Berliner Krankenhausstreiks: eine Zwischenbilanz

Jürgen Roth, Infomail 1162, 15. September 21

In der Entgelttarifrunde für den öffentlichen Dienst bei Bund und Gemeinden in diesem Frühjahr wurde er angekündigt: der Kampf für einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) bei den Berliner Kliniken Vivantes und Charité. Die dortigen Beschäftigten holten ihre KollegInnen der ausgegliederten Vivantes-Tochterunternehmen (VSG) für eine Angleichung an den TvöD ins Boot, steigerten ihren gewerkschaftlichen Organisationsgrad deutlich und organisierten eine erfolgreiche Unterschriftensammlung für ihre Vorhaben in den Betriebsteilen. Fast 9.000 Unterschriften konnten sie sammeln und Ende Mai dem Senat übergeben, verknüpft mit einer 100-Tagefrist, um die Forderungen umzusetzen. Nach deren Ablauf und diesbezüglicher Untätigkeit der Landes- und Stadtregierung erfolgten ab Ende August mehrtägige Warnstreiks. Nach äußerst erfolgreicher Urabstimmung (ca. 98 % Zustimmung) kam es dann ab letzten Donnerstag zu Vollstreiks, unbefristet beim nichtärztlichen medizinischen Personal und übers letzte Wochenende ausgesetzt bei der VSG. Die Tochterunternehmen der Charité blieben mit Ausnahme des Labors Berlin, einer gemeinsamen Einrichtung mit Vivantes, außen vor, weil sie schon zuvor eine Angleichung an den TvöD erkämpft hatten.

Dienstag, der 14.9.2021: ein vorläufiger Höhepunkt

Es versammelten sich ca. 2000 KollegInnen zum Auftakt auf dem Robert-Koch-Platz nahe dem Charitécampus Mitte, um nach mehreren Reden vom Lautsprecherwagen als Demonstrationszug zum Roten Rathaus aufzubrechen. Selbst die Polizei sprach von 1500 Teilnehmenden.

Die Reden waren sehr kämpferisch, was die ebenso fröhliche wie militante Stimmung unter den ZuhörerInnen anheizte. Teils waren sie kapitalismuskritisch, oft gingen sie über die für den Streik aufgestellten Forderungen hinaus, wenn die Abschaffung der Fallpauschalenabrechnung (DRGs) ebenso wie ein nicht profitorientiertes Gesundheitswesen gefordert wurden.

Keineswegs selbstverständlich, aber schon von Beginn der Mobilisierungen an praktiziert kamen überwiegend die Beschäftigten zu Wort und nicht die FunktionärInnen. Die RednerInnen deckten ein weites Spektrum ab: von der Pflege über Hebammen bis zu Beschäftigten der Tochtergesellschaften, die üblicherweise sonst am wenigsten zu Wort kommen. Reden von Bündnissen wie Gemeinsam auf die Straße und Deutsche Wohnen & Co. enteignen wie des ver.di-Betriebsgruppensprechers bei der Berliner Feuerwehr und einer Kollegin von der Uniklinik Kiel zeigten eindrucksvoll, dass der Schulterschluss mit anderen KollegInnen und AktivistInnen der verschiedenen Berliner Sozialbewegungen gesucht und gefunden wurde.

Eskalation

Ab diesem Tag wurde der Streik ausgeweitet. Statt vorher 900 wurden 1200 Betten gesperrt und eine vierstellige Zahl zum täglichen Streik aufgerufen. Auch die VSG soll ab diesem Datum in den unbefristeten Ausstand gehen. Dies ist die richtige Antwort auf völlig unzureichende Arbeit„geber“Innenangebote, das Verweigern von Notdienstvereinbarungen durch Klinikleitungen, den versuchten Ausschluss von Labor Berlin aus einem Tarifabkommen, das Schweigen des Senats und die Versuche des Vivantesvorstands, die Streiks per Arbeitsgerichtsbeschluss untersagen zu lassen. Die Demonstrierenden ließen keine Zweifel aufkommen: Das lassen wir nicht mit uns machen! Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!

Die Erfahrungen bei der Charité ab 2015 zahlten sich aus. Angesichts der Untätigkeit und Widerspenstigkeit ihrer ChefInnen stellten sie eigene Notdienstpläne einschließlich Bettensperrungen und Stationsschließungen auf. Streikposten üben hier also im Gegensatz zu den meisten anderen Arbeitskämpfen ihre Funktion nicht vor, sondern innerhalb der („weißen“) Fabrik, auf den bestreikten Stationen und Funktionsabteilungen aus: Kontrollen, ob die Notfahrpläne eingehalten werden.

Stärken

Neben dem versuchten Schulterschluss mit anderen Beschäftigten und sozialen AktivistInnen, der erfolgreichen Mitgliederwerbung für ver.di, der Unterschriftensammlung seien hier 2 Punkte erwähnt, die bei sonstigen Arbeitsstreitigkeiten oft fehlen: Die Krankenhausbeschäftigten wurden von Anfang an nicht müde, ihr Anliegen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen und in diesem Sinne zu politisieren. Es verging kaum ein Streiktag, an dem nicht auch Kundgebungen oder Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen stattgefunden hätten. Nicht zu unterschätzen ist hierbei auch die Mobilisierung von UnterstützerInnen, seien es ver.di-SeniorInnen oder Bündnisse wie Gesundheit statt Profite, die bei der Organisierung von Online-, aber auch Freiluftveranstaltungen wie Anfang Juli im Stadion an der alten Försterei, dem Kulttempel der mittlerweile überraschend auf europäischem Niveau kickenden BalltreterInnen des FC „Eisern“ Union, eine wichtige Rolle spielte. Die Berliner Krankenhausbewegung geht weit über das Spektrum der unmittelbar Beschäftigten hinaus.

Dies ist richtungsweisendes „Social Organizing“, ein Fingerzeig für hoffentlich zukünftige Auseinandersetzungen in breiterem Rahmen. Schon 2015 hatte ja der Charitéstreik für mehr Personal der bis dahin auf Sparflamme von Petitionen an PolitikerInnen und Bundesrat sowie halbstündigen „Streiks“ in der Mittagspause auf Sparflamme vor sich hinköchelnden ver.di-Kampagne „Der Druck muss raus!“ überhaupt Leben eingehaucht und greifbare, wenn auch unbefriedigende und schwer zu kontrollierende Ergebnisse erzielt.

Zweites Faustpfand für diesen Arbeitskampf stellt das Gerüst an Teamdelegierten dar. Vorher hießen sie TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen. Ohne sie wären die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads, die vielfältigen Mobilisierungen nicht möglich gewesen. Sie spielten auch eine entscheidende Rolle bei der Aufstellung der Forderungen und schalten sich auch in die Tarifkommission unseres Wissens nach ein, damit der Apparat diese nicht so leicht unter den Tisch kehren kann. Zudem bilden sie praktisch das Rückgrat des Streiks, agieren de facto als Streikkommission. Daneben und darüber hinaus scheint es eine solche nach unserer Erkenntnis nicht zu geben. Von ihnen ausgehend kann einerseits eine Reaktivierung gewerkschaftlicher Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper in Szene gesetzt, die Kontrolle über den Streik von unten erfochten werden, falls sie jederzeit den Streikvollversammlungen gegenüber rechenschaftspflichtig und jederzeit abwähl- und ersetzbar bleiben.

Letztere sind allerdings ein unverzichtbares Inventar wirklicher Basisdemokratie. Ohne sie drohen die Teamdelegierten, die ja auch die Schnittstelle zu den FunktionärInnen verkörpern und diese kontrollieren sollen, zu einer Geisel des Apparates zu werden. Kurz: es gilt für die Vernetzung kämpferischer Gewerkschaften (VKG), diese Schicht von BasisaktivistInnen mit in ihr Boot zu holen, will sie einen wirklichen Schritt hin zu einer klassenkämpferischen Gewerkschaftsbasisbewegung gehen!

Fallen

Darüber hinaus sind die Teamdelegierten bei der Umsetzung eines TVE wichtig, soll diese im Interesse der Beschäftigten und PatientInnen und unter deren Kontrolle erfolgen (mehr Personal, bessere Pflege und Medizin, Umstrukturierung des Gesundheitswesens). Bisher kranken die oft schwerfälligen Interventionskaskaden daran, dass die letztliche Entscheidung über Aufnahmestopps, Bettensperrungen, Stationsschließungen und Personalausgleich bei Unterschreitung der tariflich vereinbarten Mindestbesetzungen in der Hand der Klinikleitungen, also letztlich beim Kapital verbleibt.

Besonders und über den Betrieb hinaus wichtig wird der Aufbau von Kontrollorganen durch die Basis dann, wenn nicht mehr Personal eingestellt wird, sondern weitere Umstrukturierungen in der flächendeckenden stationären Grundversorgung drohen. Es liegen Pläne in der Schublade, die von deren völliger Abschaffung und der Schließung von 2/3 der noch bundesweit vorhandenen ca. 2000 Krankenhäuser ausgehen. Eine Konzentration auf Hochleistungs- und Schwerpunktmedizin in allen Kliniken soll demgemäß parallel zu einer im Wesentlichen nur noch ambulanten Grundversorgung außerhalb von mittleren und großen Städten erfolgen.

Selbst die richtige Forderung nach Rekommunalisierung aller privatisierten Krankenhäuser griffe für diesen Fall zu kurz, wenn es keine Kreis- und Kleinstadteinrichtungen mehr gäbe. Geradezu orakelhaft und nur scheinbar beruhigend wirkt deshalb die Aussage des Vivantesdirektoriums zu Beginn der Vollstreiks: „Wir sind mit ver.di im Einvernehmen. Leistung muss dem Personal folgen!“ Kein Wunder, denn Vivantes ist als städtische Klinikkette im Gegensatz zur Charité ein Hybrid, wo neben Schwerpunktmedizin auch der flächendeckende Bedarf in der Grundversorgung (noch) geleistet wird.

Ausgehend von ArbeiterInnenkontrolle im Fall eines durchgesetzten TVE könnten diese Organe aber die Aufgabe anpacken, diese auf eine bundesweite über das gesamte Gesundheitswesen auszudehnen. Denn ginge es nach Vivantes, dürfte bald auch das Personal aus den Kreiskrankenhäusern der „Leistung“ folgen, die nur noch in größeren Städten erbracht würde.

Als Sprungbrett müssen sie auch im Gleichschritt mit der gesamten Berliner Krankenhausbewegung auch für die dringend notwendige Überwindung des Häuserkampfschemas fungieren. Das Potenzial dazu hat die gestrige Aktion gezeigt. Die Kieler Kollegin wies in ihrer Lautsprecherrede darauf hin, dass der Startschuss für nachfolgende Kampagnen 2015 von der Charité in ihrem Kampf für einen TVE abgefeuert worden und seitdem der „Staffelstab“ weitergereicht worden sei, zuletzt nach Kiel über zahlreiche Zwischenetappen (Baden-Württemberg, Düsseldorf, Essen, Gießen, Marburg, Karlsbad/Langensteinach, Homburg/Saar, Augsburg, Mainz, Jena).

Das ist richtig, aber ungenügend! Das Konzept des Staffellaufs über die Häuser ist ein Lieblingsspielzeug der ver.di-Bürokratie, weil es sie der Verantwortung enthebt, einen die Auseinandersetzungen zu einem allgemeinen bundesweiten Kampf zusammenzuführen, der leicht politische Dimensionen annehmen könnte. Davor scheut allerdings der Apparat zurück.

Zusammenführen!

Gerade in dieser Hinsicht war es ein Fehler, die beiden wichtigsten Anliegen der Krankenhausbeschäftigten nicht mit der Entgelttarifrunde bei Bund und Kommunen im Frühjahr zu verknüpfen, wo die Kraft aller dort Beschäftigten somit für die Anliegen Ersterer hätte einsetzen und ausnutzen können. Unmittelbar gehen die Angestellten der Berliner Tarifgemeinschaft der Arbeiterwohlfahrt (AWO), wozu 2000 Beschäftigte von AWO-Landesverband, der meisten Kreisverbände sowie der AWO pro:mensch GmbH gehören, in eine 2., viertägige Warnstreikwelle vom 15. – 21.9., nachdem die 1., zweitägige im August erfolglos blieb. Für deren nächste Verhandlungsrunde tischt ver-di seine Gehaltsforderung von 98 % des TvöD-L auf.

Und im nächsten Monat geht das Ringen um einen neuen TvöD-L bei den Lohn- und GehaltsempfängerInnen der Bundesländer los. Wir fordern deshalb volle Solidarität mit den AWO-Warnstreikenden, besser noch deren völlige Gleichstellung mit den Länderbeschäftigten. Für den neuen TvöD-L müssen die berechtigten Anliegen der dortigen Krankenhausbeschäftigten (z. B. Uni-, psychiatrische Landeskliniken) nach Entlastung und für Angleichung der Arbeitsbedingungen bei deren Töchtern, besser für vollständige Gleichstellung und am allerbesten für deren Rückkehr unters Dach ihrer Mütter, aufgegriffen werden!

Die „ArbeitgeberInnen“ spielen in ihrer Begründung für Ablehnung der Tarifbelange schließlich auf ihrer Argumentationsklaviatur neben der Fallpauschalenpartitur (Ertragseinbrüche) die Sonate des drohenden Rauswurfs aus den Arbeit„geber“Innenverbänden Kommunaler Arbeitgeberverband (KAV) und Tarifgemeinschaft Länder in G(eh!) Moll. Nehmen wir ihr diese Noten aus der Hand, indem wir das Anliegen der Beschäftigten in Landeskliniken zu dem aller (dort) Arbeitenden im nächsten Schritt machen – und im übernächsten den Fall der DRGs durch politische Massenstreiks.

Den Keim eines solchen Schulterschluss konnten wir gestern sehen, den eines Streiks unter Kontrolle der Basis. Lassen wir diese Keime jetzt aufblühen und die Ernte einfahren, um der giftigen Saat des Gesundheitskapitals von hier aus ihr Ende einzuläuten!