Proteste in Kuba werfen die Frage nach einer sozialistischen Perspektive auf

Markus Lehner, Infomail 1156, 16. Juli 2021

Am Samstag, den 10. Juli, verabredeten sich mehrere BloggerInnen für den kommenden Sonntagmittag, um in San Antonio de los Baños, einem Vorort von Havanna, gegen die extrem schlechte Versorgungslage in Kuba zu protestieren. Aus diesem spontanen Protest in einer Kleinstadt wurde über die Verbreitung in den sozialen Medien im Laufe des Sonntags ein Massenprotest, der sich auf Havanna (ähnlich wie 1994 auf der Uferstraße Malecón in der Hauptstadt), Palma Soriano, Holguín, Camagüey, Santiago de Cuba und andere Orte ausbreitete.

An diesen verschiedenen Orten gab es durchaus unterschiedliche Formen des Protestes von friedlichen Manifestationen bis hin zu Plünderungen, wie auch unterschiedliche Slogans. Verbindendes Moment war im Wesentlichen die Verzweiflung über die Versorgungslage, die häufiger werdenden Stromabschaltungen (besonders außerhalb von Havanna) und die ernster werdende Coronasituation, samt Mangel an Medikamenten.

Die Proteste erreichten zumindest ein solches Ausmaß, dass die Übertragung des Fußball-EM-Finales im Staatsfernsehen unterbrochen wurde für eine Ansprache des Staats- und Ministerratspräsidenten Miguel Díaz-Canel. In dieser Rede erkannte der Präsident durchaus die angesprochenen Probleme an. Vor allem aber erklärte er, dass die USA durch ihre Blockadepolitik diese Probleme verursacht habe, um damit eben diese Protestbewegung zu provozieren und auch Drahtzieherin hinter der Organisation der Proteste zu sein.

Er rief entsprechend zu Gegenprotesten zur „Rettung der kubanischen Revolution“ auf. Entsprechend wurden auch die Sicherheitskräfte zur Unterdrückung der Proteste eingesetzt, das Internet und andere Kommunikationsmedien zeitweise blockiert, eine große Zahl bekannter Oppositioneller (auch von linken und LGTBIAQ-Gruppen) inhaftiert. Auch die regierungstreuen Demonstrationen brachten Tausende auf die Straße und führten offensichtlich zu einem Abbrechen der weniger gut organisierten Antiregierungsproteste, vor allem, da auch gewaltsame Konfrontationen drohten.

Die USA und die EU ergriffen sofort für die Antiregierungsproteste Partei und erklärten sie zu Bewegungen „für Demokratie und Menschenrechte“. Insbesondere die USA taten so, als ob ihre Sanktionen gar nichts mit der Versorgungslage auf Kuba zu tun hätten und letztere ganz auf das „Missmanagement“ der kubanischen Regierung zurückzuführen sei.

Rechte Regime in Lateinamerika wie jenes des brasilianischen Staatspräsidenten Bolsonaro, unter denen die Versorgungslage, die medizinische Versorgung angesichts von Corona noch um einiges schlimmer ist als auf Kuba, erklärten sich solidarisch mit dem „Kampf gegen die brutale Diktatur“. Nur Mexiko, Venezuela und Argentinien versprachen Soforthilfen, um die akuten Versorgungsprobleme zu beheben. Auch angesichts der instabilen Lage in der Region ist eine militärische Intervention nicht ganz ausgeschlossen. Andererseits hat Russland, das in den letzten Jahren wieder zum wichtigsten Investor neben China geworden ist, die USA vor jeglichem Eingreifen in Kuba gewarnt.

Die kubanische Regierung regierte auf die Protestbewegung inzwischen mit bestimmten ökonomischen Zugeständnissen, z. B. was Devisen- und Einfuhrbeschränkungen für Einreisende (vor allem im Zusammenhang mit dem Tourismus) sowie Lockerungen in Bezug auf bestimmte Rationierungen betrifft. Einige Oppositionelle wurden auch wieder freigelassen und den Protestierenden ein „Dialog“ angeboten.

Dies deutet darauf hin, dass die kubanische Regierung die Lage nicht nur durch Repression, sondern auch Zugeständnisse und Inkorporation von Teilen der Opposition beruhigen will. Ob dies kurzfristig zu einem Abebben der Proteste führen wird oder diese ermutigt, ist zur Zeit unklar. Die entscheidende Frage wird in jedem Fall sein, welche politischen Kräfte in der Bewegung und in der Bevölkerung insgesamt die Richtung bestimmen werden. Als sicher kann freilich eines gelten: Die sozialen Ursachen, die Tausende auf die Straße brachten, werden nicht verschwinden.

Protestbewegung

Eine Reihe von Linken vertritt die Einschätzung, dass diese Protestbewegung letztlich nur als Element einer neuen „Farbenrevolution“, als vom Imperialismus gesteuerte „Demokratiebewegung“ zum Sturz einer linken Regierung zu betrachten wäre, wie dies auch schon in mehreren lateinamerikanischen Staaten versucht wurde (Venezuela, Brasilien, Bolivien, Ecuador … ). Gegen ein solches Szenario spricht jedoch, dass die Bewegung sicherlich an ihrem Beginn spontan war, viel zu heterogen ist und auch in ihren Forderungen nicht auf einen „Regimesturz“ festzulegen oder zu reduzieren ist.

Es ist klar, dass dies im Verlauf der Entwicklung einer solchen Bewegung anders werden könnte. Die Teilnahme von linken, sozialistischen und LGBTIAQ-Gruppen an den Protesten spricht jedoch dafür, dass die Bewegung durchaus eine ganz andere, progressive Richtung einschlagen könnte. Der breite Protest gegen die Verhaftung von Frank García Hernández („Comunistas Blog“) zeigt auch, dass diese linke Strömung zumindest in Havanna auch eine gewisse Verankerung hat.

Zweifellos ist der Hauptgrund und unmittelbare Auslöserin der Proteste die schwierige wirtschaftliche Situation in Kuba. Ganz Lateinamerika wird zur Zeit von einer schweren ökonomischen Krise heimgesucht, von der auch Kuba nicht ausgenommen ist. Insofern sind davon ausgehende Massenproteste auf dem ganzen Kontinent nichts Unerwartetes.

Aber die Situation in Kuba wird schon seit Jahrzehnten durch die US-Wirtschaftsblockade geprägt, die durch die Verschärfungen unter Trump noch einmal verschlimmert wurde. Insbesondere das Verbot von Dollartransfers von AuslandskubanerInnen hat den Kampf ums tägliche Überleben noch schwieriger gemacht. Dazu kam jetzt der coronabedingte Einbruch im Tourismus um 70 %, der zusätzlich die Devisenquellen verknappt hat, während der Resttourismus vor allem aus Russland noch groß genug war, um offensichtlich gerade jetzt eine Pandemiewelle in Kuba zu befeuern. Die Devisenknappheit ist auch ein Problem angesichts der hohen Importabhängigkeit des Landes, das etwa 80 % der Grundnahrungsmittel einführen muss. Dies führte zu einer hohen Auslandsschuld (200 Millionen USD), die gerade erst im Juni zu einem Abkommen mit den GläubigerInnen führte.

Das erklärt auch, warum die kubanische Regierung derzeit zu Rationierungsmaßnahmen und Stromeinsparungen greifen musste. Hier erweist sich insbesondere China als unerbittlicher Gläubiger, der auf pünktliche Bezahlung besteht bzw. seine Zahlungsbedingungen durchdrückt. Die kubanische Regierung bleibt damit eingezwängt zwischen US-Blockade, Druck von den GläubigerInnen und der wachsenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Versorgungslage. In der letzten Woche vor den Protesten ging in den staatlichen Läden sogar das Mehl aus.

Schluss mit den Sanktionen!

Von daher ist klar, dass die ersten Forderungen von SozialistInnen auf der ganzen Welt sein müssen: Schluss mit allen Sanktionen und der Blockaden gegen Kuba und Streichung aller Auslandsschulden! Angesichts der schwierigen Lage muss es auch bedingungslose Nahrungsmittelhilfen geben sowie Rohstofflieferungen zur Erleichterung der pharmazeutischen und Impfstoffproduktion. Kuba selbst hat an sich eine gut ausgebaute, die aber derzeit auch stark für den Export (z. B. nach China) genutzt wird. Auch hat Kuba selbst zwei sehr effektive Coronaimpfstoffe entwickelt, deren rasche Produktion jedoch auch wieder entsprechende Rohstoffimporte erfordert. Die rasche Impfkampagne, die von der Regierung geplant ist, könnte bei entsprechender Produktionsleistung auch bald zu einer Entspannung gerade an dieser Front führen. Von dieser Impfstoffproduktion könnten zudem auch andere Länder, insbesondere in Lateinamerika profitieren.

Sicherlich ist daher von der wirtschaftlichen Krise in Kuba vieles von außen hineingebracht. Andererseits sind diese Probleme auch ein langfristiges Resultat des verfehlten Modells des „Sozialismus auf einer Insel“. Ein derart hoher Importbedarf an lebenswichtigen Produkten (auch von Grundnahrungsmitteln) zeigt, wie wenig Kuba auch im damaligen Verbund mit den „sozialistischen Bruderstaaten“ in der Lage war, seine einseitige, abhängige Entwicklung aus der (Post-)Kolonialzeit zu überwinden, so dass es weiter von einer landwirtschaftlichen Monokultur abhängig blieb, bei weiterhin geringer Entwicklung von Selbstversorgung für wesentliche Agrar- und Industrieprodukte.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat sich diese ungünstige Wirtschaftsstruktur noch verschärft, indem eine große Abhängigkeit vom Tourismus sowie vom Export von Nickel und medizinischen Produkten und Dienstleistungen die Ökonomie prägt. Die Wirtschaftspolitik des castroistischen Regimes war nach dem Zusammenbruch des Ostblocks von einem Zickzack geprägt: einerseits Zulassen von Privatunternehmertum bis zu einem gewissen Grad und Lockerungen, was die Währungspolitik betrifft (Dollarisierung), andererseits immer wieder auch Straffung der staatlichen Kontrolle.

Letztere fungieren als ein notdürftiger Reparaturbetrieb angesichts der unvermeidlichen Folgen immer umfangreicherer marktwirtschaftlicher Reformen, die man selbst vorantrieb. Die Zunahme der sozialen Ungleichheit, Triebfeder der sozialen Proteste, auf Kuba ist nicht nur von außen erzwungen, sondern auch Resultat eines Wirtschaftskurses, der dem Kapitalismus den Boden bereitet und den „Sozialismus“ immer weiter unterhöhlt und unglaubwürdiger macht.

Letztlich bleibt die weiterhin dominierende bürokratische Planung aber völlig abhängig von den Problemen der Devisenbeschaffung und Bedienung der Auslandsschulden. In Folge der Reformen hat sich dabei eine immer größere soziale Spaltung in der kubanischen Gesellschaft ergeben, in der bestimmte Schichten, die sich Devisen beschaffen können oder in wichtigen Export- und Tourismusbereichen arbeiten, durchaus gut leben können, während für den Rest der Bevölkerung die Versorgungslage immer schwieriger wird.

Perspektive

Der Kern einer Lösung der langfristigen Probleme liegt daher in einer grundlegenden Demokratisierung und Umgestaltung des Wirtschaftsplans. Die Prioritäten müssen langfristig von den Bedürfnissen des Exports auf Gewährleistung der Grundversorgung umgestellt werden. Dazu muss ein von den ArbeiterInnen demokratisch erstellter und kontrollierter langfristiger Plan durchgesetzt werden, der allen arbeitenden Teilen der kubanischen Gesellschaft eine Perspektive gibt. Es ist auch klar, dass eine solche Abkehr von der abhängigen Entwicklung nicht von Kuba alleine bewältigt werden kann. Eine solche Umstellung der Ökonomie wird umso einfacher, je mehr Länder in Lateinamerika einen sozialistischen Weg einschlagen und für einen die ganze Region umfassenden demokratischen Plan des wirtschaftlichen Umbaus gewonnen werden können.

Kurzum, die Isolierung Kubas von der Entwicklung einer internationalen Revolution muss überwunden werden. Es kann kein Sozialismus in einem einzigen Land aufgebaut werden. Wenn dies in der UdSSR oder China nicht möglich war, ist es in einem kleinen Land wie Kuba erst recht eine Utopie. Ein ArbeiterInnenstaat, der sich auf die ArbeiterInnendemokratie gründet, könnte jedoch Bestand haben und sowohl eine Inspiration als auch eine Hilfe für RevolutionärInnen weltweit und insbesondere in Lateinamerika sein. Deshalb muss Kuba gegen alle Versuche der USA, den Kapitalismus zu restaurieren, verteidigt werden.

Die Regierung der kubanischen KP wird selbst in ihrem „Dialogangebot“ eine solche Radikalisierung und Demokratisierung der wirtschaftlichen Planung niemals vorschlagen. Im Gegenteil. Die kubanische Revolution war von Beginn an mit dem Problem behaftet, dass die Partei- und Staatsbürokratie die politische Macht monopolisierte, der ArbeiterInnenstaat war also von Beginn an bürokratisch degeneriert. Die Herrschaft dieser Bürokratie stellt selbst ein Hindernis für die weitere Entwicklung zum Sozialismus dar und droht, wie die marktwirtschaftlichen Reformen zeigen, selbst die Errungenschaften der Revolution zu unterminieren und zu zerstören.

Auch deshalb ist der Protest gegen die sozialen Folgen dieser Politik nicht nur legitim, sondern letztlich auch eine Voraussetzung für eine wirkliche Veränderung. Innerhalb der Bewegung ist die Frage, welche politische Richtung sie einschlagen soll, selbst eine Frage des Kampfes, der politischen Konfrontation nicht nur mit den regierungstreuen Kräften, sondern auch unter den Unzufriedenen und DemonstrantInnen.

Gerade angesichts der Krise der staatlichen Wirtschaftspolitik, ist zu befürchten, dass viele „mehr Markt“ als die einfachste Lösung ansehen werden. Wie die Erfahrungen mit kapitalistischer Restauration anderswo zeigen, verschärft das allerdings die Probleme für den Großteil der Bevölkerung. Wesentlich ist, dass die Organe, die jetzt gebildet werden, ob zum Dialog mit der Regierung oder zum ehrlichen Protest gegen Versorgungsprobleme, zu demokratischen Podien der Diskussion zum Ausweg aus der Krise, zur praktischen Umgestaltung von Produktion und Verteilung in den Betrieben und Stadtteilen werden, kurz zur Basis von ArbeiterInnenkontrollorganen, die auch die Kontrolle über die Planinstitutionen übernehmen können.

Solche Organe können für Gruppen, wie den Comunistas-Blog, andere revolutionär-sozialistische Gruppen oder linke AktivistInnen der LGBTIAQ-Bewegung die Basis liefern, sowohl die konterrevolutionären Tendenzen in der Protestbewegung zu bekämpfen als auch für den Sturz der Herrschaft der Bürokratie und für das Voranschreiten der kubanischen Revolution zu einer wirklich demokratischen Planwirtschaft zu wirken.

Klar ist jedenfalls, wie wir es während der kapitalistischen Restauration in Osteuropa erlebt haben: Die Bürokratie ist letztlich repressiv und nicht in der Lage, nachkapitalistische Eigentumsverhältnisse zu verteidigen. Die antibürokratische Protestbewegung muss wirklich revolutionäre sozialistische Kräfte aufbauen, die sich für die Förderung einer sozialistischen Entwicklung einsetzen, oder sie wird zu einem Vehikel der Restauration.

Letztendlich kann nur eine politische Revolution die ArbeiterInnendemokratie schaffen, die bürokratische Kaste, die Kuba regiert, auflösen und die Entwicklung einer sozialen Konterrevolution unter dem Banner der bürgerlichen Demokratie und der Erwartung billiger Lieferungen vom Weltmarkt stoppen. Was letzteres in der Praxis bedeuten würde, lässt sich an den Lebensbedingungen der ArbeiterInnen und armen Landbevölkerung in den Nachbarländern Lateinamerikas ablesen.