Ver.di: Die nächste Tarifrunde in den Sand gesetzt

Helga Müller/Mattis Molde, Neue Internationale 261, Dezember 2021/Januar 2022

Nachdem die öffentlichen Arbeit„geber“Innen auch bei der zweiten Verhandlung Anfang November 2021 kein Angebot gemacht hatten und der niedersächsische Verhandlungsleiter noch davon redete, dass die Forderungen von ver.di nicht umsetzbar seien aufgrund der hohen Verschuldung durch die Ausgaben gegen die Corona-Krise, kam es nun nach zähen Verhandlungen am 27. und 28. November zu einem Ergebnis.

In der Vorwoche mobilisierten sich noch Zehntausende von KollegInnen in mehrtägigen Warnstreiks, kämpferischen Demonstrationen und Kundgebungen. Vor allem die Beschäftigten aus den Unikliniken machten sich Luft über die arrogante Haltung des Verhandlungsführers der Länder, der den mittlerweile Jahrzehnte andauernden Pflegenotstand einfach negierte und von einem vorübergehenden „Engpass“ bei den Pflegekräften sprach, der auf die stark ansteigende vierte Coronawelle zurückzuführen sei.

Ob das Ergebnis tatsächlich den öffentlichen Dienst nun für junge Menschen attraktiver macht  – insbesondere für den Gesundheitsbereich –, vor allem aber die Inflationsrate ausgleicht und somit verhindert, dass die Krise auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen wird, darf bezweifelt werden. Ver.di-Vorsitzender und -Verhandlungsführer Frank Werneke hatte ja noch vor den Verhandlungen davon gesprochen, dass eine Erhöhung der Gehälter der Pflegekräfte um mindestens 300 Euro bei einer Laufzeit von einem Jahr eine von anderen Punkten sei, um den Beruf wieder attraktiver zu gestalten – auch für KollegInnen, die aufgrund der Überlastung in Teilzeit gingen oder den Beruf ganz verlassen haben.

Das Ergebnis in Zahlen

  • Ab 1. Dezember 2022 Erhöhung der Gehälter (tabellenwirksam) um 2,8 Prozent.
  • Die Beschäftigten im Gesundheitsbereich bekommen ab 1. Januar 2022 mehr Geld durch Erhöhungen der Zulagen: Beispielsweise wird an den Unikliniken die Intensiv- und Infektionszulage von 90 auf 150 Euro erhöht und steigt damit um bis zu 67 Prozent. Das Tarifergebnis bringt etwa für eine Intensivpflegekraft eine durchschnittliche monatliche Einkommenssteigerung von 230 Euro,
  • für PhysiotherapeutInnen von durchschnittlich mehr als 180 Euro,
  • für Beschäftigte in Laborberufen ebenfalls von mehr als 220 Euro (Angaben nach ver.di).
  • Auch der Geltungsbereich der allgemeinen Pflegezulage wurde erweitert: Unter anderem erhalten  LogopädInnen, DiätassistentInnen oder medizinische Fachangestellte die Hälfte der Zulage, also 70 Euro pro Monat.
  • Anfang nächsten Jahres Auszahlung einer steuerfreien Einmalzahlung von 1300 Euro – also nicht tabellenwirksam.
  • Auszubildende, PraktikantInnen und Studierende erhalten zur gleichen Zeit 650 Euro steuerfrei.
  • Die Entgelte von Auszubildenden, PraktikantInnen und Studierenden werden ab Dezember 2022 um 50 Euro und im Gesundheitswesen um 70 Euro angehoben.
  • Die Übernahmeregelung für Auszubildende wird wieder in Kraft gesetzt.
  • Der Tarifabschluss hat eine Laufzeit von 24 Monaten (sie endet am 30.09.2023).

Kritik und Schönfärberei

Werneke selbst bezeichnete die Entgeltsteigerung von 2,8 Prozent als „absolut nicht befriedigend“. Gleichzeitig wurde dies in der ersten Stellungnahme von ver.di wieder relativiert: „Mit der steuerfreien Einmalzahlung von 1.300 Euro, der bereits für April 2021 vereinbarten Lohnerhöhung von 1,4 Prozent und den weiteren 2,8 Prozent ab 1. Dezember 2022 wird die Inflation in 2021 und 2022 ausgeglichen werden. Das statistische Bundesamt prognostiziert sie derzeit auf 2,5 Prozent.“

Diese Aussage sorgte für großen Ärger unter den aktiven Mitgliedern. Denn hier wurde mal wieder getrickst und gelogen.

1. Bezüglich der Inflationsrate lauten die Prognosen des Bundesamtes für Statistik: 3 % für dieses und 2,5 % für nächstes Jahr – tatsächlich kann sie natürlich ganz aus dem Ruder laufen. Denn dieses Jahr beträgt sie nur deshalb 3 %, weil sie in der ersten Jahreshälfte niedriger ausfiel, in der zweiten sich aber der 5 % annäherte.

2. Im April 2021 wurden nicht die Bezüge der Länderbeschäftigten um 1,4 % erhöht, sondern derer im TVöD (Bund und Kommunen). Der TVöD-L sah eine Erhöhung um 1,29 % ab 1.1.21 vor.

Insgesamt bringt dieser Abschluss nicht einmal einen Inflationsausgleich, sondern schreibt eine Reallohnsenkung fest.

Die Gehaltstabelle des TVöD-L lief am 30. 9. 21 aus. Die neue läuft 24 Monate bis zum 30.9.2023. In dieser Zeit gibt es eine einzige tabellenwirksame Erhöhung, nämlich 2,8 %, und diese erst gegen Ende der Laufzeit ab 1.12.2022. Das heißt: Fast 2 Jahre (23 Monate) bleibt das tabellenwirksame Gehaltsniveau bei +1,29 %, während das Preisniveau im selben Zeitraum (nach äußerst moderaten Prognosen) um mindestens 5,5 % steigt.

Nun kommt noch die Einmalzahlung von 1300 Euro hinzu. Bezogen auf den gleichen Zeitraum von 23 Monaten ergibt diese rund 57 Euro im Monat.

Für Eingangsstufe EG1 machen diese 57 Euro nur plus 2,45 % aus. Mit den 1,29 % vom Anfang dieses Jahres wären dies 3,74 %, also mitnichten ein Inflationsausgleich. In den Einkommensgruppen um die 4 500 Euro brutto, in denen z. B. die meisten Lehrkräfte eingruppiert sein dürften, machen die 57 Euro gerade 1,26 % mehr aus.

Also: Selbst in der untersten Eingruppierungsstufe ergeben Einmalzahlung und prozentuale Erhöhung zusammen für die Jahre 2021 und 2022 keinen Inflationsausgleich, erst recht nicht in den Einkommensgruppen, die für die meisten Beschäftigten gelten.

Angriff abgewehrt?

Zwar konnte tatsächlich der zentrale Angriff der öffentlichen Arbeit„geber“Innen der Länder auf  die Eingruppierungsregeln, den so genannten Arbeitsvorgang, zurückgeschlagen werden – dank der Mobilisierung der KollegInnen. Aber nachdem solche „abgewehrten Angriffe“ in den letzten Jahren regelmäßig bei Tarifrunden auftauchen – ob Metall, Handel oder öffentlicher Dienst – drängt sich die Frage auf, ob diese nicht inzwischen Teil des Tarifrituals geworden sind. So können die miesen Abschlüsse immer noch unter dem Motto „Wir haben Schlimmeres verhindert“ verkauft werden.

Pflege

Wie in der Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Gemeinden und des Bundes sind auch hier die Pflegekräfte besser bezahlt worden: Auch wenn „das Ergebnis ein weiterer Zwischenschritt auf unserem Weg zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen [ist]. Das werden wir in zukünftigen Tarifrunden fortsetzen“, wie Werneke in der ver.di-Stellungnahme betonte, so ist das in der Realität auch ein weiterer Schritt der Ausdifferenzierung der Gehälter und letzten Endes der Spaltung innerhalb der Belegschaft im öffentlichen Dienst. Es ist unbestritten, dass die Pflegekräfte seit Jahren schlecht bezahlt werden und dies mit einen Grund dafür darstellt, dass viele den Job verlassen und von daher eine entsprechende Gehaltserhöhung seit Jahren ansteht, so darf es eine weitere Ausdifferenzierung nicht geben. Gerade für die Tarifauseinandersetzung bei den Ländern, wo die Kampfbereitschaft nicht sehr hoch ist – wie die Gegenseite sehr wohl weiß –, birgt das die Gefahr, dass die Kampfkraft noch mehr unterhöhlt wird. Zudem liefert die Gehaltsfrage nur einen Grund für die Flucht aus dem Pflegeberuf. Wichtiger sind tatsächlich die Arbeitsbedingungen, was die Forderung nach mehr Personal entsprechend dem Bedarf und einer massiven Arbeitszeitverkürzung einschließt. Auch wenn Werneke von weiteren Verbesserungen für die Pflegekräfte redet, bleibt die Frage offen, ob es zu einer gemeinsamen Entlastungskampagne aller Unikliniken bundesweit für mehr Personal und einen Tarifvertrag Entlastung kommen wird – wie ver.di es noch vor der Tarifrunde in Aussicht gestellt hatte. In einigen Bundesländern scheint es diesbezüglich Vorbereitungen zu geben, aber ob eine einheitliche bundesweite Auseinandersetzung vom Zaun gebrochen wird – was dringend notwendig wäre, um die Kampfkraft zu erhöhen und auch die Möglichkeit zu eröffnen, dass auch Soliaktionen der arbeitenden Bevölkerung zustande kommen –, ist doch eher unwahrscheinlich.

Bilanz

Statt durch diese Regelung, die für die Masse Reallohnverlust bedeutet und gleichzeitig bestimmte Gruppen besserstellt, die Einheit der Beschäftigten zu untergraben, hätte ver.di die Kampfkraft im Gesundheitswesen und auch bei einer anderen „systemrelevanten“ Gruppe, den angestellten LehrerInnen, nutzen können, um deutlich mehr herauszuholen. Die durch den TVöDL bezahlten Beschäftigten sind nicht besonders kampfstark. Obwohl 1,1 Millionen diesem Tarifvertrag unterliegen, sind viele davon kaum gewerkschaftlich organisiert und auch nicht die kämpferischsten. Die Mobilisierungen in dieser Tarifrunde, bei denen sich die Beschäftigten der Unikliniken und der angestellten LehrerInnen hervorgetan haben, fielen aber durchaus besser aus als zu früheren Zeiten. Es hätte ein Aufbruch auch für diese Sektoren werden können. Das miese Ergebnis und die Spaltung im Abschluss verhindern auch dies.

Betriebsgruppen, Gremien auf allen Ebenen sollten mit Resolutionen das Ergebnis und die Schönrederei kritisieren. Da es keinen Streik gab, gibt es auch keine Urabstimmung und es wird schwer sein, eine solche durchzusetzen. Wohl aber sollten auf allen Ebenen Voten verlangt werden.

Die Aufforderung an die Tarifkommission, das Ergebnis nicht anzunehmen, ist dabei eher symbolisch und nur sinnvoll in Verbindung mit Schritten, die das entsprechende Gremium auch machen kann. Sie sollten eine solche Ablehnung mit der Frage verbunden werden, wie die Krise und die Pandemie bekämpft werden können.

Nach den Niederlagen bei der Tarifrunde TVöD vor gut einem Jahr und bei der Metall- und Elektroindustrie, bei Stahl und Handel und den vielen kleineren Runden, ist klar, dass die Gewerkschaftsbürokratie ihren Teil dazu beiträgt, dass die ArbeiterInnenklasse für Krise und Pandemie zahlen soll. Ganz im Einklang mit der Politik der alten und neuen Regierung, die auf Steuererhöhungen für die Reichen verzichten und die Umverteilung von unten nach oben fortsetzen will, werden die Arbeitenden zur Kasse gebeten.

Die Kampfkraft in Tarifkämpfen wird verschenkt, wenn es nicht gelingt, in den Gewerkschaften oppositionelle Gruppen und Strömungen aufzubauen, die gegen die Politik der Bürokratie vorgehen, für die Weltmarktstellung der deutschen Konzerne und die politischen Ambitionen des deutschen Imperialismus wichtiger sind als die Lage der arbeitenden Klasse. Sie wird verschenkt, wenn die Zehntausenden, die sich in den Tarifrunden engagieren, nicht verstehen, dass der Kampf auch politisch geführt werden muss, eine umfassende Bewegung gegen die Abwälzung der Krise ansteht. Uns zwar ab jetzt.