Die Dauerkrise der NPA

Martin Suchanek, Infomail 1153, 18. Juni 2021

In den letzten Jahren war es um die NPA (Nouveau Parti Anticapitaliste; Neue Antikapitalistische Partei) still geworden. Zum Zeitpunkt ihre Gründung im Jahr 2009 galt sie bei europäischen Linken als Hoffnungsträgerin und Modell antikapitalistischer Einheit. Heute macht sie vor allem durch innere Krisen, Konflikte, angedrohte und wirkliche Abspaltungen von sich reden.

Schon im August 2020 veröffentlichte Le Monde einen Artikel, der von einer bevorstehenden Spaltung und Auflösung der NPA berichtete. Demzufolge strebe die traditionelle Führung um Besancenot und Poutou eine „einvernehmliche Scheidung“ auf einem Kongress an.

Dieser fand, sicher auch aufgrund der Pandemie, nie statt. Doch auch der Plan selbst scheint bis auf Weiteres in den Schubladen verschwunden zu sein. Dafür spitzte sich in den letzten Wochen der innere Konflikt mit einer der größten, wenn nicht der größten Minderheitsfraktionen, der CCR (Courant Communiste Révolutionnaire; Revolutionäre Kommunistische Strömung) zu, die auf internationaler Ebene mit der Fracción Trotskista (FT) verbunden ist.

Der angebliche Ausschluss der CCR

Am 10. Juni veröffentlichte die CCR ein Schreiben, in dem sie die Mehrheit der NPA beschuldigt, sie aus der Organisation ausgeschlossen zu haben: „Wenige Tage vor der nationalen Konferenz, die die Ausrichtung und den/die Kandidaten/Kandidatin der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die nächsten Präsident:innenschaftswahlen festlegen soll, sind wir gezwungen, unseren faktischen Ausschluss aus dieser Organisation anzunehmen.“ (https://www.klassegegenklasse.org/frankreich-fast-300-von-der-npa-ausgeschlossene-aktivistinnen-rufen-zum-aufbau-einer-neuen-revolutionaeren-organisation-auf/)

Es bliebe der CCR, so die Versammlung von fast 300 ihrer AnhängerInnen, keine andere Wahl, als den Kampf für eine revolutionäre ArbeiterInnenpartei und Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2022 außerhalb der NPA zu führen: „Deshalb beginnen wir heute, nachdem wir aus der NPA ausgeschlossen wurden, sofort mit dem Prozess der Gründung einer neuen Organisation, mit der Perspektive, eine revolutionäre Partei der Arbeiter:innen aufzubauen, sowie mit der Suche nach den 500 notwendigen Unterschriften, damit Anasse als Kandidat für die Präsidentschaftswahlen 2022 antreten kann.“ (Ebenda)

Die CCR stellt die Zuspitzung so dar, als hätten sich alle anderen Strömungen und Fraktionen gemeinsam gegen sie verschworen und würden sie gezielt aus der Organisation drängen. Der rechte Flügel um Poutou und Besancenot gebe dabei den Ton an und alle (!) anderen linkeren Fraktionen würde das stillschweigend akzeptieren.

Die Vehemenz, mit der die CCR die Anschuldigung erhebt, erweckt auf den ersten Blick den Eindruck, dass sie wegen ihrer Positionen und ihres unermüdlichen Kampfes gegen die rechte Führung der NPA ausgeschlossen worden sei. Doch schon eine nähere Betrachtung des Textes wirft die Frage auf, wann, wo und von wem sie ausgeschlossen worden wäre. Eine weitere Recherche, die Durchsicht der Protokolle und Berichte von NPA-Sitzungen ergeben freilich: diesen Beschluss gab es nicht. Es fand kein Ausschluss statt.

Im Gegenteil. Betrachten wir die Belege, die die CCR für ihren „de facto“ Ausschluss anführt, wird die Suppe immer dünner. Die Webseite der Gruppe verweist darauf, dass der faktische Ausschluss ein Resultat der Beschlüsse der NPA-Leitung vom 22. und 23. Mai gewesen wäre. Doch diese, nachzulesen in deren Vorkonferenzbulletin (https://nouveaupartianticapitaliste.org/sites/default/files/bicnmai2021.pdf), enthalten nichts von einem solchen Ausschluss. Die Leitung der NPA nahm vielmehr eine Resolution an, die Antragsfristen, Modalitäten der Delegiertenwahl usw. festlegt – und zwar mit 54 Pro-Stimmen bei 10 Enthaltungen und ohne eine einzige Gegenstimme. Die VertreterInnen der CCR enthielten sich bei einer Resolution der Stimme, die angeblich ihrem faktischen Ausschluss gleichkam! Diese Inkonsistenz hätte die CCR zumindest erklären müssen.

So bleibt nur der Fakt, dass es keinen Ausschluss gab. Die Frage bleibt aber: Warum behauptet sie diesen so hartnäckig?

Die Entwicklung der NPA

Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir aber die Entwicklung der NPA in den letzten Jahren kurz Revue passieren lassen. In diesen gelang es der CCR, ihre Stellung deutlich zu stärken. Das lag vor allem am Austritt tausender Mitglieder sowie der Passivität der tradierten Mehrheit und auch der anderen linken Strömungen. Die CCR bildete zumeist den dynamischsten Flügel in der NPA, der aktiv in die sozialen Bewegungen und Kämpfe der ArbeiterInnenklasse intervenierte und dort sichtbarer war als die anderen (was nicht notwendigerweise bedeutet, dass er mehr Verankerung in diesen Kämpfen aufwies oder eine größere Rolle als andere spielte).

Von den rund 9000 Mitgliedern zur Gründung der NPA 2009 sind heute nur noch 1000 bis 1500 verblieben. Der größere Einfluss der CCR geht also sowohl auf ihr Wachstum in absoluten Zahlen, vor allem aber auf den extremen Niedergang der NPA selbst zurück.

2020 spitzte sich die Lage weiter zu, insbesondere als die NPA-Führung bei den Regionalwahlen prinzipienlose Blöcke mit der linkspopulistischen La France Insoumise (Widerspenstiges Frankreich; FI) und anderen, weniger bedeutenden reformistischen oder kleinbürgerlichen Gruppierungen einging. Die, vom Standpunkt der NPA erfolgreichste Kandidatur stellte dabei „Bordeaux en lutte“ (Bordeaux im Kampf) dar. Diese von Poutou angeführte Liste erhielt über 12 % der Stimmen und war, weil sie stark von der NPA geprägt war, vergleichsweise links. Andere Listenverbindungen dominierte der Linkspopulismus offen, die NPA wurde zu deren regionalen Wasserträgerin.

Einige linke Fraktionen in der NPA (z. B. L’Etincelle; Der Funke) lehnten diese Verbindung von Beginn an ab. Die CCR stimmte dem Projekt ursprünglich zu, kritisierte es jedoch später vehement. Um diesen Schwenk zu rechtfertigen, stellte sie das ursprüngliche Konzept von „Bordeaux en lutte“ als grundsätzlich verschieden von den anderen Wahlbündnissen mit dem Linkspopulismus dar.

Zugleich wurde an diesen Fragen ein grundlegendes, bis heute ungelöstes Problem deutlich: Wie charakterisiert die NPA FI? Welche Taktik verwendet sie ihr gegenüber? Und noch grundlegender: Wie verhält sich die NPA zu nicht-revolutionären Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen?

Fast alle Strömungen in der NPA charakterisieren FI als reformistische, nicht als linkspopulistische Kraft. Der politische Bruch, den Mélenchon mit der Wende von der Parti de Gauche (Partei der Linken; PdG) zur FI vollzog, wird damit jedoch nicht ausreichend begriffen. Gegenüber dem Linkspopulismus wird im Grunde dieselbe Taktik verfolgt wie gegenüber reformistischen Parteien.

Das zweite Problem bestand darin, dass bei allen diesen Wahlblöcken die NPA auf ihr eigenes Programm zugunsten eines „Einheitsfrontprogramms“ verzichtete, das einmal „linker“, einmal direkt populistisch war.

Zweifellos stellt die Anpassung an den Linkspopulismus eine nach rechts dar. Damit sollte wahrscheinlich auch die Möglichkeit weiterer Bündniskandidaturen bis hin zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sondiert werden. Wie so oft bei opportunistischen Manövern rücken mittlerweile sogar viele der ehemaligen BefürworterInnen, also der langjährigen Mehrheit, von weiteren Bündnissen mit FI ab, da diese die NPA offenkundig in den meisten Listen über den Tisch gezogen hat.

Bei „Bordeaux en lutte“ und den anderen Kandidaturen wird darüber hinaus ein weiteres Problem deutlich, das die NPA von Beginn an prägt: ihr mangelndes Verständnis des Reformismus und der Taktiken ihm gegenüber.

Exkurs zu einem Gründungsproblem der NPA

Bei Gründung der NPA ging die damalige Parteiführung davon aus, dass der Reformismus in Frankreich und auch international abgewirtschaftet hätte und tot wäre. Die große Rezession und die historische Krise der Weltwirtschaft würden keinen Spielraum für reformistische Politik der graduellen Reformen mehr erlauben und damit auch keinen für die Entstehung neuer reformistischer Parteien oder die Wiederbelebung alter. Diese impressionistische und oberflächliche Sicht der Dinge schien im Jahr 2009 jedoch zumindest in Frankreich eine gewisse Plausibilität zu besitzen. Die Parti Socialiste schien im freien Fall. Sie verlor 2009 bei den Europawahlen 12,4 % der Stimmen und erhielt desaströse 16,5 % (über die sie sich heute freuen würde). Die KP war als elektorale Kraft überaus geschwächt, auch wenn sie damals und heute noch immer Zehntausende Mitglieder hat und ein Vielfaches an gewerkschaftlicher Verankerung der gesamten radikalen Linken.

Vor allem aber hatte die NPA nicht mit einer linksreformistischen Neugründung und Konkurrenz, der PdG, von Melénchon gerechnet, die 2016 durch FI abgelöst wurde. Seither ist die NPA von einem stetigen Streit um die Haltung zum Linksreformismus (und auch zum Linkspopulismus) geprägt, in der zwei grundlegend falsche Positionen einander gegenüberstehen. Entweder wird eine Politik der Anpassung verfolgt bis hin zum Übertritt zahlreicher Mitglieder und ganzer Strömungen. Der Opportunismus nimmt verschiedene krasse Formen bis hin zur programmatischen Unterordnung an. Fast immer geht er mit einem Verzicht auf Kritik an zeitweiligen Verbündeten einher.

Der Anpassung wird in der NPA aber andererseits allzu oft eine sterile und letztlich sektiererische Haltung der scheinbar unversöhnlichen Abgrenzung, des faktischen Verzichts auf die Politik der Einheitsfront gegenüber reformistischer Basis und Führung gegenübergestellt und dies zur „Unabhängigkeit“ hochstilisiert.

In der gesamten Geschichte der NPA bildet die Frage des Verhältnisses zu reformistischen (oder linkspopulistischen) Parteien einen immer wieder kehrenden Punkt von inneren Auseinandersetzungen, politischer Konfusion und des Schwankens. Dies trifft letztlich auf alle Strömungen der NPA zu.

Bei den Regionalwahlen und in der Listenverbindung mit FI ging die Führung der NPA weit nach rechts. Die Kritik an diesen prinzipienlosen Verbindungen durch die CCR und andere linke Strömungen in der NPA trifft also zweifellos einen wichtigen und richtigen Punkt. Nicht minder richtig ist die Feststellung, dass gegen diese Anpassung ein politischer Kampf geführt werden muss. Damit die NPA diesen Geburtsfehler überwindet, reicht die Kritik an den opportunistischen Seiten ihrer Methode jedoch nicht aus. Die Organisation und ihre Mitglieder müssen vielmehr die Ursachen für diese Anpassung, aber auch das immer wiederkehrende Schwanken zwischen Opportunismus und Sektierertum in der Frage der Einheitsfront begreifen, um diese Fehler bewusst zu überwinden.

Das Manöver der CCR

Angesichts veränderter Mehrheitsverhältnisse in der Leitung der NPA und des Rechtsschwenks bei den Wahlblöcken mit den LinkspopulistInnen schien die Situation günstig für die linken Plattformen und Strömungen. Rein zahlenmäßig hätten sie die Führung der Organisation übernehmen können. Aber sie taten dies nicht – und konnten das auch nicht tun, weil sie selbst über kein gemeinsames Konzept zum weiteren Aufbau verfügten. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich in der Regel auf ein Nein zur langjährigen Führung.

Die CCR entschied sich in dieser Lage zu einem gewagten Manöver. Zuerst startete sie eine Kampagne zur „Einheit der revolutionären Kräfte“ in der NPA gegen alle jene, die einen Wahlblock mit der FI anstrebten. Nachdem sich dieser Block jedoch nicht zu ihrer Zufriedenheit entwickelte, versuchte die CCR Fakten gegenüber allen andere Strömungen, linken wie rechten, zu schaffen.

Ohne jede Diskussion in der NPA präsentierte sie einen Genossen aus den eigenen Reihen, den jungen Eisenbahner und lokalen Streikführer Anasse Kazib, öffentlich als Vorkandidaten der Partei zur Präsidentschaftswahl 2022. Mit diesem Manöver sollte den anderen Strömungen ein Kandidat ohne vorhergehende Diskussion aufgezwungen werden. Auch wenn die CCR diese Aktion als uneigennützigen Vorschlag und Angebot vor allem gegenüber den anderen linken Strömungen präsentierte, so durchschauten diese natürlich das durchsichtige und abenteuerliche Manöver.

Es scheiterte verdientermaßen. Keine Tendenz, keine Plattform innerhalb der NPA war bereit, diesen Schritt zu gehen und sich dem Druck zu beugen. Vielmehr wiesen alle den undemokratischen Affront zurück, der NPA ohne innere Diskussion, ohne Debatte unter den Mitgliedern und in deren Gremien einen Kandidaten aufzudrücken. Nachdem sich die anderen Strömungen der NPA, also die deutliche Mehrheit der Partei, nicht öffentlich unter Druck setzen ließen und das Manöver gescheitert war, war freilich auch jede Aussicht dahin, eine Mehrheit für Anasse als Präsidentschaftskandidaten zu gewinnen.

Nachdem die CCR ihren Kandidaten nicht durchsetzen konnte, nahm sie selbst offenkundig den Kurs auf einen Bruch mit der NPA. Sie trat die Flucht nach vorne an und erklärte ihrerseits alle, die ihre Manöver nicht mitmachen wollten, zu Kräften, die ihren Ausschluss vorbereiteten oder hinnehmen wollten. Teile der NPA haben in dieser Situation zwar auch mit einem Ausschluss der CCR gedroht oder darauf gedrängt. Fakt ist jedoch, dass kein Gremium der NPA den Ausschluss dieser Plattform oder auch nur eines einzigen ihrer Mitglieder beschlossen hat. Der angebliche Ausschluss fand nicht statt. Dennoch wird die CCR nicht müde, von einem „de facto“ Ausschluss zu sprechen oder von einer politischen Entwicklung, die einem solchen gleichkomme. Sie könne in der NPA nicht mehr arbeiten usw.

Ob eine weitere Arbeit in der NPA für sie Sinn macht oder nicht, muss natürlich die CCR, so wie jede andere Strömung und jedes Mitglied, für sich selbst entscheiden. Ein Ausschluss ist das jedoch nicht, und diese Fragen bewusst zu verwischen, bedeutet nur, politische Nebelkerzen zu werfen, die einzig der eigenen Legendenbildung dienen.

Die Rhetorik erfüllt die Funktion, den Bruch mit der NPA einem angeblichen undemokratischen und bürokratischen Manöver ihrer Führung (und aller anderen Strömungen) zuzuschieben. Wahrscheinlich hatte die CCR selbst auf einen richtigen Ausschluss spekuliert, um so ihrem Narrativ Glaubwürdigkeit zu verleihen. Nachdem dieser jedoch nicht stattfand, berichten CCR und ihre Schwesterorganisationen dennoch so, als ob einer stattgefunden hätte.

Diese Legendenbildung läuft auf eine bewusste Manipulation der Mitglieder der NPA, aber auch der eigenen Strömung und der internationalen Linken hinaus. Solche Manöver, die für kleinliche fraktionelle Interessen durchgezogen werden, tragen nicht nur zur längerfristigen Diskreditierung einer Strömung bei, sondern sind auch Wasser auf die Mühlen reformistischer, populistischer und anarchistischer GegnerInnen des Aufbaus einer revolutionären Organisation.

TrotzkistInnen haben ihre Spaltungen leider traurige Berühmtheit erlangt, und eine weitere wird zweifellos Ironie und Hohn von professionellen ZynikerInnen und BesserwisserInnen in aller Welt hervorrufen. Diese setzen dem die angeblich „große Breite“ der sozialdemokratischen Parteien oder des demokratischen Sozialismus entgegen. In diesen können miteinander unvereinbare Strömungen koexistieren, weil die eigentliche Politik der Partei von einer Elite parlamentarischer KarrieristInnen und BürokratInnen bestimmt wird.

Zu ihrer Zeit wurden auch die russische Sozialdemokratie und der Bolschewismus für ihre Spaltungen verspottet. Ernsthafte KämpferInnen werden daher nicht alle Spaltungen als schlecht und alle Fusionen als gut in einen Topf werfen. Jede Spaltung wirft jedoch für beide Seiten die Frage auf: Hat sie wichtige Fragen der Strategie und Taktik geklärt, die nach der Debatte dringend in der Klasse angewendet werden mussten und deshalb einen organisatorischen Bruch erforderten? Eine Spaltung, die keine solche Grundlage hat, ist prinzipienlos; erst recht, wenn es um eine Präsidentschaftswahl geht, bei der es höchst fraglich ist, ob eine der beiden Seiten überhaupt kandidieren kann.

Darüber hinaus haben beide Seiten, oder besser gesagt, alle Seiten, über zehn Jahre lang eine prinzipienlose Einheit aufrechterhalten, ohne entweder ernsthaft zu versuchen, die programmatischen Fragen zu lösen oder diszipliniert zusammenzuarbeiten. Hätten sie das getan, hätten sie eine kleine, aber effektive Kampfpartei aufbauen können, die an den entscheidenden Wendepunkten des Klassenkampfes eine echte Alternative zu den reformistischen Parteien und Gewerkschaften hätte bieten können. Selbst zu dieser späten Stunde könnten die zerstörerischen Auswirkungen des drohenden Zusammenbruchs der Partei rückgängig gemacht werden, wenn die Tendenzen in und um die NPA sich endlich der Frage zuwenden würden, ein Programm (nicht nur eine Wahlplattform) und einen konkreten Aktionsplan für den Kampf gegen Macron und Le Pen auf der Straße und in den Betrieben in den kommenden Jahren auszuarbeiten.

Der kommende Kongress und die Plattformen in der NPA

Die Abspaltung der CCR ist nach ihren eigenen Erklärungen ein Fakt. Die NPA verliert damit weitere 20–25 % ihrer AktivistInnen. Wahrscheinlich hat das gerade auch wegen des prinzipienlosen und manipulativen Schachzugs eine demoralisierende Auswirkung auf etliche Militante. Im Grunde bezweckt die CCR auch diesen Effekt, weil es dem Narrativ dienlich ist, dass sie den kleineren, aber dynamischeren Teil der Aktiven organisiere und die Demoralisierung weitere AktivistInnen anderer Strömung als Zeichen für die Richtigkeit des eigenen Manövers dargestellt wird.

Eine solche Darstellung mag zeitweilig der Festigung der eigenen Reihen dienen. Schließlich stellt der Gewinn von hunderten AnhängerInnen und dutzender betrieblicher KämpferInnen in den letzten Jahren für die CCR wie für jede Propagandaorganisation einen beachtlichen Erfolg dar. Betrachten wir jedoch das Kräfteverhältnis der Klassen in ihrer Gesamtheit, so bleibt er jedoch eine Marginalie, letztlich nebensächlich, verglichen mit dem Niedergang der „radikalen“ Linken im letzten Jahrzehnt und der tiefen Krise der NPA. Dass sich die CCR selbst in dieser Phase stärken konnte, ändert an der Gesamtdiagnose nichts. Es macht aber den leichtfertigen Optimismus ihre Erklärung fragwürdig, jetzt ohne den NPA-Ballast richtig durchstarten zu können.

Dies umso mehr, als nicht nur die Legendenbildung verlogen ist, sondern auch die politische Substanz der Spaltung fragwürdig. Die CCR behauptet, dass es in der NPA grundlegende, nicht weiter tragbare Differenzen über die politische Ausrichtung gab und gibt, die eine weitere Zusammenarbeit unmöglich machen würden. Nun wird niemand grundlegende Differenzen in Abrede stellen wollen. Betrachten wir freilich das Diskussionsbulletin, das die Entwürfe aller Plattformen in der NPA zur Konferenz Ende Juni enthält, so ergeben diese ein anderes Bild. 5 von 6 Entwürfen sprechen sich für eine eigenständige Präsidentschaftskandidatur aus, nur eine kleine Plattform (Plattform 4) nicht.

Die CCR titelt ihren Vorschlag „Rompre avec la politique d’alliances avec la gauche institutionnelle, pour une candidature 100 % révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Mit der Politik von Allianzen mit der institutionellen Linken brechen! Für eine 100 %ig revolutionäre Kandidatur der NPA zu den Präsidialwahlen!). Die Plattform 5, die von den beiden großen linken Strömungen – L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution – gemeinsam vorgelegt wird, lautet: „Pour une candidature ouvrière, anticapitaliste et révolutionnaire du NPA à la présidentielle“ (Für eine antikapitalistische und revolutionäre ArbeiterInnenkandidatur der NPA zu den Präsidentschaftswahlen!). Und der Vorschlag von Plattform 2, der größten Strömung um Poutou und Besancenot, trägt die Überschrift: „Face à la crise, il faut une candidature du NPA à la présidentielle: ouverte, anticapitaliste  et révolutionnaire!“ (Angesichts der Krise braucht es eine offene, antikapitalistische und revolutionäre Präsidentschaftskandidatur der NPA!).

Nicht nur die Namen, auch die Inhalte – ihre Stärken und Schwächen – sind verblüffend ähnlich. 5 von Plattform sprechen sich nicht nur für eine eigene, revolutionäre und antikapitalistische Kandidatur aus. Alle lehnen jede Anpassung an die bürgerliche Mitte (Macron) als kleineres Übel gegenüber Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen ab. Alle unterziehen auch die „institutionelle Linke“ – ein Sammelbegriff für FI, KP und Grüne – einer scharfen Kritik und betonen die Notwendigkeit eines eigenständigen Profils und einer eigenen Kandidatur und Plattform bei den Wahlen.

Sicherlich repräsentiert diese Einheit nur eine Momentaufnahme. Doch ändert das nichts daran, dass die Plattform 2 anscheinend einen Schwenk nach links vollzogen hat. Nachdem sie einen oder mehrere Schritte nach links ging, unterscheidet sich ihre Plattform nicht grundlegend vom Vorschlag der CCR oder von L’Etincelle und Anticapitalisme & Révolution. Letztere (Plattform 5) ist eigentlich der inhaltlich abgerundetste und klarer und präziser als jener der CCR.

Praktisch alle Plattformen inkludieren Losungen zur Verbesserung der Lage der ArbeiterInnenklasse (Mindestlohn, Verbot von Entlassungen, Umwandlung prekärer Arbeitsverhältnisse in gesicherte), die Forderung nach Verstaatlichungen unter ArbeiterInnenkontrolle (insbes. im Gesundheitssektor und bei grundlegenden Industrien), gleiche StaatsbürgerInnenrechte für alle, die Legalisierung von Menschen ohne Papiere, eine Ablehnung imperialistischer Interventionen. Alle betonen die Notwendigkeit von Massenstreiks und einer Massenbewegung gegen die Krise sowie, dass nur eine ArbeiterInnenregierung einen Ausweg bieten kann.

Selbst die Schwächen teilen die Dokumente weitgehend. Zu vielen Punkten (Ökologie, Europa, EU, Internationalismus) sind sie sehr allgemein gehalten. So betonen alle durchaus richtig, dass der Kapitalismus die Umweltfrage nicht lösen kann. Es finden sich aber kaum unmittelbare oder Übergangsforderungen zur drohenden ökologischen Katastrophe in den Texten.

Während alle bezüglich der Notwendigkeit einer Massenbewegung gegen die Krise, gegen Regierung, Kapital und die erstarkte Rechte und auch bezüglich der Notwendigkeit einer Revolution und einer ArbeiterInnenregierung übereinstimmen, so findet sich eigentlich nur die Betonung der Selbstorganisation, der Kämpfe „von unten“ als Mittel zu diesem Ziel in den Papieren. Die Frage, wie eine solche Bewegung zustande kommen kann, wie angesichts der Dominanz von kleinbürgerlich-populistischen Kräften, z. B. bei den Gelbwesten, die ArbeiterInnenklasse eine Führungsrolle übernehmen kann, fehlt im Grunde. Bei allen Plattformen suchen wir eine Taktik und eine Politik gegenüber den bestehenden reformistischen Organisationen und vor allem gegenüber den Gewerkschaften vergeblich.

So verbleibt als Hauptdifferenz, dass die verschiedenen Plattformen verschiedene Kandidaten zur Präsidentschaftswahl vorschlagen: Poutou (Plattform 2), Besancenot (Plattformen 1 und 5) und Anasse (Plattform 6).

Auch wenn die Vorschläge zur den Präsidentschaftswahlen nur eine Momentaufnahme der Politik der einzelnen Strömungen darstellen, so sind die vorgeschlagenen Plattformen keineswegs so unterschiedlich, dass sie einen politischen Bruch in der Wahlfage rechtfertigen würden. Die meisten stellen – im Gegensatz zur Behauptung der CCR – eigentlich einen Schritt nach links dar.

Diese Momentaufnahme schließt logischerweise zukünftige opportunistische Schwankungen nicht aus. Aber diese verdeutlichen auch, dass wir es bei der NPA, einschließlich der größten Strömung um Besancenot und Poutou mit keiner reformistischen Kraft, sondern mit einer zentristischen zu tun haben, deren Politik von Schwankungen zwischen opportunistischen, revolutionären und sektiererischen Positionen gekennzeichnet ist.

In dieser Lage müssten RevolutionärInnen versuchen, diese zeitweilige Entwicklung weiterzutreiben und eine gemeinsame Kandidatur auf einem gemeinsamen Aktionsprogramm mit einer systematischen Diskussion der Ursachen der Krise der NPA zu verbinden. Der Name der/s KandidatIn spielt dabei eine zweitrangige Rolle, solange er/sie einigermaßen das Vertrauen der gesamten Organisation genießt, was neben seiner Bekanntheit in der Öffentlichkeit für Besancenot sprechen würde.

In jedem Fall ist es jedoch von entscheidender Bedeutung, dass eine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl nicht mit einer Lösung der Krise der NPA verwechselt wird. Schließlich ist es zur Zeit relativ einfach, eine revolutionäre, antikapitalistische Kandidatur zu proklamieren. Mélenchon hat viel an seiner Attraktivität eingebüßt, so dass seine Aussichten, die zweite Runde der Wahl zu erreichen, geringer ausfallen als 2017 und daher eine taktische Stimmabgabe und eine Unterordnung unter seinen Wahlkampf nicht sonderlich viel Sinn ergibt. Zum andern kann eine Kandidatur nicht nur eine radikale Plattform präsentieren, sie kann unter dem Nimbus der Einheit dazu führen, dass politische Probleme und Schwächen weiter aufgeschoben werden, die zum Niedergang der NPA geführt haben und weiter führen werden.

Die Lage in Frankreich und die Probleme der NPA

Dazu gehört unglücklicherweise auch die Einschätzung der politischen Lage und der Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen in Frankreich selbst – ein Problem, das mehr oder minder ausgeprägt bei allen Plattformen auftaucht.

Frankreich machte in den letzten Jahren beachtliche Klassenkämpfe durch, die auch manche Angriffe bremsen konnten, und die Lohnabhängigen sind ungleich streik- und kampfbereiter als in Deutschland, Britannien und den meisten anderen imperialistischen Ländern in Europa. Nichtsdestotrotz profitierte vor allem die Rechte von den Krisen, die die Regierung Macron durchlebte. Die RN (Rassemblement National; Nationale Sammlung) und Marine Le Pen gelten heute als die größten HerausforderInnen Macrons. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es in die Stichwahlen bei der Präsidentschaftswahl schafft und dort könnte sie 40 % der Stimmen abräumen. Bei Regionalwahlen gehen rechtskonservative Parteien mittlerweile mit der RN einen Block ein. Drei Viertel aller FranzösInnen schließen nicht grundsätzlich aus, ihre Stimme für die RN abzugeben.

Zugleich setzen sich die Agonie der Sozialdemokratie und die öffentliche Marginalisierung der KP fort. Melénchon vollzog 2017 einen Rechtsschwenk vom Reformismus zum Linkspopulismus, hat aber seit 2017 deutlich an Anziehungskraft verloren.

Trotz sozialer Bewegungen und massiver Kämpfe konnte die „radikale“ Linke von dieser Lage nicht profitieren, sondern erlebte selbst einen dramatischen Niedergang, der vor allem einer der NPA ist. Von den ehemals 9000 Mitgliedern sind ca. 80 % verlorengegangen – entweder indem sie sich reformistischen oder populistischen Kräften zuwandten oder überhaupt aus der organisierten Politik ausschieden.

Dieses Kräfteverhältnis wird von der NPA jedoch nicht oder nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Ein zentraler Grund dafür ist die falsche Einschätzung der Gilets Jaunes (Gelbwesten). Bei allen Plattformen treten diese als fortschrittliche Massenbewegung gegen die Regierung auf. Ihr kleinbürgerlicher Klassencharakter, ihre populistische Ausrichtung spielen in den Erwägungen keine Rolle. Daher werden auch unangenehmen Tatsachen ausgeblendet wie die überdurchschnittliche Unterstützung der RN von AnhängerInnen der Gelbwesten bei Wahlen. Umfragen zufolge stimmten 44 % der AnhängerInnen der Gelbwesten bei den Europawahlen für RN.

Statt dessen hoffen mehr oder weniger alle Flügel der NPA – die „linken“ zum Teil mehr als die „rechten“ – darauf, dass die Gelbwesten die Basis für eine radikale Bewegung gegen die Regierung und eine Erneuerung der ArbeiterInnenklasse abgeben. Diese impressionistische Methode erlaubt zwar eine „optimistische“, genauer eine beschönigende Einschätzung der politischen Lage. Sie macht aber blind dafür, dass mit den Gelbwesten das KleinbürgerInnentum als prägende Kraft in der politischen Konfrontation hervortrat und die ArbeiterInnenklasse in dieser Bewegung eine untergeordnete Kraft darstellte. Überhaupt fehlt den NPA-Strömungen ein Verständnis des Populismus und seines Unterschieds zum Reformismus, so dass der Rechtsschwenk von Mélenchon im Jahr 2017 überhaupt nicht in seiner Bedeutung zur Kenntnis genommen wird.

Die Stärkung des kleinbürgerlichen Populismus wurde glücklicherweise durch die großen Streiks und Kämpfe gegen die sog. Rentenreform Ende 2019/Anfang 2020 ein Stück weit gebrochen. Hier zeigte sich die Bedeutung und Rolle der ArbeiterInnenklasse. Aber der Streik konnte seine Ziele nicht erreichen und fragmentierte am Ende. Zugleich wurde in dieser Bewegung die zentrale Rolle der Gewerkschaften nicht nur bei Arbeitskämpfen, sondern auch bei politischen Klassenkämpfen mit der Regierung deutlich. Das trifft vor allem auf die CGT zu, die in dieser  Konfrontation faktisch wie eine politische Führung der Klasse agierte.

Während die Dokumente der NPA-Konferenz kein Wort der Kritik, der Problematisierung oder zur Einschätzung des Klassencharakters der Gilets Jaunes verlieren, tauchen die Gewerkschaften und ihre Führungen nur als BremserInnen und VerräterInnen auf. Zweifellos sind das auch viele BürokratInnen. Aber erstens spielen z. B. CGT und SUD/Solidaires in praktisch allen Konfrontationen eine linkere und kämpferischere Rolle als CFDT oder auch FO. Zweitens fehlen in allen Dokumenten Forderungen an die Gewerkschaften. Wie aber sollen in Frankreich politische Massenstreiks, große Klassenkämpfe auf betrieblicher Ebene zustande kommen ohne die Gewerkschaften? Auch wenn diese verglichen mit Deutschland oder Britannien relativ wenige Mitglieder haben, so sind sie viel stärker Vereinigungen aktiver gewerkschaftlicher ArbeiterInnen, also der aktiven KollegInnen in vielen Betrieben und Verwaltungen.

Gerade angesichts der aktuellen Defensive, laufender und drohender Angriffe und des Aufstiegs der Rechten kommt der Bildung einer ArbeiterInneneinheitsfront eine grundlegende Bedeutung zur Organisierung von Abwehrkämpfen zu, um von der Defensive in die Offensive zu kommen. Dies bedeutet aber auch, gerade gegenüber den Gewerkschaften (aber auch gegenüber reformistischen Parteien und selbst gegenüber den AnhängerInnen der FI) eine aktive Politik der Einheitsfront einzuschlagen. Es reicht nicht, diesen den Unwillen zur Mobilisierung vorzuwerfen. Die NPA müsste vielmehr versuchen, diese wo immer möglich in die Aktion, Einheitsfront zu zwingen.

Diese Methode, die natürlich auch auf den Kampf gegen Imperialismus, Rassismus, Sexismus und Umweltzerstörung anwendbar ist, fehlt jedoch in den Dokumenten fast vollständig. Der Ruf nach Aktionskomitees, nach Mobilisierungen und Kontrolle der Kämpfe von unten stellt zwar einen wichtigen Aspekt jeder Einheitsfrontpolitik dar, aber er kann und darf eine systematische Politik gegenüber bestehenden Massenorganisationen nicht ersetzen.

Das Problem der Einheitsfront und des Verhältnisses von Aktionskomitees und Kampforganen der Klasse zu den politischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen taucht aktuell in der NPA nicht auf. Es handelt sich daher auch um keine revolutionäre Antwort auf vorhergehende Anpassung z. B. bei den Regionalwahlen, sondern nur das Ersetzen eines Fehlers durch sein nicht minder problematisches Gegenteil.

Ein falsches Verständnis der Einheitsfrontpolitik, von Reformismus und Populismus sind nur einige der Fehler, die die NPA seit ihrer Gründung begleiten. 2009 proklamierte sie noch richtigerweise, dass es ihre Aufgabe der NPA darin läge, ein Programm zu erarbeiten und zu konkretisieren. Dieser richtige Ansatz, der allein dazu in der Lage gewesen wäre, die Differenzen zwischen den verschiedenen Strömungen zu überwinden, wurde jedoch nicht verfolgt. Vielmehr operierte die NPA als Organisation, in der an allen wichtigen Wendepunkten große und hitzige Differenzen auftauchten, die zu Mitgliederverlusten führten, ohne dass die Streitfragen geklärt wurden.

Hinzu kommt, dass ohne eine Überwindung ihrer programmatischen Differenzen die einzelne Strömungen von Beginn an wie getrennte Organisationen agierten, die Beschlüsse, die ihnen zuwiderliefen, einfach ignorierten. Die Handlungsfähigkeit der NPA wurde dadurch fortschreitend geringer.

Wenn die NPA ihre Krise überwinden will, wenn der aktuelle Kongress und die nächsten Monate nachträglich mehr sein sollen als ein weiteres Kapitel einer langgezogenen Agonie, dann muss sie diese Fragen angehen. Sie muss die Intervention in die Präsidentschaftswahl nutzen zur Kampagne für eine Massenbewegung gegen die Krise, zur Erarbeitung und Verbreitung eines Aktionsprogramms und zur systematischen Diskussion um die Überwindung der Differenzen zwischen den Strömungen. Nur auf diesem Weg kann aus der zentristischen Organisation eine revolutionäre werden.