Forderung nach Patentfreigabe ist nicht genug!

Ein Kommentar von Annika Michler, ursprünglich veröffentlicht auf zerocovid.org, Infomail 1153, 9. Juni 2021

Seit Anfang Mai wird weltweit hitzig über die Forderung nach Patentfreigabe für Corona-Impfstoffe diskutiert. Während sich Bundeskanzlerin Merkel bereits mehrmals eindeutig gegen die Aufhebung ausgesprochen hat, versprach der französische Staatspräsident Emmanuel Macron vor Kurzem, eine temporäre Aufhebung des Patentschutzes auf Covid-Impfstoffe zu unterstützen. Aber lassen sich allein durch eine Patentfreigabe die tatsächlich verfügbaren Impfstoffmengen drastisch erhöhen?

Aus KritikerInnenkreisen ist zu hören, dass nicht der bestehende Patentschutz, sondern vor allem die fehlenden Produktionskapazitäten, Fachkenntnisse und die Beschaffung von Rohstoffen die größten Hindernisse seien. Doch wie berechtigt sind diese Einwände wirklich?

Flaschenhals: Kapazitäten, Fachkenntnis und Rohstoffbeschaffung

Tatsächlich handelt es sich bei den mRNA-Impfstoffen um ein völlig neuartiges Herstellungsverfahren. Nur wenige Pharma- beziehungsweise Biotechfirmen verfügen derzeit über das notwendige Fachwissen, um diese Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen. Ursächlich dafür ist aber in erster Linie das sehr restriktive Vorgehen der Biotechfirmen BioNTech, Moderna sowie CureVac, welche ihre jeweiligen Kooperationspartner meist nur mit einzelnen Schritten innerhalb des Herstellungs- oder Abfüllungsprozesses beauftragen, um die Produktionsmengen zu erhöhen. Hierbei werden aber lediglich die zwingend erforderlichen Informationen weitergeleitet, ein vollständiger Wissenstransfer findet nicht statt.

Die Zulassung des zweiten deutschen mRNA-Impfstoffes von CureVac steht jedoch noch aus, geplant ist sie für Ende Juni. Allerdings spricht der Impfstoffbeauftragte der Bundesregierung, Christoph Krupp, von einer Zulassung in der zweiten Jahreshälfte. CureVac hat 300 Mio. Dosen fest zugesagt, welche das europäische Impfprogramm weiter voranbringen sollen. Der größte Teil davon soll bereits in diesem Jahr der Rest Anfang 2022 ausgeliefert werden. Ebenso wie BioNTech hat auch CureVac ein breit aufgestelltes Produktionsnetzwerk mit Firmen wie Wacker, Novartis, Rentschler sowie Celonic gegründet, das Ende 2022 vollständig in Betrieb gehen soll. Zudem wird im Zuge einer Kooperation zwischen CureVac und GSK, einem der renommiertesten ImpfstoffherstellerInnen der Welt, an der 2. Generation eines Corona-Impfstoffes gearbeitet. Die Arbeiten sollen im 3. Quartal des Jahres beginnen. Dieser soll für eine verbesserte Immunisierung gegenüber neuartigen Virusmutationen eingesetzt werden. Aber auch hier bleibt die Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess wegen des Rechts auf geistiges Eigentum in der Hand von CureVac. Darüber hinaus baut CureVac derzeit eine komplett neue Produktionsanlage, welche 2022 in Betrieb gehen soll und jährlich mindestens eine Milliarde Dosen pro Jahr produzieren könnte.

Der Einsatz von mRNA-Impfstoffen gegenüber anderen Vakzinen beinhaltet einige Vorteile. Zum einen handelt es sich um ein relativ günstiges und sehr sicheres Herstellungsverfahren. Die Herstellung benötigt keine komplexen Produktionsanlagen und zudem keine Produktionsschritte mit aktiven Krankheitserregern. Denn anders als bei den klassischen Tod- oder Lebendimpfstoffen, welche auf veränderten oder abgetöteten Viren basieren, benötigt man keine vorherige Anzucht der Viren in Zellkulturen oder Hühnereiern. Zusätzlich ist dieses Verfahren sehr gut skalierbar, dass bedeutet, dass es sehr leicht von einem kleinen Maßstab auf einen sehr großen Produktionsmaßstab übertragen werden kann. Die schnelle Anpassungsfähigkeit der Vakzine auf mRNA-Basis an neu auftretende Mutanten und der höhere Schutzgrad nach einer Impfung sprechen für diese zukunftsfähige Technologie. Auch kann diese Impfstoff produzierende Plattform für zukünftige Pandemien, Epidemien, andere Impfstoffe und Krankheiten eingesetzt werden.

Daher sollten wir alle für eine globale Ausweitung der Produktionskapazitäten dieser Vakzine eintreten. Wie es die Losung von ZeroCovid bereits fordert. Hier heißt es: Impfstoffe sind globales Gemeingut. Die internationale Ausweitung der Produktion würde auch positive Effekte für die MitarbeiterInnen der genannten ImpfstoffherstellerInnen mit sich bringen, die derzeit mit vielen Faktoren zu kämpfen haben. Dies erlebe ich als systemrelevante Mitarbeiterin eines Impfstoffherstellers tagtäglich. Neben zahlreichen Überstunden und hoher Arbeitsbelastung kommt die fehlende Aussicht auf Abbau der Überstunden in naher Zukunft. Für viele KollegInnen ist zudem die Arbeit im Großraumbüro unumgänglich, da das Ausweichen ins Homeoffice in vielen Abteilungen selbstverständlich nicht möglich ist. Zusätzlich sind noch längst nicht alle KollegInnen geimpft oder haben überhaupt ein Impfangebot erhalten, trotz ihrer systemrelevanten Position. Könnten die globalen Herstellungskapazitäten langfristig stark ausgebaut werden, würde dies auch die enorme Arbeitsbelastung jedes einzelnen Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin reduzieren. Schlussendlich könnte es so gelingen, deutlich schneller die erforderliche weltweite Impfquote von 80-90 % zu erreichen. Die Wahrscheinlichkeit eines Durchbruchs durch Escape-Variante könnte dadurch verringert werden. Aber wie kann dies umgesetzt werden?

Die Forderung nach Aufhebung des Patentschutzes muss selbstverständlich gestellt werden. Vor allem in Staaten wie Deutschland oder der Schweiz, wo eine ganze Reihe von Impfpatenten vorliegen und in solchen Staaten, die sich gegen die Freigabe stellen. Auch solche scheinheiligen Almosen wie die ‚bedingungslose‘ Verschenkung von 80 Millionen Impfdosen, wie es die USA angekündigt haben, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Aufhebung allein reicht aber nicht aus. Denn genauso wichtig ist aus bereits genannten Gründen die Forderung nach einem umfassenden Technologie- und Wissenstransfer sowie Bereitstellung von personellen Ressourcen, um die weltweiten Produktionskapazitäten für diese Art von Impfstoff stark auszubauen. Allerdings ist dies ohne Unterstützung der jeweiligen Unternehmen kaum denkbar und ohne staatliche Zwangsmaßnahmen oder durch Druck von außen werden sie wohl kaum dazu bereit sein. Profitieren diese Unternehmen doch von der Flaschenhalssituation, die ihnen momentan eine Menge von Extraprofiten beschert oder in Aussicht stellt.

Ein weiteres sehr großes Hindernis bei der Ausweitung der Produktionskapazitäten ist der bestehende Mangel an Rohstoffen bereits zum jetzigen Zeitpunkt. Aufgrund der starken Zentralisation im Bereich der Pharma- und Chemieindustrie werden einzelne Rohstoffe und Verbrauchsmaterialien oft nur von wenigen LieferantInnen hergestellt. Durchschnittlich werden bis zu 90 verschiedene Materialien für die Herstellung von mRNA-Impfstoffen benötigt, dazu zählen neben Single-Use Materialien wie beispielsweise Sterilbeuteln oder Filtern vor allem Nukleotide, Plasmide, Enzyme, Lipide sowie Chemikalien für die Aufreinigung der mRNA. Kommt es nur bei einem der genannten Materialien zu einem Lieferengpass, steht im schlimmsten Fall die gesamte Produktion still. Verschärft wird die ganze Situation vor allem durch den Defense Production Act der US-amerikanischen Regierung, der den Export von benötigten Materialien für die Impfstoffherstellung reglementiert. Ein Export wird zwar nicht explizit verboten, allerdings sind die Hersteller verpflichtet, zuerst die amerikanische Produktion zu beliefern. Zusätzlich konnten sich BioNTech und Moderna durch frühzeitige Bestellungen schon einen Großteil der jeweiligen Materialien für die eigene Produktion sichern. CureVac sah sich daher dazu genötigt, neben der deutschen Bundesregierung auch die EU zur Vermittlung mit Washington einzuschalten, da die Produktion aufgrund ausbleibender Lieferungen gefährdet sei. Aus diesem Grund muss neben dem Ausbau von Produktionskapazitäten für die eigentliche Impfstoffherstellung auch der Ausbau von Kapazitäten entlang der gesamten Lieferkette sowie das Aufheben sämtlicher Exportreglementierungen gefordert werden. Doch isoliert beseitigt auch diese Aufhebung nicht den Impfnationalismus und Preiskampf einzelner Herstellender.

Wollen wir eine globale Impfstoffproduktion, so müssen wir die Frage der ArbeiterInnenkontrolle stellen!

Um global einen gerechten Zugang zu Impfstoffen durchzusetzen, muss zusätzlich auch die weitreichendere Forderung nach vollständiger Enteignung der Pharmakonzerne sowie des gesamten Gesundheitssektors auf die Tagesordnung gesetzt werden. Denn es herrscht nicht nur eine ungleiche Verteilung von Impfstoffen, sondern auch von Arzneimitteln und medizinischer Ausrüstung insgesamt. Eines ist im Zuge der Pandemie sehr deutlich geworden, innerhalb einer kapitalistischen Marktwirtschaft handelt es sich dabei in erster Linie nicht um „öffentliche Güter“ sondern zunächst einmal um Waren, mit der Profit erwirtschaftet werden kann. Diese Logik müssen wir bekämpfen.

Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, so brauchen wir einen solidarischen Kampf der gesamten ArbeiterInnenklasse und ihrer Organisationen, allen voran den Gewerkschaften – einen Kampf, der nicht nur auf Demonstrationen setzt, sondern auch auf Streiks und betriebliche Aktionen. Ebenso ist eine Vernetzung mit anderen sozialen Kämpfen der ArbeiterInnenklasse notwendig. Dazu braucht es eine stärkere Organisierung, es müssen Aktionskomitees und weitere Organe der ArbeiterInnenkontrolle, nicht nur in Betrieben, sondern auch an Schulen und Universitäten aufgebaut werden, wirkt die Pandemie doch nicht nur in die Impfstoffproduktion hinein. Diese Organe müssen zwingend demokratisch legitimiert und ihrer Basis stets verantwortlich sein, dazu gehört auch die jederzeitige Abwählbarkeit. Um Gewerkschaften stärker in den Kampf für das Recht auf Gesundheitsschutz und eine globale Gesundheitsversorgung einzubeziehen, muss gegen die herrschende Gewerkschaftsbürokratie und die „SozialpartnerInnenschaft“ vorgegangen werden, dazu ist der Aufbau einer basisoppositionellen Gewerkschaftsbewegung linker GewerkschafterInnen unerlässlich. Auch die Forderung nach Enteignung der Pharmakonzerne und des Gesundheitssektors allein ist nicht ausreichend, sie müssen nicht nur enteignet, sondern verstaatlicht und danach unter Kontrolle der ArbeiterInnenklasse gestellt werden. Denn nur so wird es uns gelingen, den dringend benötigten Wissens- und Technologietransfer zu organisieren und den weltweiten Ausbau von Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Medikamente und medizinische Ausrüstung massiv voranzutreiben.