China: Was heißt „Lehman“ auf Chinesisch?

Peter Main, Infomail 1167, 19. Oktober 2021

Nun, eine genaue Übersetzung gibt es nicht, aber vielleicht wäre „Evergrande“ eine gute Entsprechung. So wie Lehman Brothers einst als Unternehmenssymbol für den nicht enden wollenden Boom der Globalisierung galt, so stand Evergrande, ein Immobilienentwickler und keine Bank, einst als Unternehmenssymbol für den ständig wachsenden Reichtum Chinas seit der Restauration des Kapitalismus.

Und wie bei Lehman Brothers hat sich gezeigt, dass die Symbolik auf Bergen von Schulden beruht, die nicht zurückgezahlt werden können. Innerhalb der nächsten zwei Jahre sollte Evergrande Auslandsanleihen im Wert von rund 11,9 Mrd. US-Dollar rückerstatten. Am 23. September sollte das Unternehmen 83,5 Mio. US-Dollar an Zinsen für eine Anleihe zahlen, was jedoch nicht geschah. Am 29. September waren weitere 45,2 Mio. US-Dollar für eine andere Anleihe fällig, die ebenfalls nicht beglichen wurden. Infolgedessen obliegt Evergrande nun eine 30-tägige „Gnadenfrist“, bevor das Unternehmen für zahlungsunfähig erklärt wird.

Noch schlimmer sind die Schulden bei chinesischen GläubigerInnen, die auf 310 Milliarden US-Dollar geschätzt werden. Früher sagte man, wenn man einer Bank 1 Million US-Dollar schuldet, hat man ein großes Problem, aber wenn man bei einer Bank mit 100 Millionen US-Dollar im Soll steht, hat die Bank ein großes Problem – und 350 Milliarden US-Dollar … ?

Implikationen

Die Bedeutung von Evergrande liegt nicht nur darin, dass es sich um ein riesiges Unternehmen handelt, das wahrscheinlich in Konkurs gehen wird. Es ist bei weitem nicht der einzige Immobilienentwickler, der mit demselben Problem konfrontiert ist. Im vergangenen Jahr hatte Country Garden Holdings den höchsten Umsatz in der Branche, sein Verhältnis von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten liegt bei 78,5 Prozent und damit weit über dem von der Regierung festgelegten Grenzwert. Nach Angaben von Morgan Stanley hat der Immobiliensektor insgesamt Schulden in Höhe von 2,8 Billionen US-Dollar und macht etwa 30 Prozent des BIP aus. Die Auswirkungen des möglichen Zusammenbruchs von Evergrande gehen jedoch tiefer, als selbst diese Zahlen vermuten lassen.

In vielerlei Hinsicht ist das Unternehmen ein Produkt des gesamten Wirtschaftsmodells Chinas seit der Wiederherstellung des Kapitalismus. Es wurde 1996 von Hui Ka Yan (Xu Jiayin), einem Metallarbeiter, gegründet, um die neuen Möglichkeiten zu nutzen, die sich durch die Abschaffung der Planwirtschaft eröffneten. Zuvor basierten die Ausgaben der Kommunalverwaltungen auf zentral zugewiesenen Zuschüssen. Als diese abgeschafft wurden, begannen die Kommunalverwaltungen, durch den Verkauf von Grundstücken an Bauträger Geld zu beschaffen.

Angesichts des Ausmaßes der Verstädterung, als Hunderte von Millionen Menschen in die schnell wachsenden Städte strömten, war die Aufnahme von Krediten zum Kauf von Grundstücken, auf denen sowohl Industrie als auch Wohnungen gebaut werden sollten, nicht nur lukrativ, sondern auch politisch vorteilhaft. Die Beziehungen zwischen der lokalen Regierung, den Bauträgern und den örtlichen, staatseigenen Banken blühten auf, und die Verträge wurden natürlich von den lokalen FunktionärInnen der Kommunistischen Partei beaufsichtigt. Was konnte da schon schiefgehen?

Zwanzig Jahre lang lief aus Sicht von Hui nichts schief. Nach der Finanzkrise von 2008/9, als China sein riesiges Ausgabenprogramm startete, hätte es kaum besser laufen können. Im Jahr 2015 wurde sein Vermögen auf 45 Milliarden US-Dollar geschätzt und er wurde von den Großen und Mächtigen gefeiert. In jenem Jahr begleitete er Xi Jinping selbst auf seiner Reise nach London, wo er von Prinz Andrew im Buckingham Palace empfangen wurde – auch wenn er jetzt vielleicht nicht mehr auf diese besondere Liaison hinweisen würde.

Ironischer Weise wurde auch 2015 zum ersten Mal deutlich, was alles schiefgehen kann. Ein Zusammenbruch der Börse in Shanghai offenbarte die Kluft zwischen der Bewertung vieler Unternehmen und ihrem tatsächlichen Vermögen. (Mehr dazu unter: https://fifthinternational.org/content/china-free-market-not-going-according-plan) Die unmittelbare Reaktion der Regierung, nämlich das Einfrieren aller Aktivitäten auf den Märkten, stellte die Stabilität recht schnell wieder her, aber danach wurden Regeln eingeführt, um das Wachstum der Schulden zu begrenzen, insbesondere durch die staatlichen Banken.

Dies hatte unmittelbare Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Bauträger, die sich nicht mehr auf die leichten Kredite der staatlichen Banken verlassen konnten, die das „Wachstum“ ungeachtet der finanziellen Tragfähigkeit finanzieren wollten. Stattdessen begannen Hui und andere wie er, getreu ihrem optimistischen Motto „Baut es und sie werden kommen“, Kapital für ihre Bauprojekte zu beschaffen, indem sie „außerhalb des Plans“ verkauften, d. h. Immobilien veräußerten, bevor sie gebaut wurden. Einem Bericht der französischen Investmentbank der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, Natixis, zufolge machen solche Finanzierungen inzwischen 54 Prozent der Immobilienentwicklung aus.

Rote Linien

Im Juli letzten Jahres führte die Regierung noch strengere Vorschriften ein, die als „drei rote Linien“ bezeichnet werden, um die Immobilienspekulation einzudämmen. Die „Linien“ beziehen sich auf die Begrenzung dreier Schlüsselkennzahlen, nämlich des Verhältnisses von Verbindlichkeiten zu Vermögenswerten, von Nettoverschuldung zu Eigenkapital und von Liquiditätsmitteln zu kurzfristigen Krediten. 14 der 30 größten Bauträger Chinas haben in den letzten Monaten mindestens eine dieser roten Linien überschritten.

Solche Verstöße haben gezeigt, dass der gesamte Sektor am Rande einer Krise steht. Zum einen kamen sie trotz des optimistischen Mottos jedoch nicht, und nun stehen in einigen Regionen derzeit rund 30 Millionen Wohnungen in China leer. Andererseits hat der Mangel an Finanzmitteln dazu geführt, dass die im Voraus bezahlten Wohnungen nicht gebaut wurden. Schätzungen zufolge hat Evergrande 1,6 Millionen Wohnungen nicht ausgeliefert.

In einem Interview mit der Financial Times bemerkte Jim Chanos, der dafür bekannt ist, den Zusammenbruch des Energiekonzerns Enron vorhergesagt zu haben: „In vielerlei Hinsicht muss man sich keine Sorgen machen, dass es sich um eine Situation wie bei Lehman handelt, aber in vielerlei Hinsicht ist es viel schlimmer, weil es symptomatisch für das gesamte Wirtschaftsmodell und die Schulden ist, die dahinter stehen. Alle Bauträger sehen so aus. Der gesamte chinesische Immobilienmarkt steht auf Stelzen.“

Hier liegt das Dilemma für die Regierung in Peking: Fast ein Drittel der heimischen Wirtschaft ist finanziell nicht lebensfähig. Hier geht es nicht darum, ob Hui Ka Yan zum Sündenbock gestempelt werden soll, sondern um ganze Industrien, um Vermögenswerte im Wert von Billionen von US-Dollar und um 1,6 Millionen Familien, die dachten, sie hätten ein Haus gekauft.

Wie die chinesische Regierung damit umgeht, bleibt abzuwarten. Die „Gnadenfrist“ endet am 23. Oktober. Wenn die Zinszahlungen nicht geleistet werden und Evergrande für zahlungsunfähig erklärt wird, sind die GläubigerInnen berechtigt, Vermögenswerte zu beschlagnahmen. Zuvor wird der Staat wahrscheinlich Maßnahmen zum Verkauf von Vermögenswerten, zur Umstrukturierung der Schulden und möglicherweise zur Aufteilung des Konglomerats in getrennte Geschäftsbereiche ergreifen, um lebensfähige Teile zu ermitteln. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Staat die Fertigstellung bereits verkaufter Projekte garantieren, um die soziale Stabilität zu gewährleisten. Er hat nunmehr branchenweite Regeln eingeführt, die vorschreiben, dass alle Einnahmen aus „Vorverkäufen“ separat unter lokaler Bankenaufsicht zu verbuchen sind.

Ansteckung

Auch wenn solche Notmaßnahmen die unmittelbaren Auswirkungen des Zusammenbruchs von Evergrande begrenzen mögen, so kann dies jedoch nicht ohne dramatische Folgen für den gesamten Immobilienentwicklungssektor bleiben, denn wie wir gesehen haben, sind auch andere Unternehmen von einem Ausfall bedroht. Da ihre Anleihen von anderen Unternehmen gehalten werden, die sie als Sicherheiten für ihre eigene Kreditaufnahme verwenden können, besteht die ernste Gefahr einer „Ansteckung“ über die säumigen SchuldnerInnen hinaus. Sicherlich werden viele GläubigerInnen einen Schnitt hinnehmen müssen, indem sie nur einen Prozentsatz ihrer fälligen Rückzahlungen akzeptieren. Vor allem ausländische InvestorInnen werden wahrscheinlich keine weiteren Kredite an Bauunternehmen in China vergeben.

Selbst wenn diese Maßnahmen ausreichen, um einen weitreichenden Zusammenbruch des gesamten Sektors zu verhindern, was nicht garantiert ist, wird die Schuldenkrise zweifellos starke Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen haben. Abgesehen von den unmittelbaren Folgen unvollendeter Projekte stellt dies die Politik in Frage, die für Chinas Wirtschaftswachstum insbesondere seit der Krise von 2008/9 von zentraler Bedeutung war: Investitionen in Infrastruktur und Bauwesen.

Viele ÖkonomInnen haben argumentiert, dass eine solche Änderung notwendig ist, und gefordert, den Schwerpunkt auf den Binnenkonsum zu verlagern, um die Wirtschaft „wieder ins Gleichgewicht“ zu bringen. Doch selbst wenn Xi und die Parteiführung dem zustimmen, wird es viele Interessengruppen geben, die sich dem widersetzen. Das stellt ein grundlegendes Problem für das gesamte politische Regime dar.

Xi selbst wurde erst nach einem langwierigen Fraktionskampf innerhalb der KP Chinas Präsident (siehe unsere Untersuchung dazu) und festigte in seiner ersten Amtszeit die Position seiner Fraktion durch eine Säuberung von GegnerInnen, wobei er den „Linken“ in der Partei den Vorzug gab, die sich gegen eine weitere Aushöhlung der staatlichen Kontrolle und Zugeständnisse an den Privatsektor aussprachen.

In seiner zweiten Amtszeit, seit 2017 und im Zuge der Finanzkrise von 2015, gab es dagegen mehrere hochkarätige Maßnahmen gegen einige der reichsten KapitalistInnen in China. So wurde beispielsweise nur wenige Tage vor dem Börsengang (öffentliches Gründungsangebot; IPO) von Jack Ma’s Ant Group an der Shenzhener Börse, bei dem die höchste IPO-Bewertung aller Zeiten erwartet wurde, die Börsennotierung staatlicherseits gestoppt. Ma, selbst Mitglied der KP Chinas und Milliardär, wurde monatelang nicht gesehen, hat die Entscheidung aber inzwischen akzeptiert.

Die Parteidisziplin ist zweifellos ein starker Faktor, und auch Repression kann sehr wirksam sein, aber die Nachwirkungen des Immobiliencrashs und die Aussicht auf eine grundlegende Änderung der Wirtschaftspolitik müssen innerhalb der Partei Konsequenzen tragen. Alte Fraktionen werden sich bestätigt fühlen, neue werden sich bilden. Es kann gar nicht anders sein, denn die Partei selbst hat „Geschäftsleute“ zum Beitritt ermutigt, und nach 30 Jahren des Aufbaus des Kapitalismus sind viele StaatsbeamtInnen, das Rückgrat der Partei, selbst in eine weitere kapitalistische Entwicklung verstrickt.

Es sind diese Spannungen und Widersprüche, die hinter dem zunehmend autoritären Regime in China stehen: die verstärkte Bevölkerungskontrolle durch Überwachungsprogramme, die mörderische Unterdrückung der UigurInnen in Xinjiang, das Vorgehen gegen demokratische Rechte in Hongkong, die kriegerische Behauptung, dass Taiwan unter chinesische Souveränität zurückkehren muss. Dies alles ist nicht mit der persönlichen Psychologie von Xi Jinping zu erklären, wie es oft dargestellt wird, sondern eine Vorbereitung auf stürmische Zeiten.