Mehr Personal – noch vor der Wahl!

Jürgen Roth, Infomail 1163, 16. September 2021

„Mehr Personal – noch vor der Wahl! TVöD – für alle an der Spree!“ Um 8 Uhr am Morgen des 16.9.2021 versammelten sich geschätzt 300 – 400 Streikende unter diesen lauthals skandierten Parolen vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Dieses historische Gebäude diente zu Kaisers Zeiten einem Teil des Preußischen Landtags als Sitz. Hier tagte auch der 1. Reichsrätekongress im Dezember 1918 und im dortigen Festsaal erfolgte die Gründung der KPD zur Jahreswende 2018/19. Nach einer kämpferischen Kundgebung und vielen Reden übers Megaphon zogen die Streikenden in einer kurzen Demonstration durch die Stadt.

Angebote?

Vivantes hat mittlerweile ein Angebot offeriert, das ver.di-Streikleiterin für den TVE (Tarifvertrag Entlastung), Meike Jäger, zwar als verhandelbar bezeichnete, es aber ablehnte, dafür den Streik auszusetzen. An diese Bedingung knüpft die kommunale Krankenhausführung jedoch die Aufnahme von Verhandlungen.

Nach 120 Tagen „Schweigen im Wald“ der „ArbeitgeberInnen“ bezeichnete Jäger dieses Junktim zu Recht als dreist. Das Angebot ist sehr vage gehalten. Man will Arbeits- und Ausbildungsbedingungen verbessern. Zu den gewerkschaftlichen Forderungen nach mehr Praxisanleitung für Azubis und personeller Mindestbesetzung bzw. Belastungsausgleich bei deren Unterschreitung findet sich kein Wort. Konkret ist nur vom Ende des Arbeitskräfteleasings die Rede. Das ist sicher begrüßenswert, weil die KollegInnen weniger Stress ausgesetzt sind, ständig neue Leute auf Station einzuweisen und anzulernen, und es sich gegen die Praxis der Leiharbeit richtet. Doch wenn diese Arbeitskräfte entfallen, droht die Gefahr, dass das Personal noch mehr zwischen verschiedenen Abteilungen umherspringen darf. Ohne verbindliche Personalbemessungsregelungen handelt es sich dabei also um einen vergifteten Köder.

Zum zweiten Thema neben Entlastung, der Angleichung der Einkommen und Bedingungen der Tochterunternehmen der beiden Klinikmütter (VSG im Fall von Vivantes und Labor Berlin auch bei der Charité), schlug Vivantes eine Angleichung bis 2028 (!) unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Situation der Häuser vor. Also wenig mehr als nichts. Auch nichts dazu, wie hoch Zulagen, Zuschläge und Weihnachtsgeld und die Angleichungsschritte in den Tabellen ausfallen sollen. Nichtsdestotrotz bietet ver.di am kommenden Samstag, wenn bei VSG/Labor Berlin nicht gestreikt wird, Verhandlungen an. Sollte man an diesem Tag vorwärtskommen, steht eine Aussetzung des Streiks für folgenden Montag im Raum.

Streik und Notfallversorgung

Seit Beginn der unbefristeten Arbeitsniederlegung laufen täglich neue Streikmeldungen aus verschiedenen Standorten beider Häuser ein, so dass sich mehr KollegInnen als erwartet beteiligen wollen. Ver.di sah sich gezwungen, bei Vivantes etliche wieder auf die Stationen und in die Funktionsabteilungen zurückzuschicken, da noch immer PatientInnen dort weilten bzw. neue aufgenommen wurden. Bei der Charité lief das Ganze gesitteter ab. Dort liegen seit 2015 genügend Erfahrungen mit dem Umgang solcher Situationen vor. Außerdem eskalierte Vivantes und beklagte laxes Umgehen mit der Notdienstabsicherung. Lt. Jäger stimmt das nicht. Zusätzliche KollegInnen aus Reihen der Streikwilligen würden abgestellt, wenn sie gebraucht würden.

Sie wies darauf hin, dass ihre Gewerkschaft deshalb eine Notdienstvereinbarung vorgelegt habe, die zu unterzeichnen aber die „ArbeitgeberInnen“ sich geweigert haben. Zudem warf sie die Frage auf, wieso solche Fälle in der Clearingstelle nicht schon geklärt wurden, bevor es zu solchen Engpässen kommen konnte. Ver.di könne belegen, wie viele Rettungsstellen wegen Personalmangels abgemeldet wurden und dass die Klinikleitung überdramatisiere, wenn sie von streikbedingter Gefährdung der Notfallversorgung in der Stadt spreche.

Wie weiter?

Der Streik bei Charité und Vivantes hat in der letzten Woche eine beachtliche Dynamik entwickelt. Das ist auch der Grund, warum die Klinikleitungen jetzt notdürftige Angebote aus dem Hut zaubern.

Es ist klar: Sie wollen dem Druck der Arbeitsniederlegung ausweichen und ihn brechen, um so zu verhindern, dass noch mehr Beschäftige ver.di beitreten und die Streikfront ausgeweitet wird. Darüber hinaus haben sich Einschüchterung und Repression gegenüber den Kämpfenden als Rohrkrepierer erwiesen. Statt den Streik zu brechen, trugen sie dazu bei, Wut und Entschlossenheit, aber auch Organisiertheit, Selbstbewusstsein und politische Klarheit zu steigern.

Daher auch das Junktim, dass der Streik für Verhandlungen „ausgesetzt“, also unterbrochen werden soll. Die Beschäftigten und die Streikleitungen sind gut beraten, das zurückzuweisen. Die Erfahrung zeigt, dass sich Arbeitskampfbewegungen nicht einfach „aussetzen“ und dann wieder anwerfen lassen. Vielmehr sollten die aktuelle Dynamik und die Woche vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus noch genutzt werden, um den Arbeitskampf weiter hochzufahren, um die Tarifrunde Entlastung und den Kampf bei den Töchtergesellschaften zeitgleich und koordiniert zu führen. Daher: Nein zum etwaigen Aussetzen des Arbeitskampfes! Darüber entscheiden sollen nicht Tarifkommissionen und Streikleitungen, sondern die Streikenden selbst!

Die Verhandlungen mit Vivantes und Charité sollten dabei nicht hinter verschlossenen Türen geführt werden, sondern öffentlich. So können sie alle Beschäftigen und die gesamte Öffentlichkeit direkt verfolgen, so können sie sich selbst ein Bild von den Angeboten von Vivantes und Charité machen. So können die Kämpfenden ihre Verhandlungskommission effektiv kontrollieren und starkmachen, damit sie nicht schwach wird. Denn nur die Streikenden selbst können und sollen nach Diskussion auf Vollversammlungen entscheiden, welchen Tarifvertrag sie gegebenenfalls anzunehmen bereit sind.