Jugendprotestbewegungen als etwas von „den Arbeitenden“ Getrenntes zu betrachten. Tatsächlich sind viele der beteiligten Jugendlichen trotz Ausbildungsstatus’ selbst in prekären Formen der Beschäftigung verfangen, werden als Auszubildende ausgebeutet oder sind in einer Ausbildungsschiene hin zu einem Job. Nur für die wenigsten bedeutet ihr Ausbildungsstatus noch die Vorbereitung auf eine privilegierte Stellung „im Mittelstand“. Die Charakterisierung von Sahra Wagenknecht für die Jugendlichen in solchen Protestbewegungen als solche, die die „Probleme verwöhnter Mittelstandskinder“ wälzen, könnte nicht falscher sein, was die soziale Wurzel dieser Bewegungen seit den 1960er Jahren betrifft.

Die Kehrseite dieser seitdem entstandenen „Jugendkultur“ ist, dass sie dem Kapitalismus andererseits auch wieder zu einer beträchtlichen Modernisierung verhalf. Dies betrifft nicht nur viel effektivere Formen der scheinbar nichtautoritären Arbeits- und Führungskultur. Es beinhaltet vor allem auch ein Durchbrechen des beschränkten Konsumhorizonts der „fordistischen Massenproduktion“. Mit dieser einher ging ein hohles, entfremdetes Angebot eines „guten Lebens“ für die Normalbevölkerung: Normalarbeitstag, normierte Wohnung je nach Stellung, Waschmaschine, Fernseher, Auto je nach Stellung, Ferien entsprechend Reisekatalog, kleinbürgerliche Familienverhältnisse etc. Nachdem die verschiedenen Jugendrevolten seit den 1960er Jahren immer wieder an diesem normierten Bild des „Glücks“ gerüttelt bzw. die Umweltbewegungen dessen ökologischen Fußabdruck aufgezeigt haben, hat dies andererseits dem Kapitalismus ganz neue Verkaufsmöglichkeiten erschlossen. Massenproduktion wird heute mit Aufpreis „individualisiert“, mit sozialen und ökologischen Zusatzfeatures versehen. „Individualisierter“ Tourismus wie auch diversifizierte Unterhaltungsindustrie sind regelrecht explodiert. Die Internetplattformen ermöglichen ganz andere Dimensionen von Marketing etc. Das kritische Potential der neuen grünen Milieus gegenüber der kapitalistischen Massenproduktion und ihren sozialen und ökologischen Folgen führt auch zu einer Reihe von „Lösungsmöglichkeiten“, die der Kapitalismus angeblich zu bieten hat – und die dann auch ein neues Level der kapitalistischen Massenproduktion ermöglichen.

Die dritte Veränderung betrifft das, was man seit geraumer Zeit in soziologischen Studien die „Polarisierung der Qualifikationen“ bezeichnet. Dies bezeichnet die gut belegbare Tatsache, dass in allen OECD-Ländern derzeit besonders bei den „mittleren Qualifikationen“ ein Beschäftigungsabbau stattfindet, während sowohl bei denen mit höherer als auch besonders niedriger Qualifikation ein Aufbau erfolgt. Dies passt natürlich zu der schon genannten Tendenz des Abbaus traditioneller Industrien und Dienstleistungsbetriebe mit ihren klassischen Ausbildungsberufen (eben mittlere Qualifikationen wie im FacharbeiterInnenbereich oder bei Bürokaufleuten). Andererseits werden am oberen Ende der globalen Wertschöpfungsketten immer mehr Fachkräfte für die technischen Grundlagen, die Steuerung, die Finanzierungsdienstleitungen, das Marketing etc. benötigt. Andererseits fallen überall „Restarbeiten“ an, für die sich eine automatisierte Lösung derzeit nicht anbietet (Transport-, Reinigungssektor, Botendienst, etc.). Neben einer Ausdehnung des besser bezahlten Bereichs qualifizierter Arbeiten gibt es daher auch eine immer größer werdende Beschäftigung in prekären Sektoren oder solchen mit informellen Beschäftigungsverhältnissen (Teilzeit, Leiharbeit etc.). Damit hat sich auch die Differenzierung der ArbeiterInnenklasse weiter fortgesetzt: Heute gibt es nicht mehr nur die klassische Scheidung zwischen Angestellten, FacharbeiterInnen und unqualifizierten Arbeitskräften. Es kommen auf der einen Seite immer mehr an die Betriebe an- oder ausgegliederte prekäre Beschäftigte dazu. Auf der anderen Seite wächst aber auch eine neue „ArbeiterInnenaristokratie“ im Bereich der besonders gefragten Qualifikationen. Letztere gehen oft auch über in neue lohnabhängige Mittelschichten, sofern sie Kompetenzen besitzen, die ihnen quasi Selbstständigkeit oder Anstellung in Forschungseinrichtungen mit privilegierten Beschäftigungsverhältnissen ermöglichen.

Die vierte Veränderung betrifft die „Demografie“. Dies bezieht sich nicht nur, wie oft verkürzt darunter verstanden wird, auf die Überalterung der Bevölkerung in den imperialistischen Ländern (in Deutschland sind ein Drittel der Bevölkerung über 60 Jahre). Es bezieht sich auch auf die Auflösung der traditionellen „bürgerlichen Familie“ (Zunahme an Alleinerziehenden, Singlehaushalten, Rückgang der Kinderzahlen pro Familie etc.) und vor allem die Tendenz zur immer stärkeren Konzentration der Bevölkerung in den Großstädten. Natürlich ist letzteres auch verknüpft mit den Tendenzen zur Konzentration auf die „oberen Ebenen“ der Wertschöpfungskette in den imperialistischen Ländern wie auch zur Ausdehnung der Bildungszeiten.

Die dargestellten Veränderungen erklären in vielerlei Hinsicht die Entstehung des spezifischen „grün-alternativen Milieus“, das die soziale Basis sowohl für die neue Art der Umweltbewegung abgibt wie auch für die Entstehung von grünen Parteien. Dieses Milieu unterscheidet sich deutlich von den (klein-)bürgerlichen Schichten der klassischen bürgerlichen Umweltpolitik und -vereinstätigkeit. Es unterscheidet sich auch stark von den klassisch sozialdemokratischen Milieus – auch wenn es zu beiden natürlich Überschneidungen gibt. Das Milieu ist einerseits konzentriert in Großstädten, stark von seinen Wurzeln aus den Jugendprotesten seit den 1960er und 1970er Jahren geprägt, Ergebnis der Ausdehnung der langen Bildungsprozesse und der dargestellten Veränderung in der internationalen Mehrwertproduktion. Das Milieu eint die „kritische Haltung“ gegenüber der kapitalistischen Massenproduktion und -konsumtion und ihren sozialen und ökologischen Folgen sowie den konservativen gesellschaftspolitischen Strukturen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaften (Autoritarismus, Geschlechterrollen etc.).

Das grün-alternative Milieu und die sich daraus bis heute verästelt entwickelnden Potentiale mit Bezug zu Umweltbewegungen dürfen jedenfalls nicht als „neue Klasse“ missverstanden werden. Weder die Kategorie von „neuen postmaterialistischen Klassenlagen“ noch die von „urban professionals“, vom neuen „Bildungsprekariat“ etc. können diese soziale Formation erfassen. Sie kann nur verstanden werden aus der Entwicklung der Produktivkräfte nach dem zweiten Weltkrieg, der damit einhergehenden globalen Neuverteilung von Arbeit, der Ausdehnung von Bildungs- und Wissenschaftsprozessen in den imperialistischen Ländern, zusammen mit der wachsenden ökologischen Krise, die diese Prozesse mit sich bringen. Klassenmäßig formiert sich hier immer wieder in unterschiedlicher Zusammensetzung eine Koalition verschiedener Schichten aus unterschiedlichen Klassen, die über ihre spezifische Position im (Re-)Produktionsprozess positive Erwartungen in Bezug auf ökologische und soziale Fortschritte entwickelt haben, die von der krisenhaften Realität des realen „Fortschritts“ enttäuscht werden. Die Enttäuschung von Erwartungen hängt dabei mit Bildungsprozessen und Verbreitung von Wissen über mögliche alternative Lebens- und Produktionsweisen zusammen, die sich in diesen Milieus befestigt haben.

Andererseits formieren sich diese Milieus nicht nur durch den Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen, die in welcher Form auch immer als Hindernis für den gewünschten Fortschritt erkannt werden. Dies betrifft auch die Konfrontation mit den klassischen bürgerlichen und proletarischen Milieus. Das Narrativ von der Konfrontation von StudentInnenbewegung und Umweltprotesten mit „den ArbeiterInnen“ gipfelte ja zumeist in den plakativen Interviews von AutomobilarbeiterInnen, die über die Protestierenden urteilen: „Die haben ja in ihrem Leben noch nie was Richtiges gearbeitet“. Hier wurde natürlich nicht die Klassenkonfrontation mit der Bourgeoisie gemeint, sondern die sinnentleerte, entfremdete Arbeit in der fordistischen Fabrik zur Essenz des richtigen Lebens für uns Subalterne erklärt. Damit wurde auch verschleiert, dass ein Großteil dieser neuen Milieus, auch wenn er  zumeist nicht in diesen immer mehr verschwindenden Fabriken arbeitet, zu einem Bestandteil der sich neu formierenden ArbeiterInnenklasse wurde. Eben einer, die sich vermehrt in prekärer Arbeit, in Dienstleistungsbereichen, in Bildungs-, Wissenschafts-, Gesundheitsinstitutionen etc. findet und immer weniger aus klassischen ProduktionsarbeiterInnen besteht (man denke an das Marxzitat zum/r „GesamtarbeiterIn“ zurück).

Im Übrigen ist „Bildung“ in ihrer verdinglichten Form als „Qualifikation“ ja auch nur ein weiterer Fetisch neben dem des Lohns, den die Herrschaft der Wertform hervorbringt. Abstrahiert wird dabei sowohl von ihrer Bedeutung im Gesamtproduktionsprozess wie auch von den Bedingungen ihrer Produktion selbst. Viele so hervorgebrachten und „erworbenen“ Qualifikationen sind für den realen Produktionsprozess kaum zu gebrauchen. Die meisten „Qualifizierten“ arbeiten in ganz anderen Tätigkeiten oder hangeln sich als real „Unqualifizierte“ von einem schlecht bezahlten Job zum nächsten. Tatsächlich dienen „Qualifikationen“ zur gesellschaftlichen Hierarchisierung und Auslese derjenigen Arbeits- und Führungskräfte, die für den Gesamtarbeitsprozess aus Sicht der Kapitalkontrolle darüber tatsächlich zentral sind. Dieser Prozess bringt daher sowohl ein wachsendes „Bildungsprekariat“, kritische grün-alternative Milieus wie auch die zentralen Wissens- und Führungskräfte des modernen Kapitals hervor. Gegenüber den traditionellen ArbeiterInnenschichten eint dann der Fetisch des „Gebildetseins“. Heute drückt sich das dann gerne in den Exzessen der „Wokeness“ (Haltung der Wachheit und Wachsamkeit) aus, mit denen man sich über den Antiökologismus, Rassismus, Sexismus, politischen Irrsinn etc. der „bildungsfernen Schichten“ in einer breiten Koalition mit den liberalen Mittelschichten aufregt. In vielen einzelnen Fällen mag das berechtigt sein, muss aber auch immer unterm Aspekt des „Klassismus“, der schichtspezifischen Abgrenzung gegenüber den ungebildeten Unterschichten kritisch betrachtet werden.

Wichtig ist hier vor allem, dass sich mit der Herausbildung dieser alternativ-grünen Milieus eine beträchtliche Spaltung zwischen den traditionellen und neuen Schichten der ArbeiterInnenklasse in fast allen imperialistischen Ländern ausdrückt. Dies mag mehr oder weniger stark ausgeprägt sein und sich auch in Bewegungen oder politischen Parteien niedergeschlagen haben. Darin zeigt sich jedoch das schwächer Werden von traditionellen Organisationen der ArbeiterInnenklasse wie den Gewerkschaften aus wie auch die Probleme ihrer neuen Schichten. Ihre Arbeitsbedingungen sind zumeist von schwächerer gewerkschaftlicher Organisation geprägt, wie sich über die „Qualifikation“ auch eine starke Spaltung und Individualisierung der Beschäftigten organisieren lässt. Das „kritische Potential“ dieser Schichten kann sich daher auch weniger in Gewerkschaften oder anderen Organisationen der Klasse ausdrücken. Daher die größere Tendenz zu Bewegungen außerhalb des eigenen Arbeitsplatzes hin zu solchen im Reproduktionsbereich, kommunalem Engagement, ökologischen oder antisexistischen Protesten etc. Daher auch die Tendenz dieser Milieus zu klassenübergreifenden Koalitionen, die sich in solchen Bereichen notwendigerweise einfacher ergeben. Sofern dann dieser Aktivismus nicht eine Tendenz zur Systemkonfrontation entwickelt wie im Fall der Anti-AKW-Bewegung, gewinnt das (klein-)bürgerliche Segment in dieser Klassenkoalition notwendigerweise ideologisch die Vorherrschaft. Anders als die traditionellen, gewerkschaftlichen Milieus, bei denen zumindest ein Rest von Klassenbewusstsein in Form der Notwendigkeit v. a. gewerkschaftlicher Organisierung gegen das Kapital bestehen bleibt, bestehen diese dann schnell nur noch aus „kritischen BürgerInnen“.

Das „grüne Milieu“ ist entsprechend eine komplexe Koalition aus klassenmäßig durchaus unterschiedlichen Schichten von „progressiven“ (Klein-)BürgerInnen, lohnabhängigen Mittelschichten, neuer ArbeiterInnenaristokratie bis hin zum „Prekariat“. Welche der genannten Schichten jeweils im Vordergrund einer Bewegung, eines Protestes, einer Parteibildung etc. steht, hängt von den konkreten Umständen, den Erfahrungen und Organisationsprozessen aus vorangegangenen Auseinandersetzungen ab. Dies kann zu einer stark ins bürgerliche System integrierten, von Mittelschichten dominierten bis hin zu radikalen, von Prekären oder Jugendlichen geprägten Protestbewegung reichen. Diese widersprüchliche Vielfalt werden wir im Folgenden von der Parteibildung der Grünen über die Herausbildung der NGO-Kultur bis hin zu den verschiedenen Ausprägungen der Klimaschutzbewegung herauszuarbeiten versuchen. Klar ist: Die Radikalität und potentiell systemsprengende Kraft der Anfangsphase, wie wir sie in Deutschland in der Anti-AKW-Bewegung analysiert haben, wurde dabei nicht wieder erreicht. Hierfür spielte gerade auch die Herausbildung der grünen Partei und ihrer Degeneration eine entscheidende Rolle.

Hier sei noch erwähnt, dass die hier entwickelte Herangehensweise sich grundlegend vom antidialektischen, strukturalistischen Konzept der „Hegemonie“ unterscheidet. Die angesprochenen klassenübergreifenden Blockbildungen sind im Kapitalismus nie stabile, über lange Zeiträume „vorherrschende Diskurseinheiten“, sondern werden durch Krisen, Klassenwidersprüche und Zuspitzung von Gegensätzen rasch wieder über den Haufen geworfen und zwingen zur Neugruppierung. Der Kapitalismus ist kein System des „Stellungskrieges“, mittels dessen man vor der Revolution die gedankliche Vorherrschaft der ArbeiterInnenklasse dauerhaft erringen kann, sondern eines der permanenten Umwälzung und Revolutionierung. Insofern ist auch die Konzentration auf die Kritik am Neoliberalismus als Kampf um die Wiederherstellung von „schon mal Erreichtem“ nichts anderes als linker Konservativismus. Die kapitalistische Dynamik muss dagegen als Chance der Wiederpolitisierung und Hinaustreiben der Proteste auch über das angeblich schon mal Erreichte verstanden werden. Dagegen ist die Befestigung von „Stellungen“ im Rahmen der herrschenden kapitalistischen „Diskurse“ nur das sichere Zeichen, dass der betreffende Organisierungsprozess verbürgerlicht, d .h. sozial von den Schichten in den kritischen Milieus bestimmt wird, die mit ArbeiterInnenaristokratie oder lohnabhängigen Mittelschichten zu tun haben – die also letztlich ihr Schicksal mit dem der Bourgeoisie verknüpfen. Sie verwechseln oft Revolution als wesentlich notwendige, praktische Tat mit den entrückten Diskursen in ihren eigenen Köpfen und Reihen – „kritische KritikerInnen“ eben.

5. Zur Entstehung und Charakterisierung der Partei „Die Grünen“

5.1 Entstehung der Grünen

Anfang der 1980er Jahre waren die verschiedenen Protestbewegungen, die von den beschriebenen neuen Milieus geprägt waren, an einem Punkt angelangt, der zur politischen Organisierung drängte. Die großen Anti-AKW-Demos stellten klarerweise die Frage nach einer politischen Antwort gegenüber dem „Atomstaat“. Dies betraf nicht nur eine grundlegend andere Energiepolitik, sondern  damit auch die nach einer Alternative zur bestehenden Wirtschaftsform insgesamt. Dazu kamen die Mobilisierungen gegen den NATO-Doppelbeschluss (1979), die nicht nur die Frage des Austritts aus der NATO, sondern nach der Konfrontation mit dem Imperialismus insgesamt stellten. Aber auch in Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Unterdrückung von Homosexuellen, der rassistischen Diskriminierung etc. stellten sich Fragen politischer Alternativen, die von den bestehenden Parteien unter Einschluss der damals noch regierenden SPD nicht beantwortet wurden.

Die radikale Linke stand der neuen Umweltbewegung zunächst unschlüssig gegenüber. Die meisten Organisationen charakterisierten sie als „kleinbürgerlich“. Wie schon mehrfach ausgeführt, wurde hiermit, wie schon bei der „StudentInnenbewegung“ zuvor, die Tiefe der gesellschaftlichen Veränderungen im Produktionsprozess, im Klassengefüge, bis hin zum gesellschaftlichen Überbau nur ungenügend erfasst. Das „Kleinbürgertum“ spielte tatsächlich in der neuen Bewegung eine untergeordnete Rolle. Zwar waren bei den Anti-AKW-Bewegungen durchaus auch viele Bauern und Bäuerinnen sowie kleinstädtisches BürgerInnentum vertreten. Die Masse der Protestierenden kam aber wie oben ausgeführt aus urbanen Milieus, die auch große Teile einer sich neu formierenden ArbeiterInnenklasse umfassten. Auf der anderen Seite hatten die klassischen arbeiteraristokratischen Schichten gerade ihren Weg in die Verkleinbürgerlichung im Nachkriegsaufschwung hinter sich. SPD und Gewerkschaftsbürokratie, die gerade mit diesen aufs Engste verbunden waren, hatten damit maximal Probleme, diese neuen Schichten der ArbeiterInneklasse an sich zu binden (mit der teilweisen Ausnahme der Jusos, die damit auch einiges an Sprengkraft in die SPD brachten). Auch die DKP war mit ihren unverbrüchlichen Bekenntnissen zur „sicheren“ sowjetischen Kernenergie nicht gerade ein glaubwürdiger Anknüpfungspunkt der neuen Umweltbewegung. Ihr „kleinbürgerlicher“ Charakter ergab sich so weniger aufgrund ihrer sozialen Zusammensetzung als viel mehr aus ihrer Ferne zur bestehenden organisierten ArbeiterInnenbewegung. Die Führungen von Gewerkschaften und SPD waren ja auch unmittelbare GegnerInnen in der politischen Auseinandersetzung. 

Damit war es auch klar, dass diese Protestbewegung letztlich unter politische Kontrolle tatsächlich von kleinbürgerlichen Kräften kommen musste, die die Beschränktheit der Kampfmethoden und ihre Ferne zur klassischen ArbeiterInnenbewegung zum „neuen“, „modernen“ politischen Prinzip erklärten. Damit aber verwandelten sie die Protest- in eine Reformbewegung des Kapitalismus („Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“). Aber es war eben nicht von Anfang an klar, dass die „zweite Umweltbewegung“ letztlich unter Kontrolle solcher politischen Strömungen wie der „Grünen“ kommen musste – und natürlich blieb diese Kontrolle auch immer nur eine partielle. So entwickelten sich die „Grünen“ von einer von kleinbürgerlichen Massenbewegungen getragenen Protestpartei (nicht Massenpartei!) mit ihren Mantras „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“ zur offen bürgerlichen Formation – einer besonderen allerdings, weil nicht aus Bewegungen innerhalb des kapitalistischen Bürgertums hervorgegangen. Anzumerken bleibt, was die frühen Grünen an der radikalen Linken zerstört haben: den vorher selbstverständlichen, wenn auch linksstalinistisch verzerrten Bezug auf die ArbeiterInnenklasse. Dieser Katastrophe leistete auch der degenerierte Nachkriegstrotzkismus wenig bis keinen Widerstand, sondern teilweise Vorschub (Teile der GIM). Ähnliche Kapitulation erfolgten gegenüber anderen „neuen sozialen Bewegungen“ ( z. B. dem Feminismus) aus einem Mangel an einer auf die Höhe der Zeit gehievten Orthodoxie.

Allerdings haben sich seit der Gründung der „Grünen“ in Deutschland Anfang der 1980er Jahre bedeutende Verschiebungen in der Klassenzuordnung ergeben, die auch für die Umweltbewegung insgesamt und für ihre weitere Ausdifferenzierung wichtig sind. Die Protestbewegungen der 1970er und 1980er Jahre waren auch Resultate der Krise des Nachkriegsaufschwungs, eines neuerlichen Umbruchs im Produktionsprozess und der Integrationsprobleme mit dem analysierten neuen „Bildungsproletariat“. Ausdruck dessen in der Bundesrepublik war auch eine einflussreiche Rolle verschiedener maoistischer K-Gruppen in den großen Protestbewegungen dieser Zeit. KBW/BWK, KB und deren diverse Abspaltungen spielten eine wichtige Rolle für die Organisierung der militanteren Formen des Protests. So wurde z. B. der KBW wegen des versuchten Sturms auf das Baugelände des AKW Grohnde wegen „Rädelsführerschaft“ mit einem Verbotsverfahren bedroht. Diverse K-Gruppen und auch trotzkistische ZentristInnen waren an der Gründung von „Alternativen Listen“ (oder „Bunten Listen“) beteiligt. Die bedeutende Rolle der K-Gruppen bei der Gründung der Grünen wird heute in der Selbsterzählung der Partei als zufällige biografische Randnotiz abgetan. So etwa beim Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, der sich „in seiner Jugend“ halt in eine autoritäre „Sekte“ verirrt habe. Tatsächlich war er als Vertreter des KBW bei AKW-Protesten, wie in Wyhl, sehr aktiv beteiligt. Insgesamt lieferte diese orthodox-maoistische Gruppe dem Realo-Flügel einiges an Spitzenpersonal (Bütikofer, Fücks, Schmierer, etc.). Im Unterschied zum KBW, der keine bewusste Eintrittstaktik betrieb, spielte der KB in Norddeutschland eine entscheidende Rolle bei der Gründung der Grünen. Die GAL in Hamburg um die KB-Größen Ebermann/Trampert lieferte das Muster für ähnliche Interventionen in den anderen norddeutschen Bundesländern – und ebenso langjähriges Führungspersonal, wie Jürgen Trittin und Angelika Beer.

Natürlich war es für maoistische ZentristInnen leichter, ihre „revolutionäre Perspektive“ mit einer opportunistischen Klassenpolitik zu verbinden – ganz im Sinne Maos origineller Mehrklassenbündnisse im Rahmen einer völligen Verfälschung der „demokratischen Diktatur“-Strategie. Tatsächlich passten sich die K-Gruppen in der Gründungsphase der Grünen an die vorherrschenden kleinbürgerlichen Ideologien an, statt, wie angeblich vorgesehen, für die „führende Rolle des Proletariats“ in dieser „Volksbewegung“ zu kämpfen. Die Bündnisse mit „undogmatischen Linken“, spontaneistischen Protestgruppen, neuen Bürgerinitiativen und traditionellen Umweltverbänden, die sich in „Bunten Listen“ zunächst auf kommunaler Ebene sammelten, nahmen zwar oft scheinbar radikale Programme an. Ohne Bezug auf tatsächliche alternative Machtorgane (auf Basis realer Klassenkämpfe)lieferte dieses Verfahren letztlich nur ein linkes Alibi für die Integration der Protestbewegung in parlamentarische Strukturen. Insbesondere die Fraktion Z um Ebermann/Trampert (zu der auch Trittin gehörte) spaltete sich 1980 von der Mehrheit des KB ab (die weiter bei der „Bunte Listen“-Taktik blieb), um explizit am Aufbau einer grünen Partei mitzuwirken. Ihr Bündnis mit den Linksalternativen und Bürgerinitiativen auf dem Programmparteitag 1980 war entscheidend dafür, dass der konservative, auf traditionelle Umweltpolitik ausgerichtete Flügel um Gruhl (Grüne Aktion Zukunft; GAZ) letztlich unterlag, um später die Grünen in Richtung ÖDP zu verlassen. Dieses Ergebnis war entscheidend dafür, dass die Grünen lange Zeit in der Lage waren, die linke Protestbewegung in Westdeutschland in das politische System zu integrieren.

Dabei war von Anfang an klar, dass eine Partei, deren Kernelement „umweltpolitische Realpolitik“ bildete, die also die Durchsetzung ihrer umweltpolitischen Ziele auch im Kapitalismus für möglich hielt, sich letztlich auch in Regierungsausübung für diese Zwecke einspannen lassen würde. Statt die Widersprüche gegenwärtiger kapitalistischer Produktivkraftentwicklung auch in ökologischer Sicht zu einer Politik der Überwindung des Kapitalismus zu nutzen, musste diese Partei letztlich bei der „Versöhnung von Ökonomie und Ökologie“, also bei der falschen Ideologie eines ökologischen Kapitalismus enden. Vorbereitet wurde dies durch Beteiligung an Regierungen von der kommunalen  bis zur Länderebene (auf denen die „Friedenspolitik“ noch keine so große Rolle spielte). Damit bildete sich ein Apparat von „RealpolitikerInnen“, der notwendig immer stärker werden musste. Dies umso mehr, als ja anders als bei einer bürgerlichen ArbeiterInnenpartei das permanente Gegengewicht z. B. von Gewerkschaften ebenso fehlte wie das vorübergehende einer radikalen, linkspopulistischen Massenbewegung. Der Zug war letztlich abgefahren, als der Versuch von Ebermann/Trampert, die Grünen für eine „ökosozialistische“ Ausrichtung zu gewinnen, scheiterte und die HauptprotagonistInnen samt „linkem“ Flügel die Partei verließen.

5.2 Verbürgerlichung der Grünen

Diese Verschiebung der Kräfteverhältnisse auf Ebene der politischen Führung ist nichts anderes als eine Widerspiegelung der Veränderungen der sozialen Basis der Partei. War sie anfänglich durch die Protestbewegungen der radikalen Teile von Jungendrebellion und neuem Prekariat geprägt, so bedeutete die Etablierung der Grünen als parlamentarische Kraft, dass auch immer mehr andere Schichten des oben analysierten „grünen Milieus“ die Partei zu dominieren begannen. Waren Anfangs noch 80 % der Grünenwähler unter 30, so wurde die Partei mehr und mehr auch zu einer Partei der sich neu herausbildenden neuen ArbeiterInnenaristokratie und der ökologisch orientierten neuen lohnabhängigen Mittelschichten. Die Bioläden wandelten sich von Alternativkommunen zu modernen Varianten der alten Reformhausgenossenschaften – nur ein Ausdruck der schleichend voranschreitenden Verbürgerlichung.

Dazu kam, dass mit dem Verpassen der revolutionären Möglichkeiten 1989/90 und der Ausdehnung in die fünf neuen Bundesländer über „Bündnis 90“ diese Verbürgerlichung noch mehr voranschritt. In den fünf neuen Bundesländern fehlte das oben analysierte „grüne Milieu“ weitgehend. Die rasch voranschreitende Deindustrialisierung und Abwicklung der DDR-Wirtschaft führte auch zu einer Marginalisierung von „grünen“ Themen. Bei der ersten Bundestagswahl nach der Vereinigung wurde denn auch mit dem Slogan „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“ ein Wahldebakel mit dem Verlust der Bundestagssitze eingefahren. Mit „Bündnis 90“ wurde ein Teil der DDR-Opposition eingegliedert, der sehr verschiedene Elemente vereinte. Einerseits einen Teil, der schon in der DDR berechtigte umweltpolitische Proteste repräsentierte. Einer der wenigen Erfolge der Wendezeit war ja tatsächlich, dass noch vor der offiziellen „Wiedervereinigung“ der Naturschutz auf dem Gebiet der damals noch bestehenden DDR stark ausgeweitet werden und vieles davon in die neuen Bundesländer gerettet werden konnte. Dies führte aber auch dazu, dass Umweltpolitik ein breites politisches Betätigungsfeld auf kommunalpolitischer und Länderebene in den fünf neuen Ländern wurde. Ein kleinerer Teil der DDR-Oppositionellen war auch tatsächlich auf eine sozialistische Alternative zur DDR orientiert und schloss sich dem „linken“ Flügel der Grünen an. Der überwiegende Teil von „Bündnis 90“ war jedoch strukturkonservativ-christlich geprägt und nur aus Gründen der speziellen Geschichte der Ost-CDU nicht dort organisiert. Nach der Vereinigung zu „Bündnis 90/Die Grünen“ verließen denn auch einige dieser Teile die Partei Richtung CDU. In den fünf neuen Bundesländern blieben die Grünen damit lange Zeit eine Partei, die sich gerade um die 5 % halten konnte und stark von „grüner Realpolitik“ geprägt ist.

Entscheidend ist jedoch die neue gesellschaftliche Situation nach dem Krisenjahrzehnt der 1980er Jahre. Mit dem Sieg im Kalten Krieg und der „Globalisierungsperiode“ änderten sich auch entscheidende ökonomische, soziale und ökologische Rahmenbedingungen. Noch viel mehr als vorher wurden die „Schmutzindustrien“ ebenso wie die klassischen fordistischen Betriebe in die Halbkolonien ausgelagert, andere Produktionsbetriebe wurden immer mehr automatisiert. Insgesamt stieg der Einsatz von IT-basierten Technologien enorm an. Die Beschäftigung verschob sich vermehrt in Berufe mit höherer Qualifikation bzw. Dienstleistungssektoren. Andrerseits entstand auch in den imperialistischen Zentren immer mehr ein Prekariat, in den 1990er Jahren gerne als „neue Proletarität“ bezeichnet. Die Verlagerung umweltschädlicher Produktion im Verbund mit grüner Umweltpolitik konnte schon als Erfolg in Richtung „ökologische Marktwirtschaft“ verkauft werden, nachdem die Folgen dieses Wandels in den Halbkolonien hierzulande nicht so sichtbar wurden. Die klassische grüne WählerInnenschaft wurde immer mehr zu dem Teil der ArbeiterInnenaristokratie, der zu den Gewinnern der Globalisierungsperiode zählte, während Teile der alten ArbeiterInnenaristokratie ins Prekariat absanken.

Diese soziale Verschiebung erklärt auch die breite Unterstützung, mit der sich letztlich der Realo-Flügel in die rot-grüne Regierungskonstellation stürzen konnte und dabei mehr oder weniger alle einstigen Programmpunkte der Gründungsphase über Bord warf: Friedens-, Migrations-, Sozialpolitik sowieso, aber bald auch Kernelemente der Umweltpolitik. Der Ex-KB- und Anti-AKW-Aktivist Jürgen Trittin sollte als grüner Umweltminister die letzten Castortransporte durchsetzen – natürlich wegen der Anerkennung des „Rechtsstaates“ und der Durchsetzung eines „Kompromisses“ zum Ausstieg der sowieso schon sterbenden Wiederaufbereitung in Deutschland. Letztlich war das Mittragen des „Atomkompromisses“ wie auch später des „Kohleausstiegs“ in ökologischen Fragen so etwas wie ein politischer Offenbarungseid der „Grünen“ – der Ausverkauf jeglicher Durchsetzung ökologischer Interessen zu Lasten des Kapitals (zahlen muss bei diesen „Kompromissen“ ja die „Allgemeinheit“, um ja nicht „unsere“ Energiekonzerne in ihrer Profitabilität zu gefährden).

Ihre Anpassung an Kapitalinteressen und Umwandlung in eine Partei, die nunmehr zu den „staatstragenden“, „kanzlerInnenfähigen“ politischen Kräften in diesem Land geworden ist, geht einher mit der Entwicklung besonderer Verhältnisse zur Bourgeoisie selbst. Dies betrifft nicht nur ihre „konstruktive“ Zusammenarbeit mit Kapitalverbänden (z. B. im „Automobilland“ Baden-Württemberg). Dazu zählt auch die Entwicklung eines spezifischen „grünen Mittelstands“, mit besonderen Verbindungen zu den Grünen. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es verschiedenste Firmen oder auch Genossenschaften, die sich von grünen UmweltministerInnen gerne Fördermittel und günstige Infrastrukturzugänge erwarten können. Aber auch im Bereich der Agroindustrie gibt es durchaus Unternehmen der Verarbeitung „biologischer Lebensmittel“ oder von Kosmetika, die nicht nur grünen „Ideen“ anhängen. Exemplarisch sind solche Supermarktketten wie Alnatura (tatsächlich ein kleiner Konzern), die sowohl mit ihren LieferantInnen als auch den Beschäftigten nicht besser als Aldi & Co umgehen. Der Firmeneigner, der Anthroposoph Götz Rehn, Schwager des dm-Vorstandsvorsitzenden Götz Werner, weist natürlich für seinen mit so hehren Zielen agierenden Betrieb solche materialistischen Ansinnen wie die Gründung von Betriebsräten  vehement zurück. Es sind solche „innovativen“ UnternehmerInnen, mit denen sich die Grünen heute gerne über die „ökosoziale Marktwirtschaft“ austauschen. Es gibt sie sicherlich noch, die Verbindung der Grünen zu den Umweltprotestbewegungen (insbesondere durch die Jugendorganisationen). Aber vielmehr sind die Grünen heute eine Partei mit sehr gutem Draht zur deutschen Bourgeoisie. Sprich sie sind eine bürgerliche Partei, die über Umweltverbände und ihren politischen Apparat weiterhin eine starke Kontrolle über Umweltproteste aller Art in diesem Land ausübt – und damit zu dem entscheidenden Hindernis für die notwendige Antwort auf die ökologische Krise des Kapitalismus hier geworden ist.

Die heutige Umweltbewegung in Deutschland kann unmöglich ohne den hier skizzierten Transformationsprozess der Grünen verstanden werden. So sehr auch radikalere Teile der Bewegung so tun, als hätten sie nichts mit den Grünen am Hut, als wären sie für ihre politischen Ziele irrelevant – es bleibt der grüne Elefant, der immer auch im Raum steht. Spätestens wenn es um konkrete politische Ziele geht, sind Umweltverbände und Vorfeldstrukturen der Grünen dabei – und sie  bleiben AnsprechpartnerInnen in den Parlamenten und Verwaltungen. Mit der Verbürgerlichung der Grünen hat das kapitalistische System eine Verteidigungslinie gegen die Radikalisierungstendenzen gefunden, die ihm durch die beschriebenen grünen Milieus drohen. Das radikale Potential, das sich noch in der Anti-AKW-Bewegung gezeigt hatte, ist wesentlich eingedämmt worden. Jede noch so radikale Umweltbewegung befindet sich heute ist im Sog grüner Mittelstandsideologien und der „Reformangebote“ der „Grünen“ oder ihrer Vorfeldorganisationen.

5.3 Grüne Mittelstandsideologie

Die verschiedenen radikaleren Bewegungen im ökologischen Bereich dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Umweltpolitik in Deutschland im Großen von individualistischen Mittelstandsideologien bestimmt ist, die sich insgesamt in die Verwertungsinteressen des Kapitals einpassen lassen und an den fundamentalen ökologischen Widersprüchen nichts ändern. Kern der grünen Mittelstandsideologie ist die Dominanz der Warenlogik in Fragen der Ökologie, die sich vom „greenwashing“ kapitalistischer Produktion  bis zur „Verantwortung des/r KonsumentIn“ hinzieht. Die Studie „Die grüne Lüge“ von Kathrin Hartmann (2019) zeigt gut, wie die „Nachhaltigkeitsstrategien“ der Konzerne im Wesentlichen Marketingerfolge sind, die den VerbraucherInnen ein „gutes Gewissen“ durch Preisaufschläge verschaffen: ob durch „Ökolabels“, „Klimazuschläge“, Pushen angeblicher ökologischer Alternativprodukte, etc. Das Buch zeigt an vielen Fällen, wie die „Nachhaltigkeitsbilanz“ dann tatsächlich in den Herkunftsländern der Produkte katastrophal ausfällt. Wichtig ist aber auch, wie Hartmann zu Recht feststellt, dass durch diese Marketingaktionen die Verantwortung für die ökologische Krise des globalen Kapitalismus auf die KonsumentInnen verschoben wird. Es wird vorgegaukelt, dass diese selbst ja schuld an den Problemen seien, da sie ja die nichtökologischen Produkte kaufen. Sie müssten  ja nur ein paar Euro mehr für die besseren Produkte zahlen, womit dann jede/r einen Beitrag zur Rettung des Planeten an der Supermarktkasse leisten könne. Und wie schon Gandhi sagte: „Veränderung beginnt bei mir selbst“.

Diese bürgerliche Ideologie der klassenunspezifischen Veränderbarkeit des Kapitalismus setzt sich fort mit „Reform“illusionen in staatliche Politik, die nur den Markt regulieren müsse, z. B. durch Preisbestimmungen mit (ökologischen) Verbrauchersteuern. Damit würde die angeblich so gut funktionierende Marktwirtschaft zu einer ökosozialen weiterentwickelt. Klar, dass diese Illusionen in den bürgerlichen Staat auch verknüpft sind mit einer neuen Form von „grünem Patriotismus“: Angesichts der globalen Dimension ökologischer Probleme sind die Beschränkungen jedes einzelnen Nationalstaates in der Umweltpolitik besonders stark spürbar. Daher werden die „deutschen Umweltstandards“ (wie auch die angebliche Überlegenheit in Bezug auf Menschenrechte etc.) zu einer Quelle des Patriotismus, der auch zu einer entsprechenden Bevormundung und Drangsalierung anderer Länder führt. So wird denn auch „grüne Politik“ nicht erst seit Joschka Fischer zu einem Markenzeichen des deutschen Imperialismus, mit einem besonderen Platz für die grüne Partei – mitsamt Einfügung in das „westliche Bündnis“ samt NATO.

6. Die „Greenpeaceisierung“ der Umweltbewegung

Wichtiger noch ist die grundlegende politische Veränderung, die sich in der Umweltbewegung durch die Verbürgerlichung der Grünen selbst nur widerspiegelt. Niemand aus dem Kreis der führenden Ur-Grünen hat das so deutlich erfasst wie Ebermann/Trampert, z. B. in ihrem damals viel gelesenen Buch „Die Offenbarung der Propheten“ (1996). Ihnen kann man immerhin zugute halten, dass sie Ende der 1980er Jahre versucht haben, einen organisierten Kampf gegen den Prozess zu führen und dabei in „letzter Minute“ den auf Regierungskurs befindlichen Kahn verlassen haben – im Unterschied zur Masse an „linksradikalen“ Kadern, die ihren „Entrismus“ bis in die Bundesregierung fortsetzten.

Ein gutes Beispiel für den angesprochenen Transformationsprozess machen die beiden in dem Buch an der Auseinandersetzung um die Versenkung der Nordseeölplattform „Brent Spar“ fest. Das Kapitel dazu ist überschrieben mit „Der Klassenkampf ist tot. Lang leben Greenpeace und die Verbraucher/innen!“ (ebd., S. 137 ff.). Es wird dabei treffend verglichen, wie auf einen großen Streik der ÖTV nach der Wiedervereinigung medial reagiert und dann im Kontrast dazu mit der Greenpeacekampagne gegen den Shellkonzern umgegangen wurde. Auf der einen Seite wurde der Streik im öffentlichen Dienst mit seinen Auswirkungen auf Nah- und Fernverkehr, Behörden, Müllabfuhr und Ähnliches in allen Medien bis hin zur „grünen“ taz als „unverantwortlich“, „egoistisch“ und dem Gemeinwohl widersprechend verteufelt. Eine wahre Chronik des Schreckens bis hin zu tragischen Schilderungen von Beschäftigten, die zu spät zur Arbeit kamen, wird aus Bild & Co hier von den Autoren zusammengetragen. Die taz vermutete ein letztes Gefecht, eine „Wagenburgmentalität des Klassenkampfes“ angesichts der „wahren Probleme“ der sozialen Angleichung des Ostens: „… wer eine Brücke über die sich vertiefende soziale Spaltung schlagen will, muss bereit sein, unten zu teilen … als ob die Kosten der Einheit nichts mit Tarifpolitik zu tun hätten. Aus einer Wagenburg aber, die nur den alten Antagonismus von Kapital und Arbeit im Blickfeld hat, entwickelt sich keine Gestaltungskraft“ (ebd., S. 139 f.).

Hier kommt zum Ausdruck, dass sich auch der grüne Mainstream inzwischen als Vertreter „gesamtnationaler“ Interessen gegenüber irgendwelchen „Partikularinteressen“ sah. Er erkannte auch an, dass die Lohnkosten einen wesentlichen Faktor für die Weltmarktstellung des deutschen Kapitals bildeten, dass also nur zu verteilen, was innerhalb dieses Rahmens möglich sei.

Ganz anders reagierte die vereinte Öffentlichkeit im Fall des britisch-niederländischen Konzerns Shell, der 1995 plante, die Tank- und Versorgungsanlage „Brent Spar“ aus Altersgründen stillzulegen – und die Entsorgung dabei nicht durch Verschrottung an Land, sondern durch Versenkung in der Nordsee durchzuführen. Der Konzern hatte dafür wissenschaftliche Studien für Auswirkungen auf die Meeresökologie vorgelegt und die Restbestände an Öl auf unter 100 Tonnen angegeben. Dann begann Greenpeace eine großangelegte Kampagne, die „exemplarisch“ einen Konzern und seine Umweltsünden an den Pranger stellen sollte. Spektakuläre Plattformbesetzungen ergänzten sich mit großangelegten Medienkampagnen. Dabei wurde die Restmenge an Öl gleich mal auf 5.500 Tonnen hochgerechnet (spätere unabhängige Untersuchungen bei der Entsorgung ergaben dann tatsächlich etwa 75 Tonnen). Was aber das Besondere an der Greenpeacekampagne speziell in Deutschland darstellte, war, wie einheitlich von Bildzeitung bis taz alle auf sie abfuhren und plötzlich die Umweltpolitik auf die Verhinderung der „Brent Spar“-Versenkung reduziert zu sein schien. Natürlich wurde jetzt das künftige Allheilmittel gefunden: Die „Volks“kampagne musste ihre Ergänzung im VerbraucherInneboykott von Shelltankstellen finden. Warum sind Streiks „egoistisch“, Verbraucherkampagnen dagegen „ethisch“? Die Autoren urteilen im Fall von „Brent Spar“: „Erstens war es eine willkommene Heuchelei, die Deutschland in dem Maße sauber erscheinen ließ, wie England beschmutzt wurde, zweitens ging es um nichts, drittens waren willfährige, markttreue Verbraucher/innen, die ja schließlich der Bohrinsel wegen nicht einen Liter weniger Benzin tankten, die Objekte der Inszenierung“ (ebd., S. 143).

Was daran richtig ist, ist, dass eine Umweltkampagne hier von einem scharfen Konflikt mit „dem System“ zu rein symbolischem Protest mit ganz bestimmten Elementen der Inszenierung geriet. Es fängt damit an, dass ein bestimmtes Unternehmen ausgeguckt wird, das für das nationale Terrain gerade als geeignetes Stellvertreterfeindbild herhalten kann. Es geht weiter mit medienwirksamen Aktionen von einigen wenigen „professionellen“ AktivistInnen (gerne z. B. Greenpeace). Und es erfolgt eine „leicht umsetzbare“ Aufforderung an die „VerbraucherInnen“ (entweder irgendwelche Petitionen zu unterstützen, ein Produkt zu boykottieren oder irgendwie sonst ihr Marktverhalten zu ändern). Wie Ebermann/Trampert zu Recht darlegen, haben Organisationen wie Greenpeace daraus direkt ein Geschäftsmodell entwickelt. Die vielen Spenden, die ein auf Medienhype aufgebauter Aktionismus generiert, beinhalten natürlich auch solche von denjenigen Konzernen, die gerne gute Presse genießen wollen und dafür bei „den Jungen“ ihr ökologisches Image aufpolieren. Das heißt nicht, dass es nicht auch oft die Richtigen trifft – entscheidend ist, dass das eigentliche Problem schon durch die Form des elitären Aktionismus jenseits der Massenaktion verfehlt wird. Das machen Ebermann/Trampert am Beispiel von „Brent Spar“ (das hier nur für den Beginn einer ganzen Historie von neuem „Umweltaktivismus“ behandelt wird) sehr gut deutlich.

Das Problem der Öleinträge in die Weltmeere (neben der sonstigen Müllentsorgung, insbesondere was Atommüll betrifft) ist tatsächlich ein gewaltiges ökologisches. Schon im Normalbetrieb entweichen Ölbohrinseln große Mengen an Rohöl während der Förderung. Dazu kommen in ebensolchem Verhältnis Ölabfälle von Schiffen und Industrieeinleitungen, die Mengen an Öl, die jährlich bei Tankerkatastrophen in die Meere gelangen. Schließlich geht auch ein großer Teil der Verbrennungsprodukte von aus Öl gewonnenen Treibstoffen über den Niederschlag oder Flüsse ins Meer als globaler Senke für die Abfälle von Öl und ölverarbeitender Industrie. Die nicht mal 100 Tonnen Ölschlamm in der „Brent Spar“ waren natürlich nur ein verschwindend kleiner Teil unterhalb des Promillebereichs dieser gewaltigen Abfallmenge. Trotzdem wurde die Verhinderung der Versenkung der Plattform hochgespielt, als ginge es hier um die „Rettung der Weltmeere“. „Wollte jemand die Nordsee retten und sich aus politischen Gründen auf die Bohrinseln konzentrieren, hätte er zur Demonstration, dass es ihm ernst ist, zumindest den Normalbetrieb angreifen müssen. Wollte jemand wegen des Symbolcharakters den Widerstand auf nur eine einzige Bohrinsel konzentrieren, dann hätte der Kampf gegen den Bohrapparat der deutschen Gesellschaft RWE-DEA, die im Wattenmeer tatsächlich die Nordsee verseucht, nahegelegen“ (ebd., S. 144).

Das berührt natürlich den Kern des Problems, ohne die Lösung wirklich zu benennen. Den „Normalbetrieb“ einer Industrie anzugreifen, heißt gewöhnlich, diese z. B. durch Streiks oder Besetzungen lahmzulegen. Die richtige Kritik an der Hetze gegen Streiks „nur für die eigene Geldtasche“ und das mediale Lob für die „verantwortungsbewussten VerbraucherInnen“, die ihre „Marktmacht“ zur Geltung bringen, drücktt eigentlich auch aus, was hier fehlt. Nämlich dass (nicht nur in Deutschland) die Aktivitäten des Streiks und anderer, ähnlicher Klassenkampfformen ihres politischen Kerns beraubt und tatsächlich zu reinen Lohnkämpfen degradiert wurden. In den Hochzeiten der ArbeiterInneninternationalen waren Streiks auch politische Kämpfe, Massenaktionen z. B. zum Sturz von Autokratien oder zur Durchsetzung allgemeiner sozialer Maßnahmen, aber auch für Arbeitsschutz und gegen Umweltauswirkungen bestimmter Produktionsprozesse. Wie schon ausgeführt sind heute solche Streiks aufgrund von Veränderungen im Produktionsprozess, der Repressionsmöglichkeiten gerade in strategischen Industrien und des sozialchauvinistischen Charakters der Gewerkschaftsführungen schwierig geworden. Letztere stützen sich zudem auf die sozialen Umschichtungen im Betrieb, die dort die technische Intelligenz, die für Kämpfe auch um eine Umgestaltung des „Normalbetriebs“ oder auch eine Transformation der Produktion auf andere Produkte entscheidend wäre, von denen der nicht privilegierten ArbeiterInnen fernhalten. Trotzdem wäre es natürlich für einen effektiven Kampf um eine ökologische Umgestaltung oder Transformation notwendig, alle ArbeiterInnen in solchen Schlüsselbetrieben zu gewinnen.

Gibt man diese Perspektive auf, so gibt es nur den „Druck von außen“ auf das Kapital. Die militanten Kampfformen, wie sie sich etwa in der Anti-AKW-Bewegung entwickelt haben, waren sicher eine Zeitlang ein wirksames Moment, das Tendenzen entwickelte, das System als Ganzes anzugreifen. Sie hätten aber erst realisiert werden können, wenn die Kämpfe auf die „Störung des Normalbetriebs“, auf die Beschäftigten selbst übergegriffen hätten. Nach der Aufgabe dieser Perspektive durch den „grünen Mainstream“ im Gefolge der Umwandlung der Grünen von einer kleinbürgerlichen Bewegungs- in eine offen bürgerliche Partei (wenn auch besonderen Ursprungs) war klar, dass „Druck von außen“ etwas anderes, Systemkonformes werden musste. Und „Brent Spar“ zeigt auch exemplarisch tatsächlich, was aus der „Umweltbewegung“ in den 1990er Jahren geworden war. Sie war auf verschiedenen Ebenen den „Mystifikationen der Zirkulationssphäre“, wie Marx es formulieren würde, aufgesessen – ob jetzt in der „Marktmacht der VerbraucherInnen“, der „Macht der Wählerstimmen“ in Parlamenten, den Möglichkeiten staatlicher Eingriffe, der „Macht der Medien“ etc. Zentral ist natürlich, dass in der Zirkulationssphäre die Klassenwidersprüche hinter der scheinbaren Gleichheit der individuellen WarenbesitzerInnen verschleiert werden. Jeder Verbraucher, jede Verbraucherin erscheint als „verantwortlich“ für ihre individuelle Kauf-/Wahlentscheidung. Wenn nur entsprechende „grüne Angebote“ gemacht würden, dann könne auch „konkret“ etwas verändert werden. Natürlich sind auf all diesen Ebenen von Markt bis Staat, Wahlen bis Medien nicht einfach „Gleiche“ unterwegs, sondern bestimmte AkteurInnen können durch ihre Marktmacht und Kapitalzuwendungen ganz andere Gewichte in die Waagschale werfen.

Zusätzlich zur Verlagerung der „politischen“ Momente der Umweltbewegung in ihren „parlamentarischen Arm“ gibt es auch die zunehmende „Professionalisierung“ des Umweltaktivismus durch „Nonprofit“-Organisationen, wie wir sie hier am Beispiel von Greenpeace gezeigt haben. Seit den 1990er Jahren existiert eine starke Tendenz zur Stellvertreterpolitik in Protesten, theoretischer Arbeit, Publikationen etc. durch „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs). Diese sind zwar zumeist formell als „Nonprofit“-Gesellschaften deklariert, stellen aber ein breites Feld für steuergünstige Investitionen in ein wachsendes Business dar. Studien belegen, dass der NGO-Sektor zu einem bedeutenden Bereich von prekärer Beschäftigung und für eine Koalition von NGO-ManagerInnen mit anlagewilligen Finanzierungsnetzwerken durchaus profitabel geworden ist (Fong/Naschek 2021). Letztere Studie zeigt auch, wie stark die Ausdehnung dieses Sektors mit neoliberalen Ausgliederungen im Sozial-, Umwelt-, Bildungs-, Forschungsbereich, aber auch von kommunalen Einrichtungen zu tun hat. Für die Protestbewegungen, die mit bestimmten NGOs zu tun haben (z. B. in der Klimabewegung), bedeutet dies eine Tendenz der Dominanz durch deren Apparate,  Kampagnenstrukturen, bereitgestelltes Personal, finanzielle Möglichkeiten etc. Damit erlebte auch die Umweltbewegung in sehr viel schnellerem Tempo als die ArbeiterInnenbewegung ihre Bürokratisierung.

7. „Greenwashing“ und „Green Economy“ – auf dem Weg zum „Green New Deal“

Das Beispiel „Brent Spar“ zeigt dabei auch, wie sich Umweltkampagnen selbst einerseits für die Interessen bestimmter Kapitalgruppen bzw. eines eigenen grünen Business’ (hier desjenigen des Greenpeacekonzerns) nutzen lassen. Andererseits zeigt auch die Reaktion der betreffenden Industrie, wie sie den Protest dann für einen Umbau ihrer Marken und ihres Images selbst einsetzen kann. Nach „Brent Spar“ nutzten insbesondere Shell und BP ihr Eingehen auf den Protest im Rahmen der wachsenden Klimabewegung für eine „Selbstneuerfindung“ als Champions von Nachhaltigkeit und Transformation hin zu erneuerbaren Energien.

Um die Jahrtausendwende startete BP eine großangelegte Imagekampagne, die unter anderem dazu führte, dass es sich von „British Petrol“ in „Beyond Petrol“ („Über Benzin hinaus“) umbenannte. Das Logo wurde von dem alten, aus der imperialen Anglo-Persischen Kompanie (APOC), die noch in den Sturz des Mossadegh-Regimes 1953 verwickelt war, übernommenen Schild in eine grün-gelbe Sonnenblume umgewandelt. In diversen Nachhaltigkeitsreports wurde hervorgehoben, wie sehr der Konzern den Umbau von Öl hin zu erneuerbaren Energien betreibe. Tatsächlich wurden einige Firmen der Solar- und Windenergie aufgekauft. Seitdem kann man allerdings tatsächlich beobachten, dass der Anteil der erneuerbaren Energien am Konzernumsatz verschwindend klein ist und weiterhin vor allem in die Erschließung neuer Ölfelder z. B. im Golf von Mexiko oder vor der brasilianischen Küste investiert wird. Der Konzern hat es anders als andere große Firmen der Ölindustrie verstanden, dass es sich gegenüber den KonsumentInnen in den imperialistischen Ländern nicht lohnt, den Klimawandel zu leugnen. Daher simuliert er den Umbau in einen Konzern der erneuerbaren Energien, der halt noch ein bisschen Ölgeschäft als „Brücke“ zur Zukunft betreibe. Dazu kommt dann noch die Propaganda von den fortschrittlichen Verfahren, die man angeblich einsetze, um die Ölförderung weniger umweltschädlich zu gestalten. Noch Ende 2009 erklärte BP: „Unser Ziel ‚keine Unfälle, keine Schäden für Menschen und keine Zerstörung der Umwelt‘ ist weiterhin die Grundlage der BP-Aktivitäten“ (Hartmann 2019, S. 34 f.). Keine 2 Wochen, nach Veröffentlichung dieser Erklärung ereignete sich auf einer eigenen Explorationsplattform im Golf von Mexiko eine der schwersten Katastrophen der Ölindustrie überhaupt – die Explosion auf der „Deepwater Horizon“ (20.4.2010). Der Umgang mit dieser Katastrophe, auch wenn man es z. B. mit der „Brent Spar“-Affäre vergleicht, enthüllt das ganze Ausmaß an Heuchelei und Verdrängung, das im „globalen Norden“ in Bezug auf die Problematik der Ölindustrie herrscht.

Im Golf von Mexiko gibt es mehr als 3.000 Bohrinseln nicht weit von Küstengewässern mit komplexen ökologischen Lebensräumen. Natürlich war „Deepwater Horizon“ (DH) nur der schlimmste Unfall in der Kette der „Lecks“ die auch im Normalbetrieb immer wieder auftreten. In den 15 Jahren vor der Katastrophe hatte es schon 79 Störfälle gegeben, bei denen die BetreiberInnen zeitweise die Kontrolle über die Bohrlöcher verloren hatten, mit mehr oder weniger massiven Ölaustritten. Die Katastrophe war denn auch keine „unvorhersehbare Tragödie“, sondern von unabhängigen BeobachterInnen schon lange erwartet worden. DH diente der Durchführung von Probebohrungen zur Erschließung einer neuen Ölquelle in etwa 5.000 Meter Tiefe. Aufgrund von Zeitverzügen und Kostendruck waren gegen Ende dieser Bohrungen einige Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr möglich. Außerdem erwies sich der von Halliburton für die Abdichtung des Bohrlochs gelieferte Zement als ungeeignet. Da es schon einige Gasausbrüche gegeben hatte, nannten die ArbeiterInnen vor Ort die Station „Well of Hell“ (das Höllenloch). Trotz Bedenken der Bohrmannschaft (von denen viele in Folge starben) wurde die Bohrung fortgesetzt, als es zu einem plötzlichen starken Druckanstieg kam. Der folgende „Blow Out“ konnte weder durch den angeblich absolut sicheren automatischen Blow-Out-Preventer noch durch manuelle Notabschaltung verhindert werden. Eine Öl- und Gasfontäne schoss aus dem Bohrloch, die die Plattform sofort in Brand setzte und fürs Erste jegliche Aktivitäten zur Schließung des Bohrlochs verunmöglichte. Noch dazu waren die Bauteile, die zur Notschließung dienen sollten, offenbar Billigware, die sich in der Situation als völlig unbrauchbar erwies. Auch wenn die Untersuchungsberichte die Mängel der Sicherheitsvorkehrungen auf mangelnde Investitionen der Betreiberfirma zurückführten, konnte BP sich später von allen solchen Vorwürfen reinwaschen. Schuld waren natürlich untergeordnete Firmen, die als Sündenböcke dienen konnten. Auch aufgrund des nach der Katastrophe schnell wieder beschleunigt aufgenommenen Ausbaus der Ölförderung vor der Küste Louisianas waren weder der Bundesstaat noch die Obama-Administration auch nur im Entferntesten daran interessiert, BP an den Pranger zu stellen. Dies trotz der Art und Weise, wie der Konzern dann die Folgen der Katastrophe „verschwinden“ ließ!

Da 87 Tage nicht reichten, den Ausfluss zu stoppen, gelangten mindestens 780 Millionen Liter Öl in den Golf von Mexiko. Das war 20 Mal mehr als bei der bis dahin größten Tankerkatastrophe, als durch die Havarie der Exxon Valdez 2.000 km der Küste Alaskas verseucht wurden. Um ähnlich schreckliche Bilder wie damals an der 70 Kilometer entfernten Küste Louisianas zu vermeiden, kam BP auf ein besonderes „Zaubermittel“. Schon seit langem verwendet die Ölindustrie für den Fall der Fälle sogenannte Dispersionsmittel, die Ölklumpen in „Tropfen“ auflösen. Bei DH kam man schnell auf  Corexit, das von einer britischen Firma produziert wurde, an der BP Anteile hält. Ironischer Weise ist das Mittel aufgrund seiner toxischen Eigenschaften in Britannien selbst gesetzlich nicht zugelassen. Für die US-Umweltbehörde war dies aber kein Grund, dem Einsatz im Golf von Mexiko zu widersprechen. Zur Bekämpfung des riesigen Ölteppichs wurden denn auch nicht wie bisher üblich ein paar tausend Liter der Substanz eingesetzt, sondern insgesamt 7 Millionen – so etwas wie eine industrielle Massenverschleierungsaktion. Denn nicht nur der enthaltene Glycolether zeitigt auf die Meeresfauna beträchtliche Auswirkungen, sondern ist die Dispergierung des Öles ja kein Verschwinden der Verschmutzung: Das Meerwasser enthält in der Gegend weiterhin eine Ölbelastung pro Wasserteil, die für viele Mikroorganismen, Garnelen und Fische tödlich war. Außerdem sammelt sich so das Öl nur am Meeresgrund, wo es letztlich wieder verklumpt. Für dortige Korallen und andere Lebewesen war das tödlich. Letztlich kommt die Katastrophe so auch in Ölklumpen wieder an die Küste, wenn auch nur „in Zeitlupe“. Verschiedene lokale Ökoorganisatione, wie Ecorigs haben seit der Katastrophe eindringlich die Wüste dargestellt, die die Katastrophe aus dem einstig biologisch vielfältigen Küstengewässer vor Louisiana gemacht hatte. BP jedoch verkündete 2015, dass die DH-Katastrophe „nachhaltig“ beseitigt worden wäre und untermalte das mit Bildern von weißen Stränden und „glasklarem“ Wasser. Von untersuchten, an der Küste gefundenen Ölrückständen wurde behauptet, dass diese gar nicht mehr aus der erfolgreich bekämpften Ölpest kommen könnten. In der Mainstream-Presse der USA wurde dies auch einhellig gefeiert und einzelne ökologische KritikerInnen, die damals das Ausmaß der Katastrophe zum Beleg für ihre Forderung nach Ausstieg aus den Ölbohrungen angeführt hatten, der „maßlosen Übertreibung“ bezichtigt. Die Verschleierungskampagne von BP war voll aufgegangen. Verschiedenste Initiativen und Proteste von Umweltorganisationen, die den tatsächlichen Zustand der Meeresökologie und der Herkunft von Ölrückständen bzw. Abbauprodukte von Corexit vor Ort wissenschaftlich untersuche lassen wollten, wurden von den Umweltbehörden der USA mit puren Absichtserklärungen beantwortet. Tatsächlich haben die Öllobby und ihre Regierungen alle solche n bisher nicht zustande kommen lassen.

Das Beispiel BP wurde hier so ausführlich gebracht, weil es besonders deutlich macht, wie sehr ökologischer Anspruch und Realität im gegenwärtigen Kapitalismus auseinanderklaffen. Fast alle großen Unternehmen sind einerseits beständig dabei, immer größere Umweltprobleme zu akkumulieren, um andererseits dauernd zu präsentieren, was sie nicht alles zur „Weltrettung“ unternehmen. Die Nachhaltigkeitsprogramme der Unternehmen, die seit der ersten Konferenz von Rio zu einer Art Pflichtübung der Managementetagen wurden, lassen die Konzerne fast als Vorreiter der Umweltbewegung erscheinen. Kaum eine einschlägige Broschüre eines Großkonzerns kommt ohne Hinweis auf dessen Beitrag zum „Kampf gegen Klimawandel und Umweltzerstörung“ aus, als ob diese nicht zumeist gerade diejenigen sind, gegen die sich dieser Kampf dabei richten müsste. Die tatsächlichen ökologischen Aktionen, die dann von ihnen ausgehen, sind zumeist Symbolprojekte, die in Bezug auf das Gesamtgeschäft nicht ins Gewicht fallen. Trotzdem bevölkern ihre VertreterInnen  die großen globalen Umweltkonferenzen, führen in Davos und anderswo das große Wort zur „Umweltpolitik“. Schließlich werden sie auch von den etablierten Umweltverbänden oder grünen AmtsträgerInnen als notwendige „GesprächspartnerInnen“ akzeptiert. Nicht zuletzt geraten auch NGOs im Umweltbereich in beträchtlichem Ausmaß unter ihren Einfluss, da sie spenden, Logistik oder „Ideen“ liefern.

Schließlich betreiben die Konzerne inzwischen auch nicht mehr einfach nur „Greenwashing“. Mit dem Schlagwort „Green Economy“ wird seit über einem Jahrzehnt inzwischen von einem qualitativen Wandel des Kapitalismus an sich phantasiert. Seit der „Nachhaltigkeitskonferenz“ von Rio 2012 (UNSCD 2012) dient das Schlagwort zur Zielvorstellung der „Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch“. Mit anderen Worten, es wird die Vorstellung propagiert, dass Kapitalakkumulation ohne systemische Umweltzerstörung und rücksichtslose Ausbeutung natürlicher Ressourcen möglich ist. Möglich soll dies werden durch „intelligente Produkte“ und vor allem neue „Erfindungen“, die auf technische Weise die Probleme lösen. Die Probleme z. B. der Umweltvernichtung durch die Explosion der Nutzung privater Pkws sollen nicht etwa durch deren Verminderung gelöst werden, sondern durch die inzwischen als Heilmittel auch in der Automobilindustrie gefeierte E-Mobilität, das neue, „ökologische“ Wachstumschancen eröffne. Natürlich sieht die Ökobilanz der E-Mobilität vor allem durch den zu erwartenden Stromverbrauch im Fall eines flächendeckenden Ersatzes der Verbrenner verheerend aus. Andere dieser technischen  Weltrettungsprojekte beziehen sich zumeist auf das Recycling. So versucht auch die Textilindustrie über alle möglichen Recyclingideen, das immer verrücktere Wachstum (und damit auch an ausrangierten Textilprodukten) als ökologisch verträglich zu verkaufen. Dabei gehört die globale Textilindustrie nicht nur zu den ausbeuterischsten Branchen, sondern auch zu den größten UmweltverbrecherInnen. Erinnert sei daran, dass der riesige Wasserverbrauch der Baumwollfelder in Kasachstan und Usbekistan (den Hauptlieferanten der Textilindustrie des indischen Subkontinents) wohl hauptverantwortlich ist für die Austrocknung des Aralsees (eine der größten Umweltkatastrophen des neuen Jahrtausends). Bei fortgesetztem Umsatzwachstum ist der bisher bekannte Anteil an Recycling von Baumwollprodukten hier reine Kosmetik. Zudem sind die Geschwindigkeitsanforderungen an die Recyclingprozesse für die Abnehmerindustrie nicht ohne sehr hohen Energieaufwand zu bewältigen. Schließlich ist der erhöhte Einsatz von IT als Allheilmittel zur Optimierung des Ressourceneinsatzes auch ein zweiseitiges Schwert. Das rasche Wachstum der Rechenzentren weltweit, die das Rückgrat der Internet- und IT-Prozesse abgeben, hat zu einem Energieverbrauch geführt, der, wäre die IT-Industrie ein Land, diese zur sechstgrößten Energieverbraucheinr der Welt machen würde.

Wie schon in unseren Umweltimperialismusthesen in diesem Band dargelegt, gilt für die sogenannte „green economy“ das schon von Jevons entdeckte Paradox, dass Effizienzsteigerungen unter kapitalistischen Bedingungen letztlich sogar zu einer Erhöhung des Ressourcenverbrauchs führen. Der britische Ökonom Jevons hatte schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anhand des Kohleverbrauchs der britischen Industrie nachgewiesen, dass Effizienzsteigerungen bei Ausnutzung der Dampfkraft nicht zu geringerem, sondern aufgrund des durch die Kosteneinsparungen bedingten Wachstumsanreizes sogar erhöhtemKohlverbrauch führten.

8. Die Tendenz zur Umweltzerstörung im Kapitalismus und ihre Relativierungen

Dies ist auch nicht anders zu erwarten in einer von den Kategorien der Wertbildung beherrschten Ökonomie. Die Produktivkraftentwicklung erfolgt nicht anhand bewusster sozialer oder ökologischer Zielsetzungen, sondern die Ersparung von Arbeit und Ressourceneinsatz erzeugt umgekehrt über Wertkategorien wie Preis, Lohn, Profit etc. den „Sachzwang“ zur Verallgemeinerung von sich „naturwüchsig“ durchsetzenden Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeitsbedingungen und des Verhältnisses zur Natur. Die herrschenden Eigentumsverhältnisse und der darauf basierende Zwang zur Verwertung des Kapitals erzeugen dabei sowohl die beständige Bedrohung der Verschlechterung der Verwertungsbedingungen („tendenzieller Fall der Profitrate“, Krisen- und Zusammenbruchstendenz) als auch die entgegenwirkenden Ursachen, insbesondere im Zwang zur beständigen Ausweitung der absoluten Masse des produzierten Mehrwerts. Letzteres bedeutet, dass der Zwang nicht einfach nur zum „Wachstum“, sondern zu scheinbar grenzenlosem, kein Produkt der „Gier“ von KapitalistInnen oder „der Gesellschaft“ darstellt, sondern ein unmittelbares Produkt des kapitalistischen „Normalbetriebs“.  Ein Kapitalismus ohne Wachstum muss in kurzer Zeit aufgrund der damit verbundenen Verwertungskrise zusammenbrechen. Eine „Kritik des Wachstums“ ohne Aufhebung der Wertmechanismen des Kapitals und der ihnen zugrundeliegenden Eigentumsverhältnisse ist nicht nur utopisch, sondern ein Weg in die Katastrophe. Die von Menschen geschaffenen kapitalistischen Produktionsverhältnisse verselbstständigen sich zu einem scheinbar „objektiven“ Zwang der Ökonomie, der nicht nur zur Entfremdung zwischen den Menschen sondern auch entfremdete Verhältnisse zwischen Mensch und Natur schafft. Unter kapitalistischen Bedingungen gibt es keine „Versöhnung“ von Ökologie und Ökonomie.

Foster et al. (2011) haben zu Recht aus dieser grundsätzlichen Dynamik des kapitalistischen Wachstums langfristige ökologische Gesetzmäßigkeiten für den Kapitalismus abgeleitet. Marx behauptet als „langfristiges Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“, dass die beschriebenen Widersprüche des kapitalistischen Wachstums auf lange Sicht zu einer Zunahme der sozialen Ungleichheit im Weltmaßstab führen müssen. D .h. es kommt u einer ungeheuren Ansammlung von Reichtum auf Seiten eines verschwindend kleinen Teils der Gesellschaft (der Bourgeoisie), gegenüber dem der arbeitende Rest der Gesellschaft relativ gesehen „verelendet“ (wie immer diese dann noch auf die subalternen Klassen verteilt wird). Foster et al. (2011) ergänzen dies durch ein zweites Gesetz der kapitalistischen Akkumulation: das „absolute allgemeine Gesetz der Umweltschädigung unter dem Kapitalismus“ (S. 196). Gemäß zweitem Hauptsatz der Thermodynamik und der daraus folgenden „entropischen Erosion“ – also des notwendigerweise steigenden (Energie-)Aufwands auf jeder Stufe, um das Wachstumstempo halten zu können –, zeigen sie, dass der Verwertungsprozess des Kapitals trotzdem selbst diese Schranke nicht respektiert.  Vielmehr bildet das für ihn einen „neuen Wachstumsanreiz“, um selbst die als „Umweltschutz“ verstandenen Maßnahmen letztlich zur Steigerung der Umweltzerstörung zu nutzen. So „gewährleistet die kapitalistische Art der Aneignung mit ihrem Ziel der Förderung privater Profite unter geringer Rücksichtnahme auf gesellschaftliche oder umweltbezogene Kosten, dass diese entropische Erosion global gesehen zu jeder historisch gegebenen Entwicklungsphase auf eine maximal ökonomisch denkbare Ebene hinausläuft“ (ebd., S. 197).

Jede Theorie oder politische Antwort auf die gegenwärtigen ökologischen Grundprobleme, die die Frage der Eigentumsverhältnisse und damit ihres Klassencharakters ausklammert, kann daher keine wirkliche Antwort auf die ökologische Krise geben.

Insbesondere sind daher grüne Parteien oder andere politische Kräfte, die eine Versöhnbarkeit von kapitalistischer Ökonomie und Ökologie zu ihrer umweltpolitischen Agenda machen, letztlich nicht anders als diejenigen, die von der Möglichkeit eines sozialen Kapitalismus phantasieren. Angesichts der beiden Grundgesetze der kapitalistischen Akkumulation sind „Errungenschaften“ auf sozialem oder ökologischem Gebiet im Kapitalismus auf lange Sicht nur zeitweilige Erfolge, die immer wieder zunichtegemacht werden. Grüne und sozialdemokratische Parteien sind damit nichts weiter als Verwalterinnen der Umweltzerstörung wie des Sozialabbaus, die sie angeblich bekämpfen oder beschränken wollen. Dies heißt natürlich nicht, dass es nicht immer wieder richtig wäre, für konkrete Verbesserungen auf ökosozialem Gebiet zu kämpfen – ohne Illusion darin, dass Erfolge auf diesem Gebiet im Kapitalismus in realem Sinn „nachhaltig“ sein könnten. Nachhaltigkeit gibt es nicht ohne Angriff auf die bestehenden Produktionsverhältnisse.

So wie eine nachhaltige Umweltpolitik im Kapitalismus ein Widerspruch in sich ist, so ist es auch nicht verwunderlich, dass die im akademischen Bereich vorherrschenden Positionen zu Ökologie und Gesellschaft heute keine Antworten auf die ökologische Krise liefern können. Natürlich sind auch in den verschiedenen Gebieten wie Umweltsoziologie, Ökologie, Klimaforschung etc. die hegemonialen Theorien der „ökologischen Modernisierung“ verpflichtet. Sie verbreiten die Vorstellung, dass eine ökologische Umgestaltung des kapitalistischen Wachstums nur Ersetzung bestimmter technischer Prozesse durch „modernere“ bedeuten würde, bei anhaltendem Wachstum. Ja, dies sei sogar der Motor für neues Wachstum. „Kapitalismuskritik“ hatte es in linken Theorien gegeben. Aber in den heute vorherrschenden ökologischen Theorienwird  nur noch von „Marktwirtschaft“ gesprochen. Maßnahmen der Umgestaltung seien durch Nutzung bestimmter „Marktmechanismen“ möglich (Zertifikatehandel, Steuerpolitik, Investitionsförderung … ).

Wenig erstaunlich auch, dass hier der Siegeszug poststrukturalistischer Theorie zu einer „linken“ Flankendeckung der „ökologischen Modernisierung“ führt. Den verschiedenen Diskurstheorien folgend, lehnen akademische ÖkologInnen heute natürlich den Anspruch der „großen Erzählung“ ab, die der Marxismus für die ökologische Krise liefert. So wird denn auch die drohende menschengemachte Klimakatastrophe zu einem „gängigen Narrativ“ (Radkau 2011, S. 34), zu dem es auch „Gegenerzählungen“ vom Machtstreben eines Öko- und Klimaestablishments gäbe. In vielen Bereichen sei es sogar notwendig, zum herrschenden Narrativ der großen Kapitale plausible „Gegenerzählungen“ wirksam zu verbreiten. Eine „Metaerzählung“, bei der man unschwer „die Grundmuster der Tragödie und der Apokalypse“ erkenne, mit der Botschaft „die Menschheit ist dabei, sich durch ihre eigene Wirtschaftsweise … zugrunde zu richten“ (Radkau 2011, ebd.),  sei dagegen nicht zu begründen bzw. führe zu totalitären Ansprüchen. So erbaulich solche ökologischen Apokalypseerzählungen für das Leserpublikum auch seien, die konkreten Maßnahmen in Verwaltungen und Unternehmen zum Umweltschutz würden weit mehr voranbringen als der „Alarmismus“.

Diese Relativierung von wissenschaftlicher Wahrheit in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften wird somit auf dem Gebiet der Ökologie besonders bizarr. Es ist kein Wunder, dass die „alarmistischen Erzählungen“ heute vor allem von NaturwissenschaftlerInnen kommen. Auch wenn es für komplexe ökologische Zusammenhänge wie z. B. den Einfluss der gegenwärtigen Produktions- und Lebensweise auf das globale Klima sicher eine Menge an Unsicherheiten und unwägbaren Faktoren gibt, durch die gegenwärtige Messergebnisse zu einer Bandbreite an möglichen Entwicklungen führen können, sind NaturwissenschaftlerInnen in der Lage, ihre Vorhersagen mit Fehlerwahrscheinlichkeiten, Überprüfungsmöglichkeiten und quantifizierbaren Intervallen für die zu erwartenden Entwicklungen zu begründen. D. h. in dialektischem Sinne sind ihre Resultate als fortschreitende Annäherung an die Wahrheit erkennbar. Die ökologischen Brüche, die für verschiedene Bereiche heute die „points of no return“ im globalen Ausmaß erreicht haben oder zu erreichen drohen, sind in diesem Sinn wissenschaftlich belegt und erfordern tatsächlichen „Alarm“. Foster et al. (2011) zitieren aus einer internationalen Studie, an der zahlreiche bekannte NaturwissenschaftlerInnen aus den relevanten Fachwissenschaften beteiligt waren, nach der es in neun globalen ökologischen Bereichen solche für einen lebenswerten Planeten bedrohliche Brüche gibt: neben dem Klimawandel die Übersäuerung der Ozeane, die Stickstoff- und Phosphatkreisläufe, der stratosphärische Ozonmangel, der weltweite Frischwasserverbrauch, die intensive Landnutzung, der Verlust an Biodiversität, die Aerosolaufladung der Atmosphäre, die chemische Verschmutzung (S. 16). In allen diesen Bereichen gibt es klare Kennziffern und alarmierende Annäherungen an Grenzwerte, die allesamt rasches Handeln erforderlich machen.

Natürlich ist das relativierende Gerede von den „Narrativen“ durch GesellschaftswissenschaftlerInnen und ihr politisches Gefolge vor allem auf die Frage der Ökonomie gerichtet. Die Frage, ob ein „wirtschaftliches Wachstum ohne Umweltzerstörung“ möglich sei, sei nicht mit irgendwelchen Bezugnahmen auf „Naturgesetze“ zu begründen. Hier begegnen wir heute vor allem zwei ideologischen Phänomenen: Entweder werden überhistorische allgemeine ökonomische Gesetze postuliert, die z. B. als Marktgesetzte ähnlich wie Naturgesetze funktionieren – und so auch für bestimmte ökologische Zielsetzungen technisch genutzt werden könnten (Zertifikate, Steuern etc.). Oder es wird die Unvorhersagbarkeit ökonomischer Entwicklungen aufgrund der vielen individuellen Entscheidungen der MarktteilnehmerInnen, der „Psychologie des Marktes“ etc. betont. Bei beiden Varianten gibt es keine erkennbare langfristige Tendenz. Folglich lassen sie die Möglichkeit einer „Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie“ durch marktgerechte Staatseingriffe, vor allem aber durch die Verantwortung der „individuellen Entscheidungen“ der MarktteilnehmerInnen offen.

Durch diese verdinglichende Abstraktion „des Marktes“, „der Marktgesetze“ etc. von den historischen Bedingungen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise werden die besonderen strukturellen Gründe der heutigen Widersprüche von Ökonomie und Ökologie vollkommen verschleiert. Vom Standpunkt des historischen Materialismus wird die Menschheitsgeschichte dagegen durch eine Reihe grundlegender Umbrüche gekennzeichnet gesehen, die jeweils für mehr oder weniger lange Perioden sehr unterschiedliche Gesetzmäßigkeiten unter anderem auch im Mensch-Naturverhältnis mit sich bringen. Die „Marktgesetze“ sind daher nichts Überhistorisches, was so immer schon wirkte, sondern Vorherrschen von Warenproduktion, Lohnarbeit und Entwicklung von Märkten (Zirkulation) in Unterordnung unter die Verwertung von Kapital im Produktionsprozess sind historische Spezifika, ohne die eine „marktwirtschaftliche Herangehensweise“ auch an ökologische Krisen unsinnig ist. Es ist daher auch falsch, wenn sowohl „linke“ ÖkologInnen wie auch die ÖkomodernisiererInnen von einem Problem des „Anthropozäns“ sprechen – also einer wachsenden Tendenz der Umweltzerstörung, die es seit Anbeginn der „menschlichen Zivilisation“ gäbe. So z. B. exemplarisch im Werk des Anthropologen Jared Diamond zu sehen, der etwa in dem Buch „Kollaps“ (2005) eine interessant geschriebene Geschichte ökologischer Katastrophen von den PolynesierInnen auf den Osterinseln bis zur Gegenwart erzählt. Er schlussfolgert, dass es bloß zu einer quantitativen Steigerung von Umweltkrisen im Verlauf der menschlichen Zivilisation komme – das Muster jedoch immer dasselbe sei. Die Lehren daraus würden von den heutigen Menschen eine Umkehr von den bisher eingeübten Verhaltensweisen „der menschlichen Zivilisation“ verlangen, wollen wir nicht wie einst die WikingerInnen auf Grönland aussterben – nur diesmal in globalem Maßstab.

Dabei wird gerade bei den genannten neun ökologischen Problemfeldern, bei denen heute Grenzwerte für einen lebenswerten Planeten erreicht werden, klar, dass die Epoche des Kapitalismus nicht nur eine quantitative Steigerung der bisherigen „Zivilisationsprobleme“ bringt, sondern eine neue, katastrophale Qualität. Seit Beginn der kapitalistischen Industrialisierung sind nicht nur die Konzentrationen der Treibhausgase in der Atmosphäre in nie dagewesener Geschwindigkeit explodiert. Gleiches gilt für Übersäuerungsprobleme, Wasserverbrauch, chemische Verschmutzung, Artensterben etc. Der Kapitalverwertungszwang und der damit verbundene immer größer werdende Hang zur stofflichen und energetischen Ausbeutung natürlicher Ressourcen unter Missachtung der der Natur eigenen, sehr viel langsameren Entwicklung (auch die Natur hat ihre Geschichte, mit allen Sprüngen und Veränderungen) haben der Naturzerstörung eine ganz andere Dynamik aufgeprägt, als dies die dagegen behäbig und provinziell wirkenden feudalen oder antiken Gesellschaften je hervorbringen konnten. Elmar Altvater sprach daher zu Recht von einem „Kapitalozän“ (Altvater 2018), das den Planeten an den Rand einer neuen „global extinction“ bringt. In Analogie zu den erdgeschichtlich wohl bisher fünf „Massenausterbeereignissen“ gehen viele BiologInnen davon aus, dass wir mitten im sechsten stehen.

9. Kapitalismuskritik mithilfe von Degrowth?

Tragischerweise sind jedoch nicht nur ÖkoreformistInnen wie die VertreterInnen der „ökologischen Modernisierung“ von der ahistorischen und technizistischen Sichtweise beherrscht – auch viele von deren „linken“ KritikerInnen sind da nicht besser. Ein Teil der KritikerInnen an der „gegenwärtigen Wirtschaftsweise“ versucht ein Gegenmodell einer „Postwachstumsgesellschaft“ zu propagieren. Bekannt wurde diese Strömung durch das Schlagwort der „Degrowth-Bewegung“. Wie die Seite www.degrowth.de zeigt, erhält diese durchaus einiges an Unterstützung aus akademischen Kreisen, von diversen umweltpolitischen Initiativen, aber auch von Parteistiftungen der Grünen und der Linken. Insgesamt aber ist die Bewegung entgegen ihrem globalen Anspruch vornehmlich auf die imperialistischen Länder beschränkt, mit einigen eher isolierten akademischen ZuarbeiterInnen in den Halbkolonien.

Entscheidendes Merkmal dieses losen Zusammenschlusses ist die Entwicklung einer „Gegenerzählung“ zu dem angeblich auch von MarxistInnen vertretenen Standardnarrativ, dass keine wirtschaftliche Entwicklung ohne Wachstum möglich sei. Bei aller Vielfältigkeit der Positionen eint die Strömung schon, dass für sie „Kapitalismuskritik“ und „Infragestellung der Wachstumsgesellschaft“ Hand in Hand gehen. Was dabei genau „Kapitalismuskritik“ ist, wird von den verschiedenen Flügeln bzw. AutorInnen sehr unterschiedlich beantwortet. Klar ist, dass sie nicht von einer historischen Betrachtung ausgehen, nach der die Probleme des kapitalistischen Wachstums nur durch eine revolutionäre Umwälzung der Eigentumsverhältnisse überwunden werden können. Das Spektrum reicht vielmehr von einer vagen Andeutung, dass der Kapitalismus „ungeeignet“ sei, um dem Wachstumszwang zu entgehen (Blauwhof 2012 , S. 261), oder Degrowth den Kapitalismus „hinter sich lassen“ würde (Kallis et al. 2016, S. 31) bis dazu offenzulassen, ob Kapitalismus und Postwachstum nicht doch miteinander vereinbar sind. So vertritt Lawn (2005, S. 228), dass es möglich sei, „auf demokratischem Weg an die Macht zu kommen“, um „den kapitalistischen Betrieb sozial und ökologisch in die Schranken zu weisen“. Andere favorisieren gar die Rückkehr zu vorkapitalistischen Verhältnissen in Form kleinbäuerlicher Agrargesellschaften (Bennholdt-Thomsen 2015, S. 162). Insbesondere der griechische Ökonom und Ökologe Giorgios Kallis (z. B. in „Degrowth. Handbuch für eine neue Ära“, 2016) zeichnet sich durch eine Theoretisierung dieser ökonomischen Unklarheiten an der Basis von Degrowth aus. Vertreten wird, dass der „Wachstumszwang“ gar nicht aus „der Ökonomie“, aus den von Marx entdeckten Zwangsgesetzen der kapitalistischen Akkumulation komme, sondern ein Element der herrschenden „Leitkultur“ sei, eine „low growth“- oder gar „steady state“-Ökonomie vor allem durch einen „grundlegenden Kulturwandel“ zustande käme. Die Überwindung des Kapitalismus wird dann vor allem zu einer der „kapitalistischen Kultur und Denkweise“. Im Allgemeinen lehnt Degrowth daher nicht überraschenderweise die Notwendigkeit einer sozialistischen Revolution ab, auch wenn man sich zeitweise an den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ und das Konzept der „bolivarischen Revolution“ anlehnte.

Es ist überhaupt bezeichnend für die neue Umweltbewegung seit der Jahrtausendwende (die wir im Anschluss ausführlicher behandeln werden), dass die Steigerung der Umweltprobleme sehr wohl „dem Kapitalismus“ angelastet wird und man sich ganz allgemein als „AntikapitalistInnen“ bezeichnet (und auch gerne auf allen Aktionen „A-Anti-Anticapitalista“ intoniert) – dabei aber einen vollkommen unklaren, nicht materialistisch fundierten Begriff von Kapitalismus zu hegen. Dass vorherrschende Strömungen wie „Degrowth“ ein mehr oder weniger friedliches Hinübergehen von der derzeitigen kapitalistischen Ökonomie in eine nachkapitalistische Postwachstumsgesellschaft für möglich halten, ist natürlich vom Standpunkt einer sich auf Marx beziehenden Kapitalismuskritik völlig unsinnig. Wenn man jedoch von den zugrundeliegenden Eigentums- und Ausbeutungsverhältnissen und den darauf basierenden Verwertungszwängen abstrahiert, kann man sich natürlich eine „Marktwirtschaft“ mit Postwachstum vorstellen. Anstelle eines Angriffs  auf die Eigentumsverhältnisse und der dafür notwendigen Klassenperspektive treten dann „Individuen“, die sich in wachsender Zahl bewusst werden, dass „konkret“ etwas grundlegend anders werden muss, um sich an der „großen Transformation“ zu beteiligen.

Wenn es nicht um eine soziale Revolution, um Änderung der Eigentumsverhältnisse, um eine Klassenaktion zur Umwälzung der Produktionsverhältnisse geht, sondern vor allem um einen „Kulturwandel“, um eine Überwindung der kapitalistischen Lebensweise etc., so ist klar, dass die „Transformation“ eine langwierige Folge von „autonomen“ Handlungen von lokalen Initiativen verkörpert. Bei Degrowth sind anders als in der Green Economy nicht die einzelnen KonsumentInnen, TrägerInnen der Veränderungen, sondern die dezentralen und vernetzten Initiativen. Dies kann von der Errichtung von Gemeinschaftsgärten, dezentralen Energieprojekten, lokalen Kreisläufen mit Regionalwährungen bis hin zur Gründung von Landkooperativen und auf Gesamtebene der Umsetzung eines bedingungslosen Grundeinkommens reichen. Auf der politischen Ebene wird der Staat nicht als Instrument der herrschenden Klasse gesehen, sondern als Vehikel, in dem sich verschiedene Kräfte auseinandersetzen und somit auch ökologische und soziale Zielsetzungen (z. B. Grundeinkommen) mehr und mehr durchsetzen ließen. Verbunden wird dies mit der Vorstellung einer Ersetzung staatlicher oder privater Strukturen durch ein Wiedererstarken der „Commons“, also der gemeinschaftlich genutzten Ressourcen und Güter – z. B. nach dem Vorbild der Open-Source-IT-Systeme, die eben dafür auch immer mehr Verteilmechanismen selbstvernetzend schaffen könnten.

Abgesehen davon, dass der hier skizzierte „Kulturwandel“ angesichts der drängenden ökologischen Probleme offensichtlich sehr viel Zeit erfordern würde, ist jedoch gravierender, dass weder die herrschenden ökonomischen Interessen (in den Konzernen) noch die staatlichen Organe noch die von den bürgerlichen Ideologien beherrschten Massen sich durch „das gute Beispiel“ so widerstandslos überzeugen lassen werden. Aktionsformen wie Besetzungen (ob von Häusern oder Land), direkte Aktionen gegenüber Banken etc. erzeugen bekanntlich Gegenreaktionen der Besitzenden und oft nicht so viel Solidarität der Beherrschten. „Alternatives Wirtschaften“ ist eingebunden in eine kapitalistische Marktlandschaft, die schnell auch über die Logik der Preise die Verwertungszwänge in die scheinbar „nichtkapitalistisch denkenden“ Inseln hineinträgt. Die Erfahrungen mit „sozialistischen Experimenten“ im Kapitalismus sind nun nicht gerade eine Neuerung. Schon Marx hat eine Reihe davon aus dem 19. Jahrhundert einer epochemachenden Kritik unterzogen, die nichts an ihrer Aktualität verloren hat.

Das bedingungslose Grundeinkommen unter den Voraussetzungen der bestehenden Macht- und Eigentumsverhältnisse umzusetzen, bedeutet – wie wir andern Orts schon genauer ausgeführt haben (siehe Roth 2010) –, dass das Kapital Sozialhilfe auf ein niedriges Niveau ohne aufwändige Sozialbürokratie kürzen können wird. Ökotransformation und bedingungsloses Grundeinkommen unter den gegebenen Machtverhältnissen umzusetzen, bedeutet letztlich, Armutsnischen zu schaffen, in denen dann ein aus der „Mehrheitsgesellschaft“ ausgestiegener Teil sein karges, ökologisch korrektes Leben fristen wird. Eine Transformation, die die brennenden ökologischen Probleme auf globaler Ebene löst, werden wir auf diese Weise wohl innerhalb der nächsten 100 Jahre nicht erleben können. Auch die „Ausweitung der Commons“, der „Siegeszug“ von Open Source & Co lassen sich nicht gerade gut an: Open Source wurde im Grunde zum Wegbereiter des digitalen Plattformkapitalismus. Es erleichterte die Etablierung der Monopole derjenigen Konzerne (wie Apple, Amazon, Facebook, Alpha etc.), die auf Grundlage der Popularität einer Flut praktisch kostenloser Applikationen den Markt durch Plattformen, die diese zugänglich machen, beherrschen. Nichts deutet darauf hin, dass in irgendeiner Weise eine Transformation im Gange ist, die den Kapitalismus „von selbst“ zum Verschwinden bringt.

Zuletzt muss natürlich auch erwähnt werden, dass der Begriff der „Transformation“ für einen nicht unbedeutenden Teil der „modernen“ ReformistInnen anschlussfähig ist. Der strukturalistische, marxistische Theoretiker Poulantzas hatte diesen Begriff als Alternative zum leninistischen Revolutionskonzept geprägt (ausführlicher kritisiert in: Lehner 2017). Poulantzas revidierte das Marx’sche Konzept des Klassencharakters des bürgerlichen Staates. Er sei zwar vom kapitalistischen Produktionsverhältnis bestimmt, in ihm würden sich jedoch auf Grund der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen langfristig Kräfteverschiebungen widerspiegeln, die auch zu einer Transformation von Staat und Ökonomie genutzt werden könnten. Insofern lehnte er die Notwendigkeit der Zerschlagung des bürgerlichen Staates in „komplexen, modernen“ Gesellschaften ab. Zusammen mit einer Ausnutzung der Vagheiten von Gramscis Hegemoniebegriff wird daraus heute die „Transformationslinke. Die Vorstellung, dass durch Eroberung von „Stellungen“, ideologisch-kulturelle Verschiebungen, einzelne erfolgreiche Massenproteste, Wahlerfolge auf verschiedenen Ebenen etc. langsam eine antikapitalistische Transformation durchgesetzt werde, die gar keiner Revolution mehr bedarf, bildet ihren ideologischen Kern. Natürlich lässt sich die von Degrowth angestrebte „große Transformation“ mit dieser Strategie der „unmerklichen“ Überwindung des Kapitalismus verbinden. Daher ist es kein Wunder, dass in vielen linken Parteien heute „Transformation“ und „Postwachstum“ große Anhängerschaften aufweisen. Das ist praktisch die Kombination, mit der z. B. die „Bewegungslinke“ innerhalb der Linkspartei die Grünen als „Ökoavantgarde“ abzulösen versucht.

Inzwischen erfährt das Schlagwort der „Transformation“ ein ähnliches Schicksal, das bereits die „Nachhaltigkeit“ erlitten hat. Von einem Begriff, der Teil eines ökologischen, kapitalismuskritischen Diskurses war, ist er längst zum Jargon der kapitalistischen „ModernisiererInnen“ verkommen. Von Seiten des Kapitals werden Strukturveränderungen, wie sie derzeit die Automobil- oder die Stahlindustrie durchmachen, heute als „Transformation“ verkauft. Was es dabei darunter versteht, kann man an solchen Vereinbarungen betrachten wie in der Energiewirtschaft (z. B. im „Kohlekompromiss)“. Prinzip ist die Sicherung der Profite durch möglichst langsame Abschreibung der bestehenden Investitionen bzw. Entschädigung, falls es zur Beschleunigung kommt, bei gleichzeitiger Abwälzung der sozialen Kosten (z. B. Arbeitsplatzverlusten) der Transformation auf die Allgemeinheit. Bei Gewerkschaften werden entsprechend Vereinbarungen zur „Transformation“ abgeschlossen, die sich vor allem um Sozialpläne, Umschulungsmaßnahmen, Lohnverzicht, vorzeitige Verrentung etc. drehen. Wie unten genauer ausgeführt wird, ist daher in der Umweltbewegung eine Strömung entstanden, die die „Transformation“ mit der Frage der „Gerechtigkeit“ verknüpft – etwa unter dem Schlagwort der „Klimagerechtigkeit“ (die nicht nur die Nord/Süd-Ungleichheit betrifft).

Auch wenn der Schwachpunkt der Degrowth-Bewegung die idealistische Kapitalismuskritik und der Mangel einer klassenpolitischen Transformationsperspektive ist, so bleibt die Frage einer alternativen Gesellschaft, die die gegenwärtigen ökologischen Probleme überhaupt noch in der Lage ist einzugrenzen, mehr als berechtigt. Selbst eine sozialistische, demokratisch organisierte Weltgesellschaft würde vor enormen Problemen der Harmonisierung von ökologischer „Reparaturarbeit“ einerseits und notwendiger sozialökonomischer Entwicklung andererseits stehen. Schon Mitte der 1970er Jahre hat einer der wohl interessantesten linken Oppositionellen in der DDR, Wolfgang Harich, dies in seinem Buch „Kommunismus ohne Wachstum?“ (Harich 1975) entwickelt. Darin reagierte er auf die Analysen der „Grenzen des Wachstums“ durch den „Club of Rome“, in dem er auf der einen Seite feststellte, dass der Kapitalismus nicht in der Lage sein würde, Ökologie und Wachstum in Einklang zu bringen: „Der Kapitalismus kann, da Kapitalakkumulation und Kapitalverwertung sein Lebensgesetz sind, unmöglich von der erweiterten zur einfachen Reproduktion übergehen“ (ebd., S. 111). Damit ergibt sich die Schlussfolgerung: „Der Sturz der Bourgeoisie, die Errichtung der Diktatur des Proletariats und die Verwirklichung des Kommunismus sind die Voraussetzungen dafür, die Forderungen des Club of Rome in der Gesellschaft durchzusetzen“ (ebd., S. 109). Doch dies sind nur die notwendigen Voraussetzungen. Harich kritisiert auch die Unfähigkeit der damals existierenden „Planwirtschaften“, tatsächlich einen ökologischen Umbau als wesentliches Planziel zu formulieren, geschweige denn durchzusetzen. Dabei erkennt er als wesentliches Hindernis die nationale Beschränktheit der Planwirtschaften. Gerade der ökologische Umbau erfordert möglichst einen „Weltwirtschaftsplan“: „Es gäbe den vom Weltwirtschaftsrat ausgearbeiteten Weltwirtschaftsplan mit seinen Kontingentierungsauflagen … für alle übrigen Industrieprodukte, und für den Einzelnen gäbe es Rationierungskarten“ (ebd., S. 167). Dieses System würde „nach dem Grundsatz der Gleichheit jedem Individuum zuteilen, was es für ein menschenwürdiges Leben an Gebrauchswerten benötigt, nicht mehr, aber auch nicht weniger, in Indien wie in USA, überall“ (ebd., S. 170). So könne man im ersten Schritt einen Rückbau der ökologischen Schädigungen beginnen – wobei er darunter auch die Überwindung des Individualverkehrs zählte. Für die DDR nicht besonders populär, stellte er fest: „Der Pkw in Privatbesitz ist nach meiner Überzeugung ein natur- und gesellschaftsfeindliches Konsumtionsmittel, ein antikommunistisches auf jeden Fall“ (ebd., S. 155). Dem ökologischen Rückbau in den hochindustrialisierten Ländern könne nicht einfach ein ausgleichender Aufbau von Industrie im globalen Süden folgen, sondern eine am globalen Gesamtbedarf orientierte behutsame Aufteilung der globalen ökologischen und ökonomischen Lasten auf die passenden Regionen.

Die Durchsetzung dieses ökologischen Weltwirtschaftsplans mag sehr unrealistisch erscheinen. Sie ist aber hundertmal realistischer und rascher umzusetzen, als auf den jahrhundertelangen Transformationsprozess der Degrowth-Bewegung zu warten, bei dem immer der Zweifel besteht, inwiefern man damit wirklich eine für die gesamte Menschheit dieses Planeten nachhaltige Überlebensfähigkeit sichern könnte (oder doch wieder nur für einen elitären Teil mit eigenem Gemüsebeet).

Harich weist auch zu Recht darauf hin, dass es notwendig ist, sich von gewissen utopischen Momenten des Marxismus in Bezug auf „Naturbeherrschung“ zu verabschieden: „Ich glaube jedoch nicht mehr, dass es jemals eine im Überfluss lebende, eine aus dem Vollen schöpfende kommunistische Gesellschaft geben wird, wie wir Marxisten sie bisher angestrebt haben. In diesem Punkt müssen wir uns korrigieren“ (ebd., S. 33). Tatsächlich verweist dies auf den materiellen Gehalt des Begriffs der „Grenze“, wie er in der Wachstumskritik gefasst werden muss. Im Kapitalismus erscheint jede „Grenze“ für das scheinbar grenzenlos sich ausdehnende Kapital nur als immanente „Schranke“ (Mangel an Kapital, Mangel an Absatzmärkten, Mangel an Investitionsmöglichkeiten etc.). Schranken sind jedoch etwas Relatives, das letztlich durch einen neuen Anlauf überwunden werden kann. So stößt die Akkumulation in der Landwirtschaft irgendwann auf die Schranke der Ertragsfähigkeit der verfügbaren Böden, nur um dann durch Investition in ertragssteigernde Ergänzungsmittel (Phosphate, Nitrate etc.) überwunden zu werden. Welche langfristigen Folgen aus dieser qualitativ neuen Stufe von Wachstum für die betroffenen Naturkreisläufe herrühren (z. B. Eutrophisierung der Gewässer), wird erst sehr viel später klar. Die Zusammenhänge zwischen erweiterter ökonomischer Reproduktion und ökologischen (Re-)Produktionsprozessen sind das eigentliche Gebiet der Ökologie. Sie haben sich als sehr viel komplexer und schwerer erkennbar erwiesen, als es sich Fortschrittsglaube und Phantasie von der „absoluten Naturbeherrschung“ in der Ideologie der Moderne vorgestellt hatten. Für eine sozialistische Weltgesellschaft steht daher ein langwieriger ökologischer Umbau bevor, besonders da er für eine inzwischen enorm gewachsene Weltbevölkerung zugleich ein menschenwürdiges Leben garantieren muss. Ein Absterben des Staates und damit auch der Zwangsmechanismen, die mit einem solchen Management der Knappheit verbunden sind, ist daher auch sehr viel langsamer möglich, als dies dem marxistischen Optimismus entsprach (aber natürlich auch den kommunalistischen Träumen der Degrowth-Bewegung). 

10. Klassenfragen

Schon während der zweiten Umweltbewegung, den großen militanten Konfrontationen mit dem „Atomstaat“, stellten viele der linken Teile dieser Bewegung die Frage, wo denn die ArbeiterInnenklasse bleibe. Wie schon erwähnt, wurde (und wird) der Begriff der ArbeiterInnenklasse gern auf das industrielle Proletariat verengt. Somit setzte sich bei vielen AktivistInnen und auch in der theoretischen Aufarbeitung die These durch, dass diese in den imperialistischen Ländern integriert und reaktionär bzw. die Klassenfrage im „Postfordismus“ gar nicht mehr relevant sei. Die Versuche, die neuen sozialen Bewegungen, also auch die neue Umweltbewegung, mit einem Strukturwandel der Klassengesellschaften, also auch einer Neuzusammensetzung der ArbeiterInnenklasse in Verbindung zu setzen, blieben rar oder führten nicht zu neuen politischen Orientierungen. Die ökonomische Krise und die beginnende Globalisierungsperiode des Kapitalismus brachten eine weitere Differenzierung durch ein sich auch in den imperialistischen Zentren ausdehnendes „Prekariat“. Der „Abschied vom Proletariat“, die radikalen Konfrontationen während der Krisenphase in den 1980ern und die Orientierung eher auf subproletarische Schichten brachten in dem Jahrzehnt den kurzen Frühling der „Autonomie“ hervor. Damit einher ging eine Abkehr von den strategischen und organisatorischen Prinzipien der K-Gruppenphase in großen Teilen der Linken und ihre Ersetzung durch die Schaffung eines sich scheinbar konfrontativ von der kleinbürgerlichen Lebensweise (auch der ArbeiterInnen) abgrenzenden Milieus mit alternativen Lebensformen und  militanten Kleingruppen. Auch bei Umweltprotesten geriet der „schwarze Block“ seither (in Ersatz der früheren K-Gruppen) zum ständigen Bestandteil.

Ein anderer Teil der deutschen Linken, der im Ex-K-Gruppen-Milieu und damit auch im weiteren Sinne in Umweltbewegungen und Grünen einflussreich war, lehnte diese Orientierung an der „neuen Proletarität“ vollkommen ab. Im schon oben zitierten Buch von Ebermann/Trampert (1996) wird deutlich, dass nach der Niederlage der Linken im Ringen um Führung der Umweltbewegung und in Opposition gegen die Verbürgerlichung der Grünen nicht die Schuld bei der eigenen Politik gesucht wurde, sondern schnell die Hauptverantwortliche gefunden wurde: die „ArbeiterInnenklasse“, im Speziellen deren deutschen VertreterInnen. So schreiben Ebermann/Trampert in Bezug auf die Orientierung an der „neuen Proletarität“: „Die Vorstellung, dass die Linke sich auf alle Schichten des neuen – also wohl postfordistischen – Proletariats zu beziehen habe, ist erschreckend. Was bliebe von einer antirassistischen Initiative übrig, für die tatsächlich alle (!) ‚prekären‘ Schichten – ohne Rücksicht auf den Stand des Bewusstseins – der vorrangige Bezugspunkt wären? Nichts! Sie müssten sich auch positiv auf jene beziehen, die ihren Projektionswahn in der Verfolgung und Ermordung von Nicht-Deutschen abreagieren. Sie müssten sich positiv auf jene beziehen, die das Kapital auffordern, aus nationalen Erwägungen im eigenen Land zu investieren, statt den Franzosen Arbeitsplätze anzubieten… “ (Ebermann/Trampert 1996, S. 99). Die Bejubelung der neuen Unterschichten, wie sie sich gerade in der Krise der ehemaligen DDR-Länder zeigte, wäre nichts anderes, als Verständnis für „pauperisierte Nazis“ (ebd.) zu entwickeln, die durch die Konfrontation mit dem Kapital schon irgendwann ihren Rassismus überwinden würden. Auch solche Umweltkampagnen wie die zu Brent Spar (siehe oben) wären nichts anderes als nationalistische, bei denen die Umweltsünden nichtdeutscher Konzerne oder Staaten angeprangert werden könnten – in dem Beispiel insbesondere das britische Kapital.

Wir haben an anderer Stelle ausführlich dargelegt (z. B. Lehner 2010), dass der marxistische Bezug auf das Proletariat nicht davon ausgeht, dass ArbeiterInnen „an sich“ fortschrittliches Bewusstsein hätten. Vielmehr ermöglicht die proletarische Klassenposition, dass sich das Proletariat in Kombination von praktischen und theoretischen Kämpfen zum Träger von revolutionärem Klassenbewusstsein aufschwingen kann. Dies aber nicht spontan z. B. auf Grund ökonomischer Kämpfe, sondern nur durch das systematische Eingreifen von KommunistInnen. Insbesondere erfordert dies einen Formierungs- und Organisierungsprozess, in dem von Anfang an gegen rassistische, sexistische, antiökologische etc. Elemente des bürgerlichen Bewusstseins in der Klasse gekämpft werden muss und diese aus der proletarischen Bewegung entfernt werden. In imperialistischen Ländern ergibt sich aus der möglichen Privilegierung bestimmter Schichten der ArbeiterInnenklasse immer die Gefahr einer breiten materiellen Basis für Nationalismus, Chauvinismus und gar Rassismus. Insofern ist in Ländern wie Deutschland der Kampf um revolutionäres Klassenbewusstsein notwendigerweise immer wieder in heftigen Auseinandersetzungen mit „sozialimperialistischen“ Strömungen im Proletariat zu führen.

Da große Teile der  Ex-K-Gruppen, wie von Ebermann/Trampert repräsentiert, dies nicht verstanden oder diesen Kampf erst gar nicht aufnehmen wollten, sind für sie bestimmte Schichten des Proletariats, insbesondere „biodeutsche“ Unterschichten, per se unwiederbringlich rassistisch, sexistisch, antiökologisch etc. mit „natürlichem“ Hang zum Faschismus. Es ist daher kein Wunder, dass sich in der Linken in den Grünen bzw. bei den diversen „Links“abspaltungen wie z. B. der „Ökologischen Linken“ die verschiedenen Versatzstücke der antideutschen, antinationalen „Linken“ als dominierend erwiesen haben. Nicht nur die klassenpolitische Revision der „neuen Linken“ erwies sich für marxistische Intervention in die Umweltbewegung als verheerend. Auch die der Kapitalismuskritik führte dazu, dass eine marxistische Polemik gegen den „Antikapitalismus“, wie er z. B. von Degrowth vertreten wird, unter schweren Bedingungen sich durchsetzen muss. So hat in den 1990er Jahren die Verkürzung der Marx’schen Kapitalanalyse auf die „Wertkritik“ dazu geführt, dass sie gar nicht mehr als realwirtschaftliche Analyse zur Aufdeckung von langfristigen sozialen (und ökologischen) Zuspitzungen herangezogen wurde, sondern vornehmlich (über den Fetischbegriff) als Aufdeckung von ideologischen Verblendungszusammenhängen – so etwa die Ableitung von Antisemitismus aus dem „Arbeitsfetisch“ und der „verkürzten Kapitalismuskritik“. Dabei gelang nicht einmal eine werttheoretische Analyse der Umweltzerstörung, die wesentlich auch im Kapital als Verwertungszusammenhang angelegt ist – im Gegensatz z. B. zu den Ansätzen dazu bei Foster et al. (2011).

Korrespondierend zum „Abschied vom Proletariat“, der Abkehr von dem/r „reaktionären PauperIn“ der „neuen Linken“ konnten sich auch die Mainstreamgrünen von den prekären Schichten des (Sub-)Proletariats fernhalten, um den „gebildeten“ und „progressiven“ Teil der Mittelschichten als ihre Kernklientel zu betrachten. Nicht von ungefähr waren die Grünen an den Hartz-Reformen beteiligt, ohne dass ihnen das bei Wahlen ähnlich geschadet hätte wie der SPD. DIE LINKE konnte bis zu einem gewissen Teil in die Lücke stoßen, die von dieser Art linker Opposition, dem Protest von (sub-)proletarischen Schichten gegen den rot-grünen Verrat geschaffen wurde. Es bleibt sicher richtig, dass es beträchtliche Teile von subproletarischen Schichten, von KleinbürgerInnen, von vom Abstieg bedrohten Mittelschichten etc. gibt, bei denen Rassismus, Antiökologie, „Antigenderwahn“ etc. heute zum weitverbreiteten Bewusstsein gehört. Dies aber gerade auch, weil es den politischen und ökonomischen Organisationen der „Linken“ nicht gelungen ist, einen tatsächlichen, progressiven Ausweg für diese Schichten glaubhaft aufzuzeigen. Erst dadurch wurden sie mit vorherrschenden reaktionären Projektionen und Substituten für die eigentlich notwendigen Widerstände allein gelassen, um Freiwild für rechtspopulistische bis faschistische Mobilisierung, also z. B. zu WählerInnen der AfD zu werden.

Beim Rechtspopulismus gehört die Polemik gegen „Klimawahn“, „Ökofaschismus“, „selbstgerechte grüne Yuppies“ etc. heute zum Standardrepertoire, um gerade solche Schichten anzusprechen. Dies verweist auf eine wesentliche klassenpolitische Wahrheit, die unter anderem in der Analyse von der „imperialen Lebensweise“ (Brand/Wissen 2017) angesprochen wird. Danach befestigt sich die kapitalistische Gesellschaftsformation auch, indem „sie in den Alltagspraxen und im Alltagsverstand verankert ist und dadurch gleichsam ‚natürlich‘ wird“ (ebd., S. 45). „Imperial“ ist diese Lebensweise, da sie eigentlich nur für eine kleine Elite tatsächlich möglich ist, jedoch bei entsprechender Loyalität/Arbeit für Unternehmen und Staat auch in Abstufungen für Subalterne etwas davon abfällt – was aber vor allem nur in den imperialen Zentren in nennenswertem Ausmaß gelingt. Dem Fetisch von der „harten Arbeit“ (entkleidet jeglichen inhaltlichen Nutzens) entsprechen dann das „wohlverdiente“ Automobil (möglichst ein SUV), das Eigenheim im (zersiedelten) Grünen mit Swimmingpool (und entsprechendem Wasserverbrauch), die Flugreisen zu „Traumzielen“ (Kerosin hin oder her), das fette Rentenkonto für die Finca auf Malle etc. Das „Bedürfnis“, einen Platz möglichst weit oben auf der Leiter dieser Lebensweise zu ergattern, induziert individualistische Konkurrenz, entsolidarisiert. Vor allem: da es für die meisten trotz „harter Arbeit“ nur in Ansätzen erreichbar ist bzw. für viele nach Verschuldung, Arbeitsplatzverlust etc. dann der „Abstieg“ in die Platte bzw. der „Rückfall“ auf öffentliche Verkehrsmittel folgen, so wird die Schuld nicht dem Kapital bzw. den von ihm induzierten unsinnigen Konsumzielen gegeben, sondern es steht eine breite Palette an „natürlichen“ Sündenböcken zur Verfügung. Und gerade was die Kritik an besagten unsinnigen Elementen der imperialen Lebensweise aus ökologischer Sicht betrifft, bieten sich hier die „ÖkoidiotInnen“ als günstiges Ziel an: Sie machen das Autofahren unerschwinglich (Benzinpreis, Ökosteuern … ), verhindern den Straßenbau, verbieten erschwingliche Autos mit Verbrennungskraftmotoren, verteuern Flugreisen oder verbieten sie gar, behindern den Eigenheimbau in bestimmten Gebieten oder stören den Blick ins Grüne mit Windradparks etc. etc.

Die ökologischen Folgen der „imperialen Lebensweise“, der einzelnen hier angedeuteten Ausformungen davon, sind mehr als bekannt. Natürlich muss es darum gehen, diese rücksichtslos individualistischen Ausprägungen (klein-)bürgerlicher, entfremdeter Vorstellungen von „gutem Leben“ durch solidarische und ökologische Alternativen zu ersetzen. Dies kann aber nur in einer Massenbewegung durchgesetzt werden, in der diese für die Mehrheit der ArbeiterInnen greifbar werden und durch die Umwälzung der Verhältnisse in Produktion, Distribution und Konsumtion auch realisierbar erscheinen. Kurz (und dies fehlt natürlich bei Brand/Wissen): Nur ein revolutionäres, proletarisches Klassenbewusstsein kann die entfremdete imperiale Lebensweise überwinden. Nur dieses kann über die Umgestaltung der globalen Produktionsweise auch eine sozial und global solidarische Lebensweise durchsetzen, die Entwicklung, sozialen Ausgleich und Eindämmung ökologischer Folgen menschlicher Produktivkraftentfaltung vereinbar macht. Bei Umwelt- und Klimagerechtigkeit im „Transformationsprozess“ kann es nicht nur darum gehen, dass die Kosten der Transformation (wie z. B. erhöhte Energiekosten) gerade nicht von den sozial oder regional Schwächeren getragen werden, sondern das Gesamtsystem, das diese Kosten erst erzeugt, zu hinterfragen. So z. B. bei der Frage der Spritpreise und dem „Zwang“ zum Auto für PendlerInnen: Letzterer hängt zusammen mit unendlich steigenden Wohnkosten in bestimmten Ballungsgebieten, die zum Auswandern in die Peripherie und dann eben zum Pendeln zwingen, beständigen Verlagerungen von Arbeitsstätten, mangelnder Infrastruktur im ländlichen Raum, z. B. was Anbindung öffentlicher Verkehrsmittel oder IT-Anschüsse betrifft, etc. Die Frage auf Spritpreis und Kfz-Pauschale (oder Energiegeld) zu verkürzen, verliert aus den Augen, dass Umwelt- und Klimagerechtigkeit nicht bloß eine Frage von finanziellem Ausgleich ist, sondern der Umgestaltung von gesellschaftlichen Verhältnissen.

Ein Versagen bei der Gestaltung von Umwelt- und Klimagerechtigkeit jedoch, dass eben wie jetzt der „Transformationsprozess“ vor allem zu Lasten von bestimmten Teilen der Mittelschichten, des KleinbürgerInnentums und der ArbeiterInnenklasse geht, führt eben zu den besagten reaktionären, nichtsolidarischen Massenphänomenen, die sich auch gegen ökologische Veränderungen richten. Das Muster davon konnten wir in letzter Zeit in der Querdenkenbewegung sehen: Die „Verteidigung der individuellen Freiheit“ gegen kollektive Maßnahmen zum Schutz besonders betroffener Gruppen in einer Pandemie ist ein deutliches Zeichen, wie der (klein-)bürgerliche Individualismus zu menschenfeindlicher Entsolidarisierung führt: Ich opfere doch nicht „meine Lebensweise“ für das Leben von Alten oder Risikogruppen, die eh bald sterben werden. Genau hier sehen wir das Muster, nach dem auch „KlimaquerdenkerInnen“ mobilisiert werden können: Wegen der „Klimapanikmache“ und den paar Südseeinseln, die vielleicht jetzt untergehen werden, verzichten wir doch nicht auf unsere hart erarbeiteten SUVs oder Fernreisen.

In einer ambivalenteren Form ist auch die „Gelbwestenbewegung“ ein Resultat dieser gesellschaftlichen Verwerfung. In Frankreich wurde insbesondere die Erhöhung der Spritpreise zum Mobilisierungspunkt einer Massenbewegung, die auch rechte bis faschistische Elemente umfasste, aber auch durch Verbindung mit gewerkschaftlichen Kämpfen (z. B. um die Rentenreform) Elemente des gerechtfertigten sozialen Widerstands. Hier wird deutlich, wie sehr solche Einzelfragen um die Kosten ökologischer Transformation mit einem Gesamtkonzept der Umwelt- und Klimagerechtigkeit verbunden werden müssen. Ansonsten drohen solche Kämpfe z. B. um Spritpreiserhöhungen, zum Thema rechter Mobilisierungen zu werden. Die „Gefahr“ von „Gelbwestenbewegungen“ wie in Frankreich wird denn auch von vielen Regierungen in imperialistischen Ländern als Menetekel heraufbeschworen, um entschiedene umwelt- und klimapolitische Maßnahmen zu vermeiden. Da man ja an die Profite der Unternehmen wegen der „Wettbewerbsfähigkeit“ nicht herangeht, Energiepreiserhöhungen oder Einschränkungen von Flugreisen etc. nur in möglichst unmerklich langen Zeiträumen ansetzt, bleiben dann nur „Fördermaßnahmen“ wie z. B. Subventionen für E-Mobilität oder etwas CO2 sparende Produktionstechnologien. Die Kosten tragen dann wieder vor allem die ArbeiterInnen über Massensteuern oder Preiserhöhungen. Andererseits werden so kaum wirkliche Effekte in der Beschränkung der Ausweitung der ökologischen Großkrisen erreicht.

Gerade die „Gelbwestenbewegung“ hat in letzter Zeit besonders die Begeisterung des Linkspopulismus hervorgerufen. Hier sieht er endlich „das Volk“, die nicht von den „gebildeten Schichten“ verdorbenen Unterklassen, die zur Rebellion schreiten. Bei Sahra Wagenknecht sind die Klima-, Rassismus- oder Genderfragen ja vor allem Themen für Mittelstandsjugendliche, die „sonst keine Probleme“ haben. Bei ihr sieht man, wohin die absurde Trennung der sozialen Fragen von der Gesamtheit der kapitalistischen Widersprüche führt, die eben auch die grundlegende ökologische Krise, die Zuspitzung der Nord/Südkonflikte und damit auch der Migrationsbewegungen sowie des Rassismus etc. etc. umfassen. Darüber hinaus verkennt Wagenknecht, dass die gebildeten, privilegierten Schichten, die „sich selbstgerecht den Protest um solche Themen leisten können“ auch großteils Teile der ArbeiterInnenklasse sind, die natürlich genauso für die sozialen Proteste gewonnen werden können und müssen. Die Polemik erinnert vielmehr an das alte stalinistische Muster von den „volksfernen Intellektuellen“ mit seinen deutlichen antisemitischen Anklängen. Sie ist nichts anderes als eine reaktionäre Spaltung der Klasse von den mit dem Kapital in Widerspruch stehenden Bewegungen. Dem müssen wir deutlich entgegentreten und klarmachen, dass Umwelt- und Klimagerechtigkeit nicht nur ökologischen Umbau, sondern auch eine gesellschaftliche Veränderung bedeutet, die die Überwindung der ökologische Krise zusammen mit einer Umverteilung von oben nach unten erkämpft.

11. Die dritte Periode der Umweltbewegung – Globalisierung und Klimakrise

Görg/Bedall (2013, S. 81) charakterisieren die globale „Klimabewegung“ als die erste Bewegung, die im Rahmen einer sich formierenden „Weltzivilgesellschaft“ einen hegemonialen Kampf führe – wobei sie Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft als „erweiterter Staat“ verwenden. Auch wenn die Andeutung eines „Weltstaates“, der sich in der Klimapolitik herausbilden würde, völlig daneben greift, so deutet sich hier im Falschen doch einiges an richtigen Elementen in Bezug auf das Neue der Klimabewegung an:

11.1 Globale Umweltprobleme und überstaatliche Reaktionen darauf

Erstens liegt natürlich das Grundproblem bürgerlicher Politik mit solchen imminenten globalen Problemen wie den erwähnten neun Umweltkrisen (mit der Klimakrise an der Spitze) darin, dass der Kapitalismus unfähig ist, die Ebene des Nationalstaats in der Weltmarktkonkurrenz zu überwinden. Deswegen prägt gerade die Epoche des kapitalistischen Gesellschaftssystems, die im Zeitalter der Konkurrenz der Monopole auf dem Weltmarkt ins Leben trat, den Imperialismus, eine Aufteilung der Welt unter Großmächte und -konzerne, die insbesondere den Rest der Welt in ein ökonomisch-politisches Abhängigkeitsverhältnis zu diesem System der „großen Wirtschafts- und Militärmächte“ halten. Die Institutionen, die dieses System auf globaler Ebene schafft, haben nichts mit einem tatsächlichen „Weltstaat“ zu tun, auch wenn sie in Form der UNO Elemente davon vorspielen. Im Grunde sind G7, G8, G20, die UNO-Teilorganisationen, IWF, Weltbank, WTO etc. Mechanismen des Ausgleichs zwischen den imperialistischen Ländern, in denen die Rolle des Rests der Welt immer untergeordnet und abhängig von der Unterstützung bestimmter Teile der „Großen“ ist. Dies ist natürlich auch in der Umweltpolitik und insbesondere in der Weltklimafrage der Fall.

Ganz allgemein: Wir haben zu Beginn dieses Artikels gesehen, wie Umweltpolitik im Kapitalismus ein integraler Bestandteil des bürgerlichen Staates ist. D. h. der Externalisierungstendenz des Kapitals muss der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ bis zu einem gewissen Grad entgegenwirken. Von den Abwasserproblemen, der Müllentsorgung bis zu den Sicherheits- und Umweltrisiken von Produktionsanlagen ist die Umweltpolitik ein Feld von (Klassen-)Kämpfen, in denen der bürgerliche Staat auf seinen verschiedenen Ebenen (Kommunen, Regionen, Gesamtstaat, Justiz, Verwaltungen, Wissenschaft etc.) und die Zivilgesellschaft (Initiativen, Vereine, Parteien, Medien etc.) als „erweiterter Staat“ die Austragungsorte liefern (neben den Auseinandersetzungen in den Betrieben selbst, z. B. um Sicherheitsstandards). Mit zunehmender Dimension der Umweltprobleme wuchs auch die Masse an staatlichen Regulierungen, wissenschaftlichen und technischen Informationen, administrativen und juristischen Prozessen, Öffentlichkeitsstrukturen etc. rund um Umweltfragen. Dies alles sieht aber sofort anders aus, wenn wir die internationale Ebene betrachten: Der Kapitalismus ist nicht in der Lage, so etwas wie einen Weltstaat zu errichten, obwohl das Kapital gleichzeitig von Beginn an über nationale Grenzen zur Etablierung des Weltmarktes drängt. Er wird letztlich beherrscht von der globalen Kapitalakkumulation unter Bedingungen der Weltmarktkonkurrenz, ohne auf dieser Ebene den „ideellen Gesamtkapitalisten“ etablieren zu können. Alle umweltpolitischen Regularien und Prozesse der Nationalstaaten (wie auch im sozialen Bereich) werden daher notwendigerweise von der Weltmarktkonkurrenz des Kapitals immer wieder untergraben und zunichtegemacht. Das einzige globale System, das der Kapitalismus gegenwärtig etabliert hat, ist das oben skizzierte imperialistische, mit der Zementierung der neokolonialen Ungleichheiten und der Dominanz bestimmter „Großmächte“. Von daher mündet die Externalisierungstendenz des Kapitals notwendigerweise im System des Umweltimperialismus (wie wir ihn im Hauptartikel dieses RM charakterisiert haben). Dies beinhaltet durchaus Fortentwicklung von Umweltpolitik (wie beschrieben) in den imperialistischen Zentren – dafür umso prekärer werdende Umweltbedingungen in der Peripherie. Insbesondere wird dieses System jedoch kritisch, wenn es um globale Probleme geht, um Umweltkrisen, die die Umweltbedingungen auf dem ganzen Planeten betreffen. Dies betrifft insbesondere die schon genannten neun Krisen, die für die Lebensbedingungen auf diesem Planeten bedrohliche Ausmaße angenommen haben. Hier reichen diese Externalisierungs- und Regulierungsmethoden nicht mehr aus. Andererseits fehlten anfänglich jegliche internationalen quasistaatlichen Strukturen bzw. auch so etwas wie eine globale „Zivilgesellschaft“.

Angesichts der Ausmaße der globalen Umweltprobleme, wie sie sich spätestens in den 1970er Jahren (unter anderem bewusst gemacht durch die Berichte des Club of Rome) abgezeichnet und die sich mit dem neuerlichen kapitalistischen Aufschwung in der Globalisierungsperiode des Kapitalismus nach der Krise der 1980er Jahre nochmals enorm verschärft haben, war es auch für die politische Verantwortlichen in den imperialistischen Zentren nicht mehr zu leugnen, dass dringendster internationaler Handlungsbedarf besteht. Hatte man noch in den 1980er Jahren eine „gefährliche Tendenz“ der CO2-Konzentration in der Atmosphäre von 350 ppm gesehen (der vorindustrielle Wert lag bei 280 ppm), der ernste Klimafolgen erwarten ließ, haben wir bekanntlich 2018 schon die 400 ppm überschritten. Die Gefahr eines ungebremsten Anstiegs der Emission von Treibhausgasen, die sich für lange Zeit als klimarelevanter Faktor in der Atmosphäre ansammeln würden, bis wieder eine gewisse Trendumkehr erreichbar ist, wurde spätestens Anfang der 1990er Jahre in Wissenschaft und von ihr beeinflusster Politikberatung immer dringlicher in der „Weltgemeinschaft“ publik gemacht. Tatsächlich berief dann die UNO im Jahr 1992 eine „Weltkonferenz“ zu „Umwelt und Entwicklung“ in Rio de Janeiro ein, auf der unter anderem die Klimarahmen- und Biodiversitätskonventionen sowie Prinzipien zum Waldschutz verabschiedet wurden. Die 197 VertragspartnerInnen der „Rio-Erklärung“ verpflichteten sich dabei zur Einleitung eines Prozesses, der zu verbindlichen Maßnahmen des Klimaschutzes führen und dabei die unterschiedlichen nationalen/regionalen Beiträge „gerecht“ verteilen sollte. Zu diesem Zweck wurden jährliche Konferenzen, die „Conferences of the Parties“ (COP), auch „Klimagipfel“ genannt, die an wechselnden Orten stattfinden sollten, geplant. Diese starteten mit der COP1 1995 in Berlin. Schon 1997 auf der COP3 in Kyoto wurde auch ein 2012 auslaufendes erstes Vertragswerk mit „verbindlichen“ Zielen zur Treibhausgasreduktion beschlossen, dem sich aber nur ein Teil der Rio-VertragspartnerInnen anschloss (insbesondere nicht die USA und Kanada). Die COPs wurden deshalb ergänzt um Treffen der Kyoto-VertragspartnerInnen, die immer verzweifelter um ein Kyoto-Nachfolgeabkommen rangen, dem auch die USA beitreten könne. Erst 2015, auf der COP21 wurde nach langem Ringen das berühmt-berüchtigte „Pariser Abkommen“ vereinbart, mit dem „2 °C“-Ziel und der Vorgabe, die globale CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen. Angesichts der bedrohlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte und insbesondere der Tatsache, dass die USA und China als Haupttreiber der Globalisierungsperiode in den 1990er und 2000er Jahren (außerhalb jeglicher Beschränkungen) die globale Treibhausgasemission enorm gesteigert haben (z. B. gab es in den USA einen Boom neuer Erdölförderung, Erschließung von Gasquellen, Fracking etc., was sie gänzlich von Energieimporten unabhängig gemacht hat), ist der Gesamtprozess seit Rio lächerlich langsam und ineffektiv gewesen. 2 Jahrzehnte wurde mit nutzloser Klimadiplomatie und viel heißer Konferenzluft vertan. 2 Jahrzehnte, die für die herannahende Katastrophe sehr viel verpasste Zeit bedeuten.

Aber immerhin gibt es mit den „Paris-Zielen“ jetzt die Verpflichtung der Vertragsparteien, konkrete Maßnahmen für die nationale Umsetzung dieser Ziele mit Zeitplänen versehen vorzulegen. Niemand kann mehr sagen, eine Reduktion bei uns um X % Autoverkehr hat doch für das Klima einen Effekt von 0,Y % globaler Treibhausgasemissionen – da können wir es doch auch gleich bleiben lassen. Jeder Prozentsatz ist jetzt eine „Planvorgabe“ innerhalb eines weltweiten Reduktionsprozesses. Insbesondere sind solche quantifizierbaren und terminlichen Ziele jetzt mobilisierungsfähig und können nicht zuletzt (wie einst Grenzwert- und Sicherheitsauflagen bei AKWs) vor Gericht verwendet werden (wie jüngst beim Urteil gegen den Shellkonzern zu sehen).

11.2 Die Internationalisierung als Merkmal der dritten Periode der Umweltbewegung

Zweitens hat sich mit der Institutionalisierung des Rio-Prozesses und den jährlichen internationalen Klimagipfeln auch einiges am Charakter der AkteurInnen in der Umweltbewegung geändert. In der zweiten Periode der Umweltbewegung herrschten immer noch nationale Mobilisierungen vor und die meisten Expertisen, Öffentlichkeitsarbeit, juristisch/parlamentarische Intervention etc. erwuchsen organisch aus den Bewegungen selbst. Die beschriebene Etablierung der Grünen und der mit ihnen verbundenen Strukturen in der Umweltbewegung haben hier schon einiges an abgehobener „Professionalisierung“ hervorgebracht. Auch die beschriebene Episode rund um Brent Spar zeigt, wie bestimmte Umweltorganisationen immer mehr auf „medienwirksame“ PR-Agenturen, mit großen professionellen Apparaten, wissenschaftlichen ExpertInnen und „Aktionsprofis“ umgetrimmt wurden, mitsamt entsprechenden „Finanzierungsmodellen“. Mit dem Rio-Prozess und der von der UNO in diesem Rahmen verlangten „Akkreditierung“  von AktivistInnen zur Teilnahme wurde auf internationaler Ebene dieser schon in Gang befindliche Prozess beschleunigt, indem Umweltorganisationen nunmehr zu „Non Governmental Organisations“ (NGOs) mutierten. Zu Beginn des Rio-Prozess schlossen sich mehrere Umwelt-NGOs zum sogenannten CAN (Climate Action Network) zusammen, das zunächst so etwas wie das „Sprachrohr“ der Umweltbewegung bei den Klimakonferenzen sein sollte. Das CAN bot insbesondere eine Gelegenheit für viele Halbkolonien, die sowieso Schwierigkeiten hatten, jenseits ihrer abhängigen Regierungen den Interessen der dort immer mehr von Umweltkatastrophen betroffenen Menschen Gehör zu verschaffen, selbst NGOs zu bilden. Insbesondere in entwickelteren Halbkolonien wie Brasilien oder Indien wuchs damit die Zahl der Netzwerke und AktivistInnen mit umweltpolitischen Zielsetzungen sehr stark an.

Dies bedeutete insbesondere, dass Umweltbewegungen, die in den meisten Halbkolonien bisher eher eine marginale Rolle gespielt hatten, zu relevanten politischen Akteurinnen wurden. Insbesondere kleine und Subsistenzbauern/-bäuerinnen, Indigene, Betroffene von den sanitärhygienischen Verhältnissen in suburbanen Regionen etc. wurden zu sozialen TrägerInnen solcher Bewegungen, die dann über die neuen NGOs weltweit Aufmerksamkeit erzielten. Erstmals wurden die sozialen und ökologischen Auswirkungen des „Neoextraktivismus“ (der neuen Welle von Konzentration der Rohstoffgewinnung in bestimmten Halbkolonien), des enormen Ausbaus der Agroindustrien (und der damit einhergehenden Verdrängungsprozesse), der Ausweitung der Energiegewinnung (Staudammprojekte, Biospritgewinnung etc.), der neoliberalen Privatisierungspolitik mit Folgen für die Grundversorgung der Bevölkerung (z. B. Saatgut, Wasser, etc.) zum Thema von „Umweltgerechtigkeit“ auch im Rahmen des „Rio-Prozesses“. Andere „entwicklungspolitische“ und gewerkschaftliche Auseinandersetzungen, denen sich Nicht-Umwelt-NGOs gewidmet hatten, z. B. in der Textilindustrie, wurden mit diesen Themen verknüpft.

Seit der Verabschiedung des Kyoto-Protokolls passten sich jedoch die umweltpolitischen NGOs wie Greenpeace oder WWF vollständig den kapitalkonformen „Lösungs“logiken der COP-Mechanismen an. Damals waren dies insbesondere der Zertifikatehandel und die „Clean Development Devices“, später all das, was wir als „green washing“ und „green economy“ charakterisiert haben. Die NGOs (im CAN) als offizielle „Sprachrohre“ der Klimabewegung entfremdeten sich so mehr und mehr von den KlimaaktivistInnen, die bei den Klimagipfeln auf die Straße gingen, speziell von den „Klimagerechtigkeits“-Ansprüchen der Gruppierungen aus dem globalen Süden. In Konsequenz kam es gegen 2006 zu einer Spaltung des CAN: Diejenigen Teile der Klimabewegung und der NGOs, die den neoliberalen Grundkonsens der COP-Protokolle und -Vereinbarungen nicht akzeptierten, formierten unter dem Slogan „system change – not climate change“ ein neues Netzwerk „Climate Justice Now“ (CJN). Allerdings wurde dieses neben CAN auch auf den folgenden COPs als zivilgesellschaftlicher Akteur akkreditiert. Um die Frage des „Wirkens von innen“ (auf den COPs) spaltete sich bald auch die CJN . Der „außerparlamentarische“ Flügel organisierte sich international im Netzwerk „Never Trust a COP“ (NTAC). In CJN ist eine der größten internationalen Umweltorganisationen, die „Friends of the Earth International“ (FoEI), mit Mitgliedsorganisationen wie BUND oder Global 2000 vertreten, die in den letzten Jahren immer kritischere Positionen zu „greenwashing“, „Marktmechanismen“ und den tatsächlichen ungleichen Lasten bei den Klimafolgen einnahm. FoEI wurde zu einem wichtigen Bestandteil internationaler Klimaproteste, blieb aber zugleich immer Element des Klimakonferenzirkusses. Neben Umweltorganisation im eigentlichen Sinn waren im CJN aber auch „entwicklungspolitische“ NGOs wie Oxfam oder Organisationen mit Schwerpunkten im globalen Süden wie „La Via Campesina“ vertreten.

11.3 Die „Klimagerechtigkeit“sbewegung

11.3.1 Richtung Kopenhagen

Drittens: Dieser Differenzierungsprozess hin zu einem „kapitalismuskritischen“ bzw. Außer-COP-Teil der Bewegung ist auch Resultat eines anderen Phänomens neuer sozialer Bewegungen in der Globalisierungsperiode: des der „globalisierungskritischen“ Bewegung. Seit Anfang der 1990er Jahre war der Weltkapitalismus in eine neue Aufschwungphase getreten, charakterisiert durch die Schaffung umfangreicher globaler „Wertschöpfungsketten“, dem Niederreißen von Schranken für Kapitalexport und vieler Operationen der „Finanzmärkte“, einem enormen Anstieg des Welthandels, einer intensiven Ausbreitung der weltweit nutzbaren digitalen Infrastrukturen etc. Die Kehrseite war eine auch in Folge des Untergangs der Sowjetunion enorme Steigerung von sozialer und gewerkschaftlicher Entrechtung, Prekarisierung, aber eben auch der fortschreitenden Umweltzerstörung. In Teilen des globalen Südens, wie z. B. in Lateinamerika, regte sich gegen diese Auswirkungen Widerstand, der sich auch in der Etablierung von neuen „Linksregierungen“ äußerte. Gleichzeitig kam es zu einem Wiederanstieg sozialer Proteste in den imperialistischen Zentren, die sich z. B. 1999 mit den ersten Gipfelprotesten in Seattle zu einem weltweiten Phänomen verallgemeinerten. Die von Lateinamerika ausgehenden „Gegengipfel“, die „Weltsozialforen“, verbanden sich mit den Protestbewegungen in Nordamerika und Europa, um in der ersten Hälfte der 2000er Jahre zu einer großen, weltweiten kapitalismuskritischen Bewegung zu geraten. Natürlich wurden auch die Agenden der linken Teile der Klimabewegung von der Sozialforenbewegung aufgegriffen, mitsamt den „Klimagerechtigkeit“sforderungen. Umgekehrt wurden die Mobilisierungs- und Protestformen der Altermondialbewegung (Alter Monde: andere Welt) von CJN & Co aufgegriffen. So waren die „Klimacamps“, die etwa um 2006 in Britannien erstmal stattfanden, sicherlich von denen der Gipfelproteste inspiriert. Letztlich benutzten die Linksregierungen in Lateinamerika ihre Netzwerke in beiden Bewegungen auch, um ihr Gewicht auf den Klimakonferenzen zu stärken bzw. auch selbst Gegengipfel zu organisieren. Der wichtigste davon war sicherlich die von Evo Morales im bolivianischen Cochabamba einberufene „World People’s Conference on Climate Change and the Rights of Mother Earth“ (Weltbevölkerungskonferenz zum Klimawandel und zu den Rechten von Mutter Erde) im Jahr 2010 als Antwort auf das Scheitern der Kopenhagen-Konferenz (COP15) ein Jahr zuvor. Über die Errichtung eines „Climate Justice“-Tribunals und die Forderung nach einem Weltvolksreferendum zu Klimamaßnahmen hinaus bietet das Cochabamba-Protokoll allerdings auch nicht viel Konkretes.

Mit dem Entstehen des kapitalismuskritischen Flügels der Klimaproteste, ihrer Organisierung in Netzwerken um CJN und der Etablierung von „Klimacamps“ vor allem in Europa wurde zwischen 2006 und der Organisierung der Proteste rund um COP15 (Kopenhagen) eine erste Phase einer wirklich massenhaften „Klimabewegung“ eingeleitet. Mit den COP15-Protesten ist diese als wirkliche neue soziale und ökologische Bewegung hervorgetreten, die sich von der bisherigen Dominanz grüner Parteien und bürokratisierter NGOs als eigenständige neue Umweltbewegung gelöst hat. Bei der zentralen Demonstration in Kopenhagen 2009 drückte sich dies in der Teilnahme von mehr als 100.000 Protestierenden aus. Aber auch bei den folgenden Aktionen und Gegenveranstaltungen waren tausende Umweltbewegte anwesend und erwarteten, dass der Druck dieser neuen Bewegung auf die COP15 etwas bewirken würde. Bekanntlich war die offizielle Klimakonferenz ein Fiasko. Eine Fortentwicklung des Kyoto-Protokolls, geschweige denn eine Konkretisierung samt Einbeziehung von USA und China schien damals in weite Ferne gerückt.

Insbesondere in Deutschland war im Vorlauf zu COP15 die Auseinandersetzung um das Kohlkraftwerk Moorburg wesentlich. 2008 war in Hamburg die erste schwarz-grüne Landesregierung zustande gekommen, in der die Grünen auch die Genehmigung dieses Kraftwerks im Zuge der Regierungsbeteiligung mittrugen. Ihr offener Bruch mit ihren klimapolitischen Versprechen befeuerte die Mobilisierung zum ersten deutschen Klimacamp 2008 eben in Moorburg. Im Vorfeld wurde eine breite linke Mobilisierung erreicht, die neben DIE LINKE, attac und Avanti auch die Grüne Jugend umfasste, die damit in deutlichen Konflikt zu ihrer Mutterpartei gerieten. Insbesondere die versuchte Erstürmung des Kraftwerkes machte die Bewegung bekannt, unterstützte die Mobilisierung für Kopenhagen – und kann als Startschuss für die regelmäßige Kombination von Klimacamps und Aktionen rund um Einrichtungen von Braunkohleabbau bzw. -verstromung in der deutschen Klimabewegung gesehen werden. Dazu kam in Deutschland, dass dieses Aufkommen der Klimabewegungen mit der letzten Phase der Mobilisierungen gegen Castortransporte und den „Atomkompromiss“ zusammenfiel. Die „Castor Schottern“-Aktionsform wurde später für Initiativen, wie „Ende Gelände“ (nach 2015) zum Vorbild, das AktivistInnen zu „Grenzüberschreitungen“ führte, die dieses Unrechtssystem (das solche Umweltverbrechen genehmigt) als „illegal“ bezeichnet.

11.3.2 Die US-Klimaschutzbewegung

Mit dem Scheitern des Kopenhagen-Kongresses und den daraus folgenden geringen Möglichkeiten für weitere größere Massenmobilisierungen ebbte die erste große Mobilisierungswelle der Klimabewegung seit 2010 in Europa ab. Allerdings blieben die Aktionsformen der Klimacamps und der Proteste gegen die Braunkohleverstromung lebendig – wenn auch beschränkt auf einen kleineren AktivistInnenstamm. In Europa standen auch die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und insbesondere der soziale Kämpfe in Südeuropa zunächst weit mehr im politischen Fokus als die Klimakonferenzen, von denen sowieso kaum jemand viel erwartete.

Umso mehr startete dafür in den USA die Klimabewegung durch. Mit dem Amtsantritt von Barack Obama Anfang 2009 wuchs der Druck der Klimabewegung auf eine Wende in der US-Klimapolitik. Tatsächlich versandeten aber Obamas große Ankündigungen insbesondere in seiner Auseinandersetzung mit dem US-Kongress. Dies führte zu großen Protestwellen, die durch FoEI, aber vor allem auch die kometenhaft aufsteigende neue Umweltorganisation 350.org organisiert wurden. Letztere, durch den charismatischen Bill McKibben im Vorlauf der Mobilisierungswelle gegründet, erklärte, dass nur die Reduktion der Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre auf 350 ppm das Erreichen des 1,5 °C-Zieles gewährleisten würde (auch das Paris-Ziel von 2 Grad wird wahrscheinlich über das Triggern von Klimakippunkten schwerwiegende negative Dominoeffekte auslösen). Zum Kulminationspunkt der US-Proteste wurde ab 2012 der Kampf gegen das Pipelineprojekt Keystone XL. Mit dieser Pipeline soll Rohöl, das aus Ölsanden auf kanadischen Ölfeldern gewonnen wird, zu Raffinerien im Süden der USA transportiert werden. Die Proteste richteten sich nicht nur gegen die unmittelbaren Umweltschäden durch den Bau und die Risiken für wichtige Wasserreservoirs (wodurch nicht nur die unmittelbar betroffenen indigenen Völker in Mitleidenschaft gezogen werden). Es richtete sich auch gegen die globalen Klimafolgen der besonders Treibhausgase emittierenden Gewinnung von Öl aus Teersanden. Eine Umweltprüfung durch die Regierung selbst kam zu dem Ergebnis, dass die CO2-Belastung dadurch um 17 % über der „normalen“ Erdölgewinnung lag. Der Kongress schlug solche Bedenken in den Wind und wollte die Obama-Administration zur Genehmigung des Projektes zwingen. Die massiven Proteste, mit dem Höhepunkt von 400.000 beim People’s Climate March im September 2014 in New York City (sicherlich der Höhepunkt der zweiten Phase der Klimabewegung), brachten die Obama-Administration jedoch in Zugzwang. Da es sich um ein gemeinsames Projekt mit Kanada handelte und damit als „außenpolitisches Projekt“ dem Präsidenten ein Entscheidungsrecht einräumt, stoppte Obama Anfang 2015 die weiteren Arbeiten an Keystone XL. Von der US-Umweltbewegung wurde dies als großer Sieg gefeiert, der sicherlich auch weltweit die Kämpfe um die Stilllegung oder Nichtgenehmigung von Projekten der fossilen Energiewirtschaft ermutigte. Dies wurde ergänzt dadurch, dass in Folge die US-Regierung auch zur Unterzeichnung des Pariser Abkommens bereit war – und sich damit erstmals zu weltweit abgestimmten Klimazielen bekannte.

11.3.3 Fridays for Future

Bekanntlich war es mit dieser Ökoherrlichkeit in den USA Ende 2016 wieder vorbei – zu den ersten Amtshandlungen von Donald Trump zählten bekanntlich der Austritt aus dem Pariser Abkommen und die sofortige Genehmigung für Keystone XL und weitere Pipelineprojekte. Zwar löste dies erwartungsgemäß neue Proteste aus. Doch fürs Erste schien die Sisyphusarbeit der Klimabewegung wieder von einem neuen Tiefpunkt starten zu müssen. 2018 waren die Klimaproteste wieder kleiner und zumeist auf den üblichen Kreis von Aktiven beschränkt. Agesichts der bedrohlichen Zuspitzung der Krisenanzeichen (z. B. heftige Wetterphänomene, Hitzewellen, Überschwemmungen etc.) machte sich eine gewisse Resignation breit. Gegen Ende dieses Sommers jedoch machte sich eine 15-jährige Schülerin in Stockholm auf den Weg, um vor dem schwedischen Reichstag mit einem handgemalten Plakat zum Schulstreik für das Klima aufzurufen. Wenige Zeit später entstand eine der wohl größten internationalen Umweltprotestbewegungen, die wir bisher gesehen haben. Wellen von Schulstreiks im Rahmen von Fridays for Future (FFF) rollten über Westeuropa und andere Teile der Welt, um am 15.3.2019 in einem globalen Protesttag mit etwa anderthalb Millionen SchülerInnen zu münden. Greta Thunberg und FFF bilden sicherlich ein Beispiel für die Wirkung des Prinzips, dass die richtige Person an der richtigen Stelle zur richtigen Zeit in Kürze Potentiale in Bewegung setzen kann, die sonst sicher sehr viel länger brachgelegen hätten. Die Unzufriedenheit mit der realen Klimapolitik, die Rückschläge durch die US-Politik und die immer bedrohlicher werdende Situation haben 2018 gerade unter vielen SchülerInnen, die sich zu Recht intensiv mit ihrer Zukunft in der Klimakatastrophe beschäftigt hatten, in Greta Thunberg die ideale Sprecherin gefunden. Sie hat Wahrheiten deutlich ausgesprochen, die viele vor lauter „greenwashing“ und Nachhaltigkeitsgefasel schon gar nicht mehr wahrnehmen konnten. Dies gilt auch für ihre gerade kürzlich getroffene Feststellung: „Im Jahr 2030 werden wir eine unumkehrbare Kettenreaktion ausgelöst haben, die höchstwahrscheinlich zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führen wird. Es sei denn, es ist uns bis dahin gelungen, permanente und bisher nie dagewesene Veränderungen in allen Gesellschaftsbereichen durchzusetzen, welche unsere CO2-Emissionen mindestens halbieren“ (350.org 2019, S. 5). Thunberg bleibt aber im Ungefähren, was die notwendige gesellschaftspolitische Konsequenz davon sein muss. Auch wenn sie natürlich die wirtschaftlichen Interessen und Prozesse anspricht, die bei diesen „nie dagewesenen Veränderungen in allen Gesellschaftsbereichen“ überwunden werden müssen, so unklar bleibt sie, was die Frage der Eigentumsverhältnisse und der notwendigen neuen Wirtschaftsweise betrifft.

Insgesamt stellt sich die Frage des Programms der Klimabewegung in allen ihren bisherigen 3 Phasen. Insbesondere die zweite und dritte setzten die Differenzierung der ersten Phase (CAN/CJN) nicht auf dem gleichen Level fort. Die Frage einer möglichen „Green Economy“ als „ökologische Modernisierung“ des Kapitalismus wurde wieder „massenfähig“ und über den „Green New Deal“ auch „politikfähig“. Organisationen wie 350.org stehen dem zwar kritisch gegenüber, beteiligen sich aber zusammen mit VertreterInnen dieser Orientierung an politischen Projekten. Besonders deutlich wird das Problem an Organisationen wie „Extinction Rebellion“ (XR), der anderen größeren Mobilisierungsorganisation der dritte Welle der Klimabewegung neben FFF. XR verkündet optimistisch, dass die Lösungskonzepte der Klimakrise längst vorlägen und nur die „Blockaden“ für die Umsetzung durchbrochen werden müssten. Der XR-Gründer Roger Hallam bezieht sich vornehmlich auf politikwissenschaftliche Studien zum Sturz bestimmter Diktaturen wie z. B. in Serbien unter Milosevic, um daraus den „wissenschaftlichen“ Schluss zu ziehen, dass mit spektakulären Aktionen des gewaltlosen zivilen Widerstands (medienwirksame Blockaden von Mobilitätsschwerpunkte an bestimmten X-Tagen, zumeist über mehrere Tage) genug Druck ausgeübt werden könne, damit dann in einem nächsten Schritt ein per Losverfahren „gewählter“ Klimarat legitimiert werden könnte, der die Maßnahmen dann einfach umsetzt.

Während XR mit anderen Organisation der Klimabewegung die Schilderung der Dramatik der Klimakrise teilt (wie schon das „Extinction“ im Namen zeigt), ist Roger Hallam nicht bereit, anders als z. B. Greta Thunberg, zu erklären, dass der Stopp der globalen Umweltkrise nur durch eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung möglich ist, die die bestehende Wirtschaftsweise radikal in Frage zu stellen hat, und es folglich Mächte gibt, die dieser Veränderung entgegenstehen, die sich nicht durch ein paar Straßenblockaden ergeben werden. Die Formen der Mobilisierung (XR-AktivistInnen nehmen sich tagelang frei, speziell um den Berufsverkehr zum Stillstand zu bringen – meist in erstaunlich gutem Einvernehmen mit der Polizei) sind schließlich auch äußerst auf die Mittelschichten zugeschnitten. Bezeichnend ist die geringe Anzahl an nicht-weißen AktivistInnen im XR-Kernland Britannien. Bei ihrem großen „Herbstaufstand gegen den Klimanotstand“ 2019 in London gab es eine Aktion in einer U-Bahnstation, bei der einige XR-AktivistInnen einen Pendlerzug mit ihrem Banner „Business as Usual = Death“ blockierten. Auf dem Dach der U-Bahn standen einige weiße Jugendliche in Anzug und Krawatte. Unten staute sich eine Masse empörter schwarzer ArbeiterInnen, die die U-Bahn für ihren Weg zur Arbeit brauchten – es wurde handgreiflich. Um die Welt ging dann das Bild, wie ein weißer Krawattenträger mit seinem Schuh auf einen schwarzen Arbeiter tritt. Nicht gerade das Muster für einen Protest, der auch die „Klimagerechtigkeit“ zum Inhalt haben soll. Später erklärte XR die Aktion sogar für ein Muster des „gewaltlosen Widerstands“, während es sich immer tausendmal entschuldigt, sollte es je zu einer heftigen Konfrontation mit der Polizei kommen. Insgesamt ist XR eine liberale Sekte, die die gesellschaftliche Dimension des Kampfes gegen die Umweltkatastrophe zugunsten ihres technizistischen Bewegungs- und Lösungskonzepts beiseitelässt. Da XR im Allgemeinen auch Zusammenarbeit mit anderen Gruppen (insbesondere aus der Linken) ablehnt, ist es insgesamt ein Hindernis für die Entwicklung der Klimabewegung, vor dem wir AktivistInnen, die sich zu der Frage organisieren wollen, nur warnen können.

Organisationen wie FFF und 350.org sind inhaltlich sicher breiter aufgestellt als XR. Auch wenn FFF stark von Kräften dominiert wird, die in Richtung „Green New Deal“ gehen, gibt es auch eine merkliche Anhängerschaft für Degrowth und jedenfalls eine starke Betonung auf „Klimagerechtigkeit“. Letzteres ermöglicht dann auch Überschneidungen mit dem Klimacamp/System-Change-Flügel der Bewegung, also z. B. „Ende Gelände“. Eine Differenzierung zwischen dem Reform- und einem antikapitalistischen Flügel blieb bei FFF bisher aus. Insbesondere hat die Corona-Zwangspause dazu geführt, dass es sein Lebenselement, die Massenmobilisierung von SchülerInnen, zeitweise eingebüßt hat. Die bekannteren AktivistInnen (wie Neubauer) sind in dieser Zeit stärker in die grünen Strukturen der „ökologischen Modernisierung“ integriert worden. Es kann aber sein, dass mit dem Heraustreten aus dem Corona-„Winterschlaf“ es auch zu einer starken Wiederaufnahme des Bewegungsmoments von FFF kommt. Immerhin haben die Pandemiemaßnahmen ja gezeigt, dass „Notsituationen“ sehr wohl zu staatlichen Einschränkungen in Wirtschaft und Alltagsleben führen können – und auch zu viel dramatischeren Schulschließungen, als das ein „Klimafreitag“ je bewirkt hatte.

Vom Programmatischen her bleibt die Frage der „Climate Justice“: Was wird im „linken“ Flügel der Bewegung hier konkret darunter verstanden? Tadzio Müller, einer der Gründer von „Ende Gelände“ und langjähriger Klima- (und LGBTQ)-Aktivist aus Berlin, hat die Forderungen bündig folgendermaßen zusammengefasst: „fossile Ressourcen im Boden zu lassen; ökologische Schulden des Nordens an den Süden anzuerkennen und Reparationen zu leisten; der Kampf für Energie-, Ressourcen- und Ernährungssouveränität; und die Reduktion von Überkonsumtion und Überproduktion, vor allem im globalen Norden“ (Kaufmann/Müller, S. 194).

In dem Artikel teilt Müller übrigens einige der Kritikpunkte, die unten noch folgen. Er ergänzt daher den Begriff der „Klimagerechtigkeit“ mit dem Schlagwort „solidarische Transformation“ (nicht zufällig für eine Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung). Dazu noch später. Zurecht weist er darauf hin, dass „Klimagerechtigkeit“ inzwischen ein ebenso missbrauchtes Schlagwort geworden ist wie „Nachhaltigkeit“ – nur trifft dies leider auch auf „Transformation“ zu.

12. Zu den Standardforderungen der „Klimagerechtigkeit“

Stopp aller Erschließungsprojekte für fossile Ressourcen gehört sicherlich zu den Grundforderungen aller Klimaproteste. Für Halbkolonien geht es insbesondere darum, dass ihnen auch in der heutigen Weltarbeitsteilung zumeist die Hauptlast der Rohstoffgewinnung zukommt, auch was fossile Ressourcen betrifft. Deswegen wird diese Forderung auch erweitert zur Entwicklung eines „postextraktivistischen globalen Südens“.  TheoretikerInnen wie Arturo Escobar (2018) verbinden dies mit einer allgemeinen Theorie des „post development“, das im Sinne der Degrowth-Bewegung jegliche „nachholende Entwicklung“ im globalen Süden ablehnt und damit auch eine Abkopplung von den Märkten propagiert, die den Neoextraktivismus dort erzwingen. Dies sei möglich durch eine Beschränkung auf das „Buen Vivir“, das karbonneutrale, einfache gute Leben von Subsistenzbauern und -bäuerinnen und Indigenen als Alternativmodell der ökologischen Selbstversorgungswirtschaft für die postkoloniale Welt zur Zielsetzung der „Entwicklung“, d. h. Nachäffung des verfehlten Weges des industrialisierten globalen Nordens.

Tatsache ist, dass sich in der Globalisierungsperiode in den Halbkolonien die Wirtschaftszweige, die mit Ressourcenerschließung und dem globalen Agrobusiness zu tun haben, extrem ausdehnten, statt an Bedeutung zu verlieren. Bergbau-, Energie-, Chemie-, Pharma-, Agrokonzerne haben dabei regionale Ableger hochkommen lassen, die selbst zu wichtigen globalen Playern von Extraktivismus und Zerschlagung von Versorgungssouveränität geworden sind – samt Aufstieg von „Mittelschichten“, die sich im Konsumverhalten denen in den Metropolen annähern. In dieser Periode hat sich gerade die Energienachfrage in Öläquivalenttonnen gemessen mehr als verdoppelt, wobei die fossilen Energieträger heute global 87 % dazu beitragen. Um 50 % ist die Nachfrage nach nichtenergetischen Rohstoffen (z. B. Metallen) gestiegen. Im Agrarbereich ist nicht nur die Konzentration der Kapitale für Anbau, Tierhaltung und Verarbeitung gestiegen, auch der Flächen- und Ersatzstoffbedarf hat Rekordwerte erreicht. Dieses Wachstum hat mit Ausnahmen (z. B. was den „Fossilboom“ in den USA betrifft) vor allem im „globalen Süden“ stattgefunden. Gleichzeitig hat die Konzentration von Kapital in den imperialistischen Zentren (zu denen man inzwischen auch China  zählen muss) sich auf an die 90 % erhöht, mit einer vollkommenen Dominanz auf den Finanz-, Kapital- und Währungsmärkten. Ein Blick auf die Handelsbilanzen und die Bemessung des jeweiligen Importbedarfs von Halbkolonien einerseits in US-Dollar (als dominierender Welthandelswährung) im Vergleich zu den jeweils vor Ort bestimmten „Kaufkraftparitäten“ zeigt, dass immer größere Teile der eigenen Wirtschaftsleistung für den Anschluss an den Weltmarkt geleistet werden müssen. All dies erzeugt ökonomische „Zwänge“, die auch schon unabhängig von den imperialistischen Institutionen von IWF, Weltbank, WTO etc. und zusätzlich den dem „Washington Consensus“ verpflichteten Eliten vor Ort wirksam sind. „Post development“ mag aus neuen „sozialen Bewegungen“, vor allem armer Landbevölkerung und indigenen Organisierungen hervorgehen – mehrheitsfähig bei den ArbeiterInnen (nicht nur der betroffenen großen Unternehmen) und Mittelschichten ist es in keinem Fall. Auch wenn die „postkoioniale Theorie“ solche materiellen Interessen als „wesensfremden Utilitarismus“ bezeichnet, so lehrt die Erfahrung der letzten Jahre, dass politische Projekte um „post development“ in den Halbkolonien kein breites Bündnis gegen die sich verschärfende imperialistische Ausbeutung zustande bringen kann.

Im Gegenteil: die Ansätze zur Abkopplung vom Weltmarkt, wie sie in Lateinamerika tatsächlich von den „pinken“ Regierungen, z. B. in Venezuela, versucht wurden, erinnern eher an das gescheiterte Modell des „Sozialismus in einem Lande“, allerdings ohne „Sozialismus“. Die Vorgängertheorien wie „Dependenztheorie“ oder die des „ungleichen Tausches“ verkündeten die Notwendigkeit der Abkopplung vom Weltmarkt zur Ermöglichung einer „eigenständigen Entwicklung“ (d .h. sie vertraten noch den Standpunkt deren Fortschritts). Aber schon die Erfahrung der Sowjetunion, die eine beschränkte Loslösung vom Weltmarkt kombinierte mit einem konzentrierten, planvollen Aufbau von Substitutionsproduktion, musste sehr früh auf einen (wenn auch über das Außenhandelsmonopol kontrollierten) Import von Weltmarktprodukten zurückgreifen – mit all den bekannten langfristigen Folgen für das Bestärken von Wertbeziehungen auch im Inneren. Der „Sozialismus im 21. Jahrhundert“ versuchte das Übergehen in den Postkapitalismus samt Überwindung der Abhängigkeiten vom Weltmarkt ohne wirkliche Umwälzung der Eigentumsverhältnisse und ohne koordinierten Angriff auf die imperialistische Ordnung. Der Pseudosozialismus in einem Land war für Venezuela der Weg in das wirtschaftliche Desaster, dem das politische und soziale folgte. Nicht anders wäre „post development“, heute umgesetzt, ein Weg, der Millionen Menschen in eine Katastrophe führen würde. Die meisten Halbkolonien sind nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, in der Lage, sich in der Not durch Rückgriff auf die Subsistenzwirtschaft der ländlichen Regionen ernähren zu können. Wie die jüngsten Wirtschaftskrisen (z. B. Nordafrika nach den Preiseskapaden im Gefolge der Finanzmarktkrise 2009) zeigen, bedeutet ein Ausfall der Lebensmittelimporte, dass sich die Versorgungslage schnell katastrophal entwickelt.

Natürlich vertreten daher Organisationen wie „La Via Campesina“ die Stärkung der Kleinbauern/-bäuerinnen und der ländlichen Subsistenzwirtschaft. Tatsächlich sind diese immer weiter auf dem Rückzug. „Die schweren Geschütze der Preise der westlichen Industrie brechen alle chinesischen Mauern“. Das letzte Opfer der Agrarmarkt„reformen“ der neoliberalen Modi-Regierung sind gerade die indischen Kleinbauern/-bäuerinnen  – auch wenn diese fürs Erste aufgrund der Proteste auf Eis gelegt werden musste. Wie schon Marx in der Frage der russischen Dorfgemeinschaften (und ihren starken Traditionen von Gemeineigentums) bemerkte, lassen sich aus dien fortschrittlichen Elementen der kleinbäuerlichen/gemeinschaftlichen Produktionsweisen nur durch ihre Modernisierung in Form von Kooperativen mit entsprechender zentralisierter Organisierung von Inputs (Saatgut, Traktoren, Dünger etc.) und Outputs (Vertrieb, Lagerung, Transport etc.) überlebensfähige Betriebe bilden, die sowohl in der Konkurrenz mit den großen Agrarunternehmen bestehen als auch für die regionale Bevölkerung eine erschwingliche Grundversorgung bieten können. Nicht zufällig waren die LPGs derjenige Teil der DDR-Ökonomie, der sich nach der „Wende“ nach Umwandlung in Agrargenossenschaften am erfolgreichsten und überlebensfähigsten erwiesen hat – allerdings mit Abbau fast aller Elemente der ländlichen Daseinsfürsorge, die sie noch in der DDR erfüllten.

„Globale Umwelt- und Klimagerechtigkeit““ muss natürlich heißen, dass das Wachstum der Rohstoff-, Energie- und Agroindustrien in den Halbkolonien eingebremst werden muss zugunsten einer Ökonomie, die einerseits die Grundversorgung gewährleisten kann, andererseits aber an einer Weltarbeitsteilung beteiligt ist, die die sozialen und ökologischen Lasten zwischen Nord und Süd gleich verteilt. Natürlich basieren die „Preiswunder“, die man z. B. in den Supermärkten im „Norden“ wahrnehmen kann, zu einem beträchtlichen Teil auf den billigen Rohstoffen oder Arbeitsprozessen aus dem/im „Süden“ bzw. den viel zu geringen Kosten der Treibhausgase verursachenden Transporte von dort. Und natürlich können viele Güter im „Süden“ nur noch gekauft werden, da ihr Import gegenfinanziert ist durch die besagten billigen Rohstoffe etc., die exportiert werden. Unter Marktbedingungen würden sich bei jeder Einschränkung dieser Exporte, Verteuerung der Transportkosten etc. einerseits die Preise für sehr viele Konsumgüter im „Norden“ stark verteuern, wie auch viele Arbeitsplätze im „Süden“ gefährdet wären. Insofern ist jede solche Umstellung mit der Frage der „solidarischen Transformation“ zu verbinden. Statt hier „marktgerechte“ Antworten über Verbrauchssteuern, Subventionen oder Ähnliches zu geben, existiert ein bekanntes Reservoir an Forderungen aus der ArbeiterInnenbewegung für solche Krisenperioden: Belastet werden können dafür die Profite, die großen Vermögen und Erbschaften. Für die Preisbewegungen muss es eine entsprechend mobile Skala der Löhne (und Sozialtransfers) geben. Die Veränderungen der Produktionsprozesse (Transformation) müssen unter Kontrolle der Beschäftigten gebracht werden inklusive Anpassung der Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich. Für Halbkolonien muss dies verbunden werden mit der Forderung nach Schuldenstreichung, Ausgleichszahlungen für die Schäden des Umweltimperialismus und einem allgemeinen Plan für den Aufbau ökologisch und sozial ausgerichteter Energie- und Agrarversorgung. Insbesondere die großen  Konzerne im Energie- und Agrarsektor müssen dafür enteignet werden. Pure bürgerliche „Verstaatlichung“ reicht hierzu sicher nicht, wenn man an das weltweite Agieren solcher Staatskonzerne wie Vattenfall denkt. Auch hier erweist sich echte ArbeiterInnenkontrolle, die wirklich international alle für solche Konzerne Arbeitenden umfasst (Konzerntöchter, Subfirmen, „VertragspartnerInnen“), als Ausgangspunkt internationaler gesellschaftlicher Kontrolle, als Vorbereitung eines von Beschäftigten und KonsumentInnen bestimmten globalen Plans. Sie ist natürlich nicht zu verwechseln mit der Verzahnung nationaler Gewerkschaftsbürokratien mit z. B. dem „eigenen“ Energiekonzern, wie man es z. B. bei RWE und der IGBCE sehen kann. Ebenso kann die Enteignung der Agrokonzerne nur durch ArbeiterInnenkontrolle in den Input/Output-Betrieben der Agrarwirtschaft in Zusammenwirken mit der gesellschaftlichen Kontrolle über die großbetrieblichen Agrarflächen sozial und ökologisch sinnvoll durchgeführt werden. Dies kann je nach Stand der Bewegung auf dem Land erfolgen entweder durch Aufteilung des Bodens unter Agrargenossenschaften aus kleinen Bauern, Bäuerinnen und LandarbeiterInnen oder direkt durch verstaatlichte Agrarbetriebe unter Kontrolle der dort Beschäftigten.

13. Zur Frage von Strategie und Taktik

Die Umwelt- und Klimabewegung hat in den letzten Jahren sicherlich enorm viele Menschen auf die Straße gebracht, eine Menge AktivistInnen dazu animiert, mit unterschiedlichsten Aktionen viel Zeit und Energie einzusetzen, viel „Öffentlichkeitswirksamkeit“ entfaltet – doch mit welchem Effekt?

Der Mitinitiator von „Ende Gelände“, Tadzio Müller, bemerkte dazu passend jüngst in einem Interview: „Mir geht es beim Aktivismus halt um das reale Verändern von Dingen. Also ums Gewinnen. Faktisch hatten wir das trotz der tollen Proteste weder mit der Antikriegs- noch mit der globalisierungskritischen Bewegung geschafft, was sich entmächtigend anfühlte. Ich bin jemand, der viele Fehler macht – aber jeden Fehler gerne nur einmal. Und ja, eigentlich machte ,Ende Gelände’ von 2015 bis 2018 alles richtig. Wir zogen unsere Strategie fast lehrbuchmäßig durch und blieben unbesiegt. Aber was kam nach drei Jahren Powerplay raus, als das politische System 2018 mit der Kohlekommission antwortete? De facto eine Bestandsgarantie für die Braunkohle im ,Kohlekompromis’. Im Grunde wurden wir ganz einfach ausgespielt.“ (Müller 2021)

13.1 War die Klimaschutzbewegung erfolgreich?

Weitaus allgemeiner erscheint der „Erfolg“ der Klimabewegung sich gerade aus ihrer Wirkungslosigkeit zu ergeben. Massen werden zu immer apokalyptischerem Sound mobilisiert. Nur: ändern tut sich eigentlich gar nichts, wodurch dann noch mehr mobilisiert werden kann, mit gleichbleibend null Effekt. Zu diesem Schluss kommt auch Andreas Malm, schwedischer Klimaaktivist der ersten Stunde, in seinem jüngst erschienenen Rück- und Ausblick auf die Klimabewegung (Malm 2020). Er erinnert an die ersten Blockadedemos beim COP1 in Berlin 1995. Seither habe sich vor allem verändert, dass man immer mehr wurde, aber sonst: „Wir errichten unsere Lager für nachhaltige Lösungen. Wir kochen unser veganes Essen und halten unsere Versammlungen ab. Wir marschieren, wir blockieren, wir führen Theaterstücke auf, wir überreichen Minister*innen Listen mit Forderungen, wir ketten uns an und marschieren auch am nächsten Tag wieder. Wir sind immer noch absolut und mustergültig friedlich. Zahlenmäßig sind wir mehr geworden und in unseren Stimmen liegt eine größere Verzweiflung. Wir sprechen vom Aussterben und davon, dass es keine Zukunft mehr gibt. Aber das business as usual geht unbeirrt seines Weges.“ (ebd., S. 14) Parallel zum Wachstum der Klimaschutzbewegung blieb das fossile Kapital nicht nur intakt, es wuchs sogar beschleunigt weiter (ebd., S. 33 f.)! Aus einer Studie zu fossiler Energieinfrastrukturentwicklung aus der Zeitschrift Nature aus dem Jahr 2019 zitierend stellt er fest: „Die letzten Jahrzehnte erfuhren jedoch eine beispiellose Expansion der historisch langlebigen, auf fossilen Brennstoffen basierenden Energieinfrastruktur. ( … Denn) nicht weniger als 49 % der aktuell betriebenen Kapazität (sei) nach 2004, dem Jahr der COP10, in Auftrag gegeben worden. Während ihrer bisherigen Zyklen hat die Klimaschutzbewegung keine Delle in diesen sich stetig hochschraubenden Kurven hinterlassen“ (S. 35 f.). Wenige Wochen nach dem „Herbstaufstand“ von XR veröffentlichte die IEA (Internationale Energieagentur) ihren Jahresbericht, der zeigte, dass zwei Drittel der Neuinvestitionen der Energiewirtschaft weiterhin in Kohle, Öl und Gas gingen. Dann kommen Atomenergie und Wasserkraftwerke, während der Anteil der weltweiten Investitionen in Wind- und Solarenergie keinerlei Wachstum aufwies. Insbesondere die Investitionen in Kohle sind weiterhin steigend. Besonders aufregend findet das Kapital Investitionsmöglichkeiten in Tiefseebohrungen (Deepwater Horizon ist wie gesagt längst „bewältigt“) vor Brasilien und Guyana, im Permbecken von Texas und seit einiger Zeit auch (heftig umkämpft) mehrere Feldern im Mittelmeer (Griechenland, Türkei, Israel, Libyen). Allein Explorationsbohrungen weisen in den letzten Jahren enorme Steigerungsraten auf, mit folgenden Erschließungsinvestitionen. Bei der Größenordnung der hier investierten Kapitalmengen geht es um sehr langfristige Anlageinvestitionen, die darauf ausgerichtet sind, das Kapital auch sehr lange verwerten zu lassen – in diesem Fall etwa von 40 Jahren. D. h. diese jetzt steigenden Massen an fossiler Energieproduktion will das Kapital sicherlich bis 2060 vollständig ausreizen. Die Studie schätzt, dass die in den bereits bestehenden Anlagen festgeschriebenen Emissionen bereits ausreichen, das 1,5 °C-Ziel zu durchbrechen. Mit den allein 2018 im Bau befindlichen Anlagen ist dann bereits das 2 °C-Ziel gerissen – aber wie gesagt, die Investitionen seither sind ja alles andere als rückläufig. Malm schließt, dass bei den Summen dieses Anlagekapitals und dem üblichen Risikobewusstsein von InvestorInnen es offensichtlich ist, dass diese sich keine Sorgen um die künftige Klimapolitik machen (ebd., S. 38). Klimaproteste, Blockaden, Umweltgesetzgebung, Klimaschutzerklärungen der „großen Politik“ hin oder her – „diese Kapitalist*innen scheinen keine Abrissbirnen vor Augen zu haben. Sie denken gar, ihnen könne überhaupt nichts geschehen“ (ebd.). Von der „Führungsschicht“ von Staat bis in die Unternehmen irgendeine ernsthafte Wahrnehmung der nahenden Katastrophe zu erwarten, ist vollkommen vergeblich: „An ihre Vernunft, an ihren Common Sense zu appellieren, wäre augenscheinlich vergebens. Denn letztlich siegt ein aufs andere Mal ihr Engagement zugunsten grenzenloser Kapitalakkumulation. Nach den letzten drei Jahrzehnten kann kein Zweifel mehr bestehen, dass die Führungsklasse geradezu gesetzmäßig untauglich ist, auf die Katastrophe anders zu reagieren, als sie immer weiter anzustacheln; aus eigenem Antrieb vermag sie nichts anderes zu tun, als sich den Weg bis zum bitteren Ende zu brennen“ (ebd., S. 14).

Die Strategie der Klimaschutzbewegung ist also nach diesen Bestandsaufnahmen von Müller und Malm an einem toten Ende der Wirkungslosigkeit angekommen. Malm sieht vor allem zwei Kernpunkte der bisherigen Bewegung, die überwunden werden müssen: die Beschränkung auf Methoden des „zivilen Ungehorsams und Protestes“ (bei dem man doch noch auf eine Wirkung auf die Führungsklassen hofft) und die Infragestellung des Eigentumsrechts, insbesondere in Bezug auf das fossile Kapital.

13.2 Zur Frage der gewaltfreien Protestformen

Malm sieht insbesondere das Dogma der „Gewaltlosigkeit“, des „phantasievollen, gewaltlosen, zivilen Ungehorsams“ als Kernproblem des bisherigen Mainstreams der Klimaschutzbewegung. Tatsächlich gehören Auseinandersetzungen um diesen „strategischen Pazifismus“ und die daraus erwachsenden Strategien und Taktiken des Protests genauso zu den zentralen Eckpunkten der Umweltbewegung wie die um „green economy“, Degrowth oder „Antikapitalismus“. Ein großes Verdienst von Malms Buch ist die direkte und detaillierte Auseinandersetzung mit den „Glaubenssätzen“ dieses Pazifismus, wie er in den Hauptströmungen der Bewegung, bei FFF (mit Zitaten von Thunberg), bei XR und bei 350.org (in Auseinandersetzung mit McKibben) sich widerspiegelt.

Am leichtesten fällt dies sicherlich bei XR, dessen Gründer unmittelbar und in naiver Weise die bizarre „wissenschaftliche“ Beweisführung von Chenoweth/Stephan in „Why Civil Resistance Works“ (2011) in die Grundlagen von XR aufgenommen hat. Dort wird mit angeblich statistisch-empirischen Mitteln „bewiesen“, dass bei den wichtigsten 300 Fällen von Übergängen weg von „Autokratien“ oder „Okkupationen“ mehrheitlich die Methoden des gewaltlosen Widerstandes die erfolgreicheren waren. Hier werden dann absurde Gegenüberstellungen vollzogen wie z. B. dem „erfolgreichen gewaltlosen Widerstand“ in Slowenien 1991 der „erfolglose“ gewaltsame Widerstand der PalästinenserInnen entgegengestellt. Wie die meisten solcher losgelösten, rein technischen Betrachtungen von Taktiken als die „Ein und alles“-Erklärungen für Erfolg/Misserfolg wird hier vollkommen vom historischen Gesamtkomplex und den vielen anderen Faktoren abstrahiert, die zu dem einen oder anderen vorläufigen Ergebnis führen. Die Unabhängigkeit Sloweniens im „10-Tage-Krieg“ 1991 kann natürlich überhaupt nicht isoliert werden vom umfassenden Zerfallsprozess Jugoslawiens, der spätestens seit den frühen 1980er Jahren immer heftigere und nationalistischere Züge annahm. Der slowenische Teilstaat besaß von vornherein, aufgrund seiner wirtschaftlichen Bedeutung, eine herausgehobene Stellung, die ihm auch in Sicherheitsfragen Vorrechte ermöglichte. Die Auseinandersetzung mit den Territorialstreitkräften der slowenischen Teilrepublik war für die serbisch dominierte jugoslawische Volksarmee von vornherein untergeordnet gegenüber der viel größeren Auseinandersetzung, die mit Kroatien heraufzog. Der Rückzug aus Slowenien war daher kein Erfolg von „gewaltlosem Widerstand“ (einer sehr wohl kampfbereiten Armee!), sondern eigentlich unmittelbare Vorbereitung für den blutigen Krieg in Slawonien, der Krajina und Norddalmatien. Etwas als erfolgreiches Muster von gewaltlosen Widerstand darzustellen, das Auftakt für einen der blutigsten Bürgerkriege in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutete (mit den traurigen Höhepunkten Vukovar, Srebrenica, Racak und den NATO-Angriffen auf Rest-Jugoslawien), ist schon hochgradig „naiv“ (um es höflich auszudrücken). Wer dies dann auch noch mit einen vollkommen anderen gesellschaftlichen und historischen Konflikt wie dem in Palästina (der sowohl mit der Geschichte des Zerfalls des Osmanischen Reiches, der Kolonialisierung der Region als auch mit der komplexen Geschichte von Diaspora und Verfolgung des jüdischen Volkes verwoben ist), vergleicht, hat offenbar vom Verhältnis zwischen Taktiken und Entwicklung gesellschaftlicher Konflikte gar keine Ahnung. Anders als Jugoslawien ist der von den USA hochgerüstete Staat Israel alles andere als im Zerfall begriffen. Und natürlich gab es auch in Palästina nicht wenige Ansätze des zivilen Ungehorsams oder Setzens auf „Diplomatie“, den „arabischen Nationalismus“ und seine verschiedenen „Heimatländer, die Sowjetunion etc. Der bewaffnete Kampf war immer wieder die „asymmetrische“ Reaktion auf eben das Scheitern jeglicher solcher Lösungsversuche. Auch die BDS-Kampagne ist ja genau aus der Methode eines solchen „zivilgesellschaftlichen Protestes“ entstanden.

Nicht weniger falsch sind die Bezüge von McKibben und Greta Thunberg auf die Abschaffung der Sklaverei oder den Kampf um das Frauenwahlrecht. Beides wird als Resultat der „Erfindung“ des gewaltlosen Widerstandes durch AbolitionistInnen bzw. die Suffragetten dargestellt. Dies isoliert bestimmte Kampfformen dieser beiden politischen Bewegungen von dem viel umfassenderen und langwierigeren Kampf zu diesem Thema, der gerade umgekehrt vor allem durch revolutionäre Gewalt vorangetrieben wurde. Der wahrscheinlich einschneidendste Moment im Kampf gegen die Sklaverei war, dass nach vielen blutig niedergeschlagenen Aufständen die Revolution in Haiti gelang und hier eine erste, von SklavInnen gegründete Republik entstand. Die Bedrohung durch die SklavInnenbewegung einerseits und die ökonomisch günstigere Ausbeutungsmöglichkeit der industrialisierten Lohnarbeit andererseits machten die Sklaverei zu einem Auslaufmodell. Die AbolitionistInnebewegung war nur der letzte Schnitt an einem schon im Absterben begriffenem System, durch VertreterInnen der Herrenklassen selbst an schon von der Geschichte überrollten, reaktionären Überbleibseln der SklavInnenhaltersysteme. Bekanntlich hat außerdem diese Form des bürgerlichen Abolitionismus in keiner Weise zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung der ehemaligen SklavInnen geführt, sondern zu neuen Formen der rassistischen Segregation.

Insofern wird auch der Mythos vom großen Vorbild des zivilen Widerstands, Martin Luther King, von den tatsächlichen Zusammenhängen des antirassistische Kampfes, wie er in den USA zu Beginn der 1960er Jahre in einen neuen Zyklus trat, völig losgelöst. Natürlich war, wie Malm detailliert ausführt, auch diese Bewegung bestimmt durch gewaltsame Zusammenstöße, die von der antirassistischen Bewegung mit einer defensiven, aber durchaus nicht „gewaltlosen“ Reaktion beantwortet wurden. Vielmehr gab es die Teilerfolge der Bewegung nur durch das Wechselspiel großer, gewaltloser Proteste einerseits und militanter Kämpfe andererseits, zu denen durchaus auch die Malcolm-X- und die Black-Panther-Bewegung gehörten.

Auch die Erkämpfung des Frauenwahlrechts war alles andere als Resultat einer gewaltlosen bürgerlichen Frauenbewegung. Ihm ging ein jahrzehntelanger Kampf proletarischer Frauen im Rahmen der ArbeiterInnenbewegung voraus, der dieses Recht zusammen mit vielen anderen Fragen der Unterdrückung von Frauen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Nicht zuletzt standen proletarische Frauen in den Revolutionen ab 1917 von Russland bis Deutschland an vorderster Front des Kampfs ums allgemeine Wahlrecht inklusive des Frauenwahlrechts. Ohne die „Gefahr“ der Ausbreitung dieser revolutionären Welle ist die „plötzliche“ Durchsetzung dieses Rechts auch in den anderen europäischen Ländern nicht zu erklären. Malm zeigt jedoch, dass selbst die Suffragetten alles andere als Muster des „gewaltlosen Widerstands“verkörperten. Sie griffen zu Mitteln der Sabotage, Anschlägen auf Sachen (auch Brandanschlägen) etc. und wurden dafür auch zu entsprechenden Haftstrafen verurteilt.

Als letztes ist Malm auch zu danken, dass er ausführlich Mahatma Gandhi entmystifiziert, das neben Martin Luther King und Nelson Mandela meist zitierte Vorbild für „gewaltfreien Widerstand“ (übrigens letzter auch in völliger Verkennung der tatsächlichen Geschichte des ANC und Niederringens des Apartheidregimes). Auch das Ende der britischen Kolonialherrschaft wies natürlich eine viel längere und blutigere Geschichte voller Aufstände, Streiks und auch bewaffneter Konfrontationen auf, als dass es irgendwie im Entferntesten als Muster für die Strategie von „gewaltlosem Widerstand“ dienen könnte. Natürlich ist es richtige, gerade auf die Provokationen eines/r sehr mächtigen, bewaffneten GegnerIn mit Elementen des passiven Widerstands, mit dosierter Konfrontation etc. erstmal so viel wie möglich Kräfte zu sammeln bzw. ihn/sie zu schwächen, zu diskreditieren, Teile ins Zweifeln kommen zu lassen etc. (Gandhis Satyagraha). Doch Gandhi erkannte nicht, dass zu dieser Schwächung und Abschreckung durchaus auch der Einsatz von Gewalt gehören musste. Die Sabotageaktionen und Angriffe auf KollaborateurInnen, Massenstürmungen von Polizeistationen wurden zwar alle von Gandhi verurteilt, waren aber für die britischen Behörden das Zeichen, dass die Massen über die friedliche „Nichtkooperationstaktik“ hinaus drängten. Malm zieht mehrere Beispiele für Gandhis opportunistische Politik gegenüber dem britischen Imperialismus heran wie z. B. sein Andienen für Anwerbung von indischen Soldaten für den Ersten Weltkrieg oder den Einsatz gegen Aufständische in Südafrika: „Gandhis Strategie zur nationalen Befreiung hat niemals – soviel steht fest – Gewalt gegen die Briten geduldet, doch Gewalt mit ihnen war darin stets inbegriffen“ (ebd., S. 53). Man kann zu Recht feststellen, dass die indische „Unabhängigkeit“ nicht durch Gandhis Strategie errungen wurde, sondern trotz seiner Politik, die letztlich zur Errichtung neokolonialer Verhältnisse durch fortgesetzte staatliche, soziale und religiöse Spaltungen führte – was den indischen Subkontinent bis heute im Würgegriff hält.

Was aus diesen Betrachtungen des Verhältnisses von gesellschaftlichen Umwälzungen und der Frage der Kampfmittel (von friedlichem Protest bis zur Gewalt) klar wird, ist, dass die Umstände,  Gegenkräfte und das Stadiums der bereits vor sich gehenden Veränderungen über die Angemessenheit dieser oder jener Protestform entscheiden – nicht solche Prinzipien wie „Gewalt führt immer zu nichts Gutem“. Wenn die Gegenkräfte bereits entscheidend geschwächt sind bzw. in Angst vor Massenprotesten aller Art leben, dann mögen friedliche Massendemonstrationen, Streiks, gepaart mit einigen spontanen Gewaltausbrüchen ausreichen, um ein bereits bröckelndes System zum Einsturz zu bringen (z. B. die Abschaffung der Schulsegregation in den USA durch die „Bürgerrechtsbewegung“ zwischen 1957 und 1964).

13.3 Zur Notwendigkeit einer neuen Strategie

Bei der Umwälzung jedoch, die die Klimaschutzbewegung durchsetzen will, geht es nicht um irgendwelche veralteten und für das Kapital nicht essentiellen Institutionen oder den Sturz eines schon bröckelnden diktatorischen Regimes (wie z. B. im Fall Milosevics), sondern um nichts Geringeres als um einen grundlegenden Systemwechsel, der eine zentrale Säule der Kapitalakkumulation, das fossile Kapital, zum Gegner hat. Die Geschichte der Umweltproteste hat gezeigt, dass sich dieser nicht durch noch so große Massenproteste aus der Bahn werfen lässt. Außer einer Anpassung der Marketingstrategien („greenwashing“) und einer für die Problemlage völlig ungenügenden politischen Antwort („Green New Deal“) gibt es für das große Kapital keinen Wirkungstreffer seitens der Proteste. Sie bleiben nette Happenings für junge Leute, die ansonsten das business as usual nicht stören. Außerdem gibt es genug Gegenkräfte, die durch ökologische Veränderungen ihre „individuelle Freiheit“ und ihre „Lebensweise“ bedroht sehen, um zur Not auch reaktionäre Gegenproteste instrumentalisieren zu können. Das Problem bleibt tatsächlich, dass die herrschenden Strömungen der Klimaschutzbewegung auf ihren Prinzipien der Ablehnung militanter Aktionen herumreiten und nicht wahrhaben wollen, dass sie damit nur Zeit verlieren, die wir nicht mehr haben. Malm stellt damit zu Recht angesichts dieser Sackgasse der friedvollen Proteste inmitten einer immer bedrohlicher werdenden Lage an die Bewegung (der er von Beginn an angehört) die Frage: „Wann eskalieren wir? Wann gelangen wir zu der Einsicht, dass es an der Zeit ist, auch zu anderen Mitteln zu greifen? Wann fangen wir an, die Dinge, die unseren Planeten ruinieren, physisch anzugreifen … ?“ (ebd., S. 15).

Das Problem der Vorherrschaft pazifistischer Illusionen in den Umweltprotesten ist nicht einfach eines der „falschen Ideologien“ von der Wirksamkeit gewaltloser Proteste. Es ist eben auch ein Ergebnis eines Niedergangs der subjektiv revolutionären Bewegungen und damit Diskreditierung der Orientierung auf die Revolution als Lösungsweg für fundamentale gesellschaftliche Probleme: „Das Beharren darauf, militante Aktionen unter den Teppich der Zivilität zu kehren – das heutzutage nicht allein innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung, sondern auch in den meisten angloamerikanischen Ansichten und Theorien hinsichtlich sozialer Bewegungen vorherrscht -, stellt selbst ein Symptom der eklatant gewordenen Kluft zwischen der Gegenwart und all dem, was von der Haitischen Revolution bis zur Polltax-Rebellion passiert ist, dar. Es ist ein Symptom des Niedergangs revolutionärer Politik. Diese existiert kaum noch als lebendige Praxis innerhalb schlagkräftiger Bewegungen oder als Folie, derer sie sich bedienen könnten, um ihre Forderungen zu stellen. Von den Jahren rund um 1789 bis zu jenen um 1989 verlor die revolutionäre Politik nichts an Aktualität und dynamischer Potentialität, doch seit den 1980er Jahren ist sie zusehends diffamiert, antiquiert, verlernt und unglaubwürdig geworden. Mit der konsequenten Dequalifizierung geht der Widerwille einher, revolutionäre Gewalt als integralen Bestandteil ihrer selbst anzuerkennen. Und eben darin besteht die ausweglose Situation, in der sich die Klimagerechtigkeitsbewegung befindet: Der geschichtliche Sieg des Kapitalismus und die Zerstörung des Planeten sind ein und dasselbe. Um daraus auszubrechen, müssen wir das Kämpfen von Grund auf neu lernen, und zwar in dem vielleicht ungünstigsten Moment der bisherigen Geschichte der menschlichen Besiedlung des Planeten“ (ebd., S. 73).

Doch was schlägt Malm als „Eskalation“, als „Kämpfen neu lernen“ vor? Einerseits sieht er durchaus Anzeichen, aus der Bewegung heraus, zu einer Steigerung der Kampfformen. So haben etwa die beiden Gewerkschaftsaktivistinnen Jessica Reznicek und Ruby Montoya 2017 (kurz nach Trumps Amtsantritt) durch einen technisch geschickt durchgeführten Anschlag auf das Maschinendepot der Dakota Access Pipeline ihren Iowa den Baubeginn um mehrere Monate verzögert. Dazu gelang ihnen auch, durch selbst gebastelte Schweißbrenner regelmäßig Löcher in bereits verbaute Pipelineabschnitte zu schweißen. In Erklärungen zu den Aktionen stellten sie fest, dass sie zu diesen Mitteln greifen, da offenbar alle friedlichen zu nichts führen. Inzwischen scheinen die beiden in den USA, besonders in indigenen Gebieten, viele NachahmerInnen gefunden zu haben. In ähnlicher Weise mehren sich wieder Aktionen der „Entlüftung von SUVs“ oder ähnliche Maßnahmen, durch die SUVs zeitweise außer Betrieb gesetzt oder „entschönert“ werden.

Gemeinsam ist solchen Aktionen natürlich nicht einfach, dass sie „Gewalt gegen Sachen“ darstellen, Verletzungen oder gar Tötungen von Menschen jedenfalls vermeiden. Entscheidend ist, dass es um Beschädigungen von Sachen geht, die sich im privaten Eigentum befinden. Gerade das ist die entscheidende Schwelle für die Apostel der Gewaltlosigkeit: Das Niederreißen der Berliner Mauer ist ein Akt der Gewaltlosigkeit, aber einen privaten Pkw zu beschädigen ,ist „unmoralisch“. Entsprechend fällt auch die Reaktion von Staat und „Öffentlichkeit“ für solche Aktionen aus. Als man 2019 Reznicek und Montoya vor Gericht stellte, wurden sie jeweils mit einer Haftstrafe von 110 Jahren bedroht. Der Vorstandsvorsitzende der betroffenen Ölfirma sprach gar von einem derart schwerwiegenden Akt des „Terrorismus“, dass die beiden „aus dem Genpool“ getilgt werden müssten. Die harmlosen SUV-Entlüftungen in Schweden und Frankreich führten zu heftigen Beschuldigungen, die diese Aktionen als Angriffe auf „Freiheit und Demokratie“ und die „VerbrecherInnen“ als schlimmer als Pädophile oder SelbstmordattentäterInnen verurteilten. Selbstverständlich werden heute bei den VerfassungsschützeInnern Warnungen laut, dass es aus der Klimabewegung zu einer Radikalisierung kommen könne, mit der dann ein „Klimaterrorismus“ einherginge.

Hier wird natürlich einerseits die „Heiligkeit“ des Privateigentums deutlich, ob an Produktionsanlagen oder Luxusgütern. Andererseits das völlig Ausbleiben jeglicher Anerkennung, dass die Gewalt, die von der Ausübung bestimmter Formen von Privateigentum ausgeht, um ein Vielfaches gefährlicher ist (was die Klimafolgen betrifft) als die Nadelstiche, die hier gesetzt werden. Es ist also klar, dass die Eskalation, um die es gehen muss, die Frage der Verfügungsgewalt über die Produktions- und Konsumtionsmittel, die die wichtigsten Beiträge zu den großen Umweltschädigungen bewirken, aufwerfen muss, also die Frage des Eigentums. Enteignungsprozesse können natürlich verschiedene Formen annehmen, von der Sabotage, über (zeitweise) Besetzungen, Streiks (die für ihre Dauer die Verwertung von Eigentum unterbrechen) bis hin zur Enteignung (Verstaatlichung, Vergesellschaftung).

Der Begriff der „Enteignung“ ist in letzter Zeit wieder in das Arsenal von linken Bewegungen getreten, z. B. bei der Frage von Wohnungs- und Mietenpolitik. In der Klimapolitik gab es schwache Vorzeichen dazu in Initiativen für die Rekommunalisierung von Energieversorgungsunternehmen. Es fehlt allerdings noch eine Initiative ähnlich „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ auch für die großen Energiekonzerne. Ein Vorzug von FFF ist sicherlich, dass es den Streik auf die Tagesordnung des Klimaprotestes gesetzt hat. Auch wenn Streiks in der Schule nicht die ökonomisch-politische Bedeutung von betrieblichen Streiks erlangen, so hat dies doch auf die ArbeiterInnenbewegung Ausstrahlung. Es kam an verschiedenen Aktionstagen auch zu betrieblichen Warnstreiks und Diskussionen über „Klimastreiks“ auch in Gewerkschaften. Darüber hinaus tobten um die Schulstreiks durchaus auch Auseinandersetzungen um die „Illegalität“ der Verweigerung der Schulpflicht.

13.4 „Ende Gelände“ (EG) als Alternative?

Die Kampfform, die Malm jedoch besonders hervorheb,t ist die der Besetzung. Dies hat auch damit zu tun, dass er eine Rolle spielt für die Internationalisierung von „Ende Gelände“ (siehe Ende Gelände 2020). Dies ist inzwischen lange nicht mehr einfach eine deutsche Sonderform des Klimaprotestes. 2018 wurde auch formal die Struktur „Ende Gelände goes Europe“ (EGGE) gegründet, die Aktionen zumindest mal in Europa koordiniert. Es geht längst nicht mehr nur um die Braunkohlereviere in Deutschland oder den Hambacher Forst. Aktionen wurden von diesem Netzwerk durchgeführt gegen Gasterminals in Groningen (Niederlande), Braunkohletagebau in Tschechien (Bilina), weitere in Großbritannien, Italien und Schweden. Für 2020 waren die Kampagne „Shell Must Fall“ in den Niederlanden, weitere Aktionen gegen die Atomindustrie in Frankreich und die Kohleindustrie in Polen (Turow) geplant. Vieles davon konnte pandemiebedingt nur sehr beschränkt umgesetzt werden.

Sicherlich ist es richtig, dass EG in der „Klimagerechtigkeit“sbewegung eine Vorreiterrolle in Bezug auf Koordinierung militanter Aktionen gegen zentrale Produktionsstätten des fossilen Kapitals einnimmt. Die Besetzungsaktionen sind eine Herausforderung für die Sicherheitskräfte und können zeitweise tatsächlich zu Betriebsunterbrechungen führen. Viele der Kampfformen wie die Fingertaktik, Bezugsgruppen, ausgefeilte Kommunikationsstrukturen, lange logistische Vorbereitungen für möglichst große Protestteilnahme etc. sind weitgehend aus der Altermondialbewegung bekannt. Auch viele der Organisationsformen kommen von dort: aufwändige Plenardebatten, das „Konsensprinzip“, lokale Gruppen, inhaltliche und organisatorische Arbeitsgruppen, Bündnisse vor allem mit verschiedenen Umweltverbänden (vor allem aus dem CJA-Spektrum), Postautonomen, Antira-/fa-Gruppen, lokalen Bürgerinitiativen, gewerkschaftlichen Untergruppen etc. An Organisationsform und Zielsetzungen wird klar, dass auch EG nur einen Schritt hin zu einem internationalen militanten Kampf für den Systemwechsel repräsentiert. Es ist weder eine konsequent antikapitalistische, revolutionäre Organisation noch in der Lage, einen wirklich einschneidenden Stillstand des fossilen Kapitals zu bewirken. Insofern sind die einleitenden Einschätzungen zum „Scheitern“ der EG-Strategie, wie sie sich in Deutschland im „Kohlekompromiss“ manifestiert hat, verständlich. Immerhin haben auch viele der „BündnispartnerInnen“ von EG diesen Ausverkauf mitgetragen. Konsequent muss daher mit Malm gefragt werden: Was ist denn jetzt die nächste Stufe der „Eskalation“?

Die führende linke Organisation in EG, die Interventionistische Linke (IL), versteht die Eskalationsstrategie innerhalb solcher Bündnisstrukturen wie EG so, dass mit ihren Aktionsformen für größer werdende Mobilisierungen „niedrigschwellige Angebote“ gemacht werde. Dies soll zur Infragestellung der Eigentumsverhältnisse und darüber hinausgehend zur Frage der Vergesellschaftung führen. Selbst diese scheinbar radikale Perspektive verkennt natürlich, dass eine schrittweise Untergrabung des Privateigentums an Produktionsmitteln und von lokalen Strukturen ausgehende „Vergesellschaftung“ unter Bedingungen der Vorherrschaft des Wertgesetzes und seiner totalitären Durchdringung aller ökonomisch verwertbaren Bereiche durch den Verwertungszwang, vollkommen unmöglich ist. Dies hat die gesamte bisherige Geschichte des Kapitalismus bewiesen – namentlich das Schicksal des Genossenschaftswesens. Von daher bietet die Vorstellung der Ersetzung der bestehenden zentralen Energieversorgung durch „vergesellschaftete“, dezentrale Einheiten der Energieproduktion und -verteilung keine Perspektive. Die IL und damit große Teile von EG vertreten mit ihren niedrigschwelligen Angeboten für „revolutionäre Realpolitik“ auch nur (ähnlich wie Degrowth) die Perspektive einer langwierigen Transformation statt einer tatsächlich revolutionären Politik.

Bezeichnenderweise vermeidet Malm in seinem Plädoyer für revolutionäre Politik und die Einbeziehung von revolutionärer Gewalt als Kampfmittel jeglichen klassenpolitischen Bezug. Dabei stellt sich doch die Frage als erste, wie so grundlegende gesellschaftliche Umwälzungen wie der Systemwechsel weg vom fossilen Kapital durch „revolutionäre Gewalt“ denn funktionieren können. Wer kann denn TrägerIn, das Subjekt dieser revolutionären Umwälzung sein? Es ist klar, dass hier die ArbeiterInnenklasse als diejenige soziale Kraft, auf deren Einsatz letztlich die Verwertung des Kapitals beruht und die auch die Kraft ist, die zum Aufbau einer neuen Produktionsweise in der Lage ist, ins Spiel kommen muss. Wie schon am Anfang des Artikels ausgeführt, ist die ArbeiterInnenklasse in ihren sehr unterschiedlichen Schichtungen natürlich immer an der Umweltbewegung beteiligt. Auch die meisten AktivistInnen der Klimaschutzbewegung, die nicht SchülerInnen und StudentInnen sind, gehören ja zu dieser Klasse. Die große Frage, gerade was das fossile Kapital betrifft, sind natürlich die Beschäftigten in den unmittelbar betroffenen Industrien selbst. Offenbar sind die Gewerkschaften und Betriebsräte in diesen Unternehmen zumeist alles andere als Protestbeteiligte. Betriebsrats- und Gewerkschaftsvorsitzende der deutschen Industriegewerkschaften sind sogar in den Aufsichtsräten repräsentiert so wie viele kommunale oder LändervertreterInnen der „linken“ Parteien bei einigen Unternehmen die EigentümerInnen vertreten. Sehr wohl sprechen jetzt IG Metall und IG BCE von „Transformation“ und wollen den „Umbau“ mitgestalten. Gleichzeitig warnt der IG BCE-Vorsitzende (gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied bei RWE) vor einem neuen „Klimaprekariat“, das durch eine allzu heftige Klimapolitik in Bezug auf die deutsche Industrie drohe. Es ist also klar, dass gegen die bestehenden Führungen in Betrieb und Gewerkschaft eine entschiedene Opposition aufgebaut werden muss. Diese muss sowohl gegen die Transformationszugeständnisse der Gewerkschaften (die de facto unter Transformationstarifverträgen vor allem Strukturkurzarbeitsregelungen oder Frühverrentungen verstehen) die erwähnten Forderungen wie gleitende Skala der Löhne und Arbeitszeit, Umbaukosten aus Profiten finanzieren etc .einbringen. Sie muss aber vor allem das sofortige Ende der Sozialpartnerschaft mit dem Kapital und ein Programm der sozial gerechten Konversion der auf fossilem Kapital beruhenden Produktionsprozesse erkämpfen. Die Gewinnung dieser ArbeiterInnen für ein solches Programm wird entscheidend sein, um dem Kapital tatsächlich die Kontrolle über diese Systeme aus der Hand schlagen zu können. Erst dann werden die Gewaltmittel des Kapitals und seiner Staatsorgane überwindbar sein – und wird revolutionäre Gewalt nicht mehr nur in Nadelstichen verabreicht werden können. Im Jahr 2020 im Gefolge der Corona-Gefahr wurde demonstriert, wie bei einem Notstand ein Shutdown auch zentraler Industrien unter Aufrechterhaltung versorgungswichtiger Betriebe möglich ist. Die Auswirkungen auf die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre zeitigten erstmals seit Jahren einen messbar geringeren Jahresanstieg. 2021 war dagegen sofort wieder eine „nachholende“ Rekordsteigerung zu verzeichnen. Der Klimanotstand macht einen solchen organisierten Shutdown ebenso erforderlich. Ein solcher  wird nur gegen das Kapital und seine Regierenden durchsetzbar sein (auch das hat der weitere Verlauf der Pandemie gezeigt) – als international koordinierter Generalstreik für das Klima. Dieser stellt sofort die Machtfrage, die Frage, wer über die weitere Entwicklung nach dem Shutdown bestimmt. Die Machtfrage verleiht überhaupt erst der „revolutionären Gewalt“ ihren Sinn, soll sie nicht ihrerseits weiterhin nur ein Element des symbolischen Protestes bleiben.               

14. Zur Frage der ökologischen Planwirtschaft

Die Pandemie lehrt auch einiges für die Zeit „nach der Revolution“. Die Krise von 2020/21 wird in den imperialistischen Ländern mit einem massiven Investitionsprogramm beantwortet. Der Stillstand soll vorgeblich zu einem Umbau im Sinn der „green economy“ genutzt werden. So beinhaltet das Investitionsprogramm der USA den Aufbau von mehreren riesigen Offshore-Windkraftanlagen mit einer Kapazität von 30 Gigawatt (entspricht etwa einem Siebtel der Energiekapazität Deutschlands). Ebenso große Ausbauprogramme gibt es in der EU, Großbritannien und China. Einher gehen diese Aufbauprojekte für erneuerbare Energien mit einem entsprechenden Ausbau der Stromnetze und -speicherkapazitäten sowie der Ersetzung von Verbrennungs- durch Elektromotoren. Ihre Kehrseite liegt im enorm steigenden Bedarf für Rohstoffe wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Seltene Erden etc. Entsprechend sind die Preise für diese Rohstoffe in einer Aufstiegsbewegung, die derjenigen des Öls zu Beginn des Aufstiegs der ölbasierten Verbrennungsmotoren nicht nachstehen. Nicht nur erzeugt dies entsprechenden politischen Druck auf die Hauptbergbauländer – man denke an den Putsch(versuch) in Bolivien (einem der wichtigsten Lithiumlieferanten der Welt), der auch durch gewisse Konzerne der E-Mobilität befördert wurde. Es bedeutet auch, dass die Länder des Südens nicht nur des Kapitals entbehren, um sich an diesem Ausbau erneuerbarer Energien beteiligen zu können. Se können sich auch die Rohstoffe, die dafür gebraucht werden, nicht leisten. So sieht „Klimagerechtigkeit“ sicherlich nicht aus. Wie beim „Impfstoffnationalismus“ bildet auch das Programm des ökologischen „Neustarts“ einen Ausdruck der imperialistischen Aufteilung der Welt. Und wiederum erweisen sich die G7 als „Planagentur“, die dann Brosamen aus den Impf- und Neustartprogrammen an den Rest der Welt verteilen. Natürlich ist ein Neuanfang nur möglich, wenn die G7 (bzw. G20) zerschlagen werden und ein tatsächlich globaler Plan zum Ausbau der erneuerbaren Energien, alternativer Infrastrukturen und Mobilitätskonzepte erstellt wird, der zugleich einen Ausgleich für die vom erhöhten Rohstoffbedarf betroffenen Länder schafft.

Eine andere Auswirkung der Bewältigung der Pandemie, die längerfristig anzuhalten scheint, stellt die Ausweitung der Verlagerung vieler Arbeitsplätze nach Hause („mobiler Arbeitsplatz“) dar. Dies hat durch die Verringerung an Fahrten zum Arbeitsplatz sicherlich ökologisch gesehen Vorteile. Andererseits überlastet es offensichtlich Familien mit beengtem Wohnraum, ergibt Probleme mit der Essensversorgung (Lieferdienste statt Kantine sind ökologisch gesehen nachteilig), erzeugt erhöhten Arbeitsdruck durch atomisierte Arbeitsweise etc. Auch hier würden nachkapitalistische Verhältnisse andere Möglichkeiten eröffnen: Ein Umbau der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wird möglich: z. B. mit integrierten Arbeits- und Wohnanlagen, Kombination von Wohnungen mit gemeinschaftlich nutzbaren/r Büroplätzen und IT-Infrastruktur, Gemeinschaftsküchen, gemeinsamen Careeinrichtungen (für Kinder, medizinische Grundversorgung etc.), gemeinsame Freizeiteinrichtungen. Die Verringerung an Mobilitätszwängen, die sich so ergäbe, könnte für den Ausbau von öffentlichem Verkehr bzw. Fahrradinfrastruktur genutzt werden, so dass auch diejenigen, die weiterhin zu zentralen Arbeitsstätten unterwegs sein müssen, nicht auf Pkws angewiesen wären bzw., sofern dies notwendig ist, Gemeinschaftsautos von Wohnanlage oder Betrieb nutzen könnten (IT-Anwendungen für den Share-Betrieb gibt es ja auch inzwischen genug).

Die Notwendigkeit der Umgestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen auf solidarische Gemeinschaftlichkeit wie auch die eines international koordinierten Plans zum ökologischen Umbau war auch schon das Thema von Rudolf Bahro in seinem 1977 erschienenen Buch „Die Alternative“ (Bahro 1977). Das besondere dabei war der Erscheinungsort: die DDR. Bahro war SED-Kader, Aktivist bei der Kollektivierung der Landwirtschaft und Leiter des Bereichs „Wissenschaftliche Arbeitsorganisation in der Industrie“ in der DDR-Wirtschaftsplanung. Aus dieser Position heraus war seine scharfe Kritik am nichtsozialistischen Charakter der DDR-Planwirtschaft und insbesondere an der fehlenden ökologischen Ausrichtung eine Sensation. Die Veröffentlichung führte ihn sofort nach Hohenschönhausen, Bautzen und dann ins Exil. Auch wenn vieles an seinen späteren Positionen kritikwürdig ist, ist „Die Alternative“ noch heute lesenswert, da sie wichtige Fragen zum ökologischen Umbau in nachkapitalistischen Gesellschaften aufwirft. Vor allem erklärt sie, warum die „Planwirtschaften“ in den degenerierten ArbeiterInnenstaaten das Gegenbeispiel für einen solchen Umbau darstellen (und heute noch als „Beweis“ für die Untauglichkeit von Planwirtschaft für eine grüne Wirtschaft angeführt werden).

Bahro stellt fest, dass die Entwicklung in der Sowjetunion nach der Revolution natürlich zunächst weiterhin geprägt war von Arbeitsteilung, Organisation und Verteilung, wie sie vom Kapitalismus übernommen wurde. In einer ersten Phase mussten eine nachholende Entwicklung, die Sicherstellung eigenständiger Versorgung und damit zusammenhängende Verteilungsnormen im Vordergrund stehen. Er meint nun, dass die „realsozialistischen Staaten“ praktisch nie über diese Phase hinausgekommen sind. D. h. die Arbeitsteilung und Konsumverhältnisse waren im „Osten“ nicht weniger fordistisch als im „Westen“. Dies trug zur Folge, dass bei der Arbeit hierarchische Strukturen und Kommandowirtschaft, weitgehend ohne demokratische Kontrolle, vorherrschten bzw. individualistische Konsumbedürfnisse im atomisierten Privaten. Damit sind die Planökonomien in eine Konkurrenz um Wirtschaftsleistung und Konsumgüterversorgung insbesondere mit den imperialistischen Ländern geraten, die sie nur verlieren konnten bzw. für die sie eine rücksichtslose Naturausbeutung in Kauf nehmen mussten. Deswegen hielt Bahro es für die nachkapitalistischen Ökonomien für unumgänglich durchzuführen (Bahro 1977, S. 325):

  • eine grundlegende Umorganisierung der Arbeit, so „dass sich kein Mensch mehr in die Funktion einer bestimmten beschränkten oder subordinierten Tätigkeit verwandeln kann“; eine selbstbestimmte Arbeit, ohne Privilegierung durch besondere Rollen in der Arbeitsteilung erlaubt dann auch erst eine demokratische Bestimmung über den Plan,
  • allgemeiner Zugang zu umfassender Bildung, die sowohl soziale Kompetenz wie auch ökologisches Verständnis mit beinhaltet, Vermeidung von „sozial inkompetenten Spezialistentum“,
  • „die Herstellung von Bedingungen für ein neues Gemeinschaftsleben auf der Basis autonomer Gruppenaktivitäten, um die sich erfüllte menschliche Beziehungen kristallisieren können“,
  • „die Vergesellschaftung (Demokratisierung) des allgemeinen Erkenntnis- und Entscheidungsprozesses, seine Konstituierung außerhalb und oberhalb des hierarchischen Apparats, der das normale Funktionieren der laufenden Reproduktion sichert“,
  • die Überwindung der patriarchalischen Formen der Betreuung, Erziehung und Heranführung an den Arbeitsprozess von Kindern und Jugendlichen.

Diese Punkte sah Bahro also nur in einer nachkapitalistischen Gesellschaft verwirklichbar, die sich vom Zwang der intensiven erweiterten Reproduktion befreit, wie er im Kapitalismus und in den ersten Phasen einer Planökonomie vorherrschend ist. In Bezug auf die DDR stellte er fest (ebd., S. 318), dass unsinnige Konkurrenz mit dem Westen um die Zahl der Privatpersonen zur Verfügung gestellten Pkws, um schnellen moralischen Verschleiß von Konsumgütern im Textil- oder Wohnungsausstattungsbereich, bei der Organisierung von Urlauben bzw. besonderen Wohnlagen für privilegierte Schichten etc. dazu führten, dass eine sozialistische Umgestaltung der Wohn- und Arbeitsverhältnisse nicht im Entferntesten angegangen würde. Damit würden hierarchische Strukturen verfestigt und ein von unten bestimmter Plan, der den wirklichen Bedürfnissen nach einem guten solidarischen Leben entspricht, verunmöglicht.

Grundlegend stellt Bahro für die nachkapitalistische Ökonomie – lange vor Degrowth – die Frage, ob eine solche nicht die im Kapitalismus vorherrschende Form der Entwicklung durch stetig wachsende materielle Verfügungsgewalt über Dinge und Natur ersetzen muss vor allem durch eine Entwicklung der menschlichen Formen des Zusammenlebens auf der Basis des Erhalts der erreichten materiellen Grundsicherung: „Der ganze Typus von erweiterter Reproduktion, den die europäische Zivilisation in ihrer kapitalistischen Ära hervorgebracht hat, diese lawinenartig anschwellende Expansion in allen materiell-technischen Dimensionen, beginnt sich als unhaltbar darzustellen. Der Erfolg, den wir mit unseren Mitteln der Naturbeherrschung hatten, droht uns und alle anderen, die er unbarmherzig in seinen Sog reißt, zu vernichten. Die gegenwärtige Lebensweise der industriell fortgeschrittensten Völker bewegt sich in einem global antagonistischen Widerspruch zu den natürlichen Existenzbedingungen des Menschen …. Die gegenwärtigen Rohstoff- und Umweltprobleme sind das Nebenprodukt von nur zwei Jahrhunderten industrieller Tätigkeit eines Bruchteils der Menschheit. Vom ökonomischen Prinzip der Profitmaximierung her, das mächtig in den real existierenden Sozialismus hineinregiert, ist es ein wesentlich quantitativer Progreß mit dem Trieb ins schlecht Unendliche. Er muß aufhören … , wenn der Planet bewohnbar bleiben soll“ (ebd., S. 310).

Andreas Malm spricht sich in einem 2020 bei Jacobin erschienen Interview (Malm 2020a) für einen „ökologischen Leninismus“ als Lösung des Klimanotstandes aus. Ebenso macht eine Publikation der Rosa-Luxemburg-Stiftung die Aktualität der Frage der Planwirtschaft zum Thema (die wir auch demnächst ausführlicher besprechen werden: Daum/Nuss 2021). Tatsächlich ist es mehr als Zeit, die Frage der Revolution und der Einleitung einer nachkapitalistischen Gesellschaft wieder akut auf die Tagesordnung zu setzen. Die aktuellen Entwicklungen im digitalen Kapitalismus, z. B. die enormen globalen Plankapazitäten der Logistikkonzerne, aber auch die Infrastrukturen für gemeinsam nutzbare Ressourcen lassen auch die Frage der Planwirtschaft als Alternative in dieser nachfossilen Zeit zur Tagesaktualität gelangen. Dabei sollten wir die Erfahrungen aus den zusammengebrochenen Planökonomien berücksichtigen, die nicht nur von AutorInnen wie Bahro zusammengefasst wurden: Auch die planwirtschaftliche Umgestaltung der globalen Ökonomie kann nicht zur menschlichen, ökologisch verträglichen Emanzipation führen, wenn wir nicht die aus dem Kapitalismus überkommenen Formen der Arbeitsteilung, des Konsums und des Naturverhältnisses dabei überwinden.

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