Streik! Die einzige Sprache, die Vivantes und Charité verstehen!

Jürgen Roth, Infomail 1159, 22. August 2021

8.397 Unterschriften hatten Beschäftigte der Berliner städtischen Kliniken Vivantes sowie von deren Tochterunternehmen und der landeseigenen Uniklinik Charité am 12. Mai vor dem Roten Rathaus überreicht. Sie forderten, in ernsthafte Verhandlungen über einen Tarifvertrag (TV) Entlastung und einen für die Vivantes-Töchter einzutreten, nach dem deren Beschäftigte zukünftig auf TVöD-Niveau bezahlt werden sollen. Nachdem 100 Tage ohne ernsthaftes Angebot verstrichen sind, folgt nun die Antwort: Streik!

Gut daran ist dreierlei: Erstmals ziehen die Beschäftigten der Unikliniken aller 3 Standorte und der kommunalen Krankenhäuser an einem Strang. Schon 2017 waren die Vivantes-Beschäftigten drauf und dran, sich denen der Charité anzuschließen. Zum Zweiten wird diesmal wie in den beiden Unikliniken Düsseldorf und Essen das Personal der Vivantes-Tochtergesellschaften einbezogen. Drittens setzen die Beschäftigten ein Signal des Widerstandes für alle Lohnabhängigen.

Krankenhausbeschäftigte: Hausaufgaben erfolgreich bewerkstelligt

Von Montag, den 23., bis Mittwoch, den 25.8.2021, soll nun gestreikt werden. Der TV Entlastung sieht als Kernelement eine feste Quotierung bei der PatientInnenversorgung vor. Möglich wurde der Streik durch die Gewinnung zahlreicher neuer ver.di-Mitglieder. Auf einigen Stationen stieg der Organisationsgrad von 10 % auf 70 %! Man entwickelte einen Streiknotplan, der die Streikwilligkeit der KollegInnen konstruktiv mit der Versorgung der Stationen in Übereinkunft bringen soll. Wie schon 2015 (TarifberaterInnen) wurde in Gestalt der Teamdelegierten eine mobilisierungsfähige Basisstruktur geschaffen, die für die Initiierung und Kontrolle des Streiks, aber auch der Umsetzung evtl. erzielter Ergebnisse eine Schlüsselfunktion innehat bzw. -haben kann.

All dies zeigt die hohe Mobilisierung und den Druck der Belegschaften, dem sich auch die ver.di-FunktionärInnenriege nicht entziehen konnte. Weitere günstige Faktoren für einen erfolgreichen Kampf kommen hinzu: Im September stehen in Berlin zwei Wahlen und ein Volksentscheid zur Enteignung der großen Immobilienkonzerne an. Darüber hinaus folgt im Herbst die Tarifrunde für die 2,2 Millionen Länderbeschäftigten im öffentlichen Dienst. Schließlich haben Volksentscheidskampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ (DWE) und das Netzwerk „Gesundheit statt Profite“ dem Anliegen des Klinikpersonals ihre Unterstützung zugesagt. Und schließlich hat für den Zeitraum der ersten Streikwelle die LokführerInnengewerkschaft GDL die Durchführung ihrer zweiten beschlossen.

Klinikvorstände und Senat: Durchgefallen!

Acht Verhandlungstermine für die Vivantes-Töchter sind ergebnislos verlaufen, ebenso die zwei für den TV Entlastung. Senat und Klinikleitungen haben die 100-Tage-Frist am 20. August verstreichen lassen. Die kurzfristige Gesprächsbereitschaft des Charité-Vorstands erbrachte keine Vorschläge außer zu noch mehr Flexibilisierung der Beschäftigten und „effektiverer“ Personalsteuerung. Schließlich mündete die Umsetzung der Forderungen darin, dass weniger PatientInnen versorgt werden könnten, so ließ der Vorstand anklingen. Er prognostizierte für diesen Fall einen Abbau von 360 – 750 Betten und 870 – 1.360 Stellen, kalkulierte das zusätzliche Defizit auf 25 – 45, das für die Vivantes-Tochterbetriebe auf 35 Millionen Euro.

Die Vivantes Geschäftsführung ist zudem am letzten Freitag mit Ablauf der Frist in letzter Sekunde gegen den Streik bei den Vivantes-Töchtern rechtlich vorgegangen und wollte ihn per einstweiliger Verfügung verbieten lassen. Das Vorgehen von Vivantes und die Entscheidung des Gerichts sind ungewöhnlich und ein Skandal! Ver.di wurde von dem Richter nicht einmal angehört. Vivantes hat den Antrag kurzfristig eingereicht und auch gefordert, dass es wegen der Kurzfristigkeit keine Verhandlung dazu gibt. Und das, obwohl der Streik seit mehreren Tagen bekannt war!

Auftakt

Völlig zu Recht betrachtet das die Berliner Krankenhausbewegung als Angriff aufs Streikrecht und braucht die Unterstützung aller GewerkschafterInnen und der Linken. Ein erster Schritt ist die Unterstützung der Kundgebung am Montag, den 23.8.2021, um 10:30 Uhr vor der Vivantes-Zentrale (Aroser Allee), ein zweiter akut ein konsequent gegen die Medienhetze durchgeführter Streik für die vollständige Durchsetzung der GDL-Forderungen.

Ab dann gilt auch die Regelung, dass in den Krankenhäusern nur eine Minimalbesatzung im Einsatz ist. Dies ist völlig richtig angesichts der Weigerung der Klinikführungen, auch über einen Streiknotfahrplan zu verhandeln. Bei Vivantes haben zwölf, bei der Charité sieben Teams angekündigt, ab der Dienstagsfrühschicht nicht mehr auf den Stationen zu erscheinen.

Vertrauen in die ver.di-Führung ist gut – Kontrolle ist besser!

Die Streikenden sind jedoch gut beraten, der ver.di-Spitze nicht blind Vertrauen zu schenken: mit der Bürokratie, wo möglich, gegen sie, wo nötig! Sie fordert ja nicht, dass die Kliniktochtergesellschaften allesamt wieder unters Dach ihrer Mütter kommen, sondern lediglich die Anwendung des TVöD auf diese, was zweifellos schon ein Fortschritt wäre. Ein sich lange hinziehender Arbeitskampf ihrer KollegInnen von der Charité-Tochter CFM mit insgesamt 85 Streiktagen führte schließlich zu einem Kompromiss, der weder die Übernahme noch vollständige Angleichung an den TVöD zeitigte. Die Rückführung in den Schoß der Kliniken war zudem ein Versprechen des rot-rot-grünen Senats. Auch gegenüber ihm müssen die Streikenden also skeptisch bleiben. Ein Vertreter der Gesundheitssenatorin hatte zudem vorletzten Donnerstag auf einer Kundgebung von Auszubildenden in der Krankenpflege darauf verwiesen, dass ein Abschluss mit einem Rauswurf der Kliniken aus dem Kommunalen Arbeit„geber“Innenverband (KAV) gekontert werden könnte. Hier rächt sich, dass ver.di die Anliegen der Pflege (Entlastung) und der ausgelagerten Bereiche (Angleichung an den TVöD) nicht zum Bestandteil der Tarifrunde im Frühjahr gemacht und auf einen „Ausweg“ in Form des Kampfs einzelner Häuser wie jetzt in Berlin verwiesen hatte.

Nicht gelöst und durch einen TV Entlastung auch schwer zu lösen ist das Problem seiner Umsetzung bei Unterschreitung der vereinbarten Personaluntergrenzen. Statt der schwerfälligen Interventionskaskade, die außerdem trotz sozialpartnerschaftlicher Gremien letztlich in der Hand der Klinikleitung liegt, brauchen wir eine wirksame Kontrolle mit Bettensperrungen bzw. Stationsschließungen, wenn’s kritisch wird. Jena zeigt hier den Weg.

Womit beginnen?

Im Streikfall müssen die Streikkomitees demokratisch aufgebaut werden und funktionieren und jederzeit durch die Basis absetz- und erneuerbar sein. Die TarifberaterInnen bzw. -botschafterInnen/Teamdelegierten, die eine wichtige Funktion in der Gewinnung neuer Gewerkschaftsmitglieder und als MultiplikatorInnen der Kampagne für den Arbeitskampf hatten, dürfen sich von den SpitzenfunktionärInnen weder im noch nach einem Streik aufs Abstellgleis schicken lassen, wenn sie in deren Augen ihre Schuldigkeit getan haben. Sie können einen mächtigen Hebel für die Revitalisierung des Gewerkschaftslebens im Krankenhaus abgeben, Betriebsgruppen und Vertrauensleutekörper ins Leben rufen oder aus dem Dornröschenschlaf erwecken.

Ihre zweite wichtige Aufgabe bestünde darin, das dynamische Element für die auszuübende Kontrolle der Beschäftigten über ihre Arbeitsbedingungen abzugeben, bei der Organisierung echter ArbeiterInnenkontrolle (Betriebskontrollkomitees) initiativ zu werden und die Solidarität mit den anderen DGB-Gewerkschaften für einen politischen Streik für ein Personalbemessungsgesetz im Gesundheitswesen herzustellen, der schließlich auch die ganze Frage der Rekommunalisierung der privatisierten Krankenhäuser unter Kontrolle der Beschäftigten und PatientInnen und der vollen Refinanzierung der aufkommenden Kosten im Gesundheitsbereich aufwerfen muss. Schließlich sollten sie auch ihr Augenmerk auf den Aufbau von Solidaritätskomitees besonders mit den proletarischen Teilen der Bevölkerung richten, v. a. PatientInnenverbänden, aber auch UnterstützerInnen wie DWE und „Gesundheit statt Profite“.

Darüber hinaus müssen die Betriebs- bzw. Personalräte und ver.di die Initiative ergreifen, die in Berlin gestartete Kampagne aufs ganze Bundesgebiet auszudehnen, vorzugsweise in Gestalt einer Bundeskrankenhauskonferenz mit von unten gewählten Delegierten.

Forderungen und Perspektiven

  • Schluss mit den Privatisierungen im Gesundheitswesen!
  • Entschädigungslose Rückverstaatlichung der bereits privatisierten Krankenhäuser; die ausgelagerten Bereiche müssen wieder dort integriert werden!
  • Fortführung dieser unter Kontrolle von Beschäftigten, Gewerkschaften und VertreterInnen aller weiteren Lohnabhängigen!
  • Weg mit dem System der Fallpauschalen – die real entstehenden Kosten einer Behandlung müssen refinanziert werden!
  • Volle Übernahme der notwendigen Investitionskosten durch den Staat!
  • Offenlegung aller Bilanzen!
  • Für eine ihrem verantwortungsvollen Beruf angemessene, also massiv erhöhte und tarifgebundene Bezahlung der Beschäftigten im Pflegebereich!
  • Für ein ausreichendes Pflegepersonalgesetz in allen Sektoren, auch der Altenpflege! Personalbedarf für die PatientInnenversorgung, errechnet durch die Beschäftigten sowie PatientInnen und ihre Organisationen selber! Laufende Personalbesetzungs- und Betriebsregelungen unter ArbeiterInnenkontrolle!
  • Für flächendeckende Vollstreiks wie z. B. während Gehaltstarifrunden, die alle Beschäftigten einbeziehen! Kontrolle über Streik und Umsetzung des Ergebnisses durch die Basis (ArbeiterInnen- statt Managementkontrolle)! Einbeziehung aller Berufsgruppen! Wiedereingliederung der ausgegliederten Bereiche zu vollen TVöD-Ansprüchen!
  • Für einen politischen Massenstreik gegen Pflegenotstand, ausgerufen durch den DGB!
  • Plan- statt Marktwirtschaft: Erstellung eines Plans für ein integriertes Gesundheits-, Rettungs-, Kur- und Rehabilitationswesen von unten durch Beschäftigte und PatientInnen unter Hinzuziehung von ExpertInnen ihres Vertrauens!
  • Weg mit Beitragsbemessungsgrenzen und Ausstiegsmöglichkeiten aus der gesetzlichen Krankenversicherung! Für weitere Finanzierung des Plans durch progressive Steuern auf Kapital, Gewinne und Vermögen!

Diese Forderungen können einen Schritt darstellen zur Sozialisierung der gesamten Care- und Reproduktionsarbeit einschließlich der unbezahlten in Privathaushalten. Das kann auch die prekär Beschäftigten auf unterster Stufenleiter unabhängig von ihrer Staatszugehörigkeit, ferner alle Azubis mitnehmen und die Tür aufmachen zu einem vernünftigen Gesellschaftssystem, das den arbeitenden Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt der Produktionszwecke stellt: Sozialismus statt Kapitalismus!