Südafrika: Die Armen konfrontieren den ANC mit seiner Verkommenheit

Jeremy Dewar, Infomail 1157, 26. Juli 2021

Südafrika erlebt gerade die schlimmste Gewalt im Land seit dem Fall der Apartheid vor fast drei Jahrzehnten. Fünf Tage lang plünderten und brannten verarmte ArbeiterInnen und städtische Arme Einkaufszentren, Supermärkte und lebensmittelverarbeitende Fabriken im ganzen Land nieder – unter Missachtung von Polizei und Militär. Dies war in erster Linie ein Aufstand der Armen gegen die vom African National Congress geführte Regierung (Afrikanischer Nationalkongress, ANC).

Viele KommentatorInnen, einschließlich der BBC, konzentrierten sich auf die Free-Zuma-Kampagne und ihre Basis innerhalb der ANC-Spitze, die nach der Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Jacob Zuma durch das Verfassungsgericht zu Massenprotesten und orchestrierten Sabotageakten gegen wichtige Infrastrukturen wie Straßen und Schienen, Fabriken und medizinische Einrichtungen aufrief. Doch je weiter sich die Unruhen über Zumas Basis in der östlichen Provinz KwaZulu-Natal hinaus ausbreiteten, desto mehr nahmen sie die Form einer Volksrevolte gegen Armut an.

Spaltung des ANC – eine Hälfte bis ins Mark so verdorben wie die andere

Natürlich kam es beiden Seiten in dem anhaltenden ANC-Fraktionskampf gelegen, die Unruhen als das Überschwappen ihres politischen Kampfes um die Vorherrschaft auf die Straße darzustellen. Auf diese Weise konnten sie die Notlage der Massen ignorieren, die sich von Woche zu Woche verschlimmert, und das Augenmerk von ihrem Versagen im Umgang mit der Wirtschaft und der Pandemie, ihrer Bestechlichkeit und Korruption, ihrer mörderischen Repression ablenken.

Diesem Narrativ folgend, begannen die Ereignisse Ende Juni damit, dass das Verfassungsgericht Zuma zu 15 Monaten Haft verurteilte, weil er einer Untersuchung von Korruption auf Staatsebene während seiner Präsidentschaft zwischen 2012 und 2018 nicht nachgekommen war. In einer scheinbar taktisch geplanten Kapitulation stellte sich Zuma am 8. Juli.

Dies löste die ersten Demonstrationen aus, Angriffe auf die Polizei, die, wie die auf dem Capitol Hill beim Trump-Putsch, verdächtig untervorbereitet wirkte, und Transportblockaden, Plünderungen von Sanitätshäusern usw. Im Laufe der Woche wuchs die Zahl der Menschen auf den Straßen deutlich an. Zu diesem Zeitpunkt wurden vor allem Einkaufszentren und Lebensmittellager zu den Hauptzielen, da sich die Ausschreitungen auf Johannesburg und die Provinz Gauteng ausweiteten. Insgesamt wurden über 1.000 Supermärkte für Grundnahrungsmittel geplündert.

Dies führte dazu, dass die Free-Zuma-Kampagne in opportunistischer Weise behauptete: „Nur ein freier Präsident Zuma kann sich an unsere Nation wenden und zur Ruhe aufrufen“, um hinzuzufügen, dass die Ermittlungen zu Zumas Förderung von Waffengeschäften „sofort eingestellt werden müssen“ – als ob sich die DemonstrantInnen zu diesem Zeitpunkt auch nur ein Jota um die Gefängnisstrafe des korrupten Zuma oder die „Übernahme des Staates“ durch seine KumpanInnen scherten.

Dies benutzte Präsident und ANC-Vorsitzender Cyril Ramaphosa als Vorwand, um bis zu 25.000 SoldatInnen auf die Straße zu schicken, die „den demokratischen Staat“ verteidigen und einen Putsch verhindern sollten, indem er behauptete: „Die verfassungsmäßige Ordnung unseres Landes ist bedroht.“ Die wirkliche Bedrohung für Ramaphosa bestand allerdings darin, dass die Unruhen zum Auftakt eines anhaltenden Widerstands der ArbeiterInnenklasse gegen die Art und Weise werden könnten, wie er im Namen des in- und ausländischen Großkapitals regiert.

RegierungsbeamtInnen folgten dem und schürten Ängste vor einer „zweiten Phase“ des Putsches, in der das Ziel sei, das Land „unregierbar“ zu machen und Südafrika zu den ethnischen Auseinandersetzungen der letzten Tagen der Apartheid zurückzubringen, alles ohne den geringsten Beweis. Auch Zumas Lager verschärfte die Rhetorik und forderte den Sturz der Regierung. Dazu muss man wissen, dass das Verfassungsgericht am Montag, den 12. Juni, Zumas Gefängnisstrafe aufhob und damit den Weg für einen Deal ebnete, obwohl er noch nicht freigelassen worden ist.

Pandemie und Wirtschaft

Um den wahren Kern der Krise im ANC zu verstehen, muss man sich die südafrikanische Wirtschaft ansehen, die seit fast einem Jahrzehnt stagniert und im Jahr 2020 um rekordverdächtige 7 Prozent geschrumpft ist. Die Arbeitslosigkeit, die schon immer hoch war, liegt bei einem Rekordwert von 43 Prozent, bei der Jugend sogar bei astronomischen 74 Prozent; 2 Millionen Arbeitsplätze wurden während der Pandemie vernichtet.

Ende April hat die Regierung die monatlichen Zuschüsse zur sozialen Notlage (Social Relief of Distress, SRD) gestrichen, eine Leistung im Wert von nur 350 Rand (entspricht etwa 20 Euro), die Arbeitslosen zusteht. Ramaphosa behauptete, die Pandemie sei besiegt und wirtschaftliche Erholung zeichne sich ab. Das Einzige, was wuchs, waren jedoch die Kosten für Lebensmittel, die in den letzten Monaten um 7 Prozent gestiegen waren, wobei sich der Preis für Brot in der Woche vor den Unruhen verdoppelt hatte. Anfang Juli zwang eine dritte Coronawelle, die frühere sogar noch übertraf, Ramaphosa dazu, erneut harte Lockdownmaßnahmen zu verhängen und zugleich viele zu zwingen zu arbeiten, selbst wenn sie krank sind.

Obwohl die offizielle Zählung 64.000 Coronatote angibt, können wir davon ausgehen, dass es in Wirklichkeit 175.000 Tote sind (bei 60 Millionen EinwohnerInnen, also einer Bevölkerung von der Größe Großbritanniens), da der Gesundheitssektor überfordert ist. Nur 2,3 Prozent der Bevölkerung sind geimpft, obwohl der Impfstoff von Johnson & Johnson vor Ort produziert wird. Arbeiten oder hungern sind die einzigen Optionen für die ArbeiterInnen und das Schlimmste steht ihnen mit ziemlicher Sicherheit noch bevor.

Weder die Aktionen von Ramaphosa noch die aus Zumas Lager haben die Situation verbessert. Die Streichung auch nur der geringsten wirtschaftlichen Unterstützung für Arbeitslose und die Isolation, Plünderung und das Niederbrennen von medizinischen Fabriken und Einrichtungen wird die Zahl der Toten unter den Armen nur erhöhen. Kein/e ArbeiterIn sollte eine der beiden Fraktionen unterstützen, die beide eingeschworene Feindinnen unserer Klasse sind, nicht nur wegen vergangener Verbrechen, sondern wegen der gegenwärtigen Gefahr, die sie darstellen.

Der entscheidende Unterschied zwischen Ramaphosas regierender Fraktion, die von ihren GegnerInnen als „weißer Monopolkapitalismus“ bezeichnet wird, und Zuma, dem die „Übernahme des Staates“ in Absprache mit der Gupta-Familie vorgeworfen wird, besteht darin, wie sie die Wirtschaft wiederbeleben wollen. Was Korruption angeht, sind beide Männer äußerst korrupt, aber das ist nicht die eigentliche Ursache der Verarmung der Massen. Die Lösungen beider Männer sind gleichermaßen nutzlos.

In Wahrheit ist Zumas „radikale wirtschaftliche Transformation“, obwohl sie einige linke Forderungen wie Verstaatlichung der Energieversorgung und Landumverteilung enthält, ein populistischer Schwindel. Wie kommt es, dass er nach acht Jahren im Amt keine einzige seiner Hauptforderungen umgesetzt hat? Wie kommt es, dass Südafrika nach seiner Amtszeit als das ungleichste Land der Welt dasteht? Und das ist nur die Bilanz, noch bevor man sich dem Thema Korruption und „Übernahme des Staates“ zuwendet.

Ramaphosa kann Zuma in Sachen Korruption, Veruntreuung und brutalen Terrors sicher das Wasser reichen, wenn man seine Bilanz über die Jahrzehnte betrachtet wie z. B. die Anordnung zur Erschießung von 34 streikenden BergarbeiterInnen im Jahr 2012. Selbst heute mussten wichtige MinisterInnen wegen der unzulässigen Vergabe von Verträgen an Günstlinge zurücktreten, nur ein Drittel des 5-Milliarden-Rand-Ausgabenpakets hat die vorgesehenen EmpfängerInnen erreicht und seine Polizei und SoldatInnen haben in der letzten Woche bis zu 200 DemonstrantInnen und ZivilistInnen getötet. Was den persönlichen Reichtum betrifft, so übersteigt sein geschätztes Nettovermögen von 450 Millionen US-Dollar die 20 Millionen US-Dollar von Zuma bei weitem – man könnte sagen, dass er mit dieser Form des „Empowerment“ sehr gut gefahren ist.

Doch Ramaphosa folgt letztlich den Interessen einer bestimmten Klasse, vor allem von ausländischen und südafrikanischen imperialistischen InvestorInnen. Sie haben eine doppelte Forderung: die Korruption, die ihre operativen Geschäfte belastet, zu reduzieren und die ArbeiterInnenklasse und ihre Gewerkschaften zu zähmen. Die ausländischen ImperialistInnen kommen heute sowohl aus dem Osten als auch aus dem Westen. Die Aufgabe, vor der SozialistInnen in Südafrika heute stehen, ist, den Kampf für Notmaßnahmen zur Sicherung von Arbeitsplätzen, Gesundheit, Sozialleistungen und Lebensmitteln mit einem strategischen Kampf gegen das von Zuma und Ramaphosa verteidigte System, den Kapitalismus, zu verbinden. Die Bosse planen, von der Krise zu profitieren, und das sollten die ArbeiterInnen auch.

Die Linke

Die südafrikanische ArbeiterInnenklasse hat eine stolze Kampfbilanz vorzuweisen, und das nicht nur als historische Speerspitze der Anti-Apartheid-Kämpfe in den 1980er Jahren, die das Regime in die Knie zwangen. Im letzten Jahrzehnt hat sie regelmäßig die weltweit höchste Anzahl von Streiktagen zu verzeichnen.

In dieser Zeit begann die Avantgarde der ArbeiterInnenklasse, vor allem in den Gewerkschaften, aber auch in den Townships und unter der Jugend, mit der ANC-Volksfrontregierung zu brechen. Dies war zwar notwendig und ein Schritt in Richtung Klassenunabhängigkeit, hat aber auch weitere Spaltungen und damit Verwirrung produziert. Leider ließ sich vieles davon während des jüngsten Aufstandes beobachten.

Die Partei der Economic Freedom Fighters (KämpferInnen für wirtschaftliche Freiheit, EFF), die von der stalinistischen Kultfigur Julius Malema angeführt wird, kämpfte während der Krise um Aufmerksamkeit. Malema übte keine Kritik an Zuma, den er als glaubwürdigen politischen Akteur und potenziellen Verbündeten ansieht. Da er die Notwendigkeit zur Schärfung des Profils der EFF sah, reagierte Malema aus heiterem Himmel mit einem Tweet auf das Vorgehen der Regierung Ramaphosa: „Keine SoldatInnen auf unseren Straßen! Ansonsten schließen wir uns an. Alle KämpferInnen müssen bereit sein … sie werden uns nicht alle umbringen.“ Nicht nur, dass dies nicht zustande kam, sondern die Farce ist nun in ein Gerichtsverfahren übergegangen, wobei Malema den Führer der oppositionellen Democratic Alliance (Demokratische Allianz, DA) wegen Verleumdung verklagte, als dieser Malema wegen Anstiftung zur Gewalt anzeigte!

Notwendig war nicht ein erbitterter Kampf mit der Armee (auf den sich die EFF nicht vorbereitet hatte und den sie nie auf die Beine stellen konnte), sondern Verteidigungsposten aus der ArbeiterInnenklasse, die die Stadtteile vor der Polizei schützen, sich mit den einfachen SoldatInnen verbrüdern und kriminelle Banden aufhalten konnten, die anrückten, um die Situation auszunutzen. Es gibt einige Berichte darüber, dass dies ansatzweise stattgefunden hat, allerdings nicht unter Führung der EFF.

Dass Malema Zuma stillschweigend unterstützt, ist keine Überraschung, wenn man bedenkt, wie viele Gemeinsamkeiten sie haben. Sie kommen beide aus dem stalinistischen Lager innerhalb des ANC, beide sind in Korruptionsvorwürfe immensen Ausmaßes verwickelt und  Meister der Demagogie. Aber auch der Präsident der National Union of Metalworkers of South Africa (Nationaler Metallarbeiterinnenverband, NUMSA; größte Einzelgewerkschaft Südafrikas) und Führer der Socialist Revolutionary Workers Party (Sozialistische Revolutionäre ArbeiterInnenpartei, SRWP), Irvin Jim, schloss sich den beiden an und machte zu seiner Hauptbeschwerde über Ramaphosa „dessen Versäumnis, den ehemaligen Präsidenten Zuma beim Namen zu nennen“. Diese beiden falschen Führer würden lieber einen Handel mit Zuma eingehen, als einen Ausweg für die ArbeiterInnenklasse aufzuzeigen.

Wie weiter?

Unruhen, selbst wenn sie authentische Aufschreie der Armen und Verzweifelten sind, angeheizt durch die Wut gegen ihre UnterdrückerInnen, können niemals die Grundlage für einen längeren Kampf bieten. Bestenfalls können sie die Massen ermutigen und eine Minderheit politisieren, indem sie sie mit einer gewissen organisatorischen Grundausbildung ausstatten. Aber am Ende können sie genau die Gruppen von sich entfremden, die mit den Folgen leben müssen: Repression (über 2.500 Verhaftungen), Lebensmittel- und Treibstoffknappheit und weitere Entbehrungen.

Einige in der Linken, insbesondere die Workers and Socialist Party (Sozialistische und ArbeiterInnenpartei, WASP), haben diesen Punkt angesprochen und zu Recht versucht, die Aufgaben des heutigen Kampfes mit dem für den Sozialismus zu verbinden. Um dies zu konkretisieren, plädieren wir für einen vereinigten Kampf und fordern:

  • Bildung von ArbeiterInnenverteidigungseinheiten, die in jeder Ortschaft den Volksversammlungen rechenschaftspflichtig sind, repräsentativ für alle Betriebe und ArbeiterInnenviertel, um sich Polizei, Armee und kriminellen Banden zu widersetzen.
  • Bildung von Aktionsräten in jeder Stadt und jedem Bezirk, um die Krise zu diskutieren, Streiks auszurufen und durchzuführen, kostenlose Lebensmittel für die Bedürftigen zu beschaffen und zu verteilen und Massenaktionen, Demonstrationen, Mietstreiks usw. durchzuführen.
  • Aufruf an alle Gewerkschaftsverbände, insbesondere South African Federation of Trade Unions (Südafrikanischer Gewerkschaftsdachverband, SAFTU) und Congress of South African Trade Unions (Kongress Südafrikanischer Gewerkschaften, COSATU), einen Generalstreik zu starten, um KurzarbeiterInnengeld statt Stellenabbau, wirtschaftliche Unterstützung für Kranke und Arbeitslose, vollständige und schnelle Einführung des Impfstoffs und Sicherheitsmaßnahmen unter ArbeiterInnenkontrolle zu fordern.
  • Eine Basisbewegung in allen Gewerkschaften mit dem Ziel, die Bürokratie zu beseitigen, die Gewerkschaften zunächst im Kampf und dann organisatorisch zu vereinigen und sie zum Aufbau einer revolutionären sozialistischen Partei zu nutzen, die demokratisch von ihren Mitgliedern kontrolliert wird und in ihren antikapitalistischen Aktionen zentralisiert ist.

Keine der bestehenden „Parteien“ links vom ANC hat den Test der letzten Tage bestanden. Ausgehend von der aktuellen Krise kann die südafrikanische ArbeiterInnenklasse nicht nur Ramaphosa davon abhalten, sie für die vielfältigen Krisen bezahlen zu lassen, sondern auch die Basis für eine neue Partei bereiten, die den Kampf für den Sozialismus anführen kann.