Chile: Boric gewinnt Präsidentschaftswahlen deutlich

Dave Stockton, Infomail 1174, 22. Dezember 2021

Am 19. Dezember 2021 besiegte Gabriel Boric in der zweiten Runde der chilenischen Präsidentschaftswahlen José Antonio Kast und erhielt 55,9 Prozent der Stimmen. Die Wahlbeteiligung war mit 55,6 Prozent die höchste seit Abschaffung der Wahlpflicht im Jahr 2012.

Offensichtlich hat die Drohung eines chilenischen Bolsonaro die fortschrittlichen WählerInnen mobilisiert. Die Wahlbeteiligung lag um 1,2 Millionen höher als im ersten Wahlgang, um den Verfechter einer Diktatur im Stile Pinochets und einer neoliberalen Verarmung zu besiegen. Obwohl die liberale bürgerliche Mitte bei der Wahl zerschlagen wurde, ist die Behauptung der bürgerlichen Medien, es handele sich um einen Kampf zwischen zwei Extremen, falsch. Im Fall von Kast gab es zwar ein Extrem, aber Boric ist in Wirklichkeit ein ziemlich „demokratischer Sozialist“ der Mitte, wenn auch ohne Parteibuch.

Dennoch war es völlig richtig, dass praktisch alle Linken für Boric gestimmt haben. Sie haben nicht nur den Aufstieg eines aggressiven Rechten an die Macht verhindert, sondern sie werden auch Boric selbst an der Regierung auf die Probe stellen. Die Stärkung der Moral und des Vertrauens seiner AnhängerInnen wird die besten Voraussetzungen für die Erneuerung der Massenmobilisierung für fortschrittliche wirtschaftliche und politische Forderungen schaffen, die zweifellos notwendig sein wird.

Lehren der Vergangenheit

Das bedeutet, nicht darauf zu warten, dass Boric über das Tempo der Umsetzung seines Programms entscheidet, und schon gar nicht, die Kompromisse zu akzeptieren, die wir von ihm gegenüber der Rechten anzubieten erwarten können. Es bedeutet, die Bewegung der ArbeiterInnenklasse und Jugend aufzubauen und zu organisieren, die seit 2019 in großer Zahl auf die Straße gegangen ist und die Grundlage für die Abschaffung der Pinochet-Verfassung und die Wahl eines jungen „Linken“ gelegt hat.

ChilenInnen, die sich an die Präsidentschaft von Salvador Allende (3. November 1970 – 11. September 1973), die mit seiner Ermordung endete, und an die Diktatur Pinochets (1973 – 1990) erinnern können, wissen, dass die Wahl einer linken Regierung nicht das Ende der Geschichte oder den Beginn glücklicherer Tage bedeutet.

Diese Diktatur, die Kast regelmäßig lobt, war eine der blutigsten der 1970er Jahre. Mehr als 3.000 namentlich identifizierte Menschen wurden getötet oder verschwanden, rund 37.000 wurden verhaftet und unsäglichen Folterungen und Vergewaltigungen ausgesetzt, und 200.000 mussten ins Exil fliehen. Wie in Francos Spanien und Videlas Argentinien wurden Pinochet und seine MörderInnenriege nie vor Gericht gestellt, und aus demselben Grund unterstützten die Vereinigten Staaten und die westlichen Demokratien diese Regime weiterhin. Im Fall von Pinochet lag dies daran, dass er der erste war, der die neoliberale Politik der „Chicago Boys“ vollständig durchsetzte. Henry Kissinger (98), der Mann hinter dem Staatsstreich von 1973, ist noch am Leben und wird mit Ehrungen überhäuft, darunter dem Friedensnobelpreis.

Keine faulen Kompromisse!

Kasts 44 Prozent der Stimmen zeigen, dass diejenigen, die von der Diktatur profitierten, nicht verschwunden sind. Eine weitere, bleibende Hinterlassenschaft jener Jahre ist ein rechtsgerichteter Militär- und Polizeiapparat, der zweifellos bereit ist, jedes ernsthaft radikale Programm zu blockieren. Obwohl das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr 12 Prozent erreichen soll, nachdem es 2020 um 5,8 Prozent geschrumpft war, weist die OECD darauf hin, dass es sich dabei um einen kurzfristigen Schub durch ein umfangreiches Konjunkturpaket handelt, und erwartet, dass es bis 2023 auf nur 2 Prozent sinken wird. Es besteht kein Zweifel, dass sowohl das chilenische als auch ausländische Kapital bereits planen, wie sie nach der Wahl von Boric jegliche progressive Politik sabotieren können.

Es besteht jedoch die Gefahr, dass Boric den Weg der Annäherung an die AnhängerInnen von Kast beschreitet, um die Kluft zwischen „den“ ChilenInnen zu überwinden überwinden. Der Preis für einen solchen faulen Klassenkompromiss wird darin bestehen, dass er alle radikalen Elemente seines Programms fallen lässt, insbesondere die Besteuerung der reicheren Teile der Bevölkerung, um sinnvolle Sozialreformen zu finanzieren. Dies könnte die Massenbewegungen demoralisieren und demobilisieren, wenn es keine konzertierte Opposition der Gewerkschaften und der Linken gibt.

Sollte er jedoch ernsthafte Reformen anstreben, ist mit Sabotage und Störungen seitens der chilenischen Führungsschicht im Kongress und im Wirtschaftsleben zu rechnen. Die USA und ihre willfährigen internationalen HelferInnen wie der IWF werden Boric der Menschenrechtsverletzungen und der Diktatur beschuldigen. Obwohl Chile über eine relativ fortschrittliche Wirtschaft verfügt und einst als „älteste Demokratie Lateinamerikas“ bezeichnet wurde, bleibt es dennoch eine Halbkolonie, die Sanktionen und Blockaden ausgesetzt sein könnte, sollte es versucht sein, den „bolivarischen“ Weg eines Chávez oder Morales einzuschlagen.

Die chilenische Linke und alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte, die für Boric gestimmt haben, müssen sich erneut auf der Straße und am Arbeitsplatz mobilisieren, ihre eigenen Forderungen erheben und auf alles gefasst sein, was ihre FeindInnen vorbringen. Mehr noch, die junge Linke muss sich auf das radikale, ja revolutionäre Vermächtnis des 20. Jahrhunderts besinnen und sich von den kompromittierenden und pazifistischen Traditionen des „demokratischen Sozialismus“, dem Boric nahesteht, lösen. Die chilenischen KapitalistInnen, bewaffnet mit ihren Militär- und Polizeikräften und, hinter ihnen stehend, der CIA, sind echte TigerInnen, die sich nicht friedlich durch Wahlmandate und bürgerliche Demokratie ihrer Zähne und Krallen berauben lassen.