Brasilien – ein Pulverfass

Liga Socialista (Brasilien), Neue Internationale 255, Mai 2021

Was wir heute in Brasilien erleben, ist die Fortsetzung des Putsches von 2016, der die Präsidentin Dilma (ArbeiterInnenpartei; PT) stürzte. Es war nicht nur ein Putsch gegen die PT-Regierung, sondern ein gegen die gesamte ArbeiterInnenklasse gerichteter. Gleich nach seinem Amtsantritt versuchte Temer (Brasilianische Demokratische Bewegung; MDB), eine Rentenreform zu verabschieden, aber die Mobilisierung des Volkes stoppte ihn. Temer schaffte es jedoch mit List, die Arbeitsreform durchzusetzen.

Nachwehen des kalten Putsches von 2016

Bei den Wahlen 2018 wurde Lula ohne Beweise verurteilt und rechtswidrig verhaftet. Der STF (Oberster Bundesgerichtshof) gewährte damals keinen Habeas Corpus (Freilassung aus widerrechtlicher Haft) und verbot Lula die Teilnahme am Wahlkampf. Die wichtigsten Parteien der Bourgeoisie wurden bei den Wahlen besiegt und ihr Hauptkandidat, Alckmin (Sozialdemokratische Partei Brasiliens; PSDB), scheiterte vor der zweiten Runde, die zwischen dem Neofaschisten Bolsonaro und dem Kandidaten der ArbeiterInnenpartei, Haddad, ausgefochten wurde. In diesem Moment schloss sich die Bourgeoisie mit ihrem Hass auf die PT der Kampagne von Bolsonaro an, der am Ende gewann.

Aus all diesen Gründen haben wir heute in Brasilien eine Regierung, die die Wissenschaft leugnet, die BeamtInnen zu großen FeindInnen der Nation erklärt, die öffentliche Versammlungen und die Nichtverwendung von Masken fördert. Für Bolsonaro ist Covid nur eine „kleine Grippe“.

Damit hat Brasilien jetzt über 320.000 Covid-Tote erreicht und heute den Rekord von 3.869 Toten pro Tag gebrochen. Das medizinische System bricht in vielen Teilen des Landes zusammen, vor allem in Bezug auf die Intensivstationen, aber auch die pharmazeutische Grundversorgung.

Lula rehabilitiert

Der STF entschied nun in einem außergewöhnlichen Urteil zum „lava jato“-Prozess („Autowäsche“; milliardenschwerer Korruptionsskandal), dass die Gerichtsbarkeit von Curitiba (Bundesstrafgericht, dessen Staatsanwaltschaft Verstöße gegen Rechtshilfeabkommen und illegale Zusammenarbeit mit dem FBI vorgeworfen werden) nicht über die Kompetenz verfügt, in den Fällen gegen Lula zu urteilen. Kurz darauf erließ eine weitere außergewöhnliche und umstrittene Entscheidung des STF, dass Richter Sergio Moro im Verfahren gegen Lula befangen war, und hob damit das Verfahren gegen Lula im „lava jato“ auf.

Mit dieser Entscheidung rehabilitiert der STF die politischen Rechte Lulas. Die Linke erhielt unerwartet Auftrieb, Lula hielt mehrere öffentliche Reden, und die PT-AnhängerInnen schöpften wieder Hoffnung und sehen nun die Möglichkeit einer Kandidatur Lulas im Jahr 2022. Auf der anderen Seite wandte sich ein Teil der Bourgeoisie gegen Bolsonaro und veröffentlichte ein Dokument gegen ihn, das von BänkerInnen, Geschäftsleuten und renommierten ÖkonomInnen unterzeichnet wurde. Diese Gruppe wendet sich an den Kongress und bewirkt, dass der Centrão (der große Sumpf der Mitteparteien im Kongress, die für jede Mehrheit im aktuellen Parlament gewonnen werden müssen), der bis dahin die Regierung unterstützt hatte, beginnt, sich zurückzuziehen.

Bolsonaros politischer Amoklauf

Bolsonaro, in totaler Verwirrung angesichts der Bedrohung durch eine Lula-Kandidatur und unter dem Druck seiner Basis, beginnt, nach allen Seiten zu schießen. Er droht damit, den Belagerungszustand über das Land zu verhängen und ruft die Streitkräfte zur Unterstützung an, droht sogar mit der Schließung von STF und Kongress. Aber er war überrascht, als die Streitkräfte klarstellten, dass sie die Bundesverfassung verteidigen und sich niemals an einer Handlung beteiligten, die diese negieren oder zu einer totalitären Regierung führen würde.

Angesichts dessen kam es zu einem Meutereiversuch der Bolsonaro nahe stehenden Militärpolizei im Bundesstaat Bahia, der von der PT regiert wird. Der Aufstandsversuch, der sich auf andere Bundesstaaten ausweiten sollte, wurde frühzeitig entlarvt und die Polizistkräfte zogen sich zurück. Dies war eine Aktion, die von Abgeordneten aus Bolsonaros Basis gefördert wurde, um GouverneurInnen anzugreifen, die eine Corona-Sperre verhängt haben.

In den Querelen innerhalb der Regierung entband Bolsonaro den Verteidigungsminister Fernando Azevedo von seinem Amt, der mit den Worten abtrat, er wolle „nicht wiederholen, was er im Mai letzten Jahres erlebt hat“, als Bolsonaristas (Bolsonaros AnhängerInnen) auf die Straße gingen, ein militärisches Eingreifen forderten und den STF angriffen.

Der Armeekommandant Edson Pujol wurde ebenfalls entlassen bzw. reichte seinen Rücktritt ein. Die Streitkräfte hatten ein Treffen und zogen alle ihre Kader aus der Regierung zurück. Es ist eine sehr komplizierte Situation mit verschiedenen Interpretationen. Für einige AnalystInnen stellt sie ein Manöver des Centrão dar, um mehr Posten in der Regierung zu erhalten. Es besteht auch die Möglichkeit, dass die Streitkräfte den Sturz von Bolsonaro planen, damit sein Vizepräsident, Ex-General Mourão, die Präsidentschaft übernimmt. Aber in dieser Situation könnte es eine Reaktion von Bolsonaristas geben, hauptsächlich von der Militärpolizei, die zwar Bundesstaatenpolizei ist, sich aber in ganz Brasilien als Anhängerin Bolsonaros zeigt.

Krise mit ungewissem Ausgang

Alles kann passieren, von einer neuen Vereinbarung zwischen den Kräften, die die Regierung Bolsonaro bilden, bis hin zu einer Meuterei der Polizei und einer Konfrontation zwischen Polizei und Streitkräften. Verschlimmert wird die Lage dadurch, dass sich die Armut im Land ausbreitet und die Grundversorgung mit Lebensmitteln in immer mehr Regionen nicht mehr funktioniert. Die Reaktion derjenigen, die von der Krise betroffen sind, kann jeden Moment erfolgen.

Einige wissenschaftliche Untersuchungen berichten, dass es etwa 15 Millionen BrasilianerInnen gibt, die am schwerwiegenden Problem der Fehl- und Unterernährung leiden. In mehreren Großstädten bilden sich riesige Schlangen vor den Stellen, an denen kostenlose Mahlzeiten ausgegeben werden, denn die meisten Armen können mit den kleinen Rationen der Nothilfe nicht überleben.

Da die Linke jedoch keine Richtung vorgibt, schließen sich womöglich viele der Armen  Rechtspopulismus und sogar Faschismus an, die sie davon überzeugen, dass die Wirtschaftskrise im Land von den „KommunistInnen“ (einschließlich rechter GouverneurInnen!) und „Petistas“ (Mitglieder und AnhängerInnen der PT) verursacht wird, die die Menschen an der Arbeit hindern – wegen der „hysterischen Maßnahmen“ (Lockdown) zur Abwehr der Pandemie.

Zusammenfassend kann man sagen, dass Brasilien ein Pulverfass ist, und es kann sein, dass Bolsonaro selbst die Lunte anzündet. In Streitkräfte und Centrão darf es keine Illusionen geben. Wenn sich die Krise noch weiter zuspitzt, könnte die Bourgeoisie zu irgendeiner Form des Ausnahmezustands oder einer anderen autoritären Form der Krisenpolitik greifen einschließlich eines Putsches der faschistischen Kräfte um Bolsonaro (z. B. in der Militärpolizei und den Milizen). Darauf muss die Linke vorbereitet sein und demokratische Grundrechte verteidigen.

Perspektive

Es muss eine Einheitsfront aufgebaut werden, um einem solchen autoritären Versuch entgegenzutreten und ihn mit einem Generalstreik unter Kontrolle der einfachen Mitglieder der Gewerkschaften und der Organisationen der arbeitenden Armen in den Städten und auf dem Land zu beantworten. Gleichzeitig muss der Kampf gegen die Pandemie und die schwere Wirtschaftskrise kombiniert werden, indem den Bolsonaristas und den korrupten Kräften in Gestalt der bürgerlichen GouverneurInnen die Kontrolle über die Antikrisen- und Antipandemie-Maßnahmen entzogen wird.

Ein solidarischer Lockdown von nicht lebensnotwendigen Teilen der Wirtschaft muss mit der Übernahme der Kontrolle über die Lebensmittelversorgung der Armen und Arbeitslosen und einem Notfallplan für das kollabierende Gesundheitssystem kombiniert werden. Nicht „Lula 2022“, sondern der Kampf für eine ArbeiterInnen- und BäuerInnenregierung, die die Kontrolle über ein solches Programm übernimmt, ist der Ausweg aus der Pulverfass-Situation!