Vorwort

Redaktion, Revolutionärer Marxismus 53, November 2020

„Imperialismus“ war im 19. Jahrhundert ursprünglich einer jener historisierenden Begriffe, mit denen das Bürgertum seinem Agieren den Glanz antiker Größe zu verleihen versuchte. So das napoleonische „Empire français“ mit Bezug auf das römische Cäsarentum im ersten und zweiten Kaiserreich in Frankreich. So aber auch mit Rückbezug auf das römische Imperium die ArchitektInnen des „British Empire“ wie Premierminister Disraeli in seiner berühmten Crystal-Palace-Rede 1872. Als der britische Kapitalismus seine industrielle Überlegenheit mit den „Kanonen“ des Freihandels nicht mehr konkurrenzlos ausspielen konnte, wurde die Absicherung seiner Weltmarktdominanz über ein straff organisiertes Kolonialreich und mit echten Kanonen zum Gebot der Stunde – und die „zivilisatorische Mission“ des Empire zur ideologischen Rechtfertigung dieser imperialistischen Politik. Schon lange vor der Veröffentlichung der Schrift „Imperialism – A Study“ (1902) des englischen Liberalen John A. Hobson erkannte auch die politische Ökonomie im Königreich, dass das Überleben des eigenen Kapitalismus an die Weltmarktdominanz und die Beherrschung immer größerer Territorien auf dem Globus gebunden war.

Diese Offenheit und Positivität im Umgang mit ihrer Rollenverteilung im Weltkapitalismus ist den heutigen AkteurInnen der Verbreitung von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ in ihrem „weltweiten Kampf gegen den Terror“ zur Aufrechterhaltung einer „offenen Weltwirtschaft“ (in wessen Interesse wohl?) längst abhandengekommen. Wenn überhaupt, war „Imperialismus“ lange nur noch ein Kampfbegriff der Linken, der durch allzu hölzern-plakative Verwendung im Stalinismus weltweit an Glanz verloren hat. Auch wenn angesichts der heutigen Weltsituation der Begriff wieder seine Auferstehung feiert, so wird er in der verwendeten Terminologie  mit Umschreibungen wie „globaler Norden“, „Metropolenkapitalismus“, „postkoloniale Verhältnisse“ und ähnlichem selbst in der Linken gern umschifft.

Dabei wird vergessen, dass die Entwicklung der marxistischen Imperialismustheorie sicher die wichtigste Weiterentwicklung auf dem Gebiet politischer und ökonomischer Theorie nach dem Abtreten der „Gründerväter“ des wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, darstellte. Die noch junge ArbeiterInnenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts war sich des Umbruchs, der im Kapitalismus jener Zeit vor sich ging, sehr wohl bewusst. Die Zeit zwischen 1873 und 1895 sah mehrere schwere weltwirtschaftliche Depressionen, gefolgt von schwachen Erholungsphasen – eine Situation, auf die das Kapital einerseits mit einer immer stärkeren Konzentration und Finanzkapitalbildung reagierte, andererseits mit einer immer aggressiveren Expansionsbewegung auf den Weltmärkten, begleitet vom Aufstieg des Militarismus. Als einer der ersten MarxistInnen bemerkte der in der deutschen Sozialdemokratie wirkende russische Revolutionär Alexander Helphand (genannt Parvus), bald gefolgt von Kautsky, dass mit dem Aufschwung nach 1895 eine neue Qualität von kapitalistischer Expansion auf Weltebene vor sich ging, getragen z. B. von der monopolistischen Expansion der Kohle-, Stahl-, Chemie- und Rüstungskonzerne. „Imperialismus“ wurde vom politischen Kampfbegriff der Bourgeoisie zu einer marxistischen Charakterisierung einer neuen Epoche und Qualität von Kapitalismus. In der Zweiten Internationale entbrannte eine Diskussion über die Fragen von Überproduktion, Kapitalexport, Kolonialismus und darüber, ob Imperialismus und Militarismus notwendiger Ausdruck des gegenwärtigen Kapitalismus seien oder sich die wachsende Monopolisierung und wachsende Rolle des Staates für einen friedlichen Übergang zu einer sozialistischen Staatswirtschaft nutzen ließen. Kautsky schwankte stets zwischen diesen beiden Möglichkeiten – und schon in den 1890er Jahren sagte er voraus, dass die widersprüchliche Expansionsbewegung entweder zu einem schrecklichen Vernichtungskrieg der Großmächte führen würde oder zu einer ausgleichenden Föderation der Industriestaaten (später von ihm als „Ultraimperialismus“ bezeichnet).

Es waren Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem zwei Werke, die die Wegmarken zur Theoriebildung setzten: Einerseits „Das Finanzkapital“ (1910) des österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding – das von so unterschiedlichen Autoren wie Kautsky und Lenin als das bedeutendste Werk der politischen Ökonomie seit dem „Kapital“ von Marx bezeichnet wurde. Tatsächlich wurden in diesem Buch analytisch viele später bekannt gewordene Elemente der Imperialismustheorie entwickelt wie die Verschmelzung von Industrie- und Bankenkapital, die Rolle des Kapitalexports, des Währungsregimes, des Anwachsens der Staatsintervention, der Verbindung von Staat und Konzernen etc. Neben vielen theoretischen Schwächen von Hilferdings Kapitalanalyse waren aber seine politischen Schlussfolgerungen folgenreich. Seine Redeweise vom „organisierten Kapitalismus“, von der „Ablösung des Konkurrenzkapitalismus“ etc. erzeugten den Eindruck einer Aufhebung bestimmter Grundtendenzen des Kapitalismus, seiner Steuerbarkeit, der Möglichkeit des Übergehens vom „Staatskapitalismus“ in eine sozialistische Staatswirtschaft.

Das zweite einflussreiche Werk war Rosa Luxemburgs Schrift zur „Akkumulation des Kapitals“ (1913), das den Untertitel „Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus“ trägt. Das Werk muss an dieser Stelle vor allem aus zweierlei Gründen genannt werden. Erstens erklärt Luxemburg hier sehr klar, dass der Kapitalismus nicht einfach wie eine „Nationalökonomie“ analysiert werden kann, sondern Kapitalakkumulation immer schon im Rahmen sowohl von Nationalstaaten als auch eines Weltmarktes vor sich geht, in dem unterschiedlich entwickelte Kapitale konkurrieren – und damit Kapitalakkumulation auf dem Weltmarkt immer schon eine Tendenz zum Imperialismus beinhaltet. Zweitens aber, dass die steigende Rolle des Weltmarktes und der imperialistischen Widersprüche damit auch eine internationale Bewegung der Unterdrückten zur Zerschlagung des Imperialismus hervorbringe. Insbesondere damit war Luxemburgs Werk  (trotz der Schwächen in der Krisentheorie)  im Unterschied zu Hilferdings für die revolutionäre Perspektive der sich entwickelnden Imperialismustheorie weitaus bahnbrechender. Auch wenn Luxemburgs Buch seinerzeit bedeutsam war, wurden beide Aspekte später wesentlich systematischer und politisch folgenreicher von Leo Trotzki in seiner Theorie von der „ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung“ und der Strategie der „permanenten Revolution“ formuliert.

Der Anspruch von Rosa Luxemburg, „daß die Erklärung der ökonomischen Wurzel des Imperialismus speziell aus den Gesetzen der Kapitalakkumulation abgeleitet werden … muß“ (Gesammelte Werke Bd. 5, S. 431) wurde 1914/15  speziell vom russischen Revolutionär Nikolai Bucharin in seinem Werk „Imperialismus und Weltwirtschaft“  aufgegriffen, das sowohl Elemente von Hilferding wie von Luxemburg kombiniert. Insbesondere entwickelt er den Widerspruch zwischen einem auf Weltebene von Wertgesetz und anarchischer Konkurrenz getriebenen Kapitalismus auf der einen Seite zu einem auf Ebene der imperialistischen Nationalstaaten regulierten Monopolkapitalismus auf der anderen Seite, der seine Überakkumulationskrisen durch Kapitalexporte zu beherrschen versucht. Dies führe in den imperialistischen Staaten zur vermehrten Integration von Teilen der ArbeiterInnenklasse (ArbeiterInnenaristokratie) und zu Aufrüstung, Nationalismus und Militarismus – und zum mörderischen Kampf um die Aufteilung der Welt unter die kapitalistischen Großmächte.

Wie man an diesem kurzen historischen Überblick ersehen kann, war der berühmte „gemeinverständliche Abriss“, wie Lenin sein 1916 verfasstes Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ selbst bezeichnete, einerseits eine Zusammenfassung von sehr bekannten Elementen der marxistischen Diskussion zur Imperialismustheorie. Neben einer sehr ausführlichen statistischen Untermauerung der von Hobson, Hilferding und Bucharin übernommenen Charakterisierungen des Imperialismus, sind es aber vor allem die Herstellung des Gesamtzusammenhangs und die politischen Schlussfolgerungen, die das Werk so wirksam und bedeutsam machten. Insbesondere in Bezug auf den Opportunismus in den ArbeiterInnenbewegungen imperialistischer Länder (auf Grundlage der ArbeiterInnenaristokratie) und die Rolle des Staates im Monopolkapitalismus hat das Werk unmittelbare Konsequenzen, was den Bruch mit der Zweiten Internationale, Kampf gegen die „eigenen“ imperialistischen Regierungen (auch in Kriegszeiten), Notwendigkeit der Zerschlagung des imperialistischen Staates (auch und gerade in seiner Form im Rahmen des „organisierten Kapitalismus“), Ausrichtung der ArbeiterInnenbewegung auf eine Epoche der Kriege und Revolutionen, die nur mit der sozialistischen Revolution beendet werden kann, beinhaltet. Gerade die Erkenntnis der Totalität seiner Elemente als Grundlage für eine neue Epoche des Kapitalismus, die aber weiterhin den von Marx beschriebenen Grundbestimmungen dieses Systems folgt, machten Lenins Bestimmung des Imperialismus zu einem Meilenstein in der marxistischen Imperialismustheorie. Insofern stellt das Werk bis heute den wesentlichen politischen Kern jeder revolutionär-marxistischen Imperialismustheorie dar.

Dies heißt aber nicht, dass Lenins „Abriss“ die großen Schwächen in den ökonomischen Ableitungen der Imperialismustheorien, die er von Hilferding und Bucharin wesentlich übernommen hat, dabei auch im Detail überwunden hätte. Letztlich wurde auch von Lenin der Auftrag von Rosa Luxemburg, den Imperialismus aus der Bewegung der Kapitalakkumulation auf dem Weltmarkt abzuleiten, nicht erfüllt. Hier bleibt er selbst gegenüber Bucharin, der zumindest in Bezug auf den Zusammenhang von kapitalistischer Krise und Kapitalexport einige Beiträge geleistet hat, sehr vage. Selbiges gilt auch in Bezug auf den „Monopolbegriff“ und die analytische Ableitung von „Finanzkapital“, bei denen er einerseits historischen Erscheinungsformen (Rolle der Banken im deutschen Industriekapitalismus) aufsitzt, andererseits widersprüchliche Aussagen zur Rolle von Konkurrenz und Monopol aufstellt. Dies ist aber auch nicht verwunderlich für ein Werk, das nicht beansprucht, ökonomische Theorie zu entwickeln, sondern versucht, eine gemeinverständliche Zusammenfassung der marxistischen Imperialismustheorie zu bieten und daraus vor allem die politischen Schlussfolgerungen zu ziehen. Lenins Imperialismustheorie kann daher auch nicht nur aus dem „Abriss“ verstanden werden, sondern muss (wie hier versucht) auf sein Gesamtwerk und dessen Entwicklung bezogen werden.

Es hat in unmittelbarer Nachfolge von Lenin nicht an Versuchen gefehlt, die Lücken und Widersprüche in der ökonomischen Erklärung des Imperialismus zu füllen, von Grossmann, Pollock, Sternberg, Mattick bis Varga – um nur einige zu nennen. Mit der Degeneration der Sowjetunion unter Stalin schwand jedoch auch das Interesse an einer Fortentwicklung der Theorie. Stattdessen wurde Lenins „Abriss“ ohne Berücksichtigung auch nur der breiten Debatte, die es davor und danach gegeben hatte, zu einer endgültigen „Theorie“ des Imperialismus kanonisiert, samt ihrer Schwächen. In Folge wurde von einem „Konkurrenzkapitalismus“ gesprochen, wie ihn Marx analysiert habe. Davon vollkommen zu unterscheiden sei der „Staatsmonopolkapitalismus“, der die von Marx beschriebenen Gesetzmäßigkeiten ersetzt habe durch diejenigen, die Lenin angeblich als deren „Aufhebung“ erkannt habe. Einzige Neuerung war die von Eugen Varga „entdeckte“ permanente Krisenhaftigkeit des Imperialismus, die zu einer systematischen Organisation des staatsmonopolistischen Kapitalismus zur Abwälzung von Risiken von den Monopolen auf die nichtmonopolistischen Sektoren der Gesellschaft und andere Staaten führe. Dazu kam im Rahmen von „Stamokap“- und später „Finanzmarktkapitalismus“-Theorie eine immer stärkere Tendenz zu einer Rückkehr zur Kautsky’schen Theorie des Ultraimperialismus.

In Abgrenzung zu dieser Degeneration der „offiziellen“ Imperialismustheorie entstanden sowohl in imperialistischen Ländern wie in den vom Imperialismus beherrschten Regionen alternative Theorieansätze, die eine ernsthafte ökonomische Begründung der nach dem Zweiten Weltkrieg sich neu entwickelnden imperialistischen Verhältnisse versuchten. Hier sind die „Weltmarkttheorie“, die Theorie des „ungleichen Tausches“, neue Monopoltheorien in der „Spätkapitalismus“-Theorie, die „Dependenztheorie“ und ähnliches zu nennen. In unterschiedlicher Weise versuchen diese Debatten, Schwächen in der „offiziellen“ Imperialismustheorie zu überwinden. Teilweise wurden dabei richtige Kritikpunkte an der Dogmatisierung der klassischen Theorie gesetzt, die aber mit vielen neuen Defiziten verbunden sind und vor allem zumeist auch die politischen Schlussfolgerungen Lenins über Bord warfen.

In dieser Ausgabe des „Revolutionären Marxismus“ versuchen wir, das Spektrum dieser Debatten um die Imperialismustheorie durchzuarbeiten. Im Artikel „Imperialismus und Imperialismustheorie“ wird systematisch versucht, die Lücken in der klassischen Imperialismustheorie zu schließen, insbesondere was die oben genannten Kontroversen um Monopoltheorie, Epochenbegriff, „neue Qualität von Kapitalismus“, Verhältnis von Krisen- und Weltmarkttheorie etc. betrifft. Dies wird auch kombiniert mit einer Skizze für die Ableitung der Weltmarktbewegungen des Kapitals aus den Wertbestimmungen der Kapitalakkumulation. Der Artikel „Neokolonialismus und Imperialismustheorie“ geht aus von einer Kritik der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Theorien zu einer Modifikation der Imperialismustheorie aufgrund der neuen „neokolonialen“ Organisierung des globalen Kapitalismus und der Veränderungen in den Abhängigkeitsverhältnissen zwischen den imperialistischen Ländern und den (Halb-)Kolonien. Daraus wird versucht, auf Basis der Marx’schen Kapitalanalyse eine Darstellung der gegenwärtigen neokolonialen Ausbeutungsverhältnisse abzuleiten.

Diese theoretischen Auseinandersetzungen werden abgerundet durch konkrete Analysen des chinesischen und des US-Imperialismus, deren Gegensatz heute sicherlich das prägende Moment des gegenwärtigen Imperialismus ist. Dazu passend veröffentlichen wir in diesem RM auch die politisch-ökonomischen Perspektiven der GAM, in denen es um unsere aktuelle Einschätzung der Lage des deutschen Imperialismus geht.

Außerdem setzen wir uns in diesem RM auch mit einer wichtigen Debatte in der gegenwärtigen weltweiten Frauenbewegung auseinander: der „Social Reproduction Theory“. Der Imperialismus ist nicht nur beständig durch neue Formen von Rassismus, Chauvinismus und Militarismus geprägt. Er ist auch eine Globalisierung von Frauenunterdrückung und Sexismus, entwickelt immer neue Formen der Überausbeutung aller nicht cis-männlichen Geschlechter. Informelle Arbeit und Unterbewertung von Reproduktionsarbeit sind in der imperialistischen Epoche eine wichtige Quelle zur Absicherung globaler Mehrwertaneignung. Daher ist es kein Wunder, dass ökonomische Theorien um diese Fragen eine wichtige Rolle in der heutigen Frauenbewegung spielen. Eine marxistische Kritik der Hauptströmungen dieser Debatte ist daher ein wichtiger Bestandteil dieses RM zur Imperialismustheorie.