Tarifrunde Öffentlicher Dienst: Gebt uns fünf!

Christian Gebhardt, Neue Internationale 260, November 2021

Gebt uns fünf! So lautet eine Forderung der derzeit laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder: 5 % mehr Lohn, mindestens 150 Euro und eine Laufzeit von einem Jahr. Zusätzlich zu diesen Hauptpunkten fordern die beteiligten Gewerkschaften – allen voran die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di – 100 Euro mehr für alle Auszubildenden, eine Höhergruppierung der Beschäftigten sowie einen Tarifvertrag für studentische Beschäftigte neben besseren Arbeitsbedingungen für prekär beschäftigte Hochschulangestellte.

Klingen 5 % mehr Lohn bei einer Tariflaufzeit von einem Jahr zunächst einmal sehr radikal, vergeht einem das Lachen innerhalb von Minuten, wenn man dies mit der aktuellen Inflation von über 4 % vergleicht. Gleichzeitig steht natürlich wie bei jeder Tarifverhandlung auch noch die Frage im Raum, ob es überhaupt zu einem Abschluss von 5 % kommt oder  die Gewerkschaften Kompromisse eingehen und entweder bei der Frage der Prozente zurückschrauben oder die Vertragslaufzeit verlängern werden.

Gerade für die unteren Lohngruppen spielt der finanzielle Aspekt eine zentrale Rolle. Schon in den letzten Jahren blieben große Teile des öffentlichen Dienstes mehr und mehr hinter der allgemeinen Einkommensentwicklung zurück. Die Preissteigerung lebensnotwendiger Güter wie Wohnung, Heizung und Strom liegt zudem noch deutlich über der Inflationsrate, sodass eigentlich 5 % längst nicht genug sind, um die Kaufkraft zu halten. In Anbetracht dieser Fakten müsste eigentlich ein Plus von 8 – 10 % gefordert werden.

Führung der Kampagne

Dabei ist der finanzielle Aspekt der Tarifrunde für viele KollegInnen längst nicht das einzige, für manche nicht einmal das drängendste Problem.

Die KollegInnen im öffentlichen Dienst – vom Gesundheitswesen, über Verwaltungen bis hin zum Bildungswesen stehen angesichts der Inflation voll hinter den monetären Forderungen. Jedoch spielen die Fragen des Gesundheitsschutzes, der weiteren Strategie der Pandemiebekämpfung, der Arbeitsüberlastung und des Personalmangels eine zentrale, wenn nicht die entscheidende Rolle im Alltagsgeschäft – und faktisch keine in der Tarifrunde.

Die ersten zaghaften Mobilisierungen der LehrerInnen in Berlin rund um die Initiative „Tarifvertrag Gesundheit“ sowie die lang anhaltenden Arbeitskämpfe in den Berliner Krankenhäusern haben gezeigt, dass diese Themen den Beschäftigten wichtig sind und sich auch darum mobilisieren lässt. Warum wurde dies aber nicht zum bundesweiten Fokus der derzeitigen Tarifverhandlungen gemacht bzw. lokal in die Kampagne integriert? Wieso hält sich die Berliner GEW derzeit mit ihrer Mobilisierung rund um ihre Forderungen nach einem „Tarifvertrag Gesundheit“ zurück und verschiebt weitere Aktionen ins nächste Jahr?

Das Argument der Gewerkschaftsführungen lautet hier, dass Forderungen nach Gesundheitsschutz in dieser Tarifrunde nicht verhandlungsfähig wären, d. h. diese „Punkte“ würden derzeit nicht zur Diskussion auf dem Tisch liegen. Hier wird aber gerne vergessen, dass es auch die Gewerkschaftsführungen sind, die die Diskussionspunkte und Schwerpunkte beschließen. Somit könnten sie auch Gesundheitsfragen auf die Tagesordnung setzen und zum Fokus dieser Verhandlungsrunde erklären.

Ein solcher zusätzlicher Schwerpunkt der Verhandlungsrunde würde aber bedeuten, dass die Gewerkschaftsführungen mit ihrer derzeitigen Strategie im Umgang mit der Pandemie brechen müssten: die Ausfüllung ihrer Rolle als stillhaltende SozialpartnerInnen! Hierbei stellen sie sich eng an die Seite der Regierung sowie des Kapitals und malen das Bild einer gemeinsam notwendigen Anstrengung, um die Coronapandemie zu überwinden. Dies bedeutete für die Beschäftigten letztes Jahr absolute Passivität auf der Straße, Nullrunde, erhöhten Arbeitsaufwand bzw. Mehrarbeit im Beruf und gesundheitlich unsichere Arbeitsbedingungen. Jetzt, wo die Regierung den pandemischen Notstand für beendet erklärt, zeigt sich das Fatale der SozialpartnerInnenschaft erneut. Die Beschäftigten müssen sie in Form erhöhter Gesundheitsrisiken und zusätzlicher Belastung nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in den Kitas oder Schulen ausbaden.

Die Gewerkschaftsspitzen wiederum sind nicht daran interessiert, diese Strategie aktiv zu ändern. Ein Ausdruck dessen ist hier das Ausklammern der Arbeits- bzw. Gesundheitsschutzfragen in der laufenden Tarifrunde.

Die GEW

Exemplarisch lässt sich dies am Verhalten der GEW erkennen. Sie stellt während der Tarifverhandlungen die kleine Partnerin neben der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di dar, welche auch den Verhandlungsvorsitz innehat. Ver.di gibt somit den Ton vor und die anderen Gewerkschaften haben sich daran zu orientieren. Dies wird innerhalb der GEW gerne als Ausrede verwendet, um ihre Inaktivität damit zu begründen, dass ver.di alles vorgibt und sie selbst „nichts zu sagen hätte“. Aber auch hier muss wieder kritisch die Frage gestellt werden: „Warum tritt die Gewerkschaftsführung der GEW nicht aktiver auf?“

Ihre oben schon angesprochene Initiative in Berlin „Tarifvertrag Gesundheit“ wäre eine gute Möglichkeit, um sich nicht nur als aktive Gewerkschaft während der Tarifverhandlungen darzustellen, sondern auch ein Thema zu besetzen, welches den Beschäftigten wichtig ist und um das auch größere Mobilisierungen durchgeführt werden könnten. Auch wenn der Punkt „Gesundheit“ in den Tarifverhandlungen nicht „auf dem Tisch liegt“, könnte die GEW dies als „Begleitmusik“ ihrer Tarifkampagne in den Fokus stellen und die beiden Themenkomplexe wirtschaftliche Forderungen und Gesundheitsschutz miteinander verbinden. Sie könnte es nicht nur in Berlin zur Mobilisierung nutzen, sondern auch Solidaritätsaktionen für die Berliner Initiative in weiteren Bundesländern fördern, um den Berliner KollegInnen solidarisch bei ihrem Kampf um den „Tarifvertrag Gesundheit“ zur Seite zu stehen, wie auch eine Debatte in anderen GEW-Landesverbänden zu diesem Thema anstoßen und einen Vorstoß „Tarifverträge Gesundheit“ auf Bundesebene lancieren.

Eine solche Initiative müsste, ja dürfte sich nicht nur auf die GEW begrenzen, sondern sollte innerhalb der DGB-Gewerkschaften auf Bundesebene kommuniziert und vorbereitet werden. Hierfür könnten ebenfalls die derzeitigen Tarifverhandlungen genutzt werden, um die Debatte unter den KollegInnen verschiedener Gewerkschaften zu organisieren und zu strukturieren.

Digitale Kampagne?

In den Jahren seit dem Ausbruch der Pandemie spielten aber nicht nur das Thema Gesundheitsschutz eine wichtige Rolle im Arbeitsalltag der KollegInnen, sondern auch die Frage, ob Aktionen auf der Straße überhaupt legitim sind und wir uns nicht eher nur im digitalen Rahmen aufhalten sollten. Wie die katastrophale Fehlentscheidung der Gewerkschaften, die Erster-Mai-Mobilisierungen 2019 nicht stattfinden zu lassen, gezeigt hat, ist eine aktive Mitgliedschaft auf der Straße von großer Bedeutung. Wie wird aber die derzeitige Tarifkampagne geführt? Kurz gesagt: Altbekannte Tarifrituale werden mit Onlinekampagnen garniert!

Als Beispiel kann hier wieder die GEW dienen. Anstatt aktiv auf die Belegschaft zuzugehen und in Diskussionsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen die Tarifrunde zu verbreitern und führen, wird dafür eine externe Agentur engagiert. Anstatt dies in die Hände der KollegInnen zu legen, wird es der Berliner Agentur „Ballhaus West“ überlassen. Dadurch wird gewährleistet, dass die Gewerkschaftsführung politisch die Kontrolle über die Kampagne behält und die Schwerpunkte vorgeben kann. Dass eine solche von oben aufgestülpte „Mobilmachung“  von den KollegInnen nicht angenommen wird, zeigt auch eindrücklich die Resonanz auf die Onlinekampagne der GEW in den „sozialen“ Medien. Bis zum 30.10.21 haben sich gerade einmal 393 AbonnentInnen in den Telegram-Informationskanal der GEW für die laufende Tarifrunde verirrt. Eine aktive Beteiligung der Belegschaft bundesweit wie auch eine Mitgestaltung dieser sieht anders aus.

Raus auf die Straße – Aufbau von Streikkomitees!

Den obigen Punkten wird als Argument schnell entgegengebracht: „Wie sollen sich denn die VerhandlungsführerInnen neben den Verhandlungen auch noch um das alles kümmern?“ Wir würden entgegnen: „Das müssen sie gar nicht! Es müssen Basisstrukturen in den jeweiligen Betrieben, Einrichtungen und Verwaltungen aufgebaut werden.“ Diese könnten nicht nur Streikmobilisierungen für die derzeit laufenden Tarifverhandlungen unterstützen, vorbereiten und durchführen, sondern auch Solidaritätsarbeit mit der Bevölkerung entfachen, Gespräche mit betroffenen Menschen wie z. B. Eltern oder PatientInnen führen. Man darf sich ruhig ein Beispiel an der vorbildlichen Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Krankenhausstreik nehmen, der zeigte, wo’s langgehen kann.

Gleichzeitig könnten solche, den Mitgliedern verantwortliche und von diesen gewählte  Streikkomitees auch den Kontakt zu KollegInnen unterschiedlicher Gewerkschaften innerhalb eines Betriebes bzw. einer Bildungseinrichtung aber auch darüber hinaus organisieren. So könnten Themenfelder und Forderungen gemeinsam erarbeitet werden, um mobilisierungsstark und dynamisch die Tarifrunde zu führen.

Eins ist klar: Die 5 % werden auch nur durch eine starke Gewerkschaft auf der Straße und durch einen massiven, bundesweiten und unbefristeten Streik durchgesetzt werden können, ganz zu schweigen von anderen Forderungen wie nach besserem Gesundheitsschutz.

Daher müssen kämpferische GewerkschafterInnen, Basisversammlungen, Betriebsgruppen und andere gewerkschaftliche Strukturen auch dafür kämpfen, dass es keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, keine Geheimabsprachen mit den Arbeit„geber“Innen gibt. Die Verhandlungen sollten vielmehr öffentlich übertragen werden.

Zweitens sollten die Gewerkschaften zur Kenntnis nehmen, dass es ohne große Mobilisierung keinen Abschluss geben kann, der die Löhne auch nur sichert. Ver.di und GEW sollten daher so rasch wie möglich die Verhandlungen für gescheitert erklären und die Urabstimmung einleiten.

Belegschaftsversammlungen, Wahl und Abwählbarkeit von Tarifkommission und Streikkomitees sind dabei unerlässlich, um den Kampf zu organisieren und demokratisch zu kontrollieren; um sicherzustellen, dass am Ende keine faulen Kompromisse, sondern Abschlüsse herauskommen, die die Lage der Beschäftigten verbessern und deren Kampfkraft stärken.