Weil die Welt krankt, brennt und strauchelt. Heraus zum 1. Mai!

Liga für die Fünfte Internationale, Neue Internationale 255, Mai 2021

Die Dreifachkrise von globaler Rezession, Pandemie und Umweltzerstörung prägt die Lage der ArbeiterInnenklasse und aller Unterdrückten. Millionen starben im letzten Jahr an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. Abermillionen haben ihre Jobs und Einkommen verloren. Die Menschen in den Ländern des globalen Südens, Frauen, Jugendliche und Alte, national und rassistisch Unterdrückte werden von der Krise besonders hart getroffen. Sie sind es, die die Hauptlast von Überausbeutung, kaputtgesparten oder fehlenden Gesundheitssystemen, von privater Reproduktionsarbeit, von Umweltkatastrophen, Kriegen und Besatzung tragen.

Historische Krise, historische Herausforderungen

Gleichzeitig werden viele von uns zur Zielscheibe des Rechtspopulismus und Faschismus auf der Straße, von zunehmend autoritären und repressiven Regimen und Diktaturen, von rassistischen Grenzabschottungen und Angriffen durch Polizei und reaktionäre Kräfte. Femizide, häusliche Gewalt, Angriffe auf das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und LGBTIAQ-Personen nahmen weltweit zu und erreichten noch erschreckendere Ausmaße.

Die Rezession und Krise trifft jedoch nicht nur die große Masse der überausgebeuteten ArbeiterInnen und sozial Unterdrückten. Sie erfasst auch mit voller Wucht Millionen der bessergestellten Beschäftigten in  Großkonzernen und im öffentlichen Dienst. Ganze Branchen stehen vor Umstrukturierungen und Massenentlassungen in historischem Ausmaß, um die Profite zu steigern, Märkte zu erobern und in der globalen Konkurrenz zu siegen.

Die Rezession von 2020 wird durch keinen lang anhaltenden Aufschwung abgelöst werden. Vielmehr werden sich die Wachstumsraten der Weltwirtschaft als Strohfeuer milliardenschwerer Konjunkturpakete entpuppen. Die wirtschaftlichen Ungleichgewichte werden sich weiter verschärfen, denn es sind vor allem die Länder des globalen Südens die sich auch in diesem Jahr weiter im Würgegriff von Pandemie und Krise befinden. Während die Bevölkerung in den imperialistischen Staaten wenigstens auf Impfungen gegen Corona hoffen kann, müssen Milliarden Menschen in armen Ländern ohne Impfstoff und soziale Sicherungen auskommen.

Die andere große und langfristig für die Menschheit viel bedrohlichere Krise, die Umweltkatastrophe, schreitet trotz Video-Klimagipfeln und vollmundigen Ankündigungen eines „Green New Deal“ ebenfalls weiter voran. Die zunehmende globale Konkurrenz lässt eine international koordinierte Umweltpolitik nicht zu. Angekündigte Investitionen wie zum Beispiel in die Auto-E-Mobilität werden das Problem nicht lösen, sondern nur seine Form verändern, es teilweise sogar verstärken.

Die Zeichen der Weltwirtschaft und Globalpolitik zeigen eindeutig in Richtung verschärfter Konkurrenz. Der Kampf um die Neuaufteilung der Welt zwischen den USA und China sowie den anderen, schwächeren Mächten und Blöcken wie der von Deutschland geführten EU, Japan oder Russland verschärft sich. Unter dem neuen US-Präsidenten Biden nimmt dieser Kampf lediglich eine „neue“ Form an. Auf den populistischen und unilateralen Abenteurer Trump soll nun die Wiederbelebung des transatlantischen Bündnisses der „Demokratien“ unter US-Führung folgen. Die Kriegsgefahr wird damit nicht gebannt, vielmehr droht auch militärisch ein verschärfter Wettlauf zwischen alten und neuen Großmächten. Die allgemeine Aufrüstung sowie die Kriege in Syrien, der Ukraine oder im Kaukasus könnten sich schon in einigen Jahren als Vorspiele des nächsten Weltenbrands herausstellen.

Die herrschende Klasse hat keine Lösung

Die Strategien der herrschenden Klassen erweisen sich als Scheinlösungen auf unsere Kosten und sind unfähig, eine Antwort auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben. Auf die globale Krise des Kapitalismus antworten die Herrschenden mit unterschiedlichen, letztlich aber nationalen Formen der Krisenbewältigung.

Die neuen, rechten Bewegungen und populistischen Kräfte antworten darauf auf ihre Weise. Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus sind für sie unersetzbare Mittel, um kleinbürgerliche Schichten, aber auch rückständige ArbeiterInnen im Namen der „Nation“, im Namen eines pseudoradikalen Kampfes des „Volkes“ gegen die „Elite“ vor den Karren einer Fraktion der herrschenden Klasse zu spannen. Gezielt und bewusst schüren sie nationale, religiöse, rassistische und sexistische Ressentiments, befördern Rückständigkeit und Irrationalismus und formieren sie zu einer Bewegung gesellschaftlicher Verzweiflung mit aggressivem Rollback auf allen Ebenen. Wo sie an die Regierung kommen, befeuern sie diese, um demokratische und soziale Errungenschaften, demokratische Bewegungen, die Unterdrückten und die ArbeiterInnenklasse einerseits anzugreifen, andererseits, um die Klasse und die Unterdrückten selbst zu spalten.

Nationalismus und Konkurrenz

Doch auch die vorgeblichen DemokratInnen aus dem bürgerlichen Lager, die Liberalen, moderaten Konservativen oder Grünen setzen auf die nationale Karte. Während der eine Flügel des Kapitals einmal mehr neoliberale Angriffe und Kürzungen fordert, setzt der andere auf verstärkte staatliche Intervention. Aber auch der Green New Deal und die keynesianischen Reformversprechungen sind untrennbar mit einer Wirtschaftspolitik verbunden, die auf Marktbeherrschung durch die „eigenen“ Konzerne und die Sicherung der Weltherrschaft im Namen der „Demokratie“ zielt.

So entpuppt sich der Nationalismus als die unvermeidliche Folge der imperialistischen Konkurrenz, des Kampfes um die Neuaufteilung der Welt. Für die ArbeiterInnenklasse bedeutet dies, dass sie beide politische Lager, die alten wie die neuen Imperialismen bekämpfen muss, dass sie die „eigene“ herrschende Klasse als Hauptfeind erkennen muss.

Die globalen Krisen – Wirtschaft, Pandemie, Umwelt – können nur international gelöst werden. Doch genau dazu erweist sich der Kapitalismus seinem Wesen nach als unfähig. So wichtig es ist, den Kampf für einen solidarischen Lockdown und gegen Sparprogramme, Betriebsschließungen, Umweltzerstörung sowie gegen Angriffe auf demokratische Rechte lokal oder national aufzunehmen, so kann dies nur der Anfang sein. Die Ursachen der Pandemie, des Klimawandels und der globalen Wirtschaftskrise können  nicht in einem Land oder gar nur einem Betrieb überwunden oder beseitigt werden. Die Lösung kann nur eine internationale sein.

Widerstand und Klassenkampf

Die globale Defensive und der Vormarsch reaktionärer Kräfte nährt auch bei vielen ArbeiterInnen und Linken die Vorstellung, dass wir in der aktuellen Lage nur zwischen zwei bürgerlichen Lagern, zwischen dem der pseudo-radikalen, populistischen Reaktion und dem der „demokratischen“ Mitte wählen könnten. Eine eigenständige Klassenpolitik scheint für viele nur als erträumtes Ziel in einer unbestimmten Zukunft. „Zuerst“ müssten wir die Übel des Rechtspopulismus und Bonapartismus, ja müssten wir Trump, Bolsonaro, Modi, Orbán, Le Pen, Putin oder das Pekinger Regime im Bündnis mit dem demokratischen Flügel der Bourgeoisie bekämpfen. „Realistisch“ wären allenfalls eine anti-neoliberale Reformpolitik oder eine linkere Version des Green New Deal. Eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses wäre nur im Bündnis mit einem Flügel der herrschenden Klasse möglich – sei es mit der liberalen Bourgeoisie oder mit den vorgeblich „sozialeren“ und „antiimperialistischen“ Großmächten wie China und Russland.

Aber alle diese Strategien führen in die Sackgasse. Sie ordnen die Interessen der ArbeiterInnenklasse und der unterdrückten Massen dem Interesse des einen oder andere Flügels der Bourgeoisie unter.

Fatale Rolle der Bürokratie

Eine besonders erbärmliche Rolle spielen dabei die großen Apparate der ArbeiterInnenbewegung, die bürokratisierten, von oben kontrollierten Gewerkschaften, die reformistischen, bürgerlichen ArbeiterInnenparteien wie auch linkspopulistische Regime und Bewegungen in den Ländern des globalen Südens.

Letztlich läuft die Politik der Gewerkschaftsbürokratien und der Sozialdemokratie – aber schließlich auch der Linksparteien – auf eine Politik der nationalen Einheit mit dem Kapital, auf Koalitionsregierungen und  SozialpartnerInnenschaft in den Betrieben hinaus. Unter bürokratischer Kontrolle können diese Organisationen, die trotz Mitgliederverlusten weiter Millionen und Abermillionen Lohnabhängige umfassen, ihr Potential nicht realisieren. Im Gegenteil, die bürokratischen Führungen fungieren als Hindernis, als Bremse, oft sogar als direkte GegnerInnen jeder Massenmobilisierung. Sie verfolgen nicht nur eine verfehlte Politik, sie verbreiten auch falsches Bewusstsein in der Klasse.

Eine Spielart dieser Abhängigkeit von den liberalen imperialistischen Mächten und Parteien ist der weit verbreitete Versuch, eine radikale Version der Sozialdemokratie wiederzubeleben, entweder durch die Gründung neuer Parteien auf der Grundlage eines radikalen keynesianischen Programms, das soziale Bewegungen mit Elektoralismus kombiniert, oder durch die versuchte Übernahme bürgerlich-liberaler oder tradierter sozialdemokratischer Parteien. Tatsächlich haben wir Ersteres im Fall von Syriza und Podemos scheitern sehen und Letzteres in Form des Corbynismus in der britischen Labour Party. Ehemalige stalinistische „Linksparteien“ haben lange mit der gleichen Methode experimentiert.

Heute sehen wir eine Mischung aus beidem im Fall der Demokratischen SozialistInnen von Amerika und ihrem sogenannten „schmutzigen Bruch“ mit der Partei von Joe Biden und Hillary Clinton. IdeologInnen dieses Neoreformismus versuchen, einen seiner revolutionären Essenz entledigten Marxismus mit Hilfe eines wiederbelebten Luxemburgismus, Gramscianismus oder Kautskyianismus in ihre Politik zu inkorporieren. „TrotzkistInnen“, die sich dem anpassen, beschreiten einfach den Weg des ursprünglichen Revisionismus und Eurokommunismus und sind ein Teil des Problems der ideologischen Verwirrung, nicht von dessen Lösung.

Mobilisierungen

Trotz dieser mächtigen Hindernisse, trotz Pandemie und Krise, regte sich auch im letzten Jahr ein beeindruckender Widerstand auf der ganzen Welt. Die Revolution in Myanmar, die Streikbewegung der indischen ArbeiterInnen und BäuerInnen sind beeindruckende Höhepunkte demokratischer und sozialer Kämpfe. Sie stellen die Frage, wie der Kampf um grundlegende demokratische und soziale Forderungen mit dem für die sozialistische Revolution verbunden werden kann, sie zeigen: es braucht ein Programm der permanenten Revolution.

In Belarus, im Libanon, in Nigeria und vielen anderen Ländern mobilisierten Massenbewegungen gegen reaktionäre Regime und die soziale Misere, sodass sich vorrevolutionäre Situationen und Krisen entwickelten. Die explosive Lage in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Afrika und großen Teilen Asiens bedeutet, dass Massenkämpfe auch in der kommenden Periode weiterhin wahrscheinlich sind und zu revolutionären Situationen eskalieren können. Wie in den Arabischen Revolutionen nach 2011 stellt sich dann die Frage, wie diese Bewegungen zum revolutionären Sieg gelangen können.

In den imperialistischen Ländern wiederum – allen voran in den USA – mobilisierten riesige Massenbewegungen, allen voran Black-Lives-Matter, Millionen Menschen und inspirierten die rassistisch unterdrückte Jugend auf der ganzen Welt. Ähnliche Ansätze eines spontanen Internationalismus zeigen auch die Frauenstreikbewegung  und wichtige Teile der Umweltbewegung,  die beide selbst in der Pandemie  weltweit wieder Millionen mobilisierten. Auf der Ebene gewerkschaftlicher und betrieblicher Kämpfe erlebten wir Ansätze länderübergreifender, koordinierter Aktionen in einzelnen Konzernen wie z. B. bei Amazon.

Führungskrise

Doch trotz einer historischen Krise und drohender tiefer Einschnitte blieben die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse v. a. in den imperialistischen Ländern oft am Rande dieser Bewegungen und Mobilisierungen. Die betrieblichen Abwehrkämpfe gegen Schließungen und Massenentlassungen waren zwar durchaus zahlreich, aber blieben in der Regel voneinander isoliert und unter fester Kontrolle von Gewerkschaftsbürokratie und betrieblichen FunktionärInnen.

Diese bremsende Stillhaltepolitik der reformistischen Apparate und Parteien erklärt auch, warum die ArbeiterInnenklasse in den meisten Bewegungen keine führende Rolle einnehmen konnte. Die Führung von Widerstandsbewegungen fiel dann fast unwillkürlich politisch kleinbürgerlichen Kräften und solchen Ideologien zu. Die Dominanz dieser Ideologien – z. B. Identitätspolitik, Intersektionalismus, Postkolonialismus, Feminismus, Linkspopulismus – in den Bewegungen der letzten Jahre ist selbst ein Resultat der vorherrschenden bürgerlichen Politik und des damit verbundenen verbürgerlichten Bewusstseins in der ArbeiterInnenklasse. Dass viele AktivistInnen in radikalen kleinbürgerlichen Theorien und Programmen eine Alternative erblicken, ist die zwangsläufige Strafe für die sozialpartnerschaftliche und sozialchauvinistische Politik der Gewerkschaftsbürokratien und reformistischen Parteien sowie die Duldung dieser Hoheit durch viele Kräfte, die sich links von ihnen wähnen.

AktivistInnen der kleinbürgerlich geführten Bewegungen können nur für eine revolutionäre ArbeiterInnenpolitik gewonnen werden, wenn RevolutionärInnen die Kämpfe um Befreiung ohne Wenn und Aber unterstützen, wenn sie ihre Kritik an deren Programmen und Theorien geduldig erklären und einen schonungslosen Kampf gegen die bürokratischen und reformistischen Führungen in der ArbeiterInnenklasse selbst führen.

Konkret heißt das, dass sie um die klassenkämpferische Erneuerung der Gewerkschaften kämpfen müssen und oppositionelle demokratische Basisbewegungen gegen die Bürokratie aufzubauen haben. Um deren Vormacht zu brechen, müssen sie Forderungen an eben diese Führungen stellen, ohne ihre Kritik zu verschweigen. Sie müssen für den Bruch aller ArbeiterInnenorganisationen mit der Bourgeoisie kämpfen. Das heißt in Ländern wie den USA in der DSA, für die konsequente Abkehr von der Demokratischen Partei und für den Aufbau einer Massenpartei der ArbeiterInnenklasse einzutreten. Das heißt in anderen Ländern wie Deutschland, für die Schaffung einer neuen revolutionären ArbeiterInnenpartei einzutreten.

Einheitsfront

In allen Fällen müssen RevolutionärInnen eine Einheitsfront aller Parteien, Organisationen und Bewegungen der ArbeiterInnenklasse sowie der Unterdrückten auf der Basis eines Aktionsprogramms gegen Krise, Pandemie, Umweltzerstörung, Rassismus und Sexismus vorschlagen. Ein solches Programm muss z. B. Forderungen gegen drohende Entlassungen, gegen Arbeitslosigkeit, Mietpreiserhöhungen und für den freien Zugang zu einem Gesundheitssystem für alle, für einen solidarischen Lockdown umfassen. Das bedeutet auch, das Privateigentum an den Produktionsmitteln in Frage zu stellen, indem wir z.B. die Enteignung der Pharmaindustrie und einen globalen Plan zur Produktion und kostenlosen Verteilung von Impfstoffen für alle fordern. Es geht um die entschädigungslose Enteignung aller privaten Konzerne im Gesundheitssektor unter ArbeiterInnenkontrolle;  die Enteignung aller Konzerne, die mit Massenentlassungen und Kürzungen drohen.

Diese und alle anderen großen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen können nur gewonnen werden, wenn sie sich auf Massenmobilisierungen der ArbeiterInnenklasse stützen. Daher müssen alle ihre Organisationen dazu aufgefordert werden, sich am gemeinsamen Kampf zu beteiligen, um so die großen Massenorganisationen in Bewegung zu bringen und zugleich deren Führungen dem Test der Praxis auszusetzen.

Ein solcher Kampf erfordert demokratische Strukturen: er muss sich auf Versammlungen in den Betrieben und Stadtteilen, auf gewählte Aktionskomitees und Ausschüsse stützen.  Schließlich muss eine Massenbewegung auch Selbstverteidigungsorgane aufbauen, die sie vor den Angriffen von StreikbrecherInnen, rechten Banden oder der Polizei schützen können.

Internationalismus und Internationale

Um den Widerstand auf kontinentaler und globaler Ebene zu verbinden, braucht es eine internationale Bewegung, eine Wiederbelebung der Sozialforen, die jedoch nicht nur Organe zur Diskussion, sondern beschlussfähige Koordinierungen des gemeinsames Kampfes sein sollen.

Aber dies alleine wird nicht reichen, denn notwendig ist eine politische Antwort auf die Führungskrise der ArbeiterInnenklasse selbst:  neue revolutionäre Parteien und eine neue, Fünfte Internationale, die sich auf ein Programm von Übergangsforderungen für die sozialistische Revolution stützen; eine Weltpartei, die eine wirklich internationale, globale Antwort auf die Dreifachkrise der Menschheit vertritt.