GDL: Nach dem Streik ist vor dem Streik!

Martin Suchanek, Neue Internationale 258, September 2021

Die beiden Streiks der EisenbahnerInnen machen eines deutlich: Die GDL und ihre Mitglieder sind kampfbereit und -fähig. Die Urabstimmung, an der rund 70 % der GDLerInnen teilnahmen, erbrachte ein klares Votum: 95 % für den Streik. Dementsprechend wirksam waren die Arbeitsniederlegungen.

Mit dem befristeten Streiks vom 10. – 13. bzw. vom 22. – 25. August legten die Beschäftigten rund 60 % des Regionalverkehrs der Deutschen Bahn und 75 % des Fernverkehrs lahm. Auch im Güterverkehr kam es zu massiven Ausfällen, auch wenn das Management versuchte, diesen durch Umstellen auf eigene LKW-Transporte (DB-Schenker) und durch andere Frachtunternehmen abzufedern.

Der Streik machte auch deutlich, dass die GdL dabei ist, von einer berufsständischen LokführerInnengewerkschaft zu einer Organisation zu werden, die alle Beschäftigtengruppen bei der DB AG umfasst. So legten nicht „nur“ LokführerInnen die Arbeit nieder, sondern auch Beschäftigte im Infrastrukturbereich des Unternehmens, darunter 6 Stellwerken und Teilen einzelner Werkstätten und Verwaltungen. Auch unter den ZugbegleiterInnen konnte die GDL ihre Mitgliederzahlen ausbauen.

Hetze vom Kapital

Wie nicht weiter verwunderlich brandmarken Kapital und Kabinett, bürgerliche Presse und allerlei „ExpertInnen“ den GDL-Streik als Anschlag auf den Wirtschaftsstandort Deutschland, als Gefahr für die Erholung der deutschen Wirtschaft und sogar als Gefährdung der Gesundheit. Schließlich würden Fahrgäste in den wenigen fahrenden Zügen nur eng gedrängt Platz finden – und das in Coronazeiten. Manche HetzerInnen sprechen auch schon davon, dass während einer Pandemie am besten überhaupt nicht gestreikt werden dürfe.

Der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat Laschet positioniert sich ausnahmsweise klar und deutlich – gegen die GDL. Der Streik verstoße „gegen alle Regeln der Verhältnismäßigkeit“. Die Gewerkschaft nehme „Millionen in Haftung.“

Die AfD lässt zwar Verständnis für die GDL durchblicken – den Streik solle sie aber gefälligst verschieben.

Auch FPD, Grüne, SPD stellen sich gegen den Streik. Die Linkspartei verteidigt zwar das Streikrecht, zu einer bedingungslosen Unterstützung des Streiks mag sie sich aber auch nicht durchringen, da sich die GDL-Führung gegenüber der DGB-Gewerkschaft EVG unsolidarisch verhalte.

Schärfere Töne schlägt die DB AG selbst an. Deren Personalvorstand Seiler bezeichnete den Streikbeschluss als „Attacke auf unser Land“ – nicht nur auf die DB AG. „Völlig überzogen und völlig unangemessen“ wäre der Arbeitskampf gewesen. Außerdem hätte die GDL den Streik total kurzfristig angekündigt, so dass das arme Unternehmen überraschend getroffen worden wäre, das zudem ein tolles Angebot vorgelegt hätte.

Die Offerte der Bahn

Die Offerte der DB AG sieht eine stufenweise Lohnerhöhung von 3,2 % vor – mit einer Laufzeit von 40 Monaten (bis zum 30. Juni 2024). In diesem Jahr wäre eine Nullrunde vorgesehen. Zum 1. Januar 2022 soll eine erste Erhöhung um 1,5 % erfolgen, am 1. März 2023 sollen die Entgelte um weitere 1,7 % angehoben werden.

Faktisch bedeutet das Angebot einer Nullrunde für 2021 angesichts steigender Preise und Inflationsrate einen Reallohnverlust für die gesamte Laufzeit.

Als die zweite Streikwelle anlief, zauberte der Bahnvorstand rasch eine kosmetische Nachbesserung des Angebots aus dem Hut. Eine Coronaprämie würde das Unternehmen jetzt auch anstreben. Wie unverbindlich und wenig ernstzunehmend dieses Anbot ist, offenbart die Tatsache, dass die Bahn AG keinen Betrag nennen wollte. Zu Recht lehnte die GDL dieses durchsichtige Manöver ab, das nur darauf abzielte, den laufenden Streik zu beenden.

Dass die GDL und Tausende ihrer Mitglieder die Offerten der Bahn AG als Affront abgewiesen haben, spricht für und nicht gegen sie. Dass die größere DGB-Gewerkschaft bei der Bahn, die EVG, ein ähnliches Angebot im Austausch für Kündigungsschutz annahm (angesichts des Personalmangels stehen im betrieblichen Bereich sowieso keine betriebsbedingten Kündigungen an), stellt ihr ein vernichtendes Urteil aus. Nicht zu kämpfen bereit, immer am Puls des Bahnvorstandes, verkauft die EVG-Bürokratie seit Jahren die Beschäftigten bei der Bahn AG. Nun wirft sie der GDL aggressives Abwerben von Mitgliedern vor – und stellt sich gegen den Arbeitskampf der KollegInnen! Ein solches Verhalten läuft faktisch auf Streikbruch hinaus und die Unterstützung der Unternehmensführung gegen die KollegInnen. Es ist ein gewerkschaftliches No-Go. Was immer man von der GDL sonst auch halten mag, ihre tariflichen Forderungen sind legitim. Ihr Recht auf Streik muss von allen kämpferischen GewerkschafterInnen ohne Wenn und Aber verteidigt werden. Ansonsten verkommt jede, für sich auch noch so berechtigte Kritik an der GDL zu einem bloßen Vorwand, den KollegInnen in den Rücken zu fallen, sich faktisch auf die Seite des Kapitals zu stellen.

Und die GDL?

Die GDL oder genauer deren Vorstand ist sicher kein gewerkschaftspolitisches Vorzeigeprojekt. Jahrzehntelang war sie eigentlich die willfährigere Standesgewerkschaft. Bis heute ist sie Teil des berufsständisch-reaktionären Beamtenbundes, der trotz allem noch immer deutlich rechts vom DGB steht. Die GDL-Spitze tritt reaktionären, vor allem rassistischen oder sexistischen Einstellungen und Verhaltensweisen in den eigenen Reihen kaum entgegen, sie toleriert sie vielmehr. Auch GDL-Chef Weselsky, seit Jahren CDU-Mitglied, fiel in der Vergangenheit mit behindertenfeindlichen Sprüchen, mit Opportunismus gegenüber der AfD und Populismus auf. Zudem lehnt die GDL den immer mehr um sich greifenden Wettbewerb und Privatisierungen auf der Schiene nicht grundsätzlich ab, sondern will diese allenfalls „gerecht“ ausgestaltet wissen.

Die GDL unterstützt im Gleichklang mit den Grünen die Trennung von Netz und Betrieb bei der Bahn. In dieser Hinsicht steht sie politisch rechts von der EVG, auch wenn diese über Jahre den Kurs der Umstrukturierung der Bahn auf ein profitorientiertes Unternehmen mitgetragen hat.

Anders als die BürokratInnen in den Vorstandsetagen der DGB-Gewerkschaften, die oft aus Verwaltungen kommen und akademische Berufe erlernt haben, gibt Weselsky den polternden Funktionär und Vertreter der Beschäftigten, der sich für seine Leute einsetzt – und das mit einer gewissen Glaubwürdigkeit. Den Lokführer, den Bahner muss er nicht spielen. Er fuhr selbst Züge. Auch wenn er seit gut drei Jahrzehnten freigestellter Funktionär der GDL ist, spricht er den KollegInnen aus dem Herzen, ist er „einer von ihnen“ geblieben.

Natürlich sollte niemand die Radikalität der GDL-Spitze übertreiben. So wenig kompromissbereit, wie die Bahn AG tut, ist sie natürlich nicht.

Die ursprüngliche Tarifforderung, die unter anderem eine Gehaltserhöhung von 4,8 % und eine Coronaprämie von 1300 Euro vorsah, zog die GDL selbst zurück. Sie orientierte ihre Forderungen bei den letzten Verhandlungen am Abschluss im öffentlichen Dienst 2021: 3,2 % Lohnerhöhung bei einer Laufzeit von 32 Monaten und eine einmalige Coronaprämie von 600 Euro. Außerdem sollte ein erster Schritt der Lohnerhöhung schon für 2021 gelten, also keine Nullrunde in diesem Jahr stattfinden. Die Bahn AG wies diese schon reduzierten Forderungen zurück – und auch die EVG erklärte sie als „überzogen“. Schließlich hatte sie schon einen schlechteren Vertrag abgeschlossen und fürchtet, weiter Mitglieder an die GDL zu verlieren, falls diese erfolgreich sein sollte.

Warum wird der Kampf so heftig geführt?

Dass die GDL den Tarifkampf so heftig führt, hat zwei wesentliche Ursachen. Erstens stellt der Streik eine Reaktion auf den Druck aus der Basis dar, aus der eigenen Mitgliedschaft. Wer diese einfache Tatsache nicht akzeptieren will, musste nur an Versammlungen der Streikenden teilnehmen. Empörung und Kampfbereitschaft lagen dabei förmlich in der Luft.

Zum anderen fürchtete die GDL zu Recht, durch das Gesetz der sog. Tarifeinheit bei der DB AG an die Wand gedrückt zu werden. Dieses sieht vor, dass in jedem Betrieb nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft ein Recht auf Abschluss eines Tarifvertrags hat und auch entsprechend nur diese das Streikrecht wahrnehmen darf. Das Gesetz wurde, so erklärte die schwarz-rote Bundesregierung 2015, kurz nach dem letzten landesweiten GDL-Streik offen, notwendig, damit kleine Spartengewerkschaften das Land nicht mehr lahmlegen könnten. Die sog. Tarifeinheit kommt also einer Einschränkung des Streikrechts gleich – und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wichtige DGB-Gewerkschaften, allen voran die IG Metall und die EVG, diese unterstützten, ja regelrecht forderten, weil sie sich davon die Sicherung ihrer Stellung in zentralen Betrieben und die Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz erhofften. Neben den Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD stimmte damals auch die FDP mehrheitlich für das Gesetz, Grüne und Linkspartei lehnten es ab.

Seine Umsetzung wurde bei der Bahn über mehrere Jahre gestreckt, nun soll es kommen. Erschwert wird dabei die rechtliche Lage ironischer Weise durch die neoliberalen Bahnreformen und Umstrukturierungen des Unternehmens selbst.

Da dieses in viele Betriebsteile und Teilunternehmen untergliedert ist, gibt es natürlich auch Bereiche, wo die GDL über eine Mehrheit verfügt. In den meisten Fällen ist zwar (noch) die EVG die Mehrheitsgewerkschaft, in etlichen sind die Verhältnisse aber umstritten. Das heißt, ein Arbeitskampf für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen inkludiert nicht nur eine Konkurrenz zwischen beiden Gewerkschaften bei der Bahn, er steht immer auch auf der Kippe zur Illegalisierung, und es sind letztlich immer die bürgerlichen Gerichte, die im Streitfall entscheiden, welche Gewerkschaft tarif- und damit streikfähig ist.

Angriffe in den Betrieb getragen

Dabei tritt der reaktionäre Charakter des Tarifeinheitsgesetzes offen zutage. Ein Angriff auf die gesamte ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung wird zur Zeit durchgezogen. Sollte die GDL verlieren, so würde das letztlich auch auf die Durchsetzung der Tarifeinheit bei der Bahn und die Demontage einer kleineren, in letzten Jahren kämpferischer gewordenen Gewerkschaft hinauslaufen.

Hoch problematisch für den Kampf ist freilich, dass es der DB-Geschäftsführung und der bürgerlichen Politik bis zu einem gewissen Grad gelungen ist, den Streik und den politischen Konflikt auch zu einer Konfrontation innerhalb der Belegschaft zu machen, diese effektiv zu spalten. Daran haben in den letzten Jahren sowohl die EVG-Bürokratie, aber auch die GDL-Führung tatkräftig mitgewirkt. Beiden geht es letztlich darum, vor allem ihren eigenen Laden, „ihre“ Gewerkschaft zu halten und zu profilieren. Und dabei scheuen beide nicht vor Fakes und stetiger Demagogie gegen die andere Gewerkschaft zurück. Letztlich wollen beide mehr vom Trog der SozialpartnerInnenschaft und von den Pfründen der Mitbestimmung bekommen.

Aber anders als die EVG-Führung sieht sich die GDL zur Zeit aufgrund des Drucks von unten und aufgrund ihrer prekären Lage gezwungen, zum Streik zu greifen, um ihre Interessen durchzusetzen – und das macht sie, ob gewollt oder nicht, zur Staatsfeindin, zum Konjunkturschädling und zur Spaßbremse für Urlaubsreisende.

Streikperspektive und GDL-Spitze

Der GDL-Vorstand hat mit dem Arbeitskampf eine Konfrontation begonnen, deren Gesamtdimension er selbst nur erahnt. Hinter der rein tariflichen, gewerkschaftlichen Auseinandersetzung um höhere Entgelte verbirgt sich eine größere politische Auseinandersetzung. Die Führung der Gewerkschaft will aber den Kampf so führen, als wäre er letztlich nur eine ganz normale Tarifrunde. Das mag ihr bis zu einem gewissen Grad auch gelingen, da ihre Mitglieder über eine beachtliche Streikfähigkeit verfügen, also wirklich wirtschaftlichen Druck ausüben können.

Die Taktik hat jedoch eine Schwäche. Was passiert, wenn der Bahnvorstand nicht nachgibt, wenn er die Konfrontation sucht, wenn er von der GDL fordert, alle ihre Karten auf den Tisch zu legen?

Hier zeigen sich die Grenzen dieses Vorgehens. Da die GDL die Konfrontation im Grunde rein betrieblich begreift, kümmert sie die öffentliche Meinung nicht oder nur wenig. In einer bestimmten Hinsicht stellt das zwar auch eine Stärke dar – nämlich insofern sie sich von der Hetze der bürgerlichen Presse und von PolitikerInnen wenig beeindruckt zeigt.

Doch das darf uns gegenüber der enormen Schwäche dieser Politik nicht blind machen. Der GDL-Führung ist im Grund nämlich auch egal, was andere Lohnabhängige von ihrem Arbeitskampf denken. So gab es beim Streik (und auch bei früheren Streiks) keine Flugblätter, keine Öffentlichkeitsarbeit, um PendlerInnen und Reisende anzusprechen, um deren Verständnis und Solidarität zu werben und die Lügen und Halbwahrheiten der Boulevardblätter und der sog. Qualitätspresse zu kontern.

Auch gegenüber den Bahnbeschäftigten, die nicht bei der GDL sind, also insbesondere gegenüber den EVG-Mitgliedern, nimmt die GDL-Spitze eine politisch passive Haltung ein. Natürlich freut sich die kleinere Gewerkschaft über jeden Übertritt. Sie versucht aber überhaupt nicht, die Basismitglieder der EVG und kämpferische Mitglieder, die auch von Bürokratie und SozialpartnerInnenschaft die Schnauze voll haben, anzusprechen und so in die EVG hinein zu wirken.

Dazu müsste die GDL nämlich selbst eine Politik verfolgen, die darauf zielt, die Kampfeinheit aller Beschäftigten herzustellen, und nicht nur hoffen, dass sich ihr Apparat als attraktiver erweist als jener der EVG. Diese Politik hat jedoch dazu geführt, dass beide Bürokratien die eigenen Reihen recht dicht geschlossen halten konnten. Zahlreiche EVGlerInnen – auch an der Basis – hassen die GDL und die GDLerInnen die EVG. Das hilft den Spitzen der jeweiligen Gewerkschaft. Vor allem aber hilft es dem Bahnvorstand, der sich immer als verhandlungsbereit präsentiert und genüsslich die beiden Gewerkschaften gegeneinander ausspielt.

Wie weiter?

Diese Beschränkungen und der rein gewerkschaftliche Charakter der Politik der GDL-Führung ändern nichts daran, dass alle GewerkschafterInnen – auch alle EVG-Mitglieder – den Arbeitskampf unterstützen müssen! Kritik an Weselsky und Co. ist gut und wichtig – aber das darf nicht zum Vorwand werden, sie nicht zu unterstützen, wenn sie einen Schritt in die richtige Richtung machen.

Zugleich braucht es aber auch eine Politisierung des Arbeitskampfes, weil wir damit rechnen müssen, dass er sich früher oder später zu einem politischen Kampf entwickelt (oder in einem Kompromiss endet, der die entscheidende Konfrontation allenfalls aufschiebt).

Wir treten daher dafür ein, Nägel mit Köpfen zu machen. Die großartige Streikbeteiligung hat gezeigt, dass der Kampf geführt und länger gehalten werden kann. Zugleich muss er politisiert werden, in die Reihen der gesamten Belegschaft und ArbeiterInnenklasse getragen werden.

Das heißt für alle Kräfte der ArbeiterInnenbewegung, für die Mitglieder von Linkspartei und SPD, aber auch für die „radikale“ Linke oder die Umweltbewegung, dass sie diesen Arbeitskampf ohne Wenn und Aber unterstützen müssen. Damit ein Streik der GDLerInnen siegen, damit die Gewerkschaft in einer politischen Konfrontation erfolgreich sein kann, können und müssen wir auch die Initiative ergreifen und Solidaritätskomitees aufbauen.

  • Unterstützt den Streik der GDL! Volle Mobilisierung und unbefristeter Streik für die Forderungen – keine weitere Rücknahmen und Zugeständnisse!
  • Kein Einsatz von BeamtInnen und anderen Beschäftigten als StreikbrecherInnen!
  • Regelmäßige Streikversammlungen zur Koordinierung, Ausweitung und demokratischen Kontrolle des Kampfes!
  • Aufbau von Solidaritätskomitees in allen Gewerkschaften und allen Städten! Unterstützung dieser Komitees durch Linkspartei und SPD-Gliederungen!
  • Nein zum Tarifeinheitsgesetz und allen Einschränkungen des Streikrechts!
  • Kursumkehr in allen DGB-Gewerkschaften und Unterstützung des GDL-Streiks! Aufbau einer Basis- und Solidaritätsbewegung, die dies erzwingt!