Gewerkschaften unter Corona: Versagen auf der ganzen Linie!

Mattis Molde, Neue Internationale 255, Mai 2021

Im letzten Jahr haben über eine Million Menschen ihren Arbeitsplatz verloren, 477.000 sozialversicherungspflichtig und 526.000 geringfügig Beschäftigte hat es getroffen. Das antwortet die Bundesregierung auf eine Anfrage der LINKEN. Darüber hinaus wurden 128.000 regulär Beschäftigte im verarbeitenden Gewerbe entlassen, vor allem in der Metall- und Elektroindustrie. Allerdings sei diese Branche bereits vor der Coronapandemie von einem strukturellen Wandel gezeichnet gewesen sei, schreibt die Regierung.

Eine Million Menschen verlieren ihre Existenz und die Regierung schiebt das auf Pandemie und Strukturwandel. Sie hat ihr Politsprech schon so verinnerlicht, dass für sie struktureller Wandel gleichbedeutend mit der Zerstörung von Arbeitsplätzen ist. Natürlich sagt die Regierung nicht, was wirklich los ist:

Die Unternehmen lassen die Beschäftigten für die Krise bezahlen. Sie planen, das auch weiterhin zu tun. In der Metallindustrie stehen weitere 300.000 Arbeitsplätze zur Disposition, zigtausende im Handel, und das ist noch lange nicht alles. Die Regierung benennt diese Angriffe nicht. Sie beschwört den „Zusammenhalt der Gesellschaft“, den es für die KapitalistInnen mitnichten gibt. Was sie zusammenhalten, ist ihr Kapital – koste es, was es wolle. Und sie laden die Kosten der Gesellschaft und den arbeitenden Menschen auf.

Eine Situation, in der sich Unmut zusammenbraut. Er richtet sich gegen die Regierung – aber oft unter falschen Vorzeichen und mit rechten und reaktionären Parolen. Regierung und Staat kommt das sehr gelegen: Sie wollen auf jeden Fall diejenigen aus dem Feuer nehmen, die in diesem System profitieren und die es gerade auch in und trotz der Krise tun: die GroßkapitalistInnen.

Dass dieser Unmut nicht die wirklich Verantwortlichen trifft, ist das Verdienst der Gewerkschaften, genauer gesagt ihrer Führungen.

Versagen oder Absicht?

Die Pandemie hat die Krise der Gewerkschaften nicht erzeugt, aber noch offensichtlicher gemacht.

Die Gewerkschaftsführung akzeptiert nicht nur millionenfache Jobverluste, sondern auch Niederlagen bei Lohnrunden und Einbrüche in die Tarifverträge. Sie trägt die Coronapolitik der Regierung im Interesse des Großkapitals mit, verfolgt eine Politik der nationalen Einheit und deckt damit auch den anhaltenden Jo-Jo-Lockdown auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung.

Die Krise trifft unterschiedliche Gruppen von Beschäftigten auf verschiedene Weise. So kann Kurzarbeit für relative gut bezahlte Beschäftigte eine erträgliche Lösung sein, für andere, z. B. im Niedriglohnbereich, nicht. Viele bekommen sie noch nicht mal angeboten, sondern werden sofort entlassen. Deshalb hilft das Herumdoktern an Teillösungen – und das ist das Maximum, das Gewerkschaften in diesem Jahr geleistet haben – letztlich nicht weiter. Deshalb ist eine übergreifende, also politische Bewegung nötig.

In Zeiten allgemeiner Krise ist eine einheitliche Bewegung ein entscheidender Faktor dafür, Kämpfe in einzelnen Betrieben oder Branchen zu gewinnen. Aber die Gewerkschaftsführungen haben nicht nur die Ansätze für eine allgemeine Bewegung gegen die Abwälzung der Krisenlasten nicht gefördert, sondern bislang aktiv jeden hoffnungsvollen Ansatz im Keim erstickt. Streiks und Tarifrunden wurden in den Sand gesetzt. Solidarität heißt nur noch gemeinsamer Verzicht – wo gemeinsamer Kampf so wichtig wäre!

Entsprechend steht nicht ein einziger Erfolg, nicht ein einziger Sieg für die Gewerkschaftsbewegung zu Buche. Es gibt nur diese schrecklichen Teil„erfolge“, bei denen „Schlimmeres“ vermieden wurde, weil Schlimmes von vornherein akzeptiert worden war: „Erfolge“, für die immer der Preis stets höher war, als das Erreichte wert ist. Und alles wird so schöngeredet oder zurechtgelogen wie eine Verlautbarung von Andreas Scheuer oder Jens Spahn.

Mit ihrem Vorgehen ist die Führung auch dafür verantwortlich, dass Tausende den Gewerkschaften den Rücken gekehrt haben. Die Mitgliederzahlen haben einen neuen historischen Tiefstand in einer Zeit erreicht, wo sie dringend gebraucht würden. Die FunktionärInnen geben die Schuld daran der Basis, die sich nicht wehren kann. In den Organisationsstrukturen kommt sie praktisch nicht mehr vor. Das innergewerkschaftliche Leben wurde noch weiter erstickt, dafür ist Corona immer nützlich. Zu Beginn der Pandemie schon wurde die Anweisung des ver.di-Vorstandes bekannt, dass jede einzelne Verlautbarung von ihm genehmigt werden müsse. Diskussion ist kaum mehr möglich. In Internetforen dürfen Fragen gestellt werden, deren Zulassungen die AdministratorInnen prüfen.

Das hat zu einer Situation geführt, wo für die Mehrheit der Werktätigen Gewerkschaft nicht mehr stattfindet. Sie werden nicht nach Tarif bezahlt und haben keine Betriebsräte. Insbesondere Beschäftigte in Leiharbeit verdanken ihre miese Lage der Zustimmung der Gewerkschaften zu dieser rechtlosen Lage. Aber auch Werkvertrags- und andere prekär Beschäftigte haben weder das Geld übrig für Mitgliedsbeiträge noch wirkliche Vorteile aus einer Mitgliedschaft. Und für die meisten BürokratInnen „lohnt“ es sich auch nicht, Ressourcen für die Organisierung dieser Schichten aufzuwenden. Dies würde nämlich regelmäßig Konflikt mit den Unternehmen bedeuten. Aber sie wollen nicht kämpfen, sie wollen mit ihren SozialpartnerInnen verhandeln.

Natürlich gibt es weiterhin engagierte GewerkschaftssekretärInnen, die versuchen, beispielsweise Beschäftigte im Handel oder in den Fleischfabriken zu unterstützen gegen die widerwärtigen Formen der Ausbeutung, die dort stattfinden. Aber das Gesamtbild der DGB-Gewerkschaften wird dadurch geprägt, dass der mächtigste Einzelverband, die IG Metall, noch nicht mal in „ihren“ Betrieben gegen prekäre Arbeitsverhältnisse vorgeht. In der Automobilproduktion wäre es ein Leichtes, mit Aktionen, Warn- oder Vollstreiks richtig Druck auf die Unternehmen auszuüben. Selbst die Verweigerung von Sonderschichten und Überstunden könnte sie z. B. derzeit empfindlich treffen.

IG Metall

Aber die Betriebsräte und die IGM sind so sehr dem Profit verpflichtet, dass sie akzeptieren, dass bald die Hälfte der Beschäftigten in der Autoproduktion für Werkverträge und Leiharbeit arbeitet. Da geht es nicht nur um Firmenprofite, sondern um internationalen Wettbewerb, um Deutschlands Führungsrolle in Europa und seine Position in der Welt. Diese Arbeit„nehmer“vertreterInnen decken deshalb auch den Abgasbetrug und die Rüstungsexporte. Sie unterstützen Rationalisierung und Digitalisierung, die ihrerseits zehntausende Arbeitsplätze kosten, ja auch Verlagerungen in Niedriglohnländer, die sie dann „sozial“ gestalten, und natürlich die erhöhte Ausbeutung in diesen.

Die abgelaufene Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie verdeutlicht diese Politik exemplarisch:

Es gibt dieses Jahr keine Erhöhung der Löhne und Gehälter oder – um das Tarifvokabular zu benutzen – der Monatsentgelte. Diese wurden zuletzt im April 2018 um 4,3 % erhöht. Die nächste mögliche Erhöhung kann ab Oktober 2022 kommen: also nach mindestens viereinhalb Jahren Stillstand!

Es gibt für 2021 lediglich eine Einmalzahlung von 500 Euro netto. Sie wird Coronaprämie genannt, damit die gesetzliche Regelung dazu genutzt werden kann: Es müssen keine Steuern gezahlt werden. Außerdem wurde ein „Transformationsgeld“ erfunden. Es ist eine jährliche Sonderzahlung, die vierte neben dem „Weihnachtsgeld“, dem Urlaubsgeld und dem „tariflichen Zusatzgeld“ (T-ZUG). Rechnerisch beträgt es 2,3 % des Monatsentgeltes. Dieses muss nicht gezahlt werden. Wahlweise kann auch die Arbeitszeit abgesenkt werden. Das kann jede/r Beschäftigte individuell tun, es können aber auch betriebliche Regelungen zwischen Betriebsrat und Management vereinbart werden.

Weil mit 2,3  % nicht mal eine Arbeitsstunde pro Woche finanziert werden kann, eröffnet der Tarifvertrag auch noch die Möglichkeit, das Urlaubs- und „Weihnachtsgeld“ dafür einzusetzen. Das nennt sich dann „Teillohnausgleich“ und lügt damit: Es ist kein „Lohnausgleich“ in dem Sinne, dass ein Teil der Arbeitszeitverkürzung vom Unternehmen „ausgeglichen“ würde, sondern die Beschäftigten verlieren exakt den Betrag, den sie erarbeitet hätten.

Die Flexibilisierung im Sinne des Kapitals geht also weiter mit neuen Puffern nach unten zur schon länger vereinbarten „tariflichen“ Kurzarbeit und zu den „Entlastungen“ der Unternehmen von Urlaubs- und „Weihnachtsgeld“ bei Kurzarbeit.

Zusammengefasst: keine Erhöhung der Monatsentgelte für 4,5 Jahre, nur Einmalzahlungen und Sonderzahlungen, die auch ohne Zustimmung der Beschäftigten entfallen können.

Prämien für Stammbelegschaften

Das ist das Tarifergebnis. Zugleich haben aber die Stammbelegschaften der Autokonzerne „Prämien“ für das abgelaufene Jahr 2021 erhalten:

  • Bei Daimler erhalten diese zusätzliche 500 Euro und eine „Corona“-Prämie von 1000 Euro.
  • Bei VW sind es 2700 Euro, nach 4950 Euro im letzten Jahr.
  • Bei BMW kann ein/e durchschnittliche/r FacharbeiterIn diesmal mit zusätzlichen 2160 Euro rechnen. In Top-Jahren betrug diese Prämie über 9000 Euro. Dazu ein zusätzlicher Beitrag für die Betriebsrente in Höhe von 450 Euro.
  • Porsche: Die Beschäftigten erhalten für ihre Leistung eine Sonderzahlung von bis zu 7850 Euro.

Damit übersteigen diese „Prämien“ das von der IG Metall so hoch gepriesene Tarifergebnis um ein Mehrfaches. Auch wenn sie dieses Jahr geringer ausfallen, wären sie für die prekär in den Autobuden malochenden ArbeiterInnen das Vielfache eines Monatslohnes. Aber sie bewirken nicht nur eine Spaltung der Belegschaften in diesen Konzernen, sondern auch eine innerhalb der IG Metall: Die Masse bekommt ein Tröpfchen Tariferhöhung, wenn sie es überhaupt bekommt. Die Belegschaften, die von ihrem Organisationsgrad, ihrer Kampfkraft und ihrer wirtschaftlichen Wirkung die stärkste Waffe in einem Tarifkampf darstellen würden, werden aus diesem Kampf rausgenommen und auf Prämienverhandlungen orientiert. Tatsächlich wurde zum Beispiel Daimler Sindelfingen komplett aus der Tarifrunde ausgeklinkt: Überstunden statt Warnstreiks.

Damit wurde aber nicht nur die Kampfkraft dieser Belegschaften für eine echte Lohnerhöhung für alle beeinträchtigt, es wurde auch das zentrale Thema dieser Tarifrunde, die Verteidigung der Arbeitsplätze, sabotiert. Gerade dafür hatten sich viele bedrohte Belegschaften mobilisiert, teilweise weit über die „geplanten“ Aktionen hinaus. Die Tarifrunde war die große Chance, das hohe Engagement von bedrohten Belegschaften mit der hohen Wirksamkeit von überausgelasteten Betrieben zu verbinden.

Es war die bewusste Entscheidung der IG Metall-Führung, genau das nicht zu tun: Kampfbuden aus der Tarifrunde ausklinken, keine Solidarität organisieren, keine gemeinsamen Konferenzen der bedrohten Belegschaften, stattdessen so viele Abwicklungsverträge wie möglich noch vor und während der Tarifrunde unterschreiben: bei Bosch, bei Daimler Untertürkheim, bei Mahle oder Conti.

Der Charakter der Bürokratie

Das Beispiel der IG Metall ist nicht deshalb so wichtig, weil andere Branchen zweitrangig sind oder die dort Beschäftigten nicht kämpfen könnten. Im Gegenteil: Es belegt, dass die Spaltung und Entsolidarisierung der Gewerkschaften auf allen Ebenen eine durchgehende politische Strategie ist, die dem Zweck dient, die Politik der Regierung und die Bedürfnisse des Kapitals durchzusetzen.

Im Tarifkampf des öffentlichen Dienstes übersetzte sich diese dahingehend, das zuvor geschmähte „Diktat der Arbeitgeberverbände“ zu akzeptieren und lediglich das Geldvolumen zwischen den Branchen umzuverteilen, weil klar war, dass aus dem Gesundheitswesen ein stärkerer Druck kam.

Das ist eine durchgängige Politik einer kastenartigen, bürokratischen Schicht, die in den Gewerkschaften eine Politik zugunsten des Kapitals betreibt. Natürlich muss diese als „Interessen“politik verkleidet werden, und das geht nur, in dem jeweils behauptet wird, dass sie im Namen einer bestimmten Gruppe geschehe: Im Interesse der Beschäftigten des Gesundheitswesens sollen die anderen Reallohnverzicht üben. Im Namen der von Entlassung Bedrohten sollen die anderen auf Entgelt verzichten. Ja und natürlich sollen die Porsche-Leute mehr für sich rausholen, wenn sie es können. Aber der eigentliche Gewinner ist immer das Kapital.

Aber weil es Schichten gibt, die tatsächlich bessergestellt werden, und zwar ganz bewusst, weil diese von der Bürokratie dazu erzogen werden, ihre Privilegien höher zu schätzen als die Solidarität aller, verfügt die Bürokratie auch über eine Stütze in den Gewerkschaften, obwohl ihre Strategie letztlich auch die Position dieser ArbeiterInnenaristokratie untergräbt.

Die Bürokratie hat derzeit die nahezu absolute Macht in den DGB-Gewerkschaften, gerade auch weil sie die Industriegewerkschaften beherrscht. Es gibt keinen Flügel im Apparat, der dagegen Widerstand leistet. Auch die AnhängerInnen und Mitglieder der LINKEN ordnen sich dieser Strategie unter, so wie sich diese Partei generell dieser Politik unterordnet, auch wenn sie SPD-Rezeptur reinsten Wassers ist.

Das heißt nicht, dass einzelne Betriebsratsmitglieder oder auch GewerkschaftssekretärInnen im Einzelfall ein offensiveres Vorgehen an den Tag legen können – wenn der Druck von unten stärker wird. Aber das kann und wird keine grundlegende und nachhaltige Veränderung bewirken: Die Strukturen sind so angelegt, dass alle Macht beim Apparat liegt. Wenn die Bewegung erschöpft ist, übernehmen die Apparate wieder.

Das gleiche Spiel läuft ab, wenn Betriebe oder Branchen sich neu organisieren. Natürlich sollen und müssen sich diese neu gewonnenen AktivistInnen mit den KollegInnen derselben Branche  verbinden. Aber die Kontrolle über diese Verbindungen hat die Bürokratie. Wenn diese neuen AktivistInnen nicht von vorneherein verstehen, warum sie von der Bürokratie bisher nicht wertgeschätzt worden sind, wenn sie deren Politik nicht verstehen und bekämpfen können, werden sie deren Manövern hilflos ausgeliefert sein, sich anpassen oder sich rausdrängen lassen.

Eine organisierte Opposition ist nötig!

Es gibt nur einen Weg: Eine klassenkämpferische, antibürokratische Opposition aufbauen, eine, die sich nicht auf den Kampf um einzelne Entscheidungen beschränkt oder auf einzelne Betriebe. Die jeden Konflikt nutzt, um die gesamten Zusammenhänge zwischen Kapitalismus, seiner Krise und der Politik der reformistischen Gewerkschaften und Parteien aufzuzeigen. Die Niederlagen nicht beschönigt, sondern auf die notwendigen Konsequenzen hinweist.

Eine Opposition aufzubauen, wird nicht leicht fallen, der Apparat ist mächtig. Aber auch wenn seine Konzeption in vielen Fällen funktioniert, wie oben beschrieben, so scheitert sie doch mit Zunahme der Systemkrise immer mehr. Oder um ein Beispiel zu geben: Gegen den Abbau von 400.000 Arbeitsplätzen allein in der Autoindustrie werden 2,3 % „Transformationsgeld“ aus dem neuen Tarifvertrag nicht helfen.

Es gibt kleine Ansätze für eine solche Opposition. Aber sie muss zu einer klassenkämpferischen Basisbewegung werden: Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft mit dem Kapital, Kontrolle der Gewerkschaft durch die Basis anstelle der Bürokratie!