Berliner Krankenhausstreiks: Wie weiter nach dem Auftakt?

Mattis Molde/Jürgen Roth, Neue Internationale 258, September 2021

Montag 23. August 2021: Ver.di ruft die Krankenhausbeschäftigten von Vivantes und Charité zu einem dreitägigen Warnstreik auf – nachdem weder die Klinikleitungen in ernsthafte Verhandlungen über mehr Personal und gleiche Arbeitsbedingungen in den ausgegliederten Unternehmen von Vivantes eingetreten sind noch die politisch Verantwortlichen in Stadt und Land entsprechenden Druck auf diese ausgeübt hatten.

Blockadehaltung der Klinikleitungen

Was die Klinikleitungen von den berechtigten Forderungen halten, hat Vivantes klargemacht: Anstatt über bessere Bedingungen für alle Beschäftigten zu verhandeln, lassen sie den Warnstreik bei den Tochterfirmen über eine einstweilige Verfügung beim Arbeitsgericht Berlin verbieten. Sie sehen keine Notwendigkeit eines Tarifvertrags (TV) Entlastung für die Angestellten der kommunalen bzw. Landesbetriebe Vivantes und Charité bzw. der Gültigkeit des TvöD für die Beschäftigten in den Vivantestochterunternehmen und machten bisher keinerlei Angebot.

Zwar verhandelten sie tagelang über eine Notdienstvereinbarung, doch erklärten die Arbeit„geber“Innen die bis 2017 an der Charité angewandte für gegenstandslos, seinerzeit von deren Direktor selbst vorgeschlagen. Stattdessen sollten die Beschäftigten noch flexibler einsetzbar sein! Am Charité-Standort Mitte entschied der Vorstand, mit voller Bettenbelegung in die Streikwoche zu starten. Nach 4 Stunden mussten einige Stationen den Streik abbrechen, so Clemens Riedemann, Krankenpfleger in der dortigen Onkologie lt. NEUES DEUTSCHLAND vom 26.8.2021.

Spielte Vivantes mit gerichtlichen Verfügungen, so die Charité mit der Karte des „Streikverbots durch die Hintertür“ (Riedemann). Er konterte auch die Einlassung, es sei juristisch wegen Tarifbindung (TVöD und Mitgliedschaft im Arbeit„geber“Innenverband der Bundesländer) nicht möglich, einem TV zuzustimmen, der es erlaube, bei hoher Belastung einen Ausgleich in Anspruch zu nehmen, unter Verweis auf das Beispiel des Uniklinikums Mainz.

Charitésprecher Markus Heggen widersprach den Vorwürfen der Beschäftigten. Man habe im Vorfeld nicht dringliche Behandlungen abgesagt, respektiere das Streikrecht also und schaffe somit Möglichkeiten zur Teilnahme der Beschäftigten an den Warnstreiks. Es sei nicht möglich gewesen, ganze Stationen zu schließen. Alle Aussagen sind nicht überprüfbar, wohl aber steht fest, dass bei der Sitzung der Zentrumsleitung Charité Mitte mit ver.di-VertreterInnen am 1. Warnstreiktag eine Notvereinbarung präsentiert wurde, die die Normalbesetzung als Notdienstmannschaft vorschlug (Riedemann).

Affront

Dies alles ist ein klarer Affront gegen die Interessen der Beschäftigten und ihren Willen, für deren Durchsetzung in den Kampf zu gehen. Nicht nur die privat organisierten Konzerne wie Helios, Asklepios u. a. setzen auf Konfrontation, sondern nun auch die noch öffentlich geführten Häuser. Kein Wunder, geht es doch in dieser Auseinandersetzung letzten Endes um die politische Ausrichtung der Gesundheitsversorgung – öffentlich mit einer entsprechenden finanziellen Ausstattung, die auch die wirklich aufkommenden Kosten der Behandlungen und der notwendigen Ausstattung refinanziert, oder weiter mit Privatisierung und Fallpauschalen, die zu Personalabbau und Konkurrenz unter den Krankenhäusern führen und letztlich zu Schließungen von Häusern, die der Konkurrenz nicht standhalten können.

Großartiger Start

Von daher hatten die KollegInnen recht, wenn sie trotzdem in den Warnstreik gingen und eine öffentliche Kundgebung gegen diese Entscheidung abhielten. Deutlich über 1000 Streikende und UnterstützerInnen versammelten sich am 23.8. um halb elf vor der Vivantes-Zentrale. Die Stimmung – prima.

Es sprachen die SpitzenkandiatInnen der SPD, der Linken und Grünen. Frau Giffey erntete auch einige Pfiffe, aber für ihre Aussagen, hinter dem Kampf und seinen Zielen zu stehen, bekamen alle drei Applaus. Die Streikleitung legte einen guten Vorschlag vor: Eine Delegation sollte die Rücknahme der einstweiligen Verfügung gegen den Streik der Tochterfirmen von der Geschäftsführung verlangen. Die WahlkämpferInnen sollten mit – eigentlich sind sie als Senatsspitze die AuftraggeberInnen dieser Geschäftsleitung.

Die Streikleitung rief: „Wir gehen hier nicht weg, bevor die Erklärung zurückgenommen worden ist.“ Die Streikenden: „Wir bleiben hier!“

Dann gegen halb eins der Schock: Es gab eine zweite einstweilige Verfügung, angestrengt ebenfalls von den Vivantes-Bossen: Sie wollten geklärt haben, ob die Frage der Personalbemessung überhaupt tariffähig sei. Es gelte ja der laufende Tarifvertrag vom vergangenen Herbst, abgeschlossen zwischen ver.di und den kommunalen Arbeit„geber“Innenverbänden.

Kurz darauf kam die Delegation von dem Spitzengespräch zurück: Die Geschäftsführung nahm nichts zurück. Das hatte auch jetzt niemand mehr erwartet.

Ein Sprecher der Geschäftsführung erläuterte nochmal deren Position, bot aber an, doch über die Aufstockung von Personal reden zu können: „Wir haben viele offene Stellen, kommen Sie zu uns“ und: „Wir haben doch die gleiche Meinung wie ver.di, dass da mehr getan werden muss – aber keinen Tarifvertrag.“ Und dann: „Es wird keine arbeitsrechtlichen Konsequenzen für diesen Streiktag geben.“ Was man auch als Drohung für den nächsten Streiktag auffassen konnte.

Die Mitglieder der Tarifkommission und der Streikleitung zogen sich zurück zur Beratung. Nach zwei Stunden wurde der Streik vorläufig beendet. Viele waren unzufrieden. Solidaritätsadressen der IG Metall und der GDL machten etwas Mut.

Es ging hin und her: Sollen wir weiter hier die Zentrale von Vivantes blockieren oder machen wir einen Sitzstreik vor dem SPD-Sommerfest? Am Ende verlagerte sich alles dorthin.

Wie geht es weiter?

Der alte Plan sah vor, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch nur über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes hatten zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Nach einer gerichtlichen Aufhebung der einstweiligen Verfügung ging der Warnstreik am Dienstag und Mittwoch weiter und endete mit einer Kundgebung im Volkspark Friedrichshain. Mittlerweile berät die Tarifkommission über die Abhaltung einer Urabstimmung, die einen Vollstreik einleiten soll.

Gestützt auf eine jüngst errungene, beachtliche Steigerung des gewerkschaftlichen Organisationsgrads und auf Kreationen einer aktiven Basis (Teamdelegierte, TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen), können die Beschäftigten mutig und gestärkt in diesen gehen, wenn sie darüber stets das Heft der Streikführung in der Hand behalten und die Provokationen der Gegenseite adäquat beantworten: Keine Notdienstvereinbarungen ohne unsere Zustimmung! Zur Not setzen sie diese einseitig durch, ohne das PatientInnenwohl zu gefährden (Bettensperrungen, Stationsschließungen, Aufnahmekontrollen). Schließlich liegt ja auch das PatientInnenschicksal schon im Normalbetrieb äußerst einseitig in der Hand aller Beschäftigtenberufsgruppen, nicht in der der Leitungen! Auf alle Angriffe aufs Streikrecht muss mit dem Appell an gewerkschaftliche Solidarität gekontert werden, v. a. mit der solidarischen Wiederaufnahme des laufenden GDL-Streiks, besser einem politischen Streik aller Gewerkschaften insbes. des DGB und seitens des Marburger Bundes!

Natürlich sollte ver.di in die Offensive gehen und den Kampf um einen Entlastungstarifvertrag in den beiden Berliner Häusern als Ausgangspunkt nehmen, um eine bundesweite Entlastungskampagne zu initiieren. Natürlich würde auch die im Oktober beginnende Tarifrunde der Länder im öffentlichen Dienst eine weitere Chance, um in dieser Richtung weiterzukommen, darstellen. Diese müsste dazu genutzt werden, die Beschäftigten aller Unikliniken in einen gemeinsamen Kampf um mehr Personal zu führen, anstatt die Entlastungskampagne auf die Zeit nach der Tarifrunde zu verschieben.

Aber beides braucht Anlaufzeit. Darauf hat die Gewerkschaft sich und die Belegschaften nicht vorbereitet. Während dies in Angriff genommen werden muss, muss zugleich die Dynamik und Mobilisierungsfähigkeit der Berliner Beschäftigten auf die nächste Stufe gehoben und der Kampf ausgeweitet werden von Warnstreiks zu einem unbefristeten Erzwingungsstreik: Für die sofortige Einleitung der Urabstimmung in Berlin! Aufnahme der Berliner Forderungen (TvöD-Angleichung für ausgelagerte Tochtergesellschaften und Personalentlastung in den landeseigenen Krankenhäusern wie z. B. den Unikliniken) in die anstehende Ländertarifrunde des öffentlichen Dienstes!