Ausgangssperren, der Staat und linke Antworten

Robert Teller, Infomail 1146, 22. April 2021

Mit dem neuen Infektionsschutzgesetz kommt die bundesweite Ausgangssperre, wenn auch nun in einer stark abgeschwächten Form. Auf Grundlage von Landesverordnungen ist sie ohnehin vielerorts in Kraft. In vielen anderen Ländern gehört sie schon lange zum Standardprogramm der Pandemieeindämmung, wobei die politisch-moralischen Bedenken teils geringer ausfallen als hierzulande. Oftmals haben sich Ausgangssperren bereits gegen andere „innere Bedrohungen“ für die Herrschenden bewährt, warum also nicht auch in diesem Fall?

Das Gesetz

Angela Merkel hält die Ausgangssperre für eine „Zumutung für die Demokratie“, so auch weitgehend der Rest der Republik – von links bis rechts. Dennoch wurde nun beschlossen, dass man abends nur noch mit triftigem Grund rausdarf. Derartige Gründe gibt es etliche. Damit wurde insbesondere sichergestellt, dass der Weg von und zur Arbeit jederzeit stattfinden kann, die Verausgabung von Arbeitskraft nicht beeinträchtigt wird und die Maßnahme somit keine Zumutung fürs Kapital darstellt. Ebenso erlaubt ist der Ausgang, um Sorgearbeit zu verrichten, wie z. B.  zur Betreuung oder Pflege von Kindern bzw. Angehörigen.

Das alles ist insgesamt natürlich eine juristisch hochkomplexe Abwägung von allesamt höchst wichtigen Rechtsgütern, daher die Zumutung. Das Menschenrecht auf nächtliches Spazierengehen gilt in Zukunft etwa dann, wenn ein Hund dabei ist oder auch ein Kind, nicht aber, wenn gar kein weiteres Säugetier in Reichweite ist, das als Virenwirt in Frage käme. Widersprüchlich ist das alles nicht nur auf den ersten Blick.

Faktisch enthält das neue Infektionsschutzgesetz wenig Neues. In Zukunft gilt eine Home-Office-Pflicht, falls keine „zwingenden Gründe“ entgegenstehen. Die gab es aber bereits seit Januar und wird nun lediglich so abgeändert, dass Arbeit„nehmer“Innen auch verpflichtet sind, die Home-Office-Möglichkeiten zu nutzen. Es bleibt aber weiterhin den Unternehmen selbst überlassen zu entscheiden, welche Gründe als „zwingend“ gelten und welche nicht. So ist nicht zu erwarten, dass sich die Home-Office-Quote, die Anfang März nur um 30 % lag, deutlich erhöhen wird.

Ansonsten werden Maßnahmen nun bundesweit einheitlich geregelt, die bisher auf Landesebene ähnlich, aber nicht überall einheitlich gehandhabt wurden. Wenn in Zukunft 3 Tage lang in Folge die 7-Tage-Inzidenz auf Landkreisebene den Wert 100/100.000 überschreitet, soll einheitlich die bereits bekannte Kontaktbegrenzung gelten (1 Haushalt + 1 Person), ohne dass regionale Sonderwege möglich sind. Unter derselben Voraussetzung soll automatisch die Ausgangssperre von 22 Uhr bis 5 Uhr in Kraft treten – mit diversen Ausnahmen, die es fraglich machen, ob sie überhaupt einen Effekt auf die Infektionslage haben wird. Eine schärfere Ausgangssperre wäre rechtlich zu angreifbar gewesen, wie die erfolgreichen Klagen gegen regionale Ausgangssperren in Frankfurt, Hannover und anderen Städten zeigten.

Wirksamkeit der Ausgangssperre

In der wissenschaftlichen Literatur findet sich wenig Überzeugendes, das für die Verhängung von Ausgangssperren spricht. Die meisten Forschungsarbeiten beruhen wesentlich auf Analysen epidemiologischer Messdaten, d. h. auf einem Vergleich der beobachteten Infektionsdynamik in verschiedenen Ländern oder Zeitabschnitten bei unterschiedlichen Eindämmungsmaßnahmen. Diese Datenanalysen haben den methodischen Mangel, dass sie für sich genommen keine kausale Wirkung einzelner Maßnahmen aufdecken können, sondern nur Korrelationen. Sie leiden zudem daran, dass in der Praxis eine Vielzahl verschiedener Eindämmungsmaßnahmen verhängt wird, deren Einzelwirkungen nicht unabhängig voneinander gemessen werden können. Daher ist es auch keineswegs so einfach, wie manchmal suggeriert, den kausalen Effekt einer bestimmten Maßnahme zur Pandemiebekämpfung von anderen isoliert und abgegrenzt zu bestimmen.

Ein gewichtiges Gegenargument ist bekanntlich die Gefahr einer Verlagerung sozialer Begegnungen aus dem (überwachten) öffentlichen Raum in private Innenräume. Ein solcher Effekt könnte schnell die positiven Eindämmungseffekte zunichtemachen, da das Übertragungsrisiko in Innenräumen um ein Vielfaches höher ist als draußen. Insbesondere treten die für die Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus so wesentlichen Super-Spreading-Ereignisse – soweit bekannt – praktisch ausschließlich in Innenräumen auf.

Ein weiteres Argument ist, dass unvermeidbare Erledigungen wie Einkäufe oder Fahrten im öffentlichen Verkehr von den Nachtstunden in den Zeitraum außerhalb der Ausgangssperre verlegt werden und die Personendichte etwa in Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln dann während der zulässigen Zeiten steigt, was zu einem überproportionalen Anstieg der Übertragungsrate führen würde.

Für die Wirksamkeit von Ausgangssperren spricht dagegen das Argument, dass während der Nachtstunden hauptsächlich „hochmobile“ Personengruppen eingeschränkt werden, die einen überproportionalen Anteil am Infektionsgeschehen haben könnten.

Der Effekt einer Ausgangssperre auf die Häufigkeit der fraglichen ungeschützten Kontakte in Innenräumen lässt sich nur schwer messen und noch schwieriger prognostizieren. Aggregierte anonymisierte Mobilfunk-Bewegungsdaten geben für Deutschland eine grobe Auskunft über die Anzahl von Ortswechseln von MobilfunkteilnehmerInnen, nicht aber über die Frequenz und die konkreten Umstände damit verbundener sozialer Begegnungen. In einer aktuellen Auswertung ergibt der Vergleich der Mobilitätsdaten in Baden-Württemberg auf Kreisebene jeweils vor und nach Aufhebung der Winterausgangssperren laut Statistischem Bundesamt, dass sich die „Aufhebung der Ausgangssperre kaum auf das Gesamtmobilitätsgeschehen auswirkte.“ Der beobachtete Anstieg während des Sperrzeitraums lag im Bereich von 10 %, jedoch machte die Mobilität in diesem Zeitraum nur 5 % der Gesamtmobilität eines Tages aus.

Soziale Auswirkung

Während die Wirkung auf die Einschränkung von Neuinfektionen zweifelhaft ist und allenfalls bescheiden sein dürfte, so ist das Ausgangsverbot mit zwei Effekten verbunden. Erstens kann so die Behauptung gestützt werden, dass eine wirkliche Wende, eine „harter Kurs“ in der Bekämpfung der Pandemie verfolgt würde. Dabei bleiben neuralgische Punkte, die bisher von Schließungen ausgenommen waren, also die gesamte Industrie und der Kernbereich der Mehrwertproduktion, weiter außen vor. Ebenso wird der Zickzackkurs an den Schulen und Kitas, der alle Seiten nur zermürben kann, faktisch fortgesetzt, diesmal mit dem Inzidenzwert von 165. Die nächtliche Ausgangssperre soll somit Entschlossenheit suggerieren, wo Konzeptlosigkeit und Lavieren zwischen Gesundheit und Wirtschaftsinteressen vorherrscht.

Zweitens werden die Ausgangssperren aber konkrete soziale, repressive und negative Folgen für die Bevölkerung haben – und zwar vor allem für jene, die schon jetzt unter der Ausgangssperre am meisten leiden.

Sicherlich wird sie geeignet sein, Jugendliche zu schikanieren, die in lauen Frühlingsnächten mal gerne ein Bier risikoarm an der frischen Luft trinken möchten. Die Ausgangssperre wird aber noch weitere, ohnedies schon täglich vor sich gehende Formen der Diskriminierung verstärken.

Wohnungslose, die auf der Straße überleben müssen, können mit zusätzlichen rechtlichen Mitteln Schikanen durch die Polizei ausgesetzt werden. Racial Profiling, das natürlich auch ohne Ausgangssperre rund um die Uhr stattfindet, kann jetzt zusätzlich mit dem Verweis auf sie legitimiert und als Maßnahme des Infektionsschutzes umgedeutet werden.

Für Frauen und nicht-binäre Personen bedeutet die Ausgangssperre auch, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie alleine in der Nacht einen Spaziergang machen oder „freiwillig“ zuhause bleiben.

Schließlich trifft die Ausgangssperre Menschen aus den ärmeren Schichten der ArbeiterInnenklasse und des KleinbürgerInnentums besonders hart, weil diese auf engerem Wohnraum leben müssen.

Während sich die gesundheitspolitische Wirkung weitgehend auf Symbolik beschränken dürfte, also gegen null geht, schränkt die Ausgangssperre nicht einfach die „Demokratie“ ein, sie wirkt auch verstärkt auf die vorhandenen Formen gesellschaftlicher Ungleichheit und Unterdrückung.

Programmatik

Die Ausgangssperre kann daher – wie alle Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung – nicht einfach unabhängig von ihrem Klassencharakter betrachtet werden.

Als MarxistInnen lehnen wir das Gewaltmonopol des bürgerlichen Staates ab. Wir sind gegen die Ausweitung legaler Repressionsinstrumente und verteidigen entsprechend auch bürgerliche Rechte, die den staatlichen Repressionsorganen Grenzen setzen. Die Krise des bürgerlichen Parlamentarismus und die weltweit zu beobachtende Tendenz hin zu bonapartistischen Krisenregimen setzt diese Verteidigung demokratischer Rechte wieder weit oben auf die Tagesordnung.

Dabei verteidigen wir nicht die „gute alte Demokratie“, ihre angeblich klassenneutralen Institutionen, sondern wir betonen, dass die Angriffe auf demokratische Rechte gerade den Klassencharakter des bürgerlichen Staates unterstreichen und daher von unserer Seite aus eine Strategie des Klassenkampfes erfordern. Die Erosion der alten (bürgerlichen) Demokratie ruft nach Prinzipien der ArbeiterInnendemokratie – Kontrolle und Gegenmacht durch Organe der Klasse – als zentrale Elemente dieser Strategie.

Wenn auch die pandemische Situation in den historischen Programmen des Marxismus nicht explizit behandelt wurde, sind die genannten zentralen Positionen übertragbar. Die autoritären und bonapartistischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung lehnen wir ab, weil sie eine spezifisch bürgerliche Antwort auf die Pandemie darstellen. Deutlich wird dieser Klassencharakter etwa darin, dass die Zulässigkeit privater Begegnungen – die in gewissem Umfang wohl zu den unverzichtbaren menschlichen Elementarbedürfnissen zählen – pedantisch reguliert wurde, obwohl gerade hier grundsätzlich kein Widerspruch zwischen dem Bedürfnis nach gesundheitlichem Eigenschutz und der Notwendigkeit, die Infektionsdynamik zu bremsen, besteht. Dem Fortbestand der bürgerlichen Familie und dem christlichen Brauchtum wurde natürlich eine privilegierte Stellung eingeräumt.

Das Verrichten der Lohnarbeit dagegen entzieht sich einer Bewertung, in welchem Maß sie angesichts voller Intensivstationen überhaupt notwendig ist. Eingeschränkt wurden für die Profitmacherei letztlich untergeordnete Sektoren wie Gaststätten und Hotellerie oder die Kulturindustrie. Die Schließung der Kernsektoren der Mehrwertproduktion stand faktisch nie zur Diskussion im Bereich des bürgerlichen Mainstreams. Für die Regierung und ihre bürgerlichen KritikerInnen gelten diese Bereiche als sakrosankt. Es sind die wirklichen heiligen Kühe der Marktwirtschaft, die außerhalb der Sphäre des privaten und öffentlichen Lebens nicht zur Disposition stehen.

Das Ziel der bürgerlichen Pandemiepolitik bestand und besteht in der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung der Kapitalverwertung. Damit muss bei steigenden Infektionszahlen der Gesundheitsschutz primär zu einer individuellen Verantwortung, also auch zur moralischen Pflicht für jede/n Einzelne/n werden. Der Dienst am Vaterland besteht nun darin, sich im Privaten so weit wie möglich einzuschränken und weiterhin Lohnarbeit im Großraumbüro oder in der Montagehalle zu verrichten. Weil diese Moral tatsächlich wenig überzeugend ist, gibt es sie auch in bußgeldbewehrter Form.

Diesen Maßnahmen abstrakte Forderungen nach „Freiheit“ (auf Feiern, Reisen, Leute treffen, … also Leute anstecken) entgegenzusetzen, steht offensichtlich in einem deutlichen Widerspruch zur Natur dieser Pandemie. Sie sind utopisch, weil die bloße Aufhebung von staatlichen Infektionsschutzmaßnahmen für einen Großteil der Bevölkerung, der selbst gefährdet ist oder gefährdete Angehörige hat, faktisch den Zwang zur Selbstisolation oder zur Inkaufnahme eines extremen Gesundheitsrisikos bedeuten würde. Das Hochhalten der individuellen Freiheit, während diese durch die Natur der Pandemie selbst negiert wird, kann natürlich keine proletarische Politik sein, sondern nur reaktionärer kleinbürgerlicher Utopismus.

Die Pandemie erfordert Zwangsmaßnahmen und diese können nicht per se – unabhängig von ihrem Klassencharakter – abgelehnt werden, weil ein marxistisches Programm sich nicht gegen die materiellen Voraussetzungen menschlichen Überlebens auflehnen kann. Wie jede Politik stellt auch das Pandemiemanagement Klassenpolitik dar und KommunistInnen sollten das derzeitige ablehnen, weil seine Maxime die Aufrechterhaltung der Verwertungsbedingungen des Kapitals ist.

Eine marxistische Programmatik zielt daher darauf ab, einen möglichst schnellen Stopp der massenhaften Ausbreitung des Virus zu erreichen und dabei dem Kapital die Hauptlast aufzuerlegen. Zugleich geht es darum, die Lebensbedingungen der Lohnabhängigen und der Massen zu verteidigen. Das bedeutet insbesondere: einen umfassenden solidarischen Shutdown aller nicht essentiellen Betriebe – bei voller Lohnfortzahlung und sozialer Absicherung, durchgesetzt durch die ArbeiterInnenbewegung und überwacht durch Kontrollkomitees der Beschäftigten.