Kolumbien: Solidarität mit dem Massenaufstand!

Tom Burns, Workers Power USA und Carlos Magrini, Liga Socialista Brasilien, Infomail 1150, 17. Mai 2021

Kolumbiens rechtsextremer Präsident Iván Duque zündete die Lunte für einen Aufstand der kolumbianischen ArbeiterInnenklasse und der Mittelschichten mit einer vorgeschlagenen Steuererhöhung, die angeblich 8 Milliarden US-Dollar einbringen soll. Damit sollen die Schulden des Landes getilgt werdeb, die vom IWF mit 43 (netto) bis 49 (brutto) Prozent des BIP des Landes berechnet wurden. Der Gesetzentwurf zur Steuerreform, der am 15. April an den Kongress geschickt wurde, beinhaltete eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19 Prozent auf grundlegende Dienstleistungen wie Strom, Gas, Internet, Wasser und Abwasserentsorgung, aber auch – bizarrer Weise – auf Bestattungsdienste.

Außerdem wurde eine Erhöhung des Benzinpreises angekündigt. Alle Beschäftigten, die mehr als das Doppelte des Mindestlohns verdienen, würden außerdem zur Zahlung von Einkommensteuer herangezogen. Auch die Mittelschicht wäre mit Steuererhöhungen von 300 bis 500 Prozent hart getroffen, was viele kleine Unternehmen vor den Ruin stellen würde.

Korruption, Ungleichheit, Armut, brutale staatliche Repression: alle vier bildeten die Katalysatoren hinter der Explosion einer Massenbewegung. Alle vier wurden durch die CoVid-19-Pandemie verstärkt und verschlimmert. Deren Ausbruch und der darauffolgende landesweite Lockdown entschärften den Generalstreik 2019 gegen Duques vorherige Steuer„reformen“. So erwies sich Duques zweiter Raubzug auf die hoffnungslos niedrigen Einkommen der Menschen als letzter Strohhalm. Die Arbeitslosigkeit lag bereits bei 19 Prozent; vier Millionen in einer Nation von 50 Millionen.

Reaktion der Massen

Die Reaktion der Massen erfolgte unmittelbar. Die Gewerkschaftsverbände Zentrale ArbeiterInnengewerkschaft (CUT), Konföderation der Kolumbianischen ArbeiterInnen (CTC) und Allgemeine Arbeitsföderation (CGT) riefen für Mittwoch, den 28. April, zu einem Generalstreik auf, trotz eines Gerichtsurteils, das Demonstrationen an diesem Tag und am 1. Mai verbot. Obwohl die Gewerkschaften selbst nur 4 Prozent der Lohnabhängigen vertreten, nämlich 850.000 Mitglieder, fiel die Reaktion der Bevölkerung auf den Aufruf massiv aus.

Doch Duque ließ sich nicht beirren und ging gewaltsam gegen die DemonstrantInnen vor, vor allem mit der berüchtigten mobilen Schwadron zur Bekämpfung von Unruhen, der ESMAD. Diese wurde 1999 unter Präsident Andrés Pastrana während des Krieges mit den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens, FARC, und der Nationalen Befreiungsarmee, ELN, gegründet. Seit ihrer Gründung verging kein Jahr, in dem die ESMAD nicht in Gewalt gegen Organisationen der Massen verwickelt war. 2013 spießten ihre AgentInnen einen Bauern während eines Streiks von BäuerInnen auf. Aber dieses Mal hat die Repression nicht funktioniert.

Die Gewerkschaften beschlossen, die Proteste im ganzen Land aufrechtzuerhalten, und am 1. Mai gingen ArbeiterInnen, StudentInnen, Indigene, prekär Beschäftigte und Arbeitslose erneut in den wichtigsten Städten des Landes auf die Straße. Und wieder ging die Polizei mit Blendgranaten, Wasserwerfern und Gummigeschossen auf sie los, mit dem Ergebnis, dass während der gesamten fünf Tage der Konfrontation nach Angaben des Verteidigungsministeriums selbst 19 Menschen getötet, 846 verletzt und 431 Personen von der Polizei festgenommen wurden. Duque setzte auch Panzer auf den Straßen ein und verwendete sogar Black-Hawk-Hubschrauber (Sikorsky UH-60).

Zuckerbrot und Peitsche

Dann, am 2. Mai, zog Duque, unfähig, den Aufstand zu unterdrücken, das Steuerreformgesetz zurück und Alberto Carrasquilla, der Finanzminister, trat zurück. Trotzdem gingen die Proteste weiter, der nächste Höhepunkt war der 5. Mai. DemonstrantInnen füllten die Straßen von Bogotá und LKW-FahrerInnen blockierten die Hauptverkehrsstraßen zwischen den großen Städten. Bewaffnete Gruppen der extremen Rechten griffen indigene DemonstrantInnen in (Santiago de) Cali, der drittgrößten Stadt des Landes, an und versuchten, die Blockaden zu durchbrechen. Am 7. Mai waren 26 Protestierende tot und 90 Menschen „verschwunden“.

Die Antwort der Regierung auf die DemonstrantIonen war sowohl Zuckerbrot als auch Peitsche, ein kleines Zuckerbrot und eine große Peitsche. Einerseits rief Duque zu einem nationalen Dialog auf, während er gleichzeitig die DemonstrantInnen als TerroristInnen bezeichnete und damit drohte, den Zustand ziviler Unruhen, eine Form des Kriegsrechts, auszurufen. Sandra Borda, eine Kolumnistin der kolumbianischen Zeitung El Tiempo, brachte es in einem Interview mit der New York Times auf den Punkt: „Die Menschen können sich nicht zu einem Dialog mit einer Regierung zusammensetzen, die in der Nacht Menschen tötet, die protestieren, und am Tag die Hand zum Gespräch ausstreckt.“

Uribe, früherer Präsident und Gottvater der Rechten, der die Steuererhöhungen kritisiert hatte, twitterte Aufrufe zu einer umfassenden militärischen Intervention, d. h. zu einem Staatsstreich. Aber niemand hat vergessen, dass es Uribe war, der zwei Amtszeiten als Präsident diente und das Oberhaupt einer korrupten, mafiösen politischen Clique ist, die massive Misshandlungen und Tötungen zu verantworten hatte, die von der ESMAD und dem Militär begangen wurden. Der jahrzehntelange Krieg mit FARC und ELN endete vor fünf Jahren, als Uribe endlich ein Waffenstillstandsabkommen aushandelte. Tatsächlich hat der Krieg der Regierungstruppen und der rechten Todesschwadronen gegen die Organisationen der ArbeiterInnen, Bauern und Bäuerinnen und der indigenen Gemeinden nie wirklich geendet. Über tausend ihrer AnführerInnen wurden seit dem Friedensabkommen ermordet.

Uribes Unzufriedenheit mit Duque besteht darin, dass seine Sparpolitik und Repression es immer sicherer machen, dass der Kandidat des rechten Flügels die Wahlen im nächsten Jahr gegen den ehemaligen M-19-Guerillero der 1980er Jahre, Gustavo Petro, verlieren wird, der jetzt Senator und Vorsitzender von Colombia Humana ist, einer linken sozialdemokratischen Partei. Seine Unterstützung ist laut Meinungsumfragen von 25,9 Prozent im August letzten auf 38,3 Prozent im April dieses Jahres angestiegen.

Die spontane Massenbewegung auf den Straßen bezieht die Basis der Gewerkschaften, junge ArbeiterInnen in prekären Arbeitsverhältnissen, StudentInnen, Arbeitslose, indigene Volkskollektive, Bauern, Bäuerinnen und fortschrittliche Teile der Mittelschichten ein. Aber die Bewegung steht vor einer Führungskrise. Die FührerInnen der CUT und CGT im Nationalen Streikkomitee haben versucht, die Aktionen der ArbeiterInnen auf eintägige Arbeitsniederlegungen zu beschränken, in der Hoffnung, dadurch ein akzeptables Zugeständnis der Regierung zu erzwingen. Sie hoffen, dass Petro die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr gewinnt, anstatt zu riskieren, einen unbefristeten Generalstreik auszurufen, um die Regierung zu stürzen.

Es ist klar, dass Verhandlungen, die die Mafia von Duque und Uribe und die Generäle an der Macht lassen, nichts bringen werden. Die Regierung Duque steht am Rande des Zusammenbruchs, und Kolumbien befindet sich ganz klar in einer revolutionären Situation, die die Alternative stellt: Revolution oder Konterrevolution. Aber keine Bewegung kann auf unbestimmte Zeit verlängert werden und die Erschöpfung der Massen könnte einsetzen und den Weg für einen Militärputsch öffnen. Deshalb muss die Bewegung das Ziel annehmen, Duque und die gesamte herrschende Klasse zu stürzen, die die einfachen KolumbianerInnen so lange beraubt hat.

Dies würde die Bildung von Delegiertenräten aus allen ArbeiterInnen- und Massenorganisationen an der Basis erfordern. Sie müssten zu ihrer eigenen Sicherheit bewaffnet werden. Gleichzeitig bedeutet es die Schaffung einer Partei, die den Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung führen kann. In dieser Revolution muss der brutale Repressionsapparat zerbrochen werden, indem man die einfachen SoldatInnen für die Seite des Volkes gewinnt. Kurz gesagt, die ArbeiterInnen, BäuerInnen und die Jugend müssen die Kontrolle über das Land übernehmen.

Die Rolle des US-Imperialismus

Die Vereinigten Staaten sind langfristig mitverantwortlich für die wiederholten Wirtschaftskrisen und Kriege in Kolumbien. Der Plan Colombia, der 1999 von Präsident Andrés Pastrana mit US-Präsident Bill Clinton vereinbart wurde, sollte angeblich den Drogenhandel stoppen, in Wirklichkeit aber der Regierung helfen, den langen Konflikt mit der FARC zu gewinnen. Im Mittelpunkt stand daher die Stärkung des kolumbianischen Militärs. Black-Hawk-Hubschrauber und andere militärische Ausrüstung wurden an die kolumbianischen Sicherheitskräfte übergeben. Im Zuge der Drogenbekämpfungsprogramme kam es zu mörderischen Angriffen auf Bauern und Bäuerinnen und ganze Dörfer. Das Militär und die mit ihm verbundenen Todesschwadronen nutzten die US-Großzügigkeit, um im Namen der völlig korrupten Elite des Landes einen schmutzigen Krieg gegen bäuerliche Organisationen und Gewerkschaften zu führen. Der Effekt war, dass sich Ungleichheit und Armut, die im Land bereits grassierten, noch weiter verschlimmerten.

Das kolumbianische Militär ist seit langem ein Werkzeug des US-Imperialismus, der die Region beherrscht, und seine politische Elite ist ihren Herren im Norden stark verpflichtet. Dies war unter den US-Präsidenten der Demokratischen und Republikanischen Partei gleichermaßen der Fall: Clinton, Bush, Obama und Trump, die alle den Vorwand des „Krieges gegen die Drogen“ ausnutzten. Im Rahmen des „Plan Colombia“ haben amerikanische SoldatInnen zwischen 2000 und 2014 militärische Ausbildung, nachrichtendienstliche Unterstützung und taktische Hilfe bei Operationen gegen FARC und ELN geleistet. US-Spezialeinheiten nutzen kolumbianische Militärbasen, um Destabilisierungsmaßnahmen, wie in Venezuela, oder regelrechte Putsche, wie in Bolivien, durchzuführen.

Wird sich das unter dem neuen US-Präsidenten ändern? Nicht, wenn man es ihm und der politischen, wirtschaftlichen und militärischen Elite des Landes überlässt, so viel ist sicher. Joe Biden war eine Schlüsselfigur bei der Durchsetzung des „Plan Colombia“ im US-Senat und später, als Obamas Vizepräsident, ein entschiedener Befürworter der Militarisierung der kolumbianischen Polizei. Es gibt auch wichtige US-Investitionen in der Region, in der sich Ölpipelines im Besitz von US-Unternehmen befinden.

Das Weiße Haus und der Kongress waren sich durchaus bewusst, dass die kolumbianische Regierung diese Ausrüstung benutzte, um Tausende von ZivilistInnen zu massakrieren und indigene Gemeinden ins Visier zu nehmen. Kürzlich wurde enthüllt, dass ein US-Militärbeamter beim Massaker von El Mozote in El Salvador anwesend war. Obamas Putsch in Honduras hatte auch den Tod von indigenen Mayas durch die Hände der von den USA ausgebildeten und beratenen honduranischen Polizei und SoldatInnen zur Folge. Wie immer haben die USA versucht, die Profite ihrer Banken und Konzerne in ganz Lateinamerika zu steigern, durch verstärkte Privatisierung und Präsenz von US-Unternehmen in der Region, die gegen chinesische und EU-RivalInnen kämpfen.

Die Repression während der aktuellen Protestwelle wurde von den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und Menschenrechtsgruppen wie Amnesty International verurteilt. Auch im Kongress haben inzwischen einige demokratische SenatorInnen die Polizeirepression in Kolumbien kritisiert. Es scheint, dass Duque und seine KumpanInnen in Panik sind, weil sie befürchten, nicht die gewohnte rückhaltlose Unterstützung zu erhalten, die sie aus Washington erwarten. Sicherlich sollten wir uns nicht darauf verlassen, aber es zeigt, dass, wenn wir in den USA eine starke Kampagne führen, dies der Bewegung im Lande helfen wird.

Solidarität

Die Repression ist eine mit vielen Parallelen innerhalb der Vereinigten Staaten. Wir haben die Tötungen durch die Polizei aus erster Hand miterlebt, als wir für George Floyd und Breonna Taylor marschierten und für Andrew Brown, Daunte Wright und Adam Toledo auf die Straße gingen. Wir haben auch die brutale Politik der Drogenvollzugsbehörden im eigenen Land erlebt. Tausende von Farbigen bevölkern die Gefängnisse der Nation aufgrund des „Kriegs gegen Drogen“. Wir haben auch eine zunehmende Militarisierung unserer eigenen Polizeikräfte gesehen, da schwere gepanzerte Fahrzeuge und Waffen aus Afghanistan zurückgebracht und an die Polizei gegeben werden.

Die DemonstrantInnen in Kolumbien brauchen die Unterstützung ihrer Klassenbrüder und -schwestern im „Bauch der Bestie“, dem US-Imperialismus. Deshalb müssen wir vor den kolumbianischen Konsulaten und Botschaften demonstrieren, genauso wie wir gegen unsere eigene Polizeibrutalität marschieren und damit zeigen, dass unser gemeinsamer Feind der US-Imperialismus ist. Die Gewerkschaften und die Demokratischen Sozialisten Amerikas sollten für einen sofortigen Stopp aller finanziellen und logistischen Hilfen der USA an das kolumbianische Militär kämpfen. Wir sollten alles in unserer Macht Stehende tun, um dies durch ArbeiterInnensanktionen durchzusetzen, wo immer dies möglich ist.

Eine ähnliche Solidaritätsbekundung ist aus Ländern in ganz Süd- und Mittelamerika notwendig. Alle Länder hier haben einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts ihrer Volkswirtschaften um mindestens sieben Prozent erlebt und die Arbeitslosigkeit ist in die Höhe geschnellt. In Brasilien haben wir unter der autoritären Herrschaft von Jair Bolsonaro gelitten, dessen kriminelle Politik, wie die Blockade ernsthafter Maßnahmen gegen CoVid durch die Regierungen einzelner Bundesstaaten, zu einer enormen Zahl von Toten geführt hat. Die Situation hat sich im Jahr 2021 durch die Ausbreitung von P.1, der brasilianischen Variante, verschlimmert, die sich durch die Bevölkerung zieht und zu den täglich steigenden Todesraten beiträgt.

Bolsonaro hat das Militär offen ermutigt, einen Putsch zu unternehmen, um eine Niederlage bei den nächsten Präsidentschaftswahlen zu vermeiden. Das zeigt nicht nur, wie sehr wir internationale Klassensolidarität brauchen, sondern auch, wie schnell sich in jedem Land unserer Region revolutionäre Situationen entwickeln können, die die gleichen Fragen aufwerfen, einschließlich einer gemeinsamen Strategie für die Macht der ArbeiterInnenklasse und einer internationalen revolutionären Partei, die dafür kämpft.